RACHE

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von Feldwebel Ophelia Ziegenberger (RUM)
Online seit 24. 02. 2013
Zeitmönche haben die Geschichte auf den 24. 06. 2012 datiert
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 Außerdem kommen vor: Araghast BreguyarRomulus von GrauhaarBraggasch GoldwartRach FlanellfußDagomar Ignatius Volkwin von OmnienValdimier van VarwaldMina von NachtschattenEttark Bergig

Anmerkung:
Diese Single wird aufgrund ihrer ungewöhnlichen Gesamtlänge komplette drei Monate über zur Wertung stehen.
Vielen Dank für euer Verständnis!


~~~

Ich gehe durch die Stadt,
wie durch ein Niemandsland.
Inmitten all der vielen Menschen
bleib ich unerkannt.
Ich habe mich in Stille und in Einsamkeit gehüllt.
Ich suche meine Schattenwege abseits dieser Welt.
Niemand... niemand da, der mich beim Namen nennt,
der mein Geheimnis kennt.

Kein unbedachtes Wort, kein Blick begeht Verrat.
Aus mir fließt keine Träne, die die Wahrheit offenbart.
Ich halte mich versteckt und abgewandt vom Licht,
verberg ich meinen Körper, meine Stimme, mein Gesicht.
Niemand... niemand da, der mich beim Namen nennt,
der mein Geheimnis kennt.

Ich irre durch die Stadt und suche meinen Sinn.
Ich hab' vergessen wer ich war und ich weiß nicht, wer ich bin.
Mein Leid ist ungeteilt und keinem anvertraut.
Mich umgibt die Einsamkeit wie eine zweite Haut.
Und niemand... niemand sieht den Kummer und den Schmerz,
mein heimatloses, unbewohntes Herz.
Ich finde keinen Trost...

(Sabrina Weckerlin, "Einsames Gewand")

~~~


Dafür vergebene Note: 14

~~~ Freundschaftsdienst ~~~


Der Friedhof der Geringen Götter war schäbig. Normalerweise verdrängte Ophelia diesen Umstand bewusst, wenn sie hierher kam, um Fräns Grabstätte zu pflegen. Heute jedoch stand sie in der lauen Frühlingsluft vor einem frisch aufgeworfenen Erdhügel und war blind für die vernachlässigten Pfade um sie her.
Der Frühling war überraschend über der Stadt hereingebrochen. Ausgerechnet am Tag von Rogis Beerdigung. Strahlender Sonnenschein hatte die Wächterschaft umflirrt, als die beiden Särge ächzend vor dem Friedhofstor von den Karren geschoben, geschultert und über die schmalen Trampelpfade getragen wurden. Rogi hätte vermutlich mit kritischem Blick gen Himmel die Stirn gerunzelt und verächtlich die Nase gerümpft.
Das Geräusch der beruhigend flüsternden Zweige hatte sich bereits gestern in ihren Sinn eingebrannt. Vor wenigen Stunden. Als die Worte des Kommandeurs zu einer endlosen Aneinanderreihung unsinniger Silben verschmolzen und ihr Blickfeld sich immer mehr auf das Loch im Boden einzuengen begann, auf den robusten Holzsarg, der von mehreren Wächtern langsam herabgelassen wurde. Sie hatte den Gedanken nicht ertragen können, dass Rogi dort abgelegt wurde, dass die Igorina verschüttet und dann vergessen werden könnte. Dass Rogi nicht mehr war und sie selbst als Ursache dafür gelten musste! Roger hatte es gewusst und sie gewarnt, dass die Vorgesetzte es unmöglich schaffen könne, den Entzug zu überstehen. Aber sie hatte es besser wissen wollen. Sie hatte Rogi dazu angestachelt. Und sie dann im Stich gelassen.
Ophelia schloss die Augen und holte zitternd Luft, bis sie sich soweit gefangen hatte, um sich wieder dem anklagenden Bild zu öffnen.
Heute würde sie niemand stützen, wenn Trauer und Schuld sie überwältigen sollten - Romulus stand ihr nicht zur Seite.
Sie spürte hinter sich die Präsenz eines weiteren Besuchers, der sich lautlos dem Grab näherte. Die Person blieb mit geringem Abstand seitlich hinter ihr stehen und ein undefinierbar feiner Dufthauch umspielte sie.
"Was für eine Verschwendung!"
Ophelia presste unwillkürlich ihre Lippen aufeinander.
Wie konnte jemand etwas so Gefühlloses sagen, wenn er extra den Weg hierher auf sich genommen hatte?
Die Höflichkeit gebot es, den Gesprächsfaden zumindest ansatzweise aufzugreifen, anstatt ihn zu ignorieren. Sie wandte sich der großen Frau zu.
Ihr Körper hielt inne und verweigerte den gewohnheitsmäßigen Knicks, als sie instinktiv eine Vampirin erkannte. Misstrauen flammte in ihrem Innern auf, wie der schwungvoll hochgedrehte, gut getränkte Docht einer Öllampe.
"Mit wem habe ich die Ehre?"
"Ayami Vetinari. Und mit wem habe ich das Vergnügen?"
"Ophelia Ziegenberger..." Sie betrachtete das bleiche Gesicht der schlanken Frau, wie es trotz der letzten Abendröte, die sich mit weichem Goldton über deren Konturen legte, keineswegs zugänglicher wirkte. Die dunklen Pupillen schienen eine Ahnung der aufsteigenden Nacht vorzugreifen und sie wandte ihren Blick bewusst ab, um nicht dem typischen Sog des Geschöpfes anheim zu fallen. Sie betrachtete das schattige Grab, die lockere Erde und die sorgsam gepflanzten Blumenstecklinge mit den hängenden Blättern, während sie den großen Schatten aus dem Augenwinkel im Blick behielt.
"Du warst ihre Herrin, nicht wahr?"
Der Schatten schien sie zu beobachten, wenn nicht gar zu belauern. Aber das war ihr nicht neu. Welcher Vampir hätte sie bisher schließlich unbeachtet gelassen? Es war immer so gewesen, von den Belagerern damals, bis hin zu Parsival und Racul, warum sollte nun gerade diese Fremde eine Ausnahme darstellen?
Die Vampirin antwortete ihr mit größtmöglicher Gelassenheit.
"Ja, das war ich."
Kein Leugnen, keine Erklärung. Rogis Verunsicherung tauchte ihr vor Augen auf, als sie damals gemeinsam das Büro des Kommandeurs verlassen hatten, deren bitterer Blick, als Ophelia sie auf die Auftraggeberin des Mieder-Falles angesprochen hatte. Diese Dame hier hatte eindeutig Anteil daran gehabt, dass Rogis Leben so kompliziert geworden war. Sie musste in den Anfängen mit daran gewirkt haben, das Gespinst undurchschaubarer Verpflichtungen zu weben, in denen Rogi sich verfangen hatte und an deren Belastung ihr Herz zugrunde gegangen war. Die scheinbare Emotionslosigkeit ihres dunklen Gegenübers versetzte Ophelia einen Stich. Was auch immer diese Frau an Rogis Grab wollte... sie gehörte nicht hierher! Rogi hätte es nicht gewollt, so wie sie bestrebt gewesen schien, ihrer ehemaligen Herrin zu Lebzeiten aus dem Wege zu gehen. Die Anwesenheit Ayami Vetinaris störte den Frieden dieser letzten Zuflucht - ihrer beider Zuflucht!
Die Vampirin schien ihre Gedanken zu lesen, als sie interessiert eine Braue hob und mit sanfter Stimme antwortete.
"Verzeih, ich werde nicht mehr lange stören. Aber Du solltest wissen, dass mir die Igorina nicht egal ist."
Ophelia hielt kurz die Luft an, als der Gedanke sich verfestigte, dass diese Fremde womöglich wirklich in ihr Inneres schauen konnte. Sie hatte in ihrem kurzen Leben bereits wiederholt dem Einfluss dieser Art unterstanden und nicht immer sofort gespürt, wann dieser begonnen oder geendet hatte. Gleichgültig was sie davon hielt und welche Reaktion dies aktuell erfordern mochte, es war nicht rechtens, jemandem mit solch extremer Unhöflichkeit zu begegnen, nur weil man dessen Ansichten eventuell nicht teilte.
Sie strich sich seufzend mit der Hand über die Augen, darum bemüht, ihre Gedanken zu zügeln.
"Es tut mir leid. Ich wollte Dich nicht brüskieren, Euer Ladyschaft." Irgendwo in ihren Erinnerungen tauchte der Hinweis auf, dass eine derart formale Anrede angemessen sein musste. "Ich hoffe, Du siehst mir mein Verhalten nach. Ich fühle mich derzeit nicht ganz pässlich. Die Situation nimmt mich doch etwas mit."
Die schlanke Frau nickte ihr kurz zu und gemeinsam blickten sie schweigend auf das Grab vor ihnen hinab. Nach einem Moment des Zögerns richtete die Besucherin eine Frage an sie, auf die sie keinesfalls wahrheitsgemäß antworten konnte, wenn sie Rogis Andenken in Ehren halten wollte.
"Was ist passiert?"
Eine Halbwahrheit mehr machte keinen Unterschied auf ihrem Schuldenkonto. Sie hielt ihre Stimme leise, so dass diese nicht viel weiter trug, als bis zu der schweigenden Zuhörerin.
"Rogi war zu einem Einsatz ihrer Truppe berufen worden. Es ging um eine nicht autorisierte Transaktion der Schmugglergilde, um Sprengstoff und drohende Anschläge einer extremen Gruppierung in unserer Stadt. Ein wichtiger Einsatz und es hatte bereits einen angeschossenen Kollegen gegeben. Sie hat ihr Bestes gegeben aber… Es fanden Schusswechsel statt, bei denen sie ihren Standort nicht ändern konnte. Man kann nicht mitten in einer Notfalloperation den Patienten verlegen, zumal, da sie eine offene Herzmassage vornahm. Der betreffende Kollege blieb jedenfalls nicht der einzige, der es in dieser Nacht nicht schaffte." Ihr Blick streifte kurz das ebenfalls frische Grab neben dem Rogis.
Die warme Stimme neben ihr wartete, bis deutlich war, dass sie geendet hatte. Dann fragte diese ohne Zögern:
"Glaubst Du das wirklich?"
Ophelias Blick schnellte empor und sie begegnete der ungeteilten Aufmerksamkeit der Dame. Ihre Gedanken gerieten ins Trudeln und Schlingern, wie abstürzende Tauben. Was sollte sie darauf antworten? Die Vampirin schien nicht überzeugt von ihrem Auftritt. Konnte dies Rogis Andenken gefährlich werden? Sollte sie mit ja antworten und damit ganz offen lügen? Oder wäre es folgerichtig, dem Zweifel Raum zu geben, der Skepsis mit Verwunderung zu begegnen? Die Adlige schien mehr zu wissen, als sie es hätte können sollen. Hatte sie "Kontakte"? Aber wer konnte überhaupt anders lautende Auskünfte gegeben haben? Breguyar? Igoratius? Selbst diese beiden verfügten über unterschiedliche Informationen und sie konnte nicht wissen, mit wem die Vampirin gesprochen hatte.
Ophelia nahm wahr, dass sie zu lange gezögert hatte, um noch in glaubwürdiger Weise Unwissenheit vorzutäuschen. Das angedeutete Lächeln ihres Gegenübers bestätigte diese Befürchtung. Sie wandte ihren Blick ab und entschied sich für das einzig logische Vorgehen. Sie würde keine weiteren Informationen zur Verfügung stellen.
"Wenn Du meine Ehrlichkeit anzweifelst, ist es gleichgültig, was ich erwidern könnte, Euer Ladyschaft."
Die um so viele Jahre ältere Frau legte die Hände mit einem leisen Rascheln hinter ihrem Rücken ineinander. Ihre nächste Frage führte zu Klarheit darüber, von wem sie nähere Informationen zu den Vorkommnissen erhalten haben musste.
"Hast Du mit Igor gesprochen?"
Ophelia runzelte die Stirn. Wenn die Vampirin mit Roger gesprochen hatte, dann musste sie von den gesundheitlichen Schwierigkeiten ihrer ehemaligen Angestellten erfahren haben. Oder nicht? Worüber sonst hätte er reden können? Warum hatte sie ihn überhaupt aufgesucht? Was scherte sie der Tod einer vormaligen Bediensteten, zumal wenn diese keinen Kontakt zu ihr gesucht hatte? War es nicht sogar so, dass die Adlige normalerweise irgendwo in Überwald residierte? Rogi zumindest hatte einmal angedeutet, dass sie davon ausging, ihr hier in Ankh-Morpork keinesfalls per Zufall über den Weg zu laufen. Hatte die große Frau etwa Rogis wegen den weiten Weg hierher auf sich genommen? Warum dann erst nach deren Tod? Irgendetwas stimmte hier nicht!
Ihr Puls beschleunigte sich unmerklich, als sie registrierte, dass die letzten rotgoldenen Strahlen der Abendsonne endgültig hinter den Häuserdächern verschwunden waren und das schnell blasser werdende Restlicht des Tages fast unmerklich dem Heraufdämmern der ersten Sterne wich. Warum musste sie gerade jetzt daran denken, dass sie gänzlich unbewaffnet war? Nein, es gab sehr wohl etwas, was sie zu ihrem Schutz tun konnte.
Es brauchte viel Konzentration, um ihre Gedanken vor der Fremden abzuschotten. Unbeholfen, wie ein Kind bei seinen ersten Gehversuchen, stellte sie sich einen Vorhang vor, den sie zwischen sich und die Außenwelt zu ziehen gedachte. Parsivals "Schutz" hatte sich wie Decken angefühlt. Vielleicht konnte sie dieses Gefühl imitieren? Racul hatte sie mehrfach dazu aufgefordert, etwas gegen den Überschwang ihrer Gefühle zu unternehmen und sich abzuschotten. Sie wusste zwar nicht genau wie sie dies bewerkstelligen könnte, da er es aber so vehement einforderte, musste es ihr möglich sein. Jetzt war der richtige Zeitpunkt gekommen, es möglichst schnell zu erlernen.
Die Stimme der Vampirin klang amüsiert.
"Du brauchst dir nicht die Mühe machen. Ich habe nicht vor, Racul meine Anwesenheit zu verraten. Aber ich muss anerkennen, dass Du für eine Anfängerin nicht schlecht bist."
Ophelia wich instinktiv einen Schritt zurück, blieb dann aber wie angewurzelt stehen, als sie an ein Gespräch mit Breda vor langer Zeit denken musste, darüber, was diese über bestimmte Verhaltensweisen und deren Wirkungen gesagt hatte. Was des einen Fluchtreflex war, mochte des anderen Jagdinstinkt herausfordern. Sie stand still und wagte kaum, aufzusehen.
"Mylady… warum bist Du hier?"
"Deinetwegen."
Die Antwort zog ihr im übertragenen Sinne den Boden unter den Füßen fort. Ihr wurde schwindlig.
Konnte es noch eine andere Deutung der Worte geben, als die offensichtliche? Sie kannten einander nicht einmal!
Ayami Vetinari seufzte vernehmlich.
"Ich bin nicht dafür bekannt, dass ich mit dem Essen spiele. Ich bin deinetwegen hier, nicht deines Blutes wegen."
Ihr Blick flog instinktiv auf, um sich von der gleich bleibend dunklen Färbung der reglosen Augen zu überzeugen. Keine roten Ränder um die kohlschwarzen Pupillen, kein verräterisch helles Aufblitzen in den Mundwinkeln. Der Grund für Ayami Vetinaris Aufmerksamkeit war anderswo zu suchen.
Die Verwirrung musste ihr deutlich ins Gesicht geschrieben stehen.
"Ich habe nichts weiter, was für Dich von Interesse sein könnte, Mylady."
"Noch nicht. Aber ich habe für Dich etwas von Interesse. Willst Du wissen, was der Igorina wirklich widerfahren ist?"
Die Restwärme des Tages schien sich mit einem einzigen Windstoß zu verflüchtigen. Sie fröstelte, konnte den Blick aber nicht mehr abwenden.
"Ich weiß, was ihr widerfahren ist."
Die Fremde blickte sie unverwandt an, als sie entgegnete:
"Es gibt nicht nur eine Wahrheit. Aber es hängt von Dir ab, ob Du unwissend bleiben möchtest."
Ophelia spürte, dass mit diesen Worten weitaus mehr angedeutet wurde. Rogis Tod stand plötzlich als fragwürdiges Ereignis im Raum, deren Ruf geriet ins Visier. Die Vampirin strahlte eine ganz eigene Art von Gefahr aus, eine, die subtiler daherkam, als bloße Blutgier. Die Reisende bot ihr ein Wissen, welches geschärft auf ihre Einwilligung zu warten schien, um sie mittig im Innersten zu treffen. Sie konnte sich dieses ängstliche Gefühl nicht logisch erklären. Warum bot die Vampirin ihr diesen Freundschaftsdienst überhaupt an?
Bei diesem Gedanken hielt sie inne.
Wer sagte, dass die Vetinari ihr einen Freundschaftsdienst anbot? Sie war und blieb eine Vampirin. Rogi hatte ihr nicht vertraut und sie selber hatte noch weitaus weniger Grund dazu, es zu tun. Den Worten überhaupt bis hierher Gehör zu schenken, zeugte von vertrauensvollem Leichtsinn, wie sie ihn sich abgewöhnt geglaubt hatte. Ihr fiel mit einiger Verspätung auf, dass die Fremde auf ihren Einwand, sie besitze nichts von Interesse, mit "noch nicht" geantwortet hatte. Sie versprach sich also in der Tat eine Gegenleistung, gleichgültig wie lange diese auf sich warten lassen oder worin sie bestehen würde. Nichts gab es umsonst. Alles hatte seinen Preis. Nur, war sie bereit, diesen auch zu zahlen?
Die Frau senkte ihre Lider ein winziges Stück, wirkte dadurch aber nur umso mehr, als wenn sie auf der Lauer läge.
"Du möchtest es wissen?"
Sie hatte nicht einmal genug Zeit, um die Frage zu überdenken oder die darin enthaltene Verpflichtung abzulehnen, als die Vetinari ihre Zustimmung als gegeben nahm.
"Gut, dann soll es so sein." Die Vampirin nickte knapp. "Du sorgst Dich darum, dass dem engstirnigen Igor-Clan zugetragen werden könnte, in welch armseliger Verfassung die Igorina ihren Körper hinterließ. Dir ist es wichtig, ihren Ruf zu schonen. So sehr, dass Du sogar die angespannten Umstände ihrer letzten Tage verschweigst, ohne Rücksicht darauf, wie sich dies auf deine eigene Position auswirken könnte."
Die Vampirin nickte ihr bedeutungsvoll zu, wobei deren Blick kurz auf der abklingenden Färbung ihrer Schläfe verweilte. Der Stelle, an der für einen Eingeweihten ablesbar war, wie vehement Rogi auf ihr Eingreifen reagiert hatte.
Ophelia krampfte ihre Hand unmerklich zusammen.
Roger musste der Vampirin gegenüber sehr viel eingestanden haben.
"Diese Dinge taten nichts zur Sache, Mylady. Wem hätte es genutzt, darüber zu spekulieren?"
Ayami Vetinari hob eine Braue.
"Gestatte mir eine Gegenfrage: Wäre es Dir von Nutzen zu erfahren, dass die Igorina die Umstände ihres Todes selbst verschuldete?" Ophelia setzte mit empörter Stimme zur Verteidigung der Toten an, doch die schlanke Adlige unterbrach sie mit einem kaum angedeuteten Kopfschütteln. "Nein, ich meine das im Wortsinn, bis zur letzten Konsequenz. Natürlich hat sie auch den rapiden gesundheitlichen Verfall ihres Körpers zu verschulden gehabt. Aber darüber hinaus starb sie weder in Folge einer Herzensschwäche, noch aufgrund eines Unfalls… oder eines Schusswechsels."
Ophelia starrte die Vampirin an, unfähig, sich deren folgenden Worten zu verschließen.
"Die Igorina hat an sich selbst Hand angelegt."
Ihr erster Gedanke war ungläubiger Einspruch. Das konnte nicht sein! Solch einen Frevel konnte Rogi nicht begangen haben, nicht sie, die jedes Leben wertschätzte, es von ganzem Herzen erstritt und dem nahen Tode abrang. Dann jedoch musste sie nur an deren bodenlose Verzweiflung denken, wenn solch ein Ringen verloren war.
Ophelias Verwirrung wuchs beständig an, als sie unweigerlich wieder Rogers Vorwürfe in ihrem Sinn nachhallen hörte. Er war vor ihr bei Rogi gewesen, hatte diese gefunden und sich um... alles Weitere gekümmert. Er hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie an Rogis Tod schuldig war, dass die Anstrengungen des Entzugs deren Herz überfordert hatten! Oder hatte er sie belogen?
Das bleiche Gesicht der großen Frau verschwamm vor ihren Augen und sie blickte schnell auf das Grab zu ihren Füßen.
"Warum...", sie musste schwer schlucken und konnte ihre eigene Stimme kaum noch hören. "Warum erzählst Du mir das?"
"Die Igorina war schwach. Sie war schon immer zu empfindsam. Es geschah auf meine Veranlassung hin, dass sie sich der Stadtwache anschloss und somit fühle ich mich trotz ihres abweisenden Naturells zumindest teilweise verantwortlich für die Unordnung, die sie mit ihren Handlungen hinterlassen hat."
Die Vampirin ließ die Worte mithilfe einer wohl platzierten Pause nachwirken. Doch Ophelia brachte es nicht über sich, etwas zu erwidern oder auch nur aufzublicken. Sie hatte genug damit zu tun, die Tränen zurückzudrängen, ehe diese überlaufen und sie sich damit vor der Fremden bloßstellen würde.
"Menschen neigen zu Selbstvorwürfen und zu Schuldgefühlen."
Ihre Anstrengungen scheiterten und sie spürte, wie die Tränen zu fallen begannen und der leichte Abendwind kühl über die nassen Spuren ihres Gesichtes strich.
Die leise Stimme an ihrer Seite wurde irgendwie deutlicher, ohne dass sie lauter geworden wäre, die Worte schienen bedeutungsvoller zu werden.
"Du hättest nichts ändern können. Die Igorina geriet dieser lästigen Gruppierung zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt in den Weg. Obgleich einem unserer Bediensteten sicherlich kein ebenso hoher Wert beigemessen werden wird, als wenn ihre Statistiken einen weiteren Untoten zu verzeichnen gehabt hätten."
Sie hatte Recht. Die HIRN hatte es sich auf die Fahnen geschrieben, allem mit Tod und Verderben entgegen zu treten, was vom menschlichen Standard abwich. Und Rogi wäre nicht gestorben... Sie korrigierte sich gedanklich, indem sie mit schmerzlicher Ehrlichkeit dem neuen Wissen Rechnung trug: Rogi hätte ihr Leben nicht beendet, wenn sie nicht während des Einsatzes gegen diese Gruppierung an ihre Grenzen getrieben worden wäre. Wenn man es so betrachtete, trugen die Extremisten Schuld an Rogis Tod. Menschen, die noch immer unbehelligt in Ankh-Morpork lebten. Der Stadt, für deren Sicherheit die Stadtwache zuständig war. Für die sie zuständig war!
"Du bist nur ein schwacher Mensch, gezeichnet von Unsereinem. Ich könnte es Dir nicht einmal verdenken, wenn Du Nachsicht mit den Idealen dieser Irregeleiteten hättest, auch wenn ich im Gegenteil vermuten würde, dass Du ihrem Tun spätestens jetzt mit Abscheu gegenüber stehst. Da die Igorina dir mehrmals zu Diensten war, kann es sein, dass Du dich ihr mehr verpflichtet fühlst, als Dir gut täte? Ich bin im Beurteilen solch menschlicher Belange auch nach all den Jahren nicht sicher, möchte Dir aber mitteilen, dass für solche Anhänglichkeiten keine Veranlassung besteht."
Ophelia konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Jedes weitere Wort verunsicherte sie mehr. Die einzelnen Sätze klangen nach freundlichem Zuspruch. Und wie sehr wünschte sie sich einen emotionalen Ausweg! Doch immer, wenn ihre Gedanken nach dem scheinbar so nahen Trost greifen wollten, verkehrte sich der Sinn in den Worten und sie wurde zurückgeschleudert in das sich schneller und schneller drehende Gefühlskarussel. Sie hatte wirklich keine Chance gehabt, nicht wahr? Aber andererseits war sie nicht bereit, sich als schwaches, wehrloses Opfer der Umstände zu sehen, nur weil sie ein Mensch war. Egal, was die Vampirin sagte, sie würde für immer in Rogis Schuld stehen. Die Vetinari musste tatsächlich unfähig darin sein, menschliche Beweggründe zu verstehen, wenn sie dachte, die schlichte Absolution eines Vampirs könne etwas an geschuldeter Loyalität ändern. Als wenn irgendein Vampir das Recht gehabt hätte, ihre Motive zu beurteilen oder ihre Handlungen zu bestimmen - ausgerechnet ein Vampir!
Sie hob langsam den Blick, den dünnen Wasserschleier ignorierend, der das bleiche Antlitz mit den dunklen Augen weich zeichnete.
"Es ist gleichgültig, ob diese Männer jemanden meiner oder jemanden deiner Art bedrohen, Mylady. Ich habe mir stets Mühe gegeben, Vorurteile im Zaum zu halten. Aber weder werde ich es akzeptieren, dass diese Menschen Rogis Tod verursacht und wohlwollend in Kauf genommen haben, noch werde ich den Dank vergessen, den ich ihr schulde."
Die Vampirin zeigte keine Gefühlsregung, während sie sie schweigend beobachtete. Erst nach einem langen Moment sagte sie:
"Bist Du dir sicher? Du spielst mit einem gefährlichen Gedanken, wenn ich Dich richtig verstehe. Diese Gruppierung schreckt auch vor Mord nicht zurück. Natürlich werde ich mir nicht anmaßen, Dir Schranken auferlegen zu wollen. Aber ich vermute, dass dein Gönner anderer Meinung sein könnte. Mein alter Freund war immer so viel konservativer. Racul hat gewisse Schwierigkeiten, mit der Zeit zu gehen."

Die Vampirin widerstand dem in ihr aufperlenden Drang zu lachen. Ihr kleines Wortspiel war selbstredend auf taube Ohren getroffen, so sehr, wie die Wächterin mit ihren Gefühlen zu kämpfen hatte. Oh ja, Racul hatte gewisse Schwierigkeiten damit, von der Bühne des Geschehens abzutreten. Aber sie würde ihm gerne dabei behilflich sein, so sich die Gelegenheit ergeben sollte. Sein Mündel in gefährliches Terrain zu manövrieren, war dazu ein verheißungsvoller Anfang. Er würde reagieren und er würde damit unweigerlich eine Schwachstelle entblößen. Und als wäre das nicht schon Lohn genug, für ihre weite Reise, fügte sich das Versetzen dieses zartgliedrigen Bauern an die Frontlinie ihrer diversen Pläne auch noch ausgezeichnet ins Gesamtbild ihres Spiels. Die 'Infragesteller' waren ihr einmal zu oft lästig geworden. Es würde interessant werden, das weitere Vorgehen dieser Frau zu beobachten. Sollte sie tatsächlich dazu imstande sein, der Gruppierung näher zu kommen oder dieser sogar Boden abzutrotzen, umso besser! Ivanowitsch würde nicht wissen, wie ihm geschah! Wenn sie mit ihrer Vermutung richtig lag - und bisher hatte sie sich in diesen Dingen nur selten geirrt - lag ihm nicht viel an Ophelia. Ansonsten hätte die Reaktion auf ihr Erscheinen anders ausgesehen. Ein Kleinod hielt man unter ständiger Bewachung. Die Wächterin jedoch schien sich selbst überlassen. Er hatte sich nicht einmal während der emotionalsten Phase des Gespräches bemerkbar gemacht, als ihre Manipulationen zu wirken begannen! Nein, Raculs Einmischung wirkte halbherzig und erzwungen, seine Aufmerksamkeit schien nur sporadisch gebunden. Warum gab er sich dem zum Trotz noch immer mit der Gekosteten ab? Ophelia hatte in ihrer Verwirrung nicht einmal geahnt, welchem Zweck das Gespräch eigentlich diente. Stattdessen hatte die Wächterin sich geistesabwesend für die Konfrontation mit ihrem Meister gewappnet.
Ayami dachte an den geschäftigen Vorabend zurück. Sie hatte ihre Ankunft in der Stadt dazu genutzt, einige Theorien zu überprüfen. Und wirklich waren die Einträge, die seinen Namen enthalten hatten, sämtlichst aus den Wachearchiven verschwunden. Sie hatte offenbar Glück gehabt, dass ihre Kontakte damals so schnell gearbeitet hatten. Nun erinnerte nichts mehr daran, dass 'Racul von Ankh, der Tausendjährige', zum Schutz der Stadt und gewiss auch seiner eigenen Interessen, während der damaligen Belagerung die geistige Verbindung mit einer sterblichen Wächterin eingegangen war. Und doch hatte er den Pseudopolisplatz nach all der Zeit noch immer im Auge behalten und sie recht eindeutig davor gewarnt, das nahe Umfeld der toten Igorina zu verunsichern.
Ihr Lachen ließ sich nicht mehr länger unterdrücken und im Dunkel des nächtlichen Friedhofs wisperte es unheimlich über die Gräber.
"Was Du ihr jetzt auch erzählen wirst, um sie von ihren gefährlichen Plänen wieder abzubringen - blinder Loyalität einer Toten gegenüber hast Du nichts entgegenzusetzen. Sie wird das Gegenteil von dem machen, was Du wünschst. Das hast Du von deiner Arroganz, Du Narr. Mein Begrüßungsgeschenk an Dich!"

~~~ Scherben ~~~


Wenn sie es nur unbesehen in die obere Etage schaffen würde, wäre schon viel gewonnen.
Ophelia drehte den Schlüssel mit aller zur Verfügung stehenden Vorsicht und schlüpfte durch den schmalen Spalt ins Haus. Das Licht in Frau Jahwohls Räumen hatte eben noch gebrannt. Schon erahnte sie das leise Tappen von deren harten Hauspantoffeln hinter der Wohnungstür. Sie eilte die Stufen hinauf. Bloß schnell in die Wohnung flüchten, um nicht mit der älteren Hausdame sprechen zu müssen. Sie riss das Schlüsselbund klappernd zur Tür und hatte Mühe, die Öffnung überhaupt zu treffen.
Unten ging die Tür und ihre Vermieterin trat auf den Absatz. Nur deren verunsicherte Stimme schwebte hinauf.
"Fräulein Ziegenberger? Kann ich irgendwie behilflich sein?"
Sie blinzelte die Tränen weg und zerrte den Schlüssel aus dem Schloss. Dann stieß sie die Tür heftiger als nötig auf, nur um sie sofort darauf mit einem kleinen Hechtsprung aufzuhalten, ehe das Holz gegen die Flurwand gekracht wäre.
"Nein, nein, vielen Dank, Frau Jahwohl. Vielen Dank, ich benötige nichts. Einen guten Abend noch!"
Sie schwang die Tür zu, was die Stimme ihrer Vermieterin immer gedämpfter klingen ließ.
"Ich habe mir erlaubt, für Dich einen Eintopf zuzubereiten. Es geht nicht an, sich dermaßen zu grämen, dass Du dabei ebenfalls zugrunde gehst. Damit wäre auch der armen Verstorbenen - die Götter seien ihr gnädig - nicht gedient, weißt Du? Hinterbliebene müssen essen! Der Topf steht auf dem Herd."
"Vielen Dank für deine Mühen, ich werde gleich nachsehen. Gute Nacht!"
Sie drückte die Tür endgültig in den Rahmen und lehnte ihren Kopf dagegen.
Die alte Dame meinte es gut. Aber sie konnte all die mitleidigen Blicke nicht mehr ertragen. Warum sahen sie nur alle so an? Rogi war gestorben, nicht sie selbst! Überall diese Blicke, dieses Mitgefühl, dass nicht ihr gelten konnte und durfte, im Wachhaus, hier, seitens ihrer Familie...
Sie schloss erschöpft die Augen, als sie kurz daran zurückdachte, wie kräftezehrend das vormittägliche Gespräch mit ihrer Mutter gewesen war, nachdem diese den Artikel in der Morgenausgabe der Ankh-Morpork Times gefunden hatte. Kathrine hatte prompt die alte Diskussion aufgewärmt und darauf bestanden, dass sie wieder bei der Familie einzöge. Was sie nicht tun würde.
Eine Weile stand Ophelia so im Dunkeln, nur damit beschäftigt, den Kopf zu leeren, den Atem zu beruhigen. Irgendwann fand sie sich damit ab, dass sie nicht die ganze Nacht hier stehen bleiben konnte. Sie raffte die Schultern und wandte sich dem engen Flur zu. Das Streichholz flammte knisternd auf, als sie es an der geschickt angebrachten Reibfläche anriss, kurz darauf hatte sie im warmen Schein der Kerze ihre Garderobe abgelegt und trat in der kleinen Küche an den gusseisernen Herd. Den Topf mit dem Essen ignorierte sie. Stattdessen füllte sie Wasser in den Kessel, heizte die vorbereiteten Scheite an, griff nach der Schranktür, um eines der Porzellanservices hinter derem gläsernen Schutz hervorzuholen. Die im filigranen Muster durchbrochene Tür öffnete sich mit einem leisen aber sehr charakteristischen Knarren.
Sie hielt inne. Ihre Hand verkrampfte sich schmerzhaft an dem feinen Türknopf.
Auf dem Herd begann der Kessel leise zu köcheln.
Ihre eben erst mühsam wiedergewonnene Selbstbeherrschung bekam deutliche Risse und die Hand begann zu zittern. Sie löste diese mit größter Willensanstrengung von der Tür und fing das verräterische Schwanken ihres Körpers ab. Zögernd tastete sie nach der zweiten Vitrinentür und öffnete diese ebenfalls. Die Scharniere waren überraschend leichtgängig - vor allem im Vergleich zu dem, was das hochfrequente Quietschen hätte vermuten lassen. Sie ging mit unbewegtem Gesicht zu der stets offen stehenden Tür des Küchenraumes und schwang diese leicht in den Angeln. Die Folge war ein gepflegtes Knarren, wie man es höchstens von einem schweren Holzportal erwartet hätte.
Fünf Minuten später hatte sie sich davon überzeugt, dass lediglich die Wohnungstür und ihr persönlicher Wohnraum von den Veränderungen ausgenommen geblieben waren. Sie kam gerade rechtzeitig in die Küche zurück, um den überkochenden Kessel von der glühenden Platte zu ziehen und sich auf einen der beiden Stühle zu setzen. Ihr Blick richtete sich auf den zweiten, leeren Stuhl und aus den Augenwinkeln bemerkte sie die allgegenwärtige feine Staubschicht, die das flackernde Kerzenlicht wie samtiger Flor auf den Oberflächen einfing.
Die hart erkämpfte Leere in ihrem Sinn füllte sich mit Gedanken, der Knoten in ihrer Brust machte ihr das Atmen schwer.
'Sie muss etwas dafür benutzt haben, was verzögert gewirkt hat...'
Jeder neue Atemzug war einer imaginären Fessel abgerungen, die ihre Lunge zu zerquetschen drohte.
'Sie ist weg. Tot. Der Stuhl wird leer bleiben.'
Das Zittern ihrer Hand setzte wieder ein, ließ sich dieses Mal jedoch nicht mehr unterdrücken.
'Es sind noch Sachen von ihr hier. In ihrem Zimmer. Viel ist es nicht, sie hatte ja kaum etwas dabei, in der Tasche aber...'
Sie kämpfte stoßweise um Luft zum Atmen, ihre Schultern zuckten und ihre Lippen begannen zu beben.
Das Bild des Sarges, wie er der Sonne entglitt und in dem Loch im Boden verschwand, stieg ihr wieder vor Augen, schwankte ebenso, wie sie es in diesem Moment getan hatte, ehe Romulus sie aufgefangen hatte.
'Sie liegt jetzt in kalter Erde begraben, ohne Leben, verlassen. Genau jetzt, während ich hier sitze und die Wärme des Herdes spüre.'
Der Knoten in ihrem Inneren zog sich noch enger zusammen und ein Krampf durchfuhr sie gänzlich. Sie umschlang sich mit dem gesunden Arm, als wenn sie sich zusammenhalten und verhindern müsse, in tausend Scherben zu zerspringen. Sie legte den Kopf in den Nacken und ließ den Schmerz allein deswegen zu, weil er sie sonst zu zerreißen drohte.
Leises Wimmern füllte den Raum und endete in einem erstickten Schluchzen. Sie schnappte nach Luft, krümmte sich zusammen. Und endlich ließ sie den Tränen freien Lauf.
Die Kerze brannte allmählich herunter und der Einfallwinkel des Mondlichts in der Küche wanderte.
Irgendwann ebbten die Schluchzer ab, bis es geradezu gespenstisch ruhig wurde in der kleinen Wohnung.
Ophelia saß noch immer ebenso auf dem Stuhl, wie zu dem Zeitpunkt, da ihre Trauer sie übermannt hatte. Ihr Blick richtete sich leer auf die halb geöffnete Küchentür, ihre Gedanken jedoch hatten begonnen, sich frei von den üblichen Beschränkungen zu bewegen und Erinnerungen ebenso zuzulassen, wie Gefühle oder Fragen.
'Ich kann nicht untätig herumsitzen. Ich muss etwas tun. Wenn ich an diesem Tag etwas getan hätte... oder wenigstens die Akten nicht zu Breguyar gebracht und die FROG damit ins Zentrum der Ereignisse gerückt hätte! Dann wäre Rogi im Wachhaus geblieben und sie hätte nicht dem Tod Michael Machwas' beiwohnen müssen. Dann wäre sie vielleicht noch am Leben. Oder ich hätte, als sie alle zurückkamen und ich davon erfuhr, Breguyars Anweisungen missachten und einfach zu ihr gehen müssen. Bevor sie sich etwas antun konnte. Ich hätte irgendetwas tun müssen, anstatt Stunde um Stunde kostbare Zeit damit zu vertun, hinter der Glasscheibe auf die Anweisung zu warten, dass ich gehen könne. Ich habe auf Anweisungen gewartet, anstatt meinem eigenen Instinkt zu vertrauen und das zu tun, was richtig gewesen wäre! Ich habe Rogi sich selbst überlassen, während sie in all den Alptraumnächten zu mir gehalten hat und an meiner Seite wachte. Ich habe Zeit mit Unsicherheit und Warten vertan, anstatt zu handeln... Rogi ist tot. Meine Fehler ihr gegenüber kann ich nicht rückgängig machen. Aber ich will niemals wieder die Hände in den Schoß legen, wenn mein Gewissen etwas anderes von mir einfordert!'
Sie betrachtete blicklos den leeren Stuhl auf der anderen Seite des Tisches.
'Es gibt keine Gerechtigkeit, sonst hätte Rogi zig Leben gut haben müssen. Aber wann hätte es für Wächter schon Gerechtigkeit gegeben? So bitter der Gedanke klingt, die Lehre bleibt stets die gleiche. Frän gab ihr Leben, um ein anderes zu retten. Rogi nahm sich das ihre aus Verzweiflung. Obgleich sie so viel mehr verdient gehabt hätte. All die unzähligen Male, da sie Leben schenkte... Keine Gerechtigkeit... nur... Rache...'
Die Hand, mit der sie noch immer ihre linke Seite umklammerte, zuckte kurz bei dem hartherzigen Gedanken. Ihre Lippen pressten sich jedoch entschlossen zusammen. Sie streckte ihren Rücken durch, um aufrechter zu sitzen.
'Die Überwäldlerin kann solch einen Verlust vielleicht mit einem Schulterzucken als ungünstig verbuchen und dann zur Routine übergehen. Ich kann das nicht. Diese Menschen haben es sich zum Ziel gesetzt, Personen wie Rogi zu töten. Und sie haben Rogi tatsächlich ganz nebenbei erfasst, mitgeschleift und dann tot hinter sich gelassen. Sie schrecken nicht vor Mord zurück. Und was sagt mein Gewissen dazu? Werde ich wieder still darauf warten, eine Erlaubnis oder eine Anweisung zu erhalten? Nein. Dieses Mal werde ich etwas unternehmen. Die Voraussetzungen sind gut. Ich kann Einblick nehmen in die Verhörakte des Joram-Zwillings und nach einem Zugang zu der HIRN suchen. Wozu sonst habe ich all die Jahre an meiner Fähigkeit zur Tarnung gefeilt, wenn dieses Können nicht auch für etwas Größeres gut wäre?'
Der Gedanke gedieh und je länger sie die Argumente gegeneinander abwog, desto mehr schwand die anfängliche Angst vor den Ausmaßen ihres verwegenen Plans. Romulus und Araghast würden nicht begeistert sein. Manchmal waren sie zu nachsichtig mit ihr, zu besorgt. Aber sie würde sich auch von deren Einwänden nicht abbringen lassen. Sie würde sich gründlich vorbereiten und an alles denken. Und dann würde sie die HIRN unterwandern und in deren Untergang manövrieren! Das zumindest war sie Rogi schuldig.
Eine bestimmte Fallakte der letzten Wochen rief sich ihr in Erinnerung und die vage Idee nahm Konturen an.
Ophelia überdachte sie noch einmal.
'Ich weiß, wer mir helfen könnte! War er zu heute für die Spätschicht am Klacker eingeteilt? Dann müsste er bald Feierabend haben. Ich werde ihm von Unterwegs eine Nachricht schicken und dann vor dem Wachhaus auf ihn warten. Wenn ihm nicht der Sinn danach steht, mir beizustehen, dann… werde ich einen anderen Weg finden müssen.'
Sie eilte von Tatendrang gepackt in den Flur.

~~~ Mit der Materie vertraut ~~~


Die Tür des Wachhauses öffnete sich und spie sowohl Licht, als auch eine Gestalt aus.
Der schwarz gekleidete Schemen blieb auf der Treppe stehen und sah sich um. Sein Blick glitt über die Fassade des Opernhauses und in die dunklen Straßenabzweigungen seitlich von diesem.
'Die Zeit stimmt. Sie wird vermutlich… ah, da ist sie.'
Er ging seiner Vorgesetzten lächelnd entgegen, so dass sie sich auf halbem Wege trafen.
"Ma'am!"
"Bitte nicht! Deine Schicht ist ebenso vorüber, wie die meine. Wenn es Dir recht ist, dann nur Ophelia?"
Er beeilte sich, auf ihren unerwarteten Vorschlag einzugehen.
"Oh, selbstverständlich. Ich bitte vielmals um Verzeihung, Ma'… Ophelia."
Sie wirkte etwas verunsichert. Aber, in Anbetracht dessen, dass er bisher niemals um ein privates Treffen mit ihr gebeten worden war, war sie da nicht die einzige.
Sie lächelte schüchtern.
"Ich nehme an, Du hast meine kurze Nachricht erhalten?"
"Fürwahr, dem ist so. Vielleicht sollten wir alles Weitere an einem anderen Orte besprechen?"
Sie nickte zustimmend.
"Gerne! Welchen würdest Du vorschlagen?"
"Kennst Du das 'Zum Breiten Weg'?"
Sie wirkte überrascht.
"Ja, natürlich. Das ist sehr... es hat einen ausnehmend guten Ruf. Ich war bisher noch nicht dort."
Dagomar Ignatius Volkwin von Omnien beglückwünschte sich innerlich zu seiner vortrefflichen Wahl. Er würde diese einmalige Gelegenheit bestmöglich nutzen, um sie zu beeindrucken. Nachdem sie ihm vor Kurzem über das Medium der Fratzenbuch-Nachrichten die exzellenten Tipps für kulturell anspruchsvolle Veranstaltungen zukommen lassen hatte, dann aber nicht an einem Besuch selbiger hatte teilnehmen können, war er ihr etwas Gutes schuldig.
"Das ist hochgradig bedauerlich. Dann nutzen wir doch die Gelegenheit, würde ich sagen? Zuvor jedoch... Deine Zeilen ließen vermuten, dass Dir an fundiertem Wissen zum Omnianismus gelegen sei. Ein Abend, sei er auch noch so gut genutzt, würde nicht ausreichen, um einen umfassenden Einblick zu gewähren. Gewiss wird es mir ein Vergnügen sein, Dich an meinem Wissen Teilhabe nehmen zu lassen, mich deinen Fragen zu stellen. Doch könnte der Septateuch in schriftlicher Form zur weiterführenden Studie von Nutzen sein. Wohlan, derlei Lektüre befindet sich nicht in meinem Handgepäck. Womöglich ist ein Umweg über meine Residenz vonnöten, auf dass ich der Lektüre habhaft werde. Ist es Dir recht, wenn ich zu diesem Zwecke ein Gefährt ordere?"
"Ja, natürlich."
"Dann würde ich darauf hinwirken, dass wir uns zum Opernhaus hinüber begeben, um eine der dort geduldig auf Kundschaft harrenden Kutschen von deren Not zu erlösen."
Er hielt ihr andeutungsweise den rechten Ellenbogen hin. Moderne junge Damen reagierten manches Mal irritiert, wie er feststellen hatte müssen, wenn man ihnen das Geleit bot. Und da er sie noch nicht gänzlich einschätzen konnte, wollte er nicht den Fehler begehen, ihr ungewollte Galanterie aufzudrängen.
Ophelia Ziegenberger jedoch schien dieses Angebot ganz selbstverständlich anzunehmen. Wenn sie dazu auch mit einem Lächeln auf die andere Seite wechselte.
Dagomar kniff kurz die Augen zusammen und hätte sich, in Hinblick auf ihre geschiente Seite, gerne selbst einen Narren gescholten. Er räusperte sich.
"Oh. Ja. Ich bitte vielmals um Verzeihung."
"Keine Ursache."

Eine freie Droschke war schnell ausgemacht und nachdem er ihr den Vortritt überlassen und sich dann zu ihr gesetzt hatte, sagte er dem Kutscher durch die vordere Luke die Adresse an.
"Kreiselgasse 7A und möge er sich eilen!" Sie setzten sich mit einem deutlich spürbaren Ruck in Bewegung. Die Federung der Aufhängung ließ zu wünschen übrig und auch sonst hätte er Einiges zu bemängeln gewusst. War es beispielsweise immer schon so beengt gewesen in den öffentlichen Fahrzeugen oder bildete er sich das nur ein?
Dagomar empfand das Schweigen als unangenehm und versuchte es zu umgehen.
"Nun, ähm… wie geht es Dir?"
Ophelia blickte ihn verunsichert an.
"Die Ereignisse der letzten Stunden waren nicht ganz leicht. Aber es geht."
Jetzt wo sie es sagte… das Doppelbegräbnis lag erst einen knappen Tag zurück. Todesfälle waren zwar kein geeignetes Thema für 'Kleine Gespräche' aber an dieser Stelle der Unterhaltung erschien es ihm ratsam, seiner Trauer Ausdruck zu verleihen.
"Es ist ein sehr bedauerlicher Verlust für uns alle. Ich nehme jedoch an, man sollte ihrer gedenken, indem man angemessen trauert und nicht vergisst, dass das Leben auch angenehm sein kann. Sie hätten es bestimmt nicht anders gewollt."
Ophelia schluckte schwer, als sie leise bestätigte: "Ja... ein Verlust." Sie wandte sich ihm zu. "Kanntest Du sie?"
"Bedauernswerter Weise nur sehr flüchtig."
Ophelia sah aus dem Fenster und das Licht der schnell vorüber ziehenden Straßenlaternen tauchte ihr Gesicht abwechselnd in hell und dunkel. Sie sagte:
"Rogi war etwas Besonderes!"
Er nickte schnell.
"Das war sie sicherlich. Vielleicht, wenn es nicht zu sehr schmerzt, würde ich eines Tages gerne mehr über sie erfahren."
Ihr Nicken wirkte ausweichend. Oder interpretierte er zu viel hinein?
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, als sie jeweils ihren Gedanken nachhingen.
Sie überquerten mit lautem Hufgeklapper die Brücke und wurden kräftig auf dem unebenen Pflaster durchgeschüttelt. Der Fluss kam zur Linken der Kutsche in Sicht, träge und schwerfällig in seinem schwarz umschatteten Bett. Sie bogen rechterhand in eine schmale Seitenstraße ein und kurz darauf kam das wacklige Gefährt mit einem weiteren Ruck zum Stehen.
Dagomar stieg aus und hielt Ophelia die Hand hin, um ihr behilflich zu sein. Gleichzeitig überschlugen sich seine Gedanken, als er darum rang, eine Lösung für das unerwartet anstehende Problem zu finden, welches die Komponenten einer allein stehenden Dame bei Nacht, einer kalten Witterung und einer Junggesellenunterkunft beinhaltete. Er führte sie zu dem mehrstöckigen Haus und sie blickte an dessen weißer Fassade hinauf. In einigen Fenstern seiner Nachbarn brannte warmes Licht.
Er räusperte sich, als er nach dem Haustürschlüssel suchte.
"Es mag herausragendere Adressen geben, doch mir deucht, dass es auch deutlich anrüchigere gäbe."
"Ein schönes Haus. Und eine gute Gegend."
Gemeinsam betraten sie den kleinen Vorraum und erklommen dann die Treppen zu den oberen Etagen. Sie ging entsprechend seiner Hinweise voran und er folgte ihr in angemessenem Abstand. Vor seiner Wohnungstür angelangt drehte er sich nervös zu ihr um.
"Ich frage mich, ob es möglich wäre... also... ich war nicht darauf eingerichtet, den Anblick meines Heimes heute mit einer zweiten Person zu teilen. Nicht, dass dieser unzumutbar wäre aber... hm... es wäre mir ein Anliegen, Dich keinesfalls durch jugendlichen Leichtsinn in eine Situation zu bringen, die man als komprommitierend deuten könnte, so man verwerflichen Gemütes wäre oder über eine böse Zunge verfügte. Auch dies möchte ich niemandem unterstellen, doch ist Vorsicht in jedem Falle besser denn Nachsicht, nicht wahr? Wer könnte schon erahnen, zu welch unglücklichen Fügungen und gefolgerten Schlüssen es führen könnte, so ich Dich hineinbäte? Es dauert nur den Bruchteil eines winzigen Augenblickes, sodann werde ich Dir eines der Sitzmöbel hier auf den Gang bereitstellen, auf dass Du dich setzen kannst, derweil ich nach den versprochenen Büchern suche."
Noch bevor sie eine Gelegenheit zum Widerspruch hätte nutzen können, öffnete er die Tür seiner Unterkunft, huschte hinein und trug sofort darauf einen der fein gepolsterten Stühle zu ihr hinaus. Sie setzte sich mit einem dankbaren Lächeln und wartete dann in vorbildlicher Haltung auf seine Rückkehr. Er ignorierte ihren Blick bestmöglich, als er die Tür leicht hinter sich anlehnte - und dann in hecktische Betriebsankeit verfiel.
'Wo hatte ich sie nur hingetan, diese haarsträubende Sammlung fanatischer Regularien?'
Zehn Minuten später sah ein großer Teil seiner Unterkunft wirklich nicht mehr vorzeigbar aus. Dafür hatte er aber die gesuchten Schriften ausfindig machen können. Sie hatten zu unterst in der schweren Reisetruhe gelegen. Noch immer in eben jenem wächsernen Packpapier eingewickelt, in welchem sein Vater ihm den Septateuch bei seiner Abreise überreicht hatte. Er musste nicht einmal die kunstvollen Knoten lösen, mit denen das Päckchen verschnürt war, um zweifelsfrei um dessen Inhalt zu wissen. Er hob es kritisch prüfend in die Höhe, schnaufte verächtlich und trug es dann zu Ophelia.
Sie sah ihm erwartungsvoll entgegen und er zeigte ihr das kleine Päckchen.
"Da hätten wir es. Unserem Informationsaustausch in angenehmeren Gefilden steht somit nichts mehr im Wege."
Dagomar verfrachtete den Stuhl kurzerhand knapp hinter die Tür seiner Wohnung, ehe sie sich wieder auf den Weg machten.

Das 'Zum Breiten Weg' war nicht zu übersehen. Schon von Weitem leuchteten ihnen die Feuerschalen und Fackeln entgegen, der rote Läufer lud jedweden Gast herzlich dazu ein, näher zu kommen - insofern er oder sie sich einen gewissen Anspruch leisten konnte. Es herrschte ein illustres Kommen und Gehen im derzeit angesagtesten Restaurant der Wahoonie.
Dagomar führte seine Kollegin auf den Teppich.
"Nach Dir!"
"Danke!"
Sie sah sich aufmerksam um und er freute sich heimlich daran, dass ihre geweiteten Augen unschuldige Freude an all dem gläsernen Funkeln und der goldenen Pracht widerspiegelten.
Im Foyer begrüßte sie ein Mann im Frack, der ihnen dienstbeflissen über den Rand des dort aufgestellten Stehpultes hinweg entgegen sah.
"Einen wundervollen guten Abend die Dame, der Herr! Wir heißen Euch auf das Herzlichste im 'Zum Breiten Weg' willkommen und hoffen, dass alles zur vollsten Zufriedenheit vorgefunden werden wird." Der Angestellte sprach ihn nunmehr direkt an. "Darf ich mich erkundigen, auf welchen Namen bitte reserviert wurde?"
Die Fragestellung war so dermaßen lästig, zumal der Lakai ihn inzwischen wirklich widererkennen sollte. Er entschied sich für die übliche Vorgehensweise.
"Dagomar Ignatius von Omnien, guter Mann. Ich hatte jemanden geschickt, der sich darum kümmern sollte. Vielen Dank!"
Das missbilligende Zucken in dem Augenwinkel des Platzzuweisers war alles andere als professionell. Das würde er sich abgewöhnen müssen. Seiner Stimme zumindest war nach einem kurzen Pro-Forma-Blick auf das aufgeschlagene Gästebuch hinab nichts von seiner Empörung anzuhören. Die Freundlichkeit in Person antwortete mit öligem Lächeln.
"Ja, natürlich. Wenn Du mir bitte folgen würdest?"
Der Omnier zog einen der Stühle am zugewiesenen Tisch zurück, damit die Kollegin sich setzen konnte, was sie mit einem kurzen Dank honorierte. Er nahm ihr gegenüber Platz.
Ophelia schaute sich neugierig um und er genoss den Moment, indem er sie dabei möglichst unauffällig beobachtete. Sie nahm alles in sich auf, das gehobene Ambiente, die vielen Spiegel und Kerzen, die blütenweiß eingedeckten Tische, die streng in weiß und schwarz gekleideten Kellner, die unzähligen Blumengestecke, die geschmackvollen Kohlezeichnungen an den Wänden, bis hin zu dem Betrieb der offenen Bar im angrenzenden Bereich des weiten Raumes.
"Es ist wirklich sehr angenehm hier."
"Führwahr. Deswegen verweile ich gelegentlich gerne an diesem Ort."
Sie nahm die Karte zur Hand, sah jedoch fast sofort wieder zu ihm auf.
"Gibt es etwas, was Du empfehlen würdest?"
"Oh, das hängt davon ab, wonach Dir der Sinn steht. Es gibt so genannte 'Hahnenschweife', Liköre... aber auch die Weine hier sind nicht zu verachten. Während des Wartens auf das Getränk kann man sich auch gegebenenfalls Gedanken darüber machen, ob und wenn ja was, man essen möchte."
Sie legte die Karte entschlossen beiseite.
"Ein Glas Wein wäre vermutlich eine gute Idee. Ansonsten schließe ich mich deiner Bestellung an."
Ein Kellner kam an ihren Tisch und nahm die Bestellung entgegen.
Dagomar nahm durchaus zur Kenntnis, dass seine Vorgesetzte sich nicht nur seinem Urteil überließ, sondern ihm auch in klassischer Manier die Bestellung überantwortete. Er bestellte, unter anderem einen guten Rotwein namens 'Chataeuneuf-de-Annoia', und bemerkte, wie er sich allmählich zu entspannen begann. Sie mussten einen ähnlichen familiären Hintergrund haben. So reibungslos, wie sie sich aneinander anpassten, wie ihre Handlungen ineinander griffen, ohne dass sie sich dazu lange darüber unterhalten mussten, so leicht gelang dies bei zwei Menschen aus grundsätzlich verschiedenen sozialen Schichten normalerweise nicht.
'Sie ist eine angenehme Begleitung.'
Der Kellner verschwand und Dagomar entschied sich, den Grund ihres gemeinsamen Restaurantebesuchs zu thematisieren.
"Nun... bezüglich deiner Anfrage..."
Ophelia blickte ihn aufmerksam an und beeilte sich, ihn zu unterbrechen.
"Vielen Dank, dass Du dir die Zeit dafür nimmst! Und dann auch noch so kurzfristig und zu so später Stunde!"
"Oh, keine Ursache. Das tue ich wirklich gerne. In dem Paket, das ich dir eben zeigte, ist eine Kopie des Septateuch zu finden. Unerlässlich für jeden gläubigen Omnianer. Für alles Weitere stehe ich dir Rede und Antwort."
Er sah ihr erwartungsvoll entgegen.
Ophelia setzte sich sehr aufrecht. Sie straffte ihre Schultern und trug ihm dann ihr Anliegen vor.
"Ich muss gestehen, dass ich bisher nur oberflächlichen Kontakt zu dieser Glaubensrichtung hatte. Es gibt eben Allgemeinheiten, die man zu wissen glaubt. Vielleicht wäre es am Besten, wenn Du mir aus deiner persönlichen Sicht heraus davon erzählen könntest? Ich weiß, über Politik, Gesundheit und Glauben spricht man normalerweise nicht. Es ist nur so, dass ich eine Tarnidentität für eine Verdeckte Ermittlung zu festigen suche und den gegebenen Umständen entsprechend an diesen Rahmen gebunden bin."
Dagomar lächelte.
"Nun... die frühe Geschichte des Omnianismus war... weniger erbaulich. Folter und die Beseitigung von Ungläubigen waren vollkommen normal. Heutzutage sind die Omnianer jedoch etwas weniger radikal. Die Hauptaufgabe des heutigen Omnianers ist es, die Ungläubigen mit Broschüren, Gesprächen und Worten zu bekehren. Manchmal kommen auch Lieder zum Einsatz. Einem gläubigen Omnianer merkt man seine Gläubigkeit oft sehr schnell an. In Gesprächen werden Vergleiche zu den Geschichten im Septateuch angebracht, um eine Meinung oder Sachlage zu veranschaulichen. Abgesehen davon ist erkennbar, dass gläubige Omnianer obligatorisch acht mal am Tage beten. Eine weitere, grundlegende Überzeugung des Omnianismus ist es, dass die Welt eine Kugel sei. Jeder, der Anderes behauptet, wird zumindest kritisch beäugt."
"Ist das tatsächlich auch in unseren modernen Zeiten noch so?"
"Teilweise. Trotz der Tatsache, dass der Omnianismus reformiert wurde, gibt es immer noch einige, die meinen, die Welt sei eine Kugel. Mittlerweile werden diejenigen, die den Lehren Didaktylos' folgen, zwar nicht mehr verbrannt, ihre Meinung wird akzeptiert. Aber gern gesehen wird sie dennoch nicht."
Ophelia strich mit dem Zeigefinger ihrer gesunden Hand an der Serviettenkante entlang und dachte über seine Worte nach. Währenddessen wurde ihre Bestellung aufgetragen: ein leichter Salat, bestreut mit Allerlei gerösteten Köstlichkeiten. Der Wein wurde ihm vorgelegt und er lehnte das traditionelle Öffnen der Flasche unter Schütteln und Verwünschungen zu Ehren der Göttin routiniert ab. Die Kellner verschwanden wieder unauffällig und er schloss seine kurze Einführung mit den Worten:
"Das jedenfalls wäre erst einmal ein grober Überblick. Ich denke, zielführender ist es, wenn Du konkrete Fragen stellst, die ich dann versuchen werde, zu beantworten, so gut ich eben kann."
Ophelia betrachtete die kleine bunte Portion auf ihrem Teller, die formvollendet an einer Art winzigen Blumenwiese entlang drappiert worden war.
"Werden diese häufigen Gebete laut gesprochen? Oder im Stillen für sich allein?"
"Das kommt darauf an. Wo immer es eine Kongregation von Gläubigen gibt, wird lieber in Gemeinschaft gebetet. Schließlich ist die Gefahr, die darin liegt, falsch zu beten, in der Gruppe kleiner. Allerdings gibt es auch Einige, die behaupten, Om sei persönlich, weswegen sie das alleinige Gebet vorziehen. In dem Päckchen befindet sich ebenfalls ein Pamphlet, in welchem einige der gängigen Gebete zu finden sind."
"Das ist gut. Ich werde mir die Bücher genauer anschauen, sobald ich daheim bin."
Sie griff nach dem Weinglas, ignorierte die schimmernde rote Flüssigkeit darin jedoch und sah ihn an.
"Darf ich Dir eine persönliche Frage dazu stellen?"
Er tat es ihr nach und sie hoben die Gläser lautlos, mit angedeutetem Nicken, ehe er ihr mit offenem Blick antwortete.
"Selbstverständlich."
"Lebst Du den Omnianismus aus?"
Die Frage war ebenso überraschend wie absehbar gewesen und doch... sie wäre keinesfalls für ihre Ermittlungen von Bedeutung. Ihr Interesse schmeichelte ihm. Er antwortete ihr lächelnd.
"Nein. Ich habe mich davon distanziert."
Ophelia nippte an ihrem Glas und lächelte ebenfalls.
"Ich muss gestehen, dass mich das gewissermaßen beruhigt. Ich empfinde die radikaleren Tendenzen einiger Omnianer als bedenklich."
Dagomar fühlte den Impuls, sich bis zu einem gewissen Grade zu erklären.
"Sagen wir, der Omnianismus schätzt meine Lebensweise nicht. Ebenso, wie ich die Lebensweise einiger Omnianer nicht hoch schätze."
Sie nickte verständnisvoll und ergänzte ihrerseits:
"Es ist nicht so, dass ich Religion verurteilen würde. Bei den Göttern - wie sollte man auch. Aber... ja, ich denke es gibt schlicht mildere Formen, ihren Zuspruch zu erbitten."
Er nickte fast im Reflex, als er das innewohnende Problem seiner persönlichen Nemesis auf den Punkt gebracht fand.
"Ebenso denke auch ich." Er zögerte, bevor er der Vollständigkeit halber einräumte: "Nun ja, im Vergleich zum alten Omnianismus ist der Reformierte fürwahr sehr gemäßigt und mild."
Sie widmeten einen Teil ihrer Aufmerksamkeit den Speisen, ehe der Blick aus Ophelias grauen Augen ihn wieder bannte.
"Ich weiß, dass Du ursprünglich nicht aus Ankh-Morpork stammst. Kamst Du direkt von einer dieser Gemeinden hierher? Bitte halte mich nicht für zu neugierig. Wenn Du nicht näher darauf eingehen möchtest, dann habe ich gewiss Verständnis dafür."
Nun kamen sie dem unangenehmen Teil der Thematik merklich näher. Der Zauber ihrer Aufmerksamkeit verflog und er räusperte sich dezent.
"Ich komme aus einer der hohen Familien, von denen es in Omnien nur wenige gibt. Meine Familie war tief gläubig, weswegen ich... entsandt wurde, um zur Besinnung zu kommen. Es gab... Differenzen."
Sie verstand sofort und vielleicht erahnte sie sogar das angedeutete Ausmaß der Problematik.
"Das klingt wahrlich danach, dass Du... mit der Materie vertraut bist."
Ein ganz und gar nicht herrschaftliches Schnauben entfuhr ihm.
"Auf die eine oder andere Art, ja."
Sein atypisches Auffahren war ihm unangenehm und sie bemühte sich offensichtlich, das für ihn so unangenehme Thema mithilfe einer Erklärung dazu zu umschiffen, aus welchem Grund sie zu vorderst mit ihrer Nachfrage an ihn herangetreten war.
"Meine angedachte Tarnidentität beruht auf einer tatsächlichen Person. Die erst vor kurzem in die Stadt kam. Ich bin mir nicht sicher, ob sie hier den Kontakt zur Gemeinde suchen würde."
Er war überrascht.
"Aha. Und, wenn mir die Frage erlaubt ist, wieso kontaktierst Du diese Person dann nicht selbst?"
Ophelia errötete bei seinem Vorschlag deutlich und nahm zu einem Schluck Wein Zuflucht, ehe sie auf die Frage einging.
"Ursprünglich hatte sie vor, den... sagt man Brüdern und Schwestern? Ihnen den Rücken zu kehren und hier ein neues Leben mit ihrem frisch angetrauten Mann zu beginnen."
"Ah. Und die Gemeinde weiß von ihr?"
Ophelia atmete durch.
"Die Person ist... sie wurde..." Ophelia atmete nochmals tief durch und rang scheinbar mit sich, wieviel sie ihm verraten könnte. "Ich..." Sie seufzte.
Dagomar lächelte amüsiert.
"Es ist in Ordnung, wenn Du nichts verraten darfst, kannst oder möchtest."
Sie stellte das Glas wieder ab und entschloss sich offenbar zu größtmöglicher Offenheit.
"Die Sache ist kompliziert. Ich habe mit betreffender Person vor einigen Wochen im Rahmen meiner Aufgaben zu tun bekommen, als sie eine Anzeige stellen wollte. Sie hat einen tragischen Verlust erlitten. Ihr Mann verstarb bei einem Angriff vor den Stadttoren. Leider konnte ich ihr nicht... das ist nicht unser Zuständigkeitsbereich."
"Oh."
Sie blickte betroffen auf ihren nahezu unberührten Teller und erklärte etwas leiser weiter:
"Sie hatten ihre Gemeinde verlassen und sie hat mir zu verstehen gegeben, dass sie zwar zurückkehren und vermutlich wieder aufgenommen werden würde aber... Nun ja, warum ich das erzähle... ihre Identität wäre für meine Zwecke derzeit perfekt geeignet. Erst recht, da sie sich nicht mehr in der Stadt befindet und daher keiner Gefahr ausgesetzt wäre, ihre Geschichte aber anhand der Eckdaten der hiesigen Ereignisse nachvollziehbar wäre. Falls Nachforschungen angestellt würden. Ich gehe also davon aus, dass sie in meiner Variante als Witwe in der Stadt verbleiben und sich allein durchzuschlagen versuchen würde. Bei Nachfragen würde ich argumentieren, dass sie in ihrer alten Heimat verstoßen wurde. Ist das realistisch? Oder verfalle ich dabei nur gängigen Gerüchten?"
Er dachte kurz über die Frage nach und es war unvermeidlich, dass dabei Erinnerungen an sein Zuhause in ihm aufstiegen. Er verdrängte diese bestmöglich.
"Nun... vielleicht könntest du dir eine weitergehende Erklärung überlegen, falls tiefergehend gefragt würde. Die Omnianer lehnen es beispielsweise zwar nicht ab, wenn sich eine Frau einen neuen Mann sucht, wenn dieser gestorben ist. Was jedoch sehr ungern gesehen wird: Wenn sie sich wenig Zeit lässt, um angemessen zu trauern. Angenommen, die Tarnidentität würde dessen verdächtigt, wenn sie es auch nicht wirklich getan hätte, so wäre dies definitiv ein Grund, verstoßen zu werden."
Ophelia nickte verstehend.
"Ein wertvoller Hinweis." Ihr Blick wirkte kurzzeitig abwesend, während sie in Gedanken Pro und Kontra abwägte. "Ich denke es wäre sicherer für mich, die Darstellung nicht zu eng an den Glauben anzulehnen. Es gäbe zu viele Fehlerquellen für mich. Dann wird sie in meiner Variante eine etwas distanziertere Haltung zu ihrer religiösen Erziehung einnehmen. Damit erübrigt sich dann auch die Suche nach einer hiesigen Gemeinde, um einen Kontakt aufzubauen."
Er nickte, denn dieser Beschluss erschien auch ihm vernünftiger.
"Wenn es deinen Ermittlungen nicht hinderlich ist, dich dermaßen einzuschränken, wäre es tatsächlich womöglich eine bessere Idee."
Ihr fiel ein Detail ein.
"Sollte ich dennoch einen Om-Anhänger tragen? Was denkst Du?"
"Ich denke, das würde deine Rolle glaubhafter machen, ja."
Sie nickte, gerne dazu bereit, seinem Rat zu folgen.
"Gut. Dann werde ich das tun."
Ihre Aufmerksamkeit richtete sich vollends auf das Hier und Jetzt und sie lächelte mit warmem Leuchten in den Augen zu ihm hinüber.
"Ich bin wirklich froh darüber, Dich mit diesen Fragen bedrängen zu dürfen. Ich hätte nicht gewusst, an wen ich mich sonst so kurzfristig hätte wenden können."
"Ich hoffe, ich war hilfreich."
"Ja, das warst Du, vielen Dank!"
Dagomar fühlte sich beflügelt und so war es bedauerlich, als sie sich zu fortgeschrittener Stunde eben doch darauf einigen mussten, dass der Abend sich seinem Ende entgegen neigte. Der Kellner brachte ihm die Kladde mit der verdeckten Rechnung. Der überaus freundlichen Verabschiedung des Personals zu folgern, war er mit seinem heutigen Trinkgeld vielleicht etwas großzügiger als sonst gewesen. Aber tatsächlich war dieser Umstand nicht einmal einen weiteren Gedanken wert, als er ihr kurz darauf eine Droschke herangewunken hatte und dieser nachsah, während er noch immer inmitten der oppulenten Feuerbeleuchtung auf dem Gehsteig vor dem 'Zum Breiten Weg' stand.

~~~ Schlüsselgewalt ~~~


Der Abteilungsleiter von 'Raub und unlizensierter Mord' saß schon seit geraumer Zeit, tief in seinen Schreibtischstuhl zurückgelehnt, im morgendlichen Büro. Die Nacht war kurz gewesen, so sehr vereinnahmten ihn die schnellen Veränderungen der letzten Tage. Und dann hatte der Patrizier seine Wachen auch noch vor dem Morgengrauen zum Pseudopolisplatz geschickt, um Sebastian Joram aus dessen Zelle holen und ihn zum Richtplatz führen zu lassen. Er hatte zwar nichts in die Richtung verlauten lassen aber es schien Bregs mehr als recht gewesen zu sein, als er ihn grimmig davon in Kenntnis setzte, der Vollstreckung beiwohnen zu wollen. Sie hatten weder auf dem Hin-, noch auf dem Rückweg viel miteinander geredet. Kurz bevor sie das Wachhaus jedoch wieder betraten, hatte sein Freund ihn darum gebeten, noch auf einen Schluck in dessen Büro mitzukommen.
Und nun lagen Rogis Schlüssel bedeutungsschwer vor ihm auf dem Schreibtisch.
Romulus rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht und gab einen abgrundtiefen Seufzer von sich, ehe er sie wieder auf die Stuhllehnen fallen ließ und den dicken Schlüsselbund betrachtete.
Asservaten- und Waffenkammern, Fundi der verschiedenen Abteilungen, das Munitionsdepot, die Archivräume, Frau Piepenstengels geheime Vorräte, ja, sogar der Schrank mit den Personalakten in Bregs eigenem Büro... alles, was irgendeine Art von Wert besaß, stand ihm mit diesem Haufen Sonder- und Generalschlüssel offen. Eine Verantwortung der Art, um die er nicht gebeten hatte. Es fühlte sich einfach nicht richtig an. Rogi war diejenige gewesen, die im Wachhaus gewohnt hatte und nichts war selbstverständlicher gewesen, als dass eben auch sie sämtliche Zugangsmöglichkeiten der übrigen Wächter verwaltete.
Sein Blick wanderte zu dem Morgendunst außerhalb seines Bürofensters.
Rogi fehlte, wohin man auch blickte. Man merkte es nicht nur an der allgegenwärtigen Betroffenheit, den fassungslosen Gesprächen, den sporadisch zusammentreffenden Trüppchen, die sich mit ernsten Gesichtern und gesenkten Stimmen unterhielten. Von dem emotionalen Faktor abgesehen, spürte man es auch daran, wie die Routineabläufe hakten und Dinge ins Stocken gerieten, an die niemand gedacht hatte, weil sie bisher immer mit völliger Selbstverständlichkeit vonstatten gegangen waren.
Einer der neuen Rekruten hatte sich verwirrt am Tresen unten gemeldet und in seiner Ahnungslosigkeit mit der Frage, wo denn die Futtersäcke für den Taubenschlag zu finden seien, ein mittleres Chaos ausgelöst. Selbstredend wusste beinahe jeder, wo diese hätten stehen müssen. Dort lagen jedoch nur noch leere Jutebeutel. Nach eingehender Suche von immer mehr beteiligten Wächtern stand bald fest, dass Rogi vermutlich vor etwa drei Tagen die Nachbestellung in Auftrag hätte geben müssen. Der fragliche Rekrut war umgehend damit beauftragt worden, den Nachschub zumindest schon mal eines Sackes zu verantworten. Letztlich hatte dieses Drama ganze fünf Wächter über Stunden beschäftigt gehalten, denn natürlich waren Fragen wie 'von welchem Händler', 'in welcher Mischung', 'wer legt das Geld aus' und 'wieviel darf sowas denn überhaupt kosten' nur der Anfang gewesen.
Die Schichtpläne sämtlicher Abteilungen waren einmal über den Schreibtisch des Kommandeurs gewandert, um sicherzustellen, dass im Notfall eine medizinische Versorgung durch einen Wächter mit Sanitäterausbildung gewährleistet war. Bei den bisherigen Einteilungen hatten die Abteilungen diesen Aspekt nur Pi mal Daumen berücksichtigt - letztlich war ohnehin oft Rogi eingesprungen, da man sie nur beim Namen gerufen hatte, ohne zuvor nachzusehen, wer offiziell eingeteilt gewesen wäre. Und Rogi hatte stets einsatzbereit mit ihrem hervorragenden Fachwissen zur Verfügung gestanden. Das würde nie wieder so sein. Nun hieß es mit Umsicht zu planen, sich zu koordinieren.
Aus der Kröselstraße kamen vorsichtige Anfragen, wer denn nun den Verbandsmittelvorrat obwalten und die Sani-Kurse abhalten würde.
Im verweisten Büro der Sanitäterin stapelten sich die Akten bereits jetzt dadurch in chaotischer Weise, dass ein jeder sich diejenigen herauszusuchen versucht hatte, die für seine jeweiligen Fälle nicht darauf warten konnten, von den völlig überarbeiteten Kollegen der SUSI herüber geholt zu werden. Es waren bereits vereinzelt Fremdgutachten zu Rate gezogen worden, was seitens der SUSI-Kollegen mit gekränkter Verachtung, seitens des Kommandeurs mit missbilligendem Blick auf die zusätzlich entstehenden Kosten quittiert wurde.
Und dann gab es noch den Moment, als er aus rein sentimentaler Anwandlung heraus in den Keller gegangen und dort an ihrer Tür auf Bregs getroffen war, der zu entscheiden versuchte, wie die Wache es mit ihrem bescheidenen finanziellen Spielraum bewerkstelligen sollte, den einsatzbedingten Verbrauch an Schmerzmitteln zu stemmen. Rogi hatte vergleichsweise aus dem Nichts heraus gewirtschaftet, indem sie alle benötigten Tinkturen und Seren aus solchen Kräutern und Konzentraten extrahierte, die sie selbst herstellte.
Romulus gab sich einen Ruck und kramte in seinen Schreibtischschubladen nach einer Dose Superbulle. Der Verschluss gab nach und er stürzte die ersten Schlucke frustriert hinunter.
Nein, in Bregs Schuhen wollte er momentan gewiss nicht stecken, so viel stand mal fest!
Flupp!
Der Deckel am Endstück des Rohrpostsystems in seinem Büro ploppte zur Seite und eine kleine, längliche Röhre knallte auf seinen Schreibtisch, wo sie nur kurz auftuppte, um sofort darauf im nächsten Aktengebirge festzustecken.
"Kommt vom Klacker, altes Bartgestrüpp!"
Schon war der Dämon wieder weg.
Romulus griff widerwillig nach dem Röhrchen und öffnete es, um die handschriftliche Nachricht zu entnehmen. Er las sie mit gerunzelter Stirn und ließ sie dann mit einem noch tieferen Seufzer sinken.
'Auch das noch! Ophelia bittet darum, den Tag frei zu bekommen. Selbstverständlich werde ich ihr keine Steine in den Weg legen. Wir hatten es ja gehofft, dass sie sich wenigstens einen Tag lang zurückziehen und schonen würde, nach all dem... nur irgendwie... ich hatte wirklich gedacht, dass sie das Angebot nicht annehmen würde. Und es ist so viel zu tun, dass... naja. Es wird auch so gehen.'
Er schob einen der Aktenstapel aus der Mitte der Schreibfläche, um sich etwas Platz zu schaffen, griff nach Feder und Papier, um die Antwort aufzusetzen.
Sein Blick traf auf Rogis Schlüsselbund und blieb daran hängen.
Dann griff er entschlossen danach. Er stopfte es zu den Supperbulledosen ins Fach.
'Eins nach dem anderen.'

~~~ Sehr zuvorkommend ~~~


Der Bankangestellte kehrte in den abgeteilten Bereich zurück, in dem die schlanke Frau auf ihn gewartet hatte. Sie sah ihm aufmerksam entgegen.
"Bitte halte mich nicht für aufdringlich, Fräulein Ziegenberger, nur der Form halber, damit auch sicher ist, dass ich nichts falsch verstanden habe: Du möchtest den gesamten angelegten Betrag ausgezahlt haben, nicht einfach nur die bereits angehäufte Summe der Zinsen?"
Die Frau nickte mit unverbindlichem Lächeln.
"Ja, bitte!"
Er legte den schwarzen Samtbeutel auf dem Tisch ab, während er sich zwischen die Sichtschirme ihr gegenüber setzte, seine Frackschöße mit Schwung nach hinten flippen ließ und sich dann die geölte Stirnlocke mit den manikürten Fingern zurückstrich. Er schnalzte mit der Zunge.
"Je, nun. Wie Du wünschst. Das ist natürlich sehr bedauerlich, da sich der Zinsertrag erst mit Eintreffen der nächsten Zahlungen wieder anhäufen wird, nicht wahr? Gut, wo waren wir stehen geblieben?"
Er zog die Geldbündel aus dem Beutel und legte sie in fein säuberlichen Stapeln aus, akkurat aneinander ausgerichtet.
"Dann wollen wir mal, nicht wahr?"
Mit einem verwegenen Schnippen löste er den dünnen Bindfaden um das erste Packen und begann dann in flottem Tempo die Scheine durchzuzählen.
Die kleine Rothaarige beobachtete ihn schweigend.
Ein Geldbündel folgte auf das nächste. Er schloss die Zählung, indem er den letzten Schein mit einem akkurat gefeilten Fingernagel auf dem Stapel niederdrückte.
"Voila! Ein schönes Sümmchen, Fräulein Ziegenberger. Möchtest Du ein kostenloses Etui mit unserem Bankzeichen für den Transport?"
"Ein freundliches Angebot, Herr Prökel, gerne. Wenn es nicht zu viele Umstände macht, wäre ich Dir zudem sehr verbunden, wenn mit Eingang der nächsten Einzahlung eine Benachrichtigung an mich ergehen könnte. Ein kurzer Hinweis genügt."
Er nickte zuvorkommend, dachte im Stillen aber, wie anmaßend sie doch sei. Sie benahm sich wie eine Adlige, dabei wusste er aus ihrem Kontenblatt ganz genau, dass sie nur eine billige kleine Wächterin mit mickrigem Sold war. Diese neuerlichen Zusatzzahlungen flossen hingegen von ganz anderer gesellschaftlicher Stufe auf ihr Konto herab, wie warmer Regen aus den himmlischen Pforten. Sehr suspekt!
Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte die Bank der Wächterin einen Mitarbeiter an die Fersen heften sollen. Einen von der diskreten Sorte. Aber es ging ja nie nach ihm, seine Vorgesetzten missachteten sein großartiges Potential. Sie würden schon noch sehen, was sie davon hätten, einen Mann wie ihn vom rasanten Aufstieg abhalten zu wollen, jemandem wie ihn, mit seinem genauen Auge für Details, seiner Klugheit und seinem Scharfsinn!
In Anbetracht ihrer gefälligen Erscheinung hatte er erst auf eine Unlizensierte getippt, dann aber ihren geschienten Arm bemerkt. Damit fiel die wahrscheinlichste Ursache für den Geldsegen unter den Tisch, denn welcher Mann hätte sich schon mit Ausschussware abgegeben. Dann kam ihm in den Sinn, dass es sich bei der freigebigen Familie um einen Vampirclan handelte. Das konnte es schon eher erklären, denn eingeschränkte Bewegungsfähigkeit würde wohl nur wenig Einfluss auf Geschmacksnuancen haben? Die Frau trug hochgeschlossene Kleidung und vielleicht war auch der lädierte Arm ein Souvenir, wilder Eskapaden? Der Gedanke verursachte ihm Übelkeit. Was für ein Flittchen! Aber was konnte man auch anderes von einer Wächterin erwarten? Zumindest floss das Geld durch dieses Institut und finanzierte ihm somit sein Gehalt. Womit das willfährige Weib einen gewissen Nutzen haben mochte.
Sie reichte ihm eine kurze Notiz über den Tisch.
"Bitte berücksichtige, dass ich seit einigen Tagen unter dieser Adresse zu erreichen bin, Herr Prökel. Die vorige ist somit hinfällig."
"Dunnerlüttchen, das ist natürlich wichtig, Fräulein Ziegenberger. Warum hast Du das denn nicht gleich gesagt? So ein Umzug verschlingt selbstredend viel Geld, da kommen die Zahlungen des Herrn Tschentowitsch gerade recht, wie ich annehme. Sehr zuvorkommend von ihm, so für Dich zu sorgen."

~~~ Künstlerische Freiheit ~~~


Peter Daum ließ seine Hand begehrlich durch das weinrote, hüftlange Haar fahren. Die Struktur war gesund bis in die Wurzeln, die spielenden Farbnuancen exquisit und darüber hinaus lief es glatt und glänzend wie Seide über seine Finger. Er brummte zufrieden und konnte nicht der Regung widerstehen, scheinbar kritisch nachzugreifen und es nochmals über seine Haut gleiten zu lassen.
Die Kundin schien sich dabei nicht ganz wohl zu fühlen, kehrte ihm aber geduldig den Rücken zu.
Gleichgültig, wie lange er es noch betrachten und prüfen würde, an der Qualität gab es nicht das Geringste auszusetzen. Es juckte ihn jetzt schon in den Fingern, mit diesem Material zu arbeiten. Ihre Bitte war ungewöhnlich, nicht nur in Anbetracht dieser durch und durch gesunden Haarpracht.
Sie wandte leicht den Kopf.
"Ist es machbar, Herr Glorius? Oder habe ich mir zu viel erhofft?"
Die Nennung seines Künstlernamens brachte ihn wieder zu Sinnen und mit einem Räuspern ließ er die schweren Strähnen gegen ihren Rücken fallen. Es ging ums Geschäftliche. Wenn er seiner Bewunderung zu sehr Ausdruck verlieh, würde sie um den Preis zu feilschen beginnen, denn allein an ihrem Auftreten, als sie ihr Anliegen vorgebracht hatte, war seiner Meinung nach ablesbar gewesen, dass diese Dame ganz genau wusste, was sie wollte und es gewohnt war, eben dies auch durch sanften Druck zu den für sie annehmbarsten Konditionen zu erhalten. Er setzte einen leicht desinteressierten, wie er meinte professionellen, Gesichtsausdruck auf, ehe er sie gelassen umrundete.
"Gewiss, Fräulein Ziegenberger. Du sprichst schließlich nicht mit irgendwem, sondern mit Armand Glorius. Ich verkaufe nicht einfach irgendwas, ich biete eine hochwertige Dienstleistung, das Besondere - Kunst! Die selbstredend ihren Preis hat, nicht wahr?"
Er entblößte sein strahlendstes Lächeln.
Sie nickte verhalten.
"Das ist mir bewusst. Nenn mir deinen Preis, Herr, und ich bin mir sicher, dass wir uns einigen werden."
Sein Lächeln gefror ein Wenig in den Mundwinkeln, doch dann wurde sein Blick von dem schimmernden bordeaux abgelenkt, welches ihr zartes Gesicht so prachtvoll umrahmte.
Er seufzte innerlich sehnsuchtsvoll. Wann hatte er das letzte Mal getan, was sein Aushängeschild proklamierte und nicht des reinen Profits wegen mit drittklassigem Füllstoff gearbeitet? Ihr eindringlicher aber nichtsdestotrotz freundlicher Blick tat sein Übriges.
"Ja", antwortete er gedehnt. "Ich teile deine Einschätzung." Er riss sich von ihrem Anblick los und deutete ihr mit einem eleganten Schwung seiner ausgestreckten Hand, ihm in den hinteren Bereich seiner Räumlichkeiten zu folgen.
"Wenn Du bitte Platz nehmen würdest..."
Auf dem Weg scheuchte er seinen dürren Lehrling in den Verkaufsraum nach vorne und flüsterte ihm dabei zu:
"Ich bin für den Rest des Tages für keinen weiteren Kunden zu sprechen."

~~~ Ein Hauch von Diskrepanz ~~~


Die Türglocke schlug scheppernd an. Er blickte über den Rand seiner halbierten Augengläser hinweg zum Eingang und beobachtete, wie sie die ersten Sonnenstrahlen des fortgeschrittenen Tages mit sich hereinbrachte. Die elegante Kundin schloss die Tür vorsichtig hinter sich und sah sich gezielt nach einem Ansprechpartner um.
Ihrer beider Blicke trafen sich und er nickte ihr freundlich zu.
'Sie weiß, was sie will und wird nicht erst suchen.'
Er erhob sich vorsichtig von dem Tisch mit den ausgebreiteten Kräutern, Mörsern, Stößeln, Glas- und Porzellanschüsseln und ging ihr leicht gebeugt entgegen. Sein ausgeblichenes Haupthaar stand ihm wie immer in einer unordentlichen Wolke um den Kopf, so dass es um ihn herum aufleuchtete, als er in den Sonnenfleck trat.
Sie blickte ihm fragend entgegen.
"Bist Du der Inhaber? Alfred Unter-dem-Haus?"
Er nickte bedächtig und für einen kurzen Moment erfreute er sich einfach an der Erinnerung, wie er damals, in seiner aufregenden Jugend, zu seinem Namen gekommen war. Die Zeit in der Alchemisten-Gilde war die beste seines Lebens gewesen und das sollte etwas heißen, bei all den Abenteuern, die er gekostet hatte.
"Ja, der bin ich, junge Dame. Wie kann ich Dir weiterhelfen?"
Sie hob eine ihrer Hände zum Kopf und deutete auf die kinnlange Frisur. Er bemerkte, dass die Schnittkanten ganz frisch sein mussten, so exakt, wie sie endeten und so wie sie sich kraftvoll bogen.
"Ich möchte mein Haar schwarz färben und dazu eine Tinktur in ausreichender Menge bei Dir erwerben, Herr. Sie sollte möglichst schonend zu Kopfhaut und Haar sein und mindestens einen Monat gleichbleibend gut halten. Ich komme mit meiner Anfrage zu Dir, weil ich gehört habe, dass Du ein redliches Geschäft betreibst und daran Interesse hast, dass deine Kunden wiederkommen."
Er betrachtete den wundervollen Farbton, welcher selbst in dem dämmrigeren Bereich seines Ladens, in dem sie stand, warm leuchtete.
"Ein echter Verlust..."
Sie wollte zu einer Erklärung ansetzen, doch er unterbrach sie mit einem verständnisvollen Zwinkern. "Aber es gibt Wichtigeres, als sentimentale Anhänglichkeit an alte Zöpfe, ich weiß."
Sie wirkte überrascht.
Das Erscheinungsbild und das Auftreten dieser jungen Frau wiesen einen Hauch von Diskrepanz auf. Nicht viel aber genug, um ihn misstrauisch zu machen. Er lebte lange genug in dieser Stadt, um zu erkennen, wann ein Kunde interessante Zeiten durchlebte und mehr benötigte, als ein Pülverchen oder Zahnseide. Allerdings schlugen seine ausgeprägten Gefahreninstinkte in ihrer Nähe nicht an. Weswegen sie auch unterzutauchen suchte, es war ihr vermutlich noch nicht dicht genug auf den Fersen. Sie begann früh genug damit, ihre Spuren zu verwischen.
'Soll ich ihr mehr Hilfe anbieten? Oder soll ich mich lieber nicht in diese Sache hineinziehen lassen? Hmmm... Alfred, Du bist nicht mehr der Jüngste. Überlege Dir das gut, alter Mann. Damals konntest du über die Barrikaden klettern wie ein junges Reh und den Explosionen ausweichen wie ein Karnickel. Heutzutage würde dich so eine nette kleine chemische Reaktion erwischen, bevor Du auch nur den ersten Schritt gemacht hättest. Und Anni und die Kinder würden es Dir übel nehmen, wenn Du in Schwierigkeiten gerietest.'
Er drehte sich um und winkte ihr mit einem Schmunzeln über die Schulter, ihm zu der langgezogenen Holztheke mit den dahinter stehenden Apothekerschränken zu folgen. Seine arthritischen Finger fuhren die Beschriftungen der kleinen Schubläden ab, bis er an einer davon verharrte, sie hervorzog und hineinsah.
"Es ist noch genug da. Ich kann Dir die gewünschte Mischung ansetzen. Möchtest Du so lange warten?"
Sie schien eine Reihe von noch anstehenden Erledigungen zu durchdenken. Dabei legte sich beredt ein so sorgenvoller, unschuldiger Ausdruck über ihr Gesicht, dass er sie ungewollt ins Herz schloss. Ihre Ernsthaftigkeit erinnerte ihn an seine jüngste Enkeltochter.
"Ich mache uns nur eben einen Tee. Lass mich raten, junge Dame: Roter Nachtschatten?"
Sie nahm das Angebot widerstrebend an.
Auch ihr verletzter Arm war ihm nicht entgangen.
Er schüttelte inwendig über sich den Kopf.
'Es ist nicht nur ihre Art... es ist die Aufregung, die lockt. Nach all den Jahren wieder das Knistern der Spannung im Rückrat zu fühlen! Sie wird vermutlich kaum jemandem vertrauen und mit diesem Arm auch nicht ohne Weiteres selber färben können. Es würde zu viele Spuren hinterlassen. Ein Barbier, den man normalerweise deswegen aufsuchen würde, könnte hingegen käuflich sein. Ich weiß nun ohnehin, dass sie bald anders aussehen wird. Ich werde ihr anbieten, Anni in den Laden runterzurufen und die das machen zu lassen. Die Zutatenkombination für eine schwarze Färbung ist etwas heikel, da schadet es ihr nicht, etwas mehr Erfahrungen zu sammeln.'
Er griff nach der geränderten Teekanne, um sie in der kleinen Nische mit Wasser zu füllen. Dann wandte er sich der Besucherin zu und blickte sie über den Rand seiner Brillengläser hinweg an.
"Keine Sorge! Nutze die Zeit und entspanne Dich, hier bist Du in Sicherheit, junge Dame."
Ihr verunsicherter Blick sprach Bände.

~~~ In dieser Stadt ~~~


Gritt Setzer blickte nicht einmal auf, als jemand zaghaft an der verklemmten Tür zum Redaktionsbüro rüttelte.
"Fester!"
Sie überflog schnell den letzten Absatz des kurzen Artikels und entschied, dass selbiger sogar für die hartgesotteneren Schlichtgemüter Ankh-Morporks zu sehr nach Bodensatz klang und es daher nicht in die Abendausgabe schaffen würde. Sie ließ ja eine Menge Schrott durchgehen, wenn der Tag lang war und noch eine Lücke gestopft werden musste. Aber das hier... nein, da musste er eben noch mal von vorn anfangen.
'Vielleicht schaffe ich es endlich, vor dem Hausmeister rauszukommen?'
Das vorsichtige Rappeln an der Tür hielt an und ging ihr auf die Nerven. Deutlich lauter als zuvor blaffte sie: "Fester gegendrücken, hatte ich gesagt, Menschenskinder!"
Endlich sprang die Tür auf.
Sie blickte nur kurz auf, bevor sie auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch deutete und schon zum nächsten Blatt Papier griff. Gelangweilt leierte sie ihren Standardtext herunter.
"Willkommen bei der Ankh-Morpork Times, Zweigstelle Anzeigenannahme und ähnlicher Kram, was kann ich für Dich tun?"
Die Besucherin blieb vor dem Möbel stehen und starrte mit so eisigem Schweigen auf sie herab, dass sie letztlich doch aufsah und sich entnervt an die Lehne zurückplumpsen ließ.
"Was?"
Sie hatte es offenbar mit der Sorte 'Schwarze Witwe' zu tun. Zumindest war die Frau von Kopf bis Fuß in Trauer gekleidet. Ihre Haltung war aufrecht und unnachgiebig, der Gesichtsausdruck - soweit durch den dunklen Kurzschleier zu erkennen - missbilligend. Um den Hals trug sie eine kurze Kette mit der omnianischen Schildkröte als kleinem, schmucklosen Anhänger.
'Na, bei dem mürrischen Blick passt das ja wie die Faust auf's Auge...'
"Ich möchte eine Anzeige aufgeben."
"Ja und? Dann tu das doch."
Die Schwarzgekleidete gab ein herablassendes Schnaufen von sich.
"Ich bin es immer noch nicht gewohnt, wie extrem unhöflich man in dieser Stadt behandelt wird."
Gritt rollte mit den Augen, brachte aber nicht genug Elan dafür auf, zu dieser späten Stunde noch mit Ironie zu kontern.
"Weißt Du was? Gib mir einfach deinen Anzeigentext und das Geld dafür und dann können wir wieder getrennter Wege gehen und andernorts nach fröhlicherer, oder in deinem Fall eben nach höflicherer Gesellschaft suchen, richtig?"
Die Frau gab wieder ein abgehacktes Schnaufen von sich, setzte sich dann aber mit hölzernen Bewegungen auf den angebotenen Stuhl. Sie öffnete ein kleines Retikül und entnahm diesem einen gefalteten Zettel, den sie ihr über die Tischplatte hinweg reichte.
"Es ist ein Stellengesuch."
Der Text war kurz und bündig, nicht sonderlich einfallsreich aber präzise. Diese unleidliche Person wollte also als Zimmermädchen unterkommen? Prost Mahlzeit! Mit so einer würde sie jedenfalls nicht geschlagen sein wollen. Überhaupt, wer würde schon jemanden in Trauer einstellen? Da verging einem ja schon morgens die gute Laune, so man welche sein Eigen nannte, wenn man von so einer Leidensmiene begrüßt wurde. Aber gut, das war ja glücklicherweise nicht ihr Problem. Sie streckte die Hand aus.
"Das macht pauschal einen Dollar für vier Schaltungen in den nächsten zwei Wochen. Die Platzierung bestimmen wir. Es gibt keinen thaumaturgischen Schnickschnack, wie glitzernde Hervorhebungen, Farbiconographien oder blinkende Rahmen. Antworten können täglich von zehn bis zwölf Uhr am Vormittag abgeholt werden."
Die junge Witwe reagierte erst nicht, rümpfte dann jedoch die Nase.
"Gibt es denn nichts Schriftliches, wenn ich die Gebühr bezahle?"
Sie senkte in herausgeforderter Geduld die Stirn und betonte jedes Wort mit erzwungener Kühle.
"Es ist verdammt spät, draußen ist es längst dunkel und langsam wird es auch noch empfindlich kalt, was mich nicht davor schützt, gleich noch losflitzen zu müssen, um die letzten Stände auf dem Markt abzuklappern, damit ich etwas zu Essen zu Hause habe. Deine Anzeige wird gedruckt, gut ist's. Soll ich dir etwa einen Zettel dafür ausstellen, dass Du meine Zeit, lange nach Redaktionsschluss, über Gebühr beansprucht hast? Möchtest Du vielleicht eine Rechnung dafür?"
Die Besucherin stand abrupt auf und legte das Geld gekränkt auf den Tisch, wobei sie die noch immer offen entgegen gehaltene Hand ignorierte. "Nicht nötig!" Sie wandte sich zum Gehen und hielt an der Tür nur dazu inne, um mit verkniffenem Mund anzufügen: "Aber wenn ich die Anzeige nicht in den nächsten beiden Wochen gedruckt finde, dann stehe ich in sehr kurzer Zeit wieder hier und dann beschwere ich mich!"
Die Tür klemmte auch jetzt, so dass der Rückzug der Witwe nicht ganz so würdevoll von Statten ging, wie diese sich das vermutlich gewünscht hätte.
Als die Besucherin weg war, äffte Gritt deren abfälliges Schnaufen nach.
'Pft! Versuchs doch!'

~~~ Nachtwache ~~~


Ophelia hatte soeben die Schlechte Brücke überquert, als die Nacht sich geradezu unheimlich verdunkelte und der Wind plötzlich auffrischte. Sie zögerte einen Moment vor dem breiten Pfad, der in den unbeleuchteten Apothekergarten führte. Ihr Blick richtete sich in die tief ziehende, schwarze Wolkendecke hinauf.
Der Apothekergarten hatte zwar keinen so schlechten Ruf, wie andere der städtischen Parkanlagen, doch er war langgezogen, durchsetzt von uneinsichtigen Bereichen und zu dieser späten Stunde gemieden von den redlicheren Bürgern der Gegend. Sollte sie es wagen? Oder lieber nicht?
Der Wind wurde stärker, beständiger. Die einzelnen Böen gingen allmählich ineinander über und ihre Röcke wurden inzwischen so kraftvoll gegen ihre Beine gedrückt, dass sie hinter ihr geräuschvoll zu flattern begannen.
'So schnell! Wo kommt dieses Unwetter so plötzlich her? Wenn es weiter mit dieser Geschwindigkeit aufzieht, schaffe ich es nicht mehr rechtzeitig nach Hause.'
Der Gedanke brachte die Entscheidung, denn allen anderen Unbillden zum Trotz: Die Grünfläche würde eine Abkürzung bedeuten!
Sie gab sich einen Ruck und eilte in den Park, als die ersten eisigen Tropfen zu fallen begannen.
'Verflucht! Das hat mir gerade noch gefehlt! Ich muss die Leihperrücke schützen, sonst fallen alle meine Pläne ins Wasser!'
Sie wickelte die große Tragetasche so gut es ging unter das Cape ein und lief vornübergebeugt weiter.
Ihr Blick wechselte zwischen den windgepeitschten Bäumen und Büschen, sowie der flackernden schwarzen Wolkenwand über ihr. Das Wenige, was sie von diesem Schauspiel erahnen konnte, waren brodelnde Massen, sekundenweise von grellem Irrlicht durchleuchtet, wenn elektrische Entladungen sie in unheimlicher Stille durchzuckten. Die Wolken begannen sich in einem irrwitzigen Tempo umeinander zu drehen und zu verwirbeln. Sie strömten am Himmel entlang, wie die hüpfenden Rauchschwaden eines Großbrandes und so, als wenn sie plötzlich ein gemeinsames Ziel gefunden hätten und sich gegenseitig darin überholen wollten, als erster vor Ort einzutreffen.
'Das ist doch kein normales Gewitter! Kann es sein, dass die Zauberer soeben die Kontrolle über eines ihrer Experimente verlieren? Alles zieht mittwärts - die Richtung könnte stimmen...'
Sie fröstelte.
Der Regen begann zu fallen. Aber nicht zaghaft und vereinzelt. Auch nicht mit stetig anschwellender Intensität. Nein!
Ein gewaltiger Blitz spaltete den Himmel von einem Ende zum anderen. Ihre Haare begannen statisch an ihren Schläfen zu kleben. Der Park lag vor ihr, wie ein bei Tag ausgeleuchtetes, mit schmerzhafter Präzision gezeichnetes Bild, so grell und scharf die Linien, dass sie einzelne Blätter in den Bäumen und Steine auf dem Kiesweg unterscheiden konnte. In der selben Sekunde fiel krachend der Donner ein. Dem augenblicklich das Wasser folgte, als wenn eine himmlische Pforte geöffnet worden wäre. Der Regen fiel so dicht wie eine Wand und es wurde eine überraschende Herausforderung, auch nur den Ausgang aus dem Park zu finden. Sie rannte die letzten Meter aus dem Park, sprintete ohne ins Stocken zu geraten über die Salisstraße, die bereits erste reißende Rinnsale mit sich führte. Den Flimmerflammenweg entlang, noch zwei Häuserblöcke durchqueren, dann wäre sie an dem kleinen Platz angekommen, an dem das schmale Haus lag, in dem sie neuerdings wohnte.
Ihre Kleidung war schon schwer von all dem aufgesaugten Wasser und ein leiser Gedanke huschte in all dem lauten Windgetöse um sie herum durch ihren Hinterkopf: 'So fühlten sie sich auch an, nachdem ich aus dem Karakost-Anwesen geholt worden war...'
Sie ignorierte die Gänsehaut auf ihrem bloßen Unterarm und rannte quer über das glitschige Kopfsteinpflaster, welches sie noch vom Haus trennte.
Ein Windstoß erwischte sie auf halbem Wege und stieß sie gleichgültig beiseite, so dass sie sich um Luft ringend mit ihrem ganzen Körpergewicht dagegenstemmen musste, um überhaupt noch torkelnd vorwärts zu kommen. Die nächste Sturmböe führte schon Hagelkörner mit sich, die ihr schmerzhaft ins Gesicht pieksten.
Etwas fiel krachend in einer Seitenstraße um, Glas zerbarst und das Etwas entfernte sich polternd und kollernd, während eine weitere Orkanböe einen losen Fensterladen mit kurzem aber heftigem Quietschen aus den Angeln riss und beiseite schleuderte.
Keuchend kam sie am Hauseingang zum Stehen und begann umständlich den Haustürschlüssel aus ihrer Gürteltasche zu angeln, ohne dabei den Umhang zu sehr zu öffnen und wohmöglich den kostbaren Inhalt der Tragetasche zu gefährden. Das Wasser rann ihr ungehindert ins Genick und über das Gesicht.
Die Tür sprang mit einem Drehen des Schlüssels auf und Ophelia beeilte sich, sie hinter sich abzuschließen.
Das Heulen des Windes wurde etwas leiser, nur um stattdessen das Ächzen und Knarren des alten Gebäudes deutlicher hervortreten zu lassen, welches nun bis in seine Grundfesten hinab gegen den Druck des Sturms ankämpfte.
Ophelia eilte die Treppe hinauf, ehe Frau Jahwohl auf den Plan treten konnte.
Kaum in der Wohung angekommen, hängte sie den Umhang auf und legte massig altes Zeitungspapier unter diesem aus. Sie wickelte ein Handtuch um ihre neue Kurzhaarfrisur und kümmerte sich dann mit großer Sorgfalt um die Perrücke, die ihrer ursprünglichen Frisur so sehr glich. Sie setzte einen Tee auf und setzte sich in neuen, trockenen Kleidern an den dürftig gedeckten Abendbrottisch.
Das Unwetter nahm kein Ende und es wurde auch nicht gelassener, als die Zeit verstrich. Im Gegenteil!
Sie räumte die Lebensmittel fort, spülte das Geschirr und kleidete sich zur Nacht, während Wind und Hagel die ganze Zeit über so laut gegen die Fenster trommelten, dass alle anderen Geräusche im Raum fast übertönt wurden.
Sie setzte sich auf den Stuhl in ihrem Zimmer, das Handtuch noch immer um ihren Kopf geschlungen, die Beine untergeschlagen, die warm dampfende Tasse hielt sie vergessen in der Hand und sah aus dem Fenster.
Der Sturm tobte ungebrochen über der Stadt, der heulende Wind rüttelte an den Fenstern, an den vergleichsweise dünnen Scheiben, den Mauern und dem Fundament. Er riss allerlei Fetzen mit sich um die Gebäudeecken, die dann wie riesige Schatten vor den Fenstern vorbeihuschten und sofort wieder hinter der Regenwand verschwanden. Das grollende Donnern und Grummeln schüttelte den Boden und ließ das Geschirr in den Küchenschränken permanent leise klirren. Der Standspiegel neben ihr zitterte so sehr, dass er kein klares Bild mehr zurückwerfen konnte. Und die Blitze folgten so dicht aufeinander, dass der Himmel von leuchtenden Kerzenfäden durchzogen wirkte, die nicht zu verglimmen schienen.
'Was für ein unglaublicher Sturm!'
Der wunderschöne und zugleich ängstigende Anblick erinnerte Ophelia jedoch vor allem an eines:
'Er hätte Rogi ganz sicher gefallen...'
Und gefangen in diesem Gedanken, saß sie die ganze Nacht wachend am Fenster.

~~~ Die Joram-Akte ~~~


Die Tür zum Archiv öffnete sich und der Zwerg sah erschrocken auf. Sofort beruhigte er sich wieder, als er die Kollegin der Abteilung RUM erkannte. So ganz hatte er sich noch nicht an seine neue, verantwortungsvolle Stellung als Stellvertretender Abteilungsleiter der FROG gewöhnt, selbst wenn er sich damals von sich aus gemeldet gehabt hatte und auch der Kommandeur mit seiner Arbeit zufrieden zu sein schien. Ständig befürchtete er neue Arbeit auf sich zukommen zu sehen. Aber Ophelia war harmlos. Bei ihr konnte er seine angespannte Haltung lockern.
Seit dem netten Feierabendausflug mit ihr und Mina von Nachtschatten zusammen, zu diesem Antiquitäten-Trödelmarkt, hatten sie zu einem sehr freundlichen Miteinander gefunden. Welches sicher auch dadurch noch verstärkt wurde, dass Ophelia ebenfalls Stellvertretende ihrer Abteilung war, sich also gut in ihn hineinversetzen konnte, und dadurch, dass sie ihm zuhörte, wenn er seine Ideen zu erklären begann. Erst hatte er gedacht, ihre Aufmerksamkeit in solchen Situationen wäre lediglich Ausdruck charakteristischer Freundlichkeit. Inzwischen war er aber davon überzeugt, dass sie sich wirklich für seine Basteleien erwärmen konnte! Seitdem sprach er noch lieber mit ihr und freute sich insgeheim ein wenig darüber, dass ihrer beider Büros nebeneinander lagen.
Sie lächelte ihm zu.
"Guten Morgen, Braggasch!"
"Guten Morgen, Ophelia!"
Sie lief eines der Regale ab, wobei sie gleichzeitig deren Beschriftungen ablas und ihm einen Blick zuwarf.
"Ich nehme an, das Experiment, welches Du für gestern abend angedacht hattest, ist gut verlaufen?"
Er vergaß die Akte in seinen Händen und wandte sich ihr vollends zu.
"Hm, naja, hätte schon besser laufen können. Du erinnerst Dich an den Hebel, zur Höheneinstellung?"
Sie zog eine sehr neue Akte aus dem Regal und nickte zustimmend. Beiläufig erahnte er den Schriftzug auf der Deckklappe. Die Joram-Akte. Wenn er noch einen Beweis für die Gründlichkeit ihrer Abteilung benötigt hätte, dann hätte er ihn spätestens hiermit vor sich gehabt. In jeder anderen Abteilung hätte diese Akte noch Wochen die Runde gemacht - sie war regelrecht unheimlich frisch hier eingelagert! Allerdings musste Ophelia offenbar noch etwas nachbearbeiten. Ein Teil seiner Gedanken bedauerte sie dafür, denn das fiel ihr gewiss nicht leicht. Der größte Teil seiner Aufmerksamkeit aber war von dem gestrigen Experiment eingenommen.
"Der ist jedenfalls abgebrochen. Ich habe mich bei einem der Donner so dermaßen erschrocken, dass ich abgerutscht und draufgefallen bin. Ich geh mal davon aus, dass ich den Druck der Kraftübertragung an der Stelle unterschätzt habe. Nichts, was man nicht ändern könnte. Muss ich das Teil eben austauschen und beim neuen darauf achten, dass es aus stärkerem Material ist. War ja auch schon etwas älter, ich glaub, das hatte ich damals von der kleinen Dampfterrine aus dem einen Nachlass abgebaut? Na, ich werds auf jeden Fall nochmal versuchen."
Sie nickte.
"Ja, es wundert mich nicht, dass Du dich so erschreckt hast. Es war aber auch ein heftiges Gewitter. Und das mit dem Ersatzhebel ist eine gute Idee. Rein für die Funktionalität dürfte sich etwas Schlichteres ganz sicher schnell finden lassen, oder?"
"Ja, ganz sicher. Das wird kein Problem sein. Spätestens morgen hab ich das Ding ausgetauscht und dann sehen wir weiter. Und bei Dir? Irgendwas Neues?"
Die RUM-lerin wurde etwas ernster und schüttelte traurig den Kopf.
"Nein. Ich hatte mir gestern frei genommen. Aber...", sie sah ihn diesmal nur kurz an und seufzte leise. "Sie fehlt ja nicht nur mir, nicht wahr? Da müssen wir alle durch."
Natürlich wusste er sofort, von wem sie redete und nun war es an ihm, zu nicken. "Ja."
Sie schlug mit konzentriertem Blick die herausgezogene RUM-Akte auf und blinzelte heftig darauf hinab.
Braggasch räusperte sich nervös.
"Ähm... also... ich muss dann mal wieder weitermachen." Verlegen hielt er seine eigene Akte wie zum Beweis etwas hoch.
Ophelia atmete tief durch und blickte ihn nur kurz an.
"Ja, natürlich. Entschuldige bitte, ich wollte Dich nicht aufhalten."
Er ging schnell zum Eintragungsbuch neben der Tür, um den Verbleib der Unterlagen zu quittieren.
"Kein... ähm, also... kein Problem. Fleißiges Werkeln und so noch, ne?"
"Danke! Dir auch noch einen erfolgreichen Tag, Braggasch!"

~~~ Gegen die Gezeiten ~~~


Es war später Nachmittag und es schien, als wenn die Nachwehen des nächtlichen Sturmes nur widerwillig abzogen. Was die Aufräumarbeiten in der Stadt etwas mühseelig machte.
Die Wolken zogen schnell und tief, während das unterschwellige Heulen des Windes um die Ecken und Kanten des Wachhauses etwas seltsam Beruhigendes an sich hatte.
Hier drinnen zumindest war es warm. Die Lampen leuchteten gedämpft und da sein guter Freund und Kollege diese Behaglichkeit mit ihm teilte, drängte es ihn nicht gar zu sehr, den widrigen Bedingungen außerhalb zu trotzen, indem er den Heimweg zu Leonata angetreten hätte. Sie würde Verständnis dafür haben.
Araghast füllte die beiden kleinen Gläser neuerlich und schob Romulus das seinige über den Schreibtisch hinüber.
Der Werwolf nahm es dankbar an und der Moment verstrich in einvernehmlichem Schweigen. Bis Romulus ihn mit einem großen Schluck aus dem Glas und einem noch größeren Seufzer beendete.
"Ich habe ihn in meinen Schreibtisch getan. Falls Du ihn also mal suchen solltest... das Ding schleppe ich jedenfalls nicht dauernd mit mir herum. Dafür ist er viel zu schwer."
Er nippte an dem Getränk mit dem betäubend schweren Duft. Die Aussage des Freundes benötigte keine Erwiderung, also beließ er es dabei, die Erklärung so im Raum stehen zu lassen. Sie hingen beide ihren Gedanken nach.
"Sie ist heute wieder zum Dienst erschienen. Ich habe sie vorhin auf dem Weg zur Kantine runter beobachtet. Zu mir ist sie seitdem nicht gekommen und ich wollte ihr noch etwas Zeit geben, bevor ich sie wegen eines weiteren... Spaziergangs ansprechen werde. Hat sie mit Dir geredet?"
Romulus schüttelte den Kopf.
"Nein. Sie wirkte wie immer, gelassen, ernst. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man denken, dass sie eine völlige Durchschnittsbürgerin sei, die in ihrem Leben noch nie etwas Unangenehmes erlebt hätte."
Araghast runzelte die Stirn und erwiderte: "Was natürlich nicht stimmt."
Der RUM-ler blickte ihn über den Rand des Glases hinweg neugierig an. "Du wirst das mit Euren Gesprächen weiter so handhaben, anstelle eines mehr oder weniger offiziellen Rahmens?"
Araghast nickte ohne länger darüber nachdenken zu müssen.
"Sie redet freiwillig mit mir, wenn ich sie direkt anspreche und wir es in dieser Weise angehen. Das werde ich nicht mit offiziellen Anweisungen und erzwungenem Rahmen kaputtmachen. Wenn es ihr so gut tut, dann ist es mir verdammt egal, ob wir dabei irgendwo herumsitzen oder draußen unterwegs sind. Mir soll es so Recht sein." Er taxierte seinen Kollegen mit einem Blick. "Was sagt Dir deine Püschologensicht zu ihrem Verhalten? Du sprichst häufiger mit ihr. Irgendwelche Auffälligkeiten, die mir entgangen sind?"
Sein Lehrling wog die Frage anhand seiner Beobachtungen ab. Dann antwortete er ein wenig ratlos.
"Sie trauert. Natürlich. Sie meidet Rogis Tod als Gesprächsthema aber damit steht sie nicht allein. Also nicht wirklich. Gibt natürlich auch in unseren Reihen jede Menge klatschsüchtige Leute aber im Großen und Ganzen machen die Kollegen sowas doch eher mit sich selber aus. Heute hat sie sich wieder in die Arbeit gestürzt. Ihre Lieblingstherapie. Das meiste, was sich an ihrem freien Tag angesammelt hatte, ist schon wieder erledigt. Oder delegiert." Er schüttelte den Kopf. "Ich wünschte, mir läge es, ebenso zielstrebig Zeug wegzuarbeiten..." Romulus zog gedankenversunken die Nase kraus, als er zögerlich weitersprach. "Sie muss irgendwas an ihren Haaren gemacht haben. Sie sehen irgendwie minimal anders aus und vor allem: sie stinken..." Er blickte entschuldigend auf. "Ist vielleicht nicht das richtige Wort. Bloß, weil der Geruch irgendwie so scharf ist und mein ganzer Kopf sich kribbelig davon anfühlt." Er zuckte mit den Schultern. "Was auch immer es war. Der Geruch ist ziemlich penetrant, weswegen ich heute nie lange mit ihr gesprochen habe. Scharf, würzig... irgendwie chemisch. Keine Ahnung, wozu es gut gewesen sein soll, denn ehrlich gesagt hatte ich ihr Haar vorher als gesünder in Erinnerung, irgendwie glänzender. Aber der Unterschied ist so minimal, ich kanns nicht mit Sicherheit sagen. Vielleicht bilde ich es mir auch nur ein?"
Araghast zog beide Brauen überrascht in die Höhe.
"Eine Veränderung, die keine ist? Das ist interessant. Was sagt uns das?"
Romulus wollte soeben mit einer wohlformulierten Antwort zum Einstieg einer neuerlichen Lehrdiskussion beitragen, als es verhalten anklopfte.
Sie sahen einander wortlos an. Araghast brauchte nicht erst Romulus' bedeutungsvolles Nicken, um zu wissen, wer da das Gespräch suchte. Sein Freund mochte ihm zwar stets eine Nasenlänge voraus sein. Er selber aber konnte diverse Arten des Anklopfens zuordnen.
Die beiden Gläser auf dem Tisch und der Flachmann sollten bei ihr kein Problem darstellen.
"Komm herein, Ophelia!"
Sie leistete seiner Aufforderung Folge und blieb abrupt im Rahmen stehen, als sie ihren Abteilungsleiter ebenfalls vorfand. Ihre Maske der Gelassenheit bekam für einen Sekundenbruchteil einen Riss, dann hatte sie sich wieder gefangen, trat ein und schloss die Tür hinter sich. Sie knickste.
"Sörs!"
Romulus erhob sich und wandte sich zum Gehen.
"Keine Sorge, Ophelia! Wir waren soweit durch, mit unserer Besprechung. Ich lasse Dich mit Bregs allein."
Sie hob zaghaft ihre Hand und blickte unsicher zwischen ihnen beiden hin und her, bevor sie sagte:
"Nein, Sör, das ist nicht nötig. Wenn ich es recht bedenke, passt dieser Zufall ganz gut. Es wäre vielleicht von Vorteil, wenn ich mein Anliegen beiden Zuständigen auf einmal vortrage. Wenn Du also bleiben würdest, ließe sich Zeit sparen."
Romulus sah zu ihm zurück und Araghast deutete ihnen beiden mit ausgestreckten Händen, sich zu setzen.
Durch den Hinweis des Werwolfes sensibilisiert, nahm nun auch er den dezenten Geruch wahr, der Ophelia unterschwellig umgab: Kräuter? Säure? Hätte Romulus es nicht erwähnt, hätte er vermutlich nicht einmal einen zweiten Gedanken daran verschwendet. Für seinen Kollegen allerdings musste die feine Duftnote um ein Vielfaches unangenehmer sein und sich vermutlich wie reiner Alkohol in seinen Kopf brennen. Wenn der Geruch wirklich von ihrem Haar stammte, wunderte es ihn umso mehr, dass nichts Neues daran auszumachen war. Eine so intensive Behandlung, womit auch immer, hätte zu sehen sein müssen. Aber da war nichts. Sie trug die gleiche Hochsteckfrisur wie sonst auch.
Sie atmete tief durch, als wenn sie sich für das Kommende wappnen müsse, dann begegnete sie seinem Blick mit unerschütterlicher Intensität.
"Sör, ich habe länger darüber nachgedacht und es ist mir ein dringendes Bedürfnis etwas zu unternehmen. Mein letzter Einsatz außerhalb des Wachhauses liegt inzwischen etwa drei Monate zurück. Die Aufarbeitung des Archivs und der laufenden Fallakten ist gut vorangekommen, so dass ich dieser Bereiche wegen nicht mit Einwänden rechne."
Der Kommandeur war augenblicklich alarmiert, ebenso ihr Abteilungsleiter, wie er mit einem schnellen Seitenblick feststellte.
'Sie will wieder verdeckt ermitteln?'
Doch er hütete sich, sie ausgerechnet jetzt zu unterbrechen.
'Irgendwann hätte ich auch dieses Thema angesprochen. Aber wie jedes Mal, kommt sie mir völlig überraschend zuvor.'
Ophelia strich sich in einer für sie so typischen, nervösen kleinen Geste die Röcke glatt, wirkte aber sonst gleichbleibend zielstrebig und von sich überzeugt. Sie trug ihre Forderung im Tonfall einer höflichen Bitte vor, was aber nichts an deren Botschaft änderte.
"Sebastian Jorams Verurteilung war ein Tropfen auf dem heißen Stein, eine Randerscheinung. An der Ursache der jüngsten Vorkommnisse hat dies nichts geändert. Sör, mit deiner Erlaubnis möchte ich eine verdeckte Ermittlung mit dem Ziel aufnehmen, die Organisation zu unterwandern, die uns unter dem Namen der Heimlichen Infragesteller einer rücksichtsvollen Neustrukturierung bekannt sind."
Er starrte sie fasziniert an und brauchte einen Moment, um sich wieder zu fassen. Es fiel ihm schwer, das Gehörte nicht automatisch - gleich einem Papagei - nachzuplappern. Stattdessen hielt er ihrem Blick stand und fragte gedehnt:
"Darf ich mich danach erkundigen, welche Motivation diesem Wunsch zugrunde liegt?"
Sie antwortete ohne mit den Wimpern zu zucken:
"Die HIRN wird weitermorden. Sie bedeutet eine potentielle Gefahr für einen sehr großen Teil der Bevölkerung, der ihrem Feindbild entspricht, ebenso für all jene, die diesem anvisierten Ziel in den Weg geraten könnten. Wir haben ihnen bereits zwei Mal einen Strich durch die Rechnung gemacht, beim zweiten Mal mit großem Verlust." Selbst bei dieser Feststellung, zeigte sie keine deutlicheren Emotionen, sondern überging den persönlichen Aspekt einfach. "Sie sind gewarnt und sie werden vorsichtiger werden. Jorams Aussage hat gezeigt, dass sich die Hintermänner mit Schläue zurückhalten, wenn es um die schmutzigen Umsetzungen ihrer Pläne geht. Sie treten nicht persönlich in Erscheinung. Wir hatten zuletzt eine Vorwarnzeit von knappen zwei Stunden. Künftige Anschläge werden keinen Spielraum zum Eingreifen mehr lassen. Wir müssen ihnen zuvorkommen. Und das geht nur mit zusätzlichen Informationen. Mit einem Anderkaffer-Einsatz."
Er sah zu Romulus und in dessen Augen fand er seine eigenen Empfindungen gespiegelt.
'Zu früh! Und, verständlicherweise, sicherlich aus ganz anderem Motiv, als dem vorgeblichen...'
Er sah sie wieder an und fragte:
"Warum solltest ausgerechnet Du für solch einen Einsatz die Richtige sein?"
Sein Blick heftete sich bedeutungsvoll auf ihren geschienten Arm, doch sie akzeptierte den Einwand schlichtweg und antwortete:
"Aus genau diesem Grund. Die Organisation hat zu vorderst Vampire und Werwölfe als Feinde proklamiert. Ich habe einen Vampirangriff überlebt. Ich trage die Spuren davon für den Rest meines Lebens. Es wäre nachvollziehbar, wenn ich daher verallgemeinerten Hass auf diese Spezies verspüren würde. Es wäre aus deren Sicht logisch, mich anzuwerben, wenn ich nicht als Wächterin erkennbar, sowie die Situation günstig wäre."
Er schüttelte langsam den Kopf.
"Deine Argumentation ist nachvollziehbar und insofern wäre es wirklich logisch…", er hob schnell eine Hand, als er die Hoffnung in ihren Augen aufglimmen sah, "Aber Du übersiehst einen wichtigen Grund dafür, dass Du eben dennoch nicht die Richtige für diese Aufgabe bist."
Sie zog ihre Brauen missbilligend zusammen, gab aber keinen Ton von sich. Ihr Blick forderte eine Erklärung ein - mit der er sich schwerer tat, als es der Fall hätte sein sollen.
"Du bist noch nicht so weit."
Von Romulus Seite her war deutlich ein tiefer Seufzer zu hören.
Ophelia setzte zum Widerspruch an.
"Sör, ich kann Dir versichern, dass ich allen zu erwartenden Anforderungen gewachsen sein werde. Die Einschränkungen wegen meines Armes behindern mich im Alltag kaum noch, Du selber hast mich in Selbstverteidigung und Dolchkampf unterrichtet und…"
Araghast konnte nicht verhindern, dass die vorliegende Situation, ihr Kampfgeist und seine Bedenken, sich aufs Ungünstigste mit dem Unmut der letzten Tage vermengten. Gröber, als es sonst seine Art im Umgang mit ihr war, unterbrach er sie.
"Du weißt, dass es nicht nur darum geht. Ich würde Dir vielleicht zustimmen, dass eine verdeckte Ermittlung das Richtige wäre. Meinetwegen sogar mit Dir als Zuständiger. Sicher sogar mit Dir, wenn überhaupt, denn Du hast Recht, dass Du die besten Voraussetzungen mitbringst. Aber nicht jetzt! Du bist zu nahe an der Sache dran. Vielleicht in ein paar Monaten, wenn etwas Gras über Rogis Tod gewachsen ist und Du wieder klar denken kannst. Ich werde nicht das Risiko eingehen, dass auch dein nächster Einsatz darin gipfelt, dass es Dich beinahe erwischt!"
Er konnte sofort sehen, dass er die falschen Worte benutzt hatte.
Ophelias Gesichtszüge verhärteten sich und jegliche Emotion verschwand aus ihnen. Sie ließ die Luft entweichen und sich gegen ihre Stuhllehne fallen, als wenn er sie mit einem unsichtbaren Bolzen getroffen hätte.
Romulus beugte sich im Gegensatz dazu unwillkürlich vor, näher zu ihr hin, und versuchte zu retten, was noch zu retten sein mochte.
"Das war unglücklich formuliert von ihm, Ophelia. Du weißt, dass er das nicht so meint. Wir gehen nur beide davon aus, dass Du noch zu mitgenommen bist für sowas. Nicht mal mehr unbedingt wegen allem Vorangegangenen der letzten Monate. Aber jetzt noch das obendrauf... ich meine, es ist ja nicht einmal eine Woche her!"
Die Wächterin hatte keinen Blick für ihren Abteilungsleiter. Sie sah einfach nur weiter ihn an. Ihre Stimme klang genauso unbewegt, wie ihr Gesichtausdruck wirkte.
"Für mich wird niemals ausreichend 'Gras über Rogis Tod' gewachsen sein. Dennoch kann ich klar denken. Jeder einzelne Fall eines Wächters, birgt eine persönliche Komponente. Man kann die Angst oder den Wunsch nach Gerechtigkeit in den Opfern nachfühlen. Und trotzdem hattest Du bisher niemals etwas an meiner Arbeit auszusetzen, Sör. Ist das richtig?"
Nun war es an ihm, zu seufzen.
"Ja, das ist richtig."
Anstatt ihn weiter zu bedrängen, ließ sie sein Eingeständnis schweigend im Raum stehen und sah ihn nur herausfordernd an.
Er fuhr sich entnervt mit der flachen Hand über die Stirn und setzte neuerlich an.
"Es ist aus püschologischer Sicht einfach mehr als bedenklich. Und ich werde nicht mit mir verhandeln lassen, was das angeht. Nein! Es ist noch zu früh!"
Mit ihrem Blick hätte sie sich gut in eine professionelle Pokerrunde einfügen können, als sie fragte:
"Nun gut. Woran werde ich erkennen, dass Du meinen Einsatz nicht mehr als zu früh ansehen wirst? Gib mir einen klaren Orientierungspunkt, eine greifbare Wegmarkierung, eine Bedingung, die ich erfüllen kann."
Woran lag es nur, dass sie ihm immer häufiger das Gefühl vermittelte, sich seinem Zugriff zu entziehen? Er machte sich Gedanken darum, wie er sie unterstützen oder aus der Schusslinie heraushalten könnte und sie steuerte mit aller Kraft dagegen an, umging seinen Willen. Warum machte sie es ihm nur so schwer? Denn bei ihr kam hinzu, dass ihr Eigensinn schwer fassbar war. Bei ihr hatte er das Gefühl, gegen die Gezeiten anzustürmen. Im einen Moment noch trockenes Watt vor einem, im nächsten schon unbemerkt vom Element unterwandert und umgangen, durch die eigene Konzentration in falscher Richtung festgesetzt inmitten unmöglich aufzuhaltender Flut. Womit sollte er sie, zu ihrem eigenen Schutz, aufhalten? So zielstrebig wie sie schien, würde es ohnehin darauf hinauslaufen, Zeit zu schinden.
Er überprüfte den Gedanken auf etwaige Lücken, während sie auf eine Antwort wartete.
'Vorerst wird es genügen, um sie auf den Teppich zurückzuholen. Und später, wenn sie diese Sache doch in Angriff nehmen will, kann ich etwas Neues festlegen. Ist zwar nicht nett aber besser, als ihr freie Hand zu gewähren.'
Araghast beugte sich über seine Schreibtischplatte vor, stützte seine Ellenbogen auf und legte die Fingerspitzen in einer allzu vertrauten aber nichtsdestotrotz unbewussten Geste aneinander.
"Gut, wie Du willst. Es wäre für mich ein Zeichen von emotionaler Stabilität, wenn Du eine gewisse Aufgabe, die seit Wochen schon ansteht, in Angriff nehmen würdest. Bitte sieh es nicht als Drängen an! Es steht Dir frei, Dir alle Zeit der Welt dafür zu nehmen. Ich bringe es nur deswegen zur Sprache, weil Du auf einer greifbaren Bedingung bestehst. Du weißt, wovon ich rede? Der Schwimmkurs."
Romulus murrte von der Seite her leise und er wusste auch warum. Sein Freund hatte Ophelias Auflage im Anschluss an die Inspektion absichtlich totgeschwiegen. Sie hatten dieses Thema in gegenseitigem Einvernehmen gemieden, denn wie sollte eine einarmige Frau die Rahmenbedingungen der Aufgabe erfüllen, wie sie gestellt worden waren? Und wirklich war er sich nicht sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, ihn gerade jetzt zur Sprache zu bringen, geschweige denn zur Bedingung zu machen. Aber, zumindest das konnte er feststellen: Die Erwähnung des Kurses hatte ihr schlagartig den Wind aus den Segeln genommen!
Sie schloss kurz die Augen, als wenn sie sich sammeln müsse. Als sie sie wieder öffnete, erhob sie sich mit einem Ruck. Einen Moment stand sie wortlos vor seinem Schreibtisch, dann nickte sie knapp.
"Dann weiß ich jetzt wenigstens, woran ich bin, Sör. Hoffentlich gibt uns die HIRN nicht Grund dazu, diese Regelung zu bedauern." Mit gesenktem Blick wandte sie sich ab und verließ den Raum.
Sie sahen ihr beide etwas länger als nötig nach.
"Romulus, manchmal frage ich mich, wo Du die Kraft für das tägliche Tauziehen mit ihr hernimmst. Es ist wie ein Kampf gegen Watte! Selbst wenn man gewinnt, hat meine keine Handbreit Boden gut gemacht, sich aber völlig verausgabt."
Der RUM-ler lachte leise und antwortete ihm mit einem Augenzwinkern:
"Ich mache das anders als Du. Ich stelle mich ihr nicht in den Weg."

~~~ Ausgangsposition ~~~


Sie öffnete die Tür zum Innenhof des Wachhauses. Ein frischer Wind fegte in den hinter ihr liegenden Flur hinein. Sie atmete tief durch und schloss ihre Hand fester um den Griff des Kurzschwertes.
'Es ist gerade einmal eine Woche her, seitdem wir unser letztes Kampftraining hatten und er stattdessen darauf drängte, mit mir zu reden. Wird er, nach meiner forschen Anfrage von heute Vormittag, ebenfalls auf ein püschologisches Gespräch bestehen? Beim letzten Mal ließ ich mich darauf ein, um ihn von Rogi abzulenken. Aber inzwischen ist so viel passiert, dass ich kaum noch wüsste, worüber ich lieber nicht sprechen sollte...'
Sie atmete nochmals tief durch und trat dann hinaus in die Abenddämmerung.
Breguyar wartete bereits auf sie. Manchmal hatte sie den Eindruck, dass ihm das Training mit ihr vor allem einen guten Grund dafür bot, aus dem Büro herauszukommen.
Er grüßte sie mit einem Nicken und beide legten sie die Umhänge und die Waffen auf den improvisierten Sitzgelegenheiten am Rand des Hofes ab, um sich als erstes den Aufwärmübungen zu widmen.
Ophelia spürte immer wieder seinen taxierenden Blick auf sich ruhen, doch er stellte keine Fragen. Das Training begann und schnell war ihr klar, dass er sie schonte.
'Er wartet ab, ob ich von mir aus das Gespräch suchen werde.'
Aber so oft sie auch einen Ansatz dazu machen wollte und sich selber gut zuredete, dass es auch strategisch klüger wäre, ihm Brotkrumen anzubieten, brachte sie es dennoch nicht über sich.
Was, wenn sie sich verplapperte? Wenn sie ihm eingestand, dass es zu Rogis Tod eine Vorgeschichte gab, die ihm bisher verschwiegen worden war? Es würde die Frage in den Raum stellen, ob er anders gehandelt hätte und ob er Rogi damit vielleicht sogar hätte retten können. Araghast würde ihr Schweigen, so lange zuvor und auch das darauf Folgende, als Vertrauensbruch werten und sich vielleicht sogar von ihr distanzieren.
Sie konnte es ihm einfach nicht sagen!
'Es ist zu spät. Ich wollte ihr helfen und jetzt lässt sich nichts mehr an all dem ändern.'
Natürlich, die Wahrheit hatte dennoch einen Wert, einen Wert, der unabhängig davon Bestand behielt, ob man sie anderen mitteilte oder verschwieg.
Sie fühlte sich in der Gegenwart des Kommandeurs beschämt von ihrem eigenen Verhalten.
'Er hilft mir und er vertraut mir. Und ich vergelte es ihm mit meiner Unehrlichkeit!'
Sie gestand sich ein, dass auch ein so verabscheuendwertes Gefühl wie Selbstsucht in ihre Entscheidung hineinspielte.
Ophelia konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er sich von ihr abwenden und sie vielleicht dafür verachten würde, dass sie gewisse Entscheidungen allein getroffen hatte. Dass sie sie vielleicht falsch getroffen hatte.
Breguyar löste sein Schwert aus dem Direktkontakt mit dem ihren und trat mit kreisenden Schultern zurück.
Sein Blick wirkte vorwurfsvoll. Oder bildete sie sich das nur ein?
"Von vorne! Ausgangsposition!"

~~~ Goldrichtig ~~~


Schemrai wischte sich ihre schwieligen Hände an der Schürze ab und richtete sich dann stöhnend auf. Sie stemmte sie sich ächzend in den Rücken.
"Meiomei... man wird nicht jünger, wirklich nicht..."
Eigentlich hätte Karligost ihr helfen sollen, doch der nichtsnutzige Junge ließ sich wieder einmal nicht blicken, so wie es immer war, wenn er Arbeit witterte. Dabei wurde sie langsam zu alt dafür, sich um die Verwaltung aller drei Häuser, so nahe den Schatten, alleine zu kümmern. Vor allem, da diese Arbeit hauptsächlich aus Putzen und Sich-Mit-Mietern-Herumstreiten bestand. Und jetzt auch noch der ganze Schlamassel mit dem Großen Sturm!
Sie blickte auf den Schutthaufen hinab, den sie schon zusammengetragen und damit den Gehweg geräumt hatte.
'Es wird ausreichen, damit in der Nacht niemand drüber stolpert. Eine Anzeige der Diebesgilde hätte mir jetzt gerade noch gefehlt.'
"Entschuldigung?"
Sie blickte auf und in dem schwachen Licht der Straßenlaterne erkannte sie eine dünne Frau in Trauerkleidung, die eine pralle Reisetasche mit sich trug.
"Ja?"
Die Frau blickte ihr mit unbewegtem Gesichtausdruck entgegen. Sie stellte die Tasche auf dem Bürgersteig ab, griff unter ihren Umhang und zog einen ausgeschnittenen Papierschnipsel hervor.
"Mein Name ist Theridae Ligand und ich komme wegen einer Wohnungsanzeige. Ich bin hier doch richtig, oder?"
Sie hielt ihr den Zeitungsausschnitt entgegen.
Schemrai brauchte nicht genauer hinzusehen. Selbst wenn die Frau sich im Stadtteil geirrt hätte, sie hätte es sich nicht nehmen lassen, die Gelegenheit, an einen neuen Mieter zu gelangen, beim Schopfe zu packen!
"Ja, da bist Du bei mir goldrichtig. Lass dich nicht von den Sturmschäden irritieren. Komm erst mal rein, ins Warme."
Frau Ligand steckte den Zeitungsausschnitt wieder in das Umhangfutter, beugte sich kurz zum Gehsteig hinab, um ihre Reisetasche zu ergreifen und sah dann zweifelnd an der Fassade des alten Hauses empor.
Schemrai nickte ihr gütig zu und ging immer noch etwas außer Atem an ihr vorbei, um ihr die Tür aufzuhalten.
"Die Fensterläden werden im Laufe der Woche wieder angebracht werden. Bei einigen... ähm, bei deinem freien Zimmer gibt es aber auch eine Gardinenstange, so dass Du das Fenster verhängen kannst, wenn Du das möchtest."
Sie drehte sich zu der Frau um, die in dem engen, dunklen Flur fast mit den Schatten zu verschmelzen schien, in ihrer schwarzen Tracht.
"Du kommst nicht von hier, Frau Ligand, oder?"
Große, rauchgraue Augen sahen streng zu ihr auf und der Griff der Hand verkrampfte sich um die Tasche. Das wenige Licht im Flur schimmerte kurz auf einem schmalen Silberring.
Sie ist verheiratet? Nein, sie steht allein in Trauerkleidung vor mir und diese ist noch nicht einmal ansatzweise aufgetragen. Sie war verheiratet gewesen!
"Woher weißt Du das?"
Sie zuckte gleichmütig mit den breiten Schultern. Die pralle Reisetasche gab einen Hinweis. Letztlich war es aber fast immer eine Fifti-Fifti-Chance, wenn sie sich auf diese Weise einen allwissenden Anstrich geben wollte.
"Keine Ahnung. So ist das bei mir. Ich hab' ein Gespür für sowas."
Sie gingen eine schmale Stiege hinauf, die bis kurz unter den Dachboden führte. Schemrai kramte den großen Schlüsselbund hervor und entriegelte das Schloss der klapprigen Tür. Der Verschlag öffnete sich knarrend und sie sahen in ein dunkles Zimmer, in welchem sich durch das hereinfallende Licht tiefe Dachschrägen und ein winziges Lukenfenster erkennen ließen, sowie die Umrisse einiger weniger, schäbiger Gegenstände.
"Bei Om! Hast Du nichts Besseres?"
Das Gesicht der Witwe sah angewidert aus.
Schemrai bedachte sie mit einem verächtlichen Blick.
'Omnianerin auch noch? Na, mir soll's egal sein.'
Die Glaubensrichtung der Fremden war allerdings typisch, für deren überheblichen Auftritt.
'Was denkt sie denn, was sie in dieser Gegend angeboten bekommt? Wir sind hier schließlich nicht auf der Götterinsel!'
Und trotz aller Schlichtheit der Zimmer und der Abnutzungserscheinungen der vorhandenen Einrichtung, Schemrai konnte zumindest mit Recht behaupten, dass ihre Häuser ordentlich waren. Wer bei Schemrai abstieg, der bekam saubere Laken, dichte Fenster und Treppenhäuser, in denen man nicht dreimal gucken musste, in was man hineintrat!
'Zumindest, solange ich die Mieter regelmäßig zusammenstauche, damit sie die Haustüren hinter sich abschließen.'
Sie warf der Bewerberin einen scheelen Blick zu.
Die bleiche Frau hatte nicht unbedingt eine herzliche Art an sich. Wer etwas wollte, sollte sich eigentlich ein wenig zuvorkommender geben.
Ihr Augenmerk wanderte zu der prallen Reisetasche hinab.
Das Wenige, was die Frau bei sich hatte, schien ihre einzige Habe zu sein. Und die Nacht war schon zu weit fortgeschritten, als dass sie die angebotene Unterkunft leichtsinnig abschlagen würde können. Außerdem...
'Irgendwem muss ich die Dachkammer aufschwatzen!'
Die Zimmer, zu denen die meisten Stufen hinauf führten, gingen immer am zähesten weg.
'Wenn die Nachwehen des Großen Sturms abflauen, dann wird es bestimmt verdammt schnell, verdammt warm werden hier oben. Dann nimmt erst recht niemand mehr das Zimmer. Also...'
"Nein. Ist das letzte freie Zimmer. Sieht jetzt natürlich nicht besonders groß aus aber man kann es sich nett zurecht machen und Du hast ja auch nicht viel unterzubringen, nicht?" Die Fremde neben ihr schwieg zwar aber Schemrai konnte erkennen, wie deren Lippen sich blutleer aufeinanderpressten und ihr Kiefer zu mahlen begann. "Immerhin hat es alles, was man braucht. Matratze, Tisch, Stuhl, Waschschüssel und Krug. Und im Hof unten den Abort."
Die junge Witwe zögerte noch.
Schemrai hob in einer eingeübt unschuldigen Geste bedauernd die Hände und langte zu der Tür hinüber, um sie wieder zuzuziehen.
"Aber ich will natürlich niemanden zu seinem Glück zwingen. Wenn Du denkst, dass Du in einer Nacht wie dieser, in der selbst die Bettler sich ein Zimmer suchen, noch etwas Besseres finden wirst, bitte..."
"Halt!"
Sie rieb sich innerlich schon zufrieden die Hände.
Theridae Ligand schluckte schwer an ihrem Stolz, das war deutlich zu erkennen. Dann aber nickte sie knapp, wobei sie den entsetzten Blick kaum aus dem dunklen Verhau lösen konnte.
"Wieviel?"
Sie konterte mit der Frage: "Für eine Woche oder für eine Nacht?"
"Für eine Nacht. Erst einmal."
Die Verwalterin grinste wissend. 'Das denken sie alle.' Sie nannte den höheren Preis und fügte, mit offen hingestreckter Hand, hinzu: "Im Voraus!"

~~~ Wovor sollte ich mich fürchten? ~~~


Die Nachdenkliche Mühle war ein gutes Pflaster für 'Jasants Kaffee Bar'. Zumindest, seitdem sich herumgesprochen hatte, dass es hier auch die handfestere Hausmannskost gab und das Geschirr nicht beim ersten Anheben durch schwielige Handwerkerhände zerbrach. Man musste sich eben den Wünschen des Klientel anpassen.
Jasant nahm sich die nächste Tasse aus der Spüle hinter dem Tresen und trocknete sie gewissenhaft mit dem bereits ziemlich feuchten Geschirrtuch ab. Dabei ließ er seinen Blick über die wenigen verbliebenen Gäste schweifen.
Nur noch eine halbe Stunde, dann konnte er den Laden dicht machen und den Mann und die Frau auf die frühmorgendliche Straße setzen.
Er nahm sich als nächstes die Teller vor und beobachtete die dünne Frau in den schwarzen Kleidern.
'Schon die dritte Nacht in Folge, dass sie kurz vor Schluss aufkreuzt, eine Kleinigkeit isst und Anzeigen durchgeht. Anscheinend wohnt sie in der Nähe, hat aber eine dieser Unterkünfte, in denen man nicht gerne abhängt. Vielleicht sogar in den Schatten? Na ja, eher nicht. Dafür sieht sie noch nicht genug nach Bodensatz aus. Obwohl es nicht mehr lange dauern wird, wenn sie nicht bald was findet. Nicht jeder sucht so gründlich. Sie wird's nötig haben.'
Er wandte sich von ihr ab und begann, die Gläser, Tassen und Teller in den Schrank hinter dem Tresen einzuräumen. Die Theke mit einem Tuch trockenzuwischen war der Höhepunkt seines abschließenden Tagesrituals. Das wenige Geschirr der beiden letzten Gäste würde er einfach nur noch ins Wasser stellen, wenn diese gingen.
Er klatschte laut in seine großen Hände und rief gutmütig: "So, Freunde der Nacht! Feierabend! Ich räum hier gleich ein, kommt langsam zu Potte!"
Der grobschlächtige Kerl in der Ecke hob kommentarlos seinen Bierhumpen und kippte den schalen Rest in einem Zug runter.
Die junge Frau blickte auf und faltete die Zeitungsseiten und ihre Notizen zusammen, ehe sie ebenfalls den kalten Tee in schnellen Schlucken austrank. Sie nahm ihre Sachen zusammen und trug ihr Geschirr umständlich zu ihm.
Das war so eine Sache, die ihm gleich an ihr aufgefallen war.
Ob Witwe oder nur Assassine, konnte man in einer Stadt wie Ankh-Morpork schlecht einschätzen. Es gab immer wieder Gildenschüler, die sich nicht an die Hausordnung hielten und ohne Abzeichen in ihrer schwarzen Kluft in der Stadt herumstreunten.
Diese Dame aber trug ein so deutliches Handicap mit sich herum, dass er schon den Gedanken an eine Absolventin absurd fand.
Tasse und Teller klapperten leise, als sie das Gedeck vor ihm abstellte. Sie blickte ihn kurz an und wollte sich schon zum Gehen wenden, als er einem Impuls folgte, sich auf dem Tresen abstützte und sie freundlich ansprach. Eigentlich gar nicht seine Art. Aber der Ausdruck in ihren grauen Augen war anders gewesen, als ihr sonstiges Auftreten der letzten Tage. Er hätte schwören können, dass unter ihrer ruppigen Art etwas Sanftes hervorgeblitzt hatte.
"Mädel, Du solltest um die Zeit nicht mehr alleine unterwegs sein. Ist Dir schon klar, oder?"
Sie drehte sich überrascht zu ihm um und schien in der Bewegung zu erstarren. Dann runzelte sie die Stirn.
"Ich kann mich nicht erinnern, hier irgendwen um seine Meinung gefragt zu haben, was das angeht. Wovor sollte ich mich fürchten? Werwölfe? Vampire? Zu spät! Die sollen nur kommen... ich weiß mich schon zu wehren! Wann ich wo unterwegs bin, hat Dich einen feuchten Kehrricht zu interessieren. Ich erklär' Dir schließlich auch nicht, wie Du deine Tassen zu putzen hast."
"Wuouohoh!", sagte er, erschrocken von ihrer unerwartet heftigen Reaktion. Er hob abwehrend die Hände und richtete sich wieder vom Tresen auf. "Schon gut! Mach was Du willst. War nur so ein Gedanke. Wenn ich es mir recht überlege, kannst Du natürlich wann Du willst, wohin Du willst. Wer sich mit diesen Krallen anlegt, ist selber Schuld."
Sie warf ihm einen giftigen Blick zu und ging.
Die Tür fiel krachend hinter ihr ins Schloss.
Jasant verriegelte diese und löschte die Lampen, während er noch immer gekränkt den Kopf schüttelte.
'Und ich hab mir immer was auf meine Menschenkenntnis eingebildet! Mann, mann, mann...'

~~~ Besitzanspruch ~~~


Der strahlende Sonnenschein der letzten Tage, im Anschluss an diesen Sturm, machte ihm zu schaffen. Ohne die Tagescreme mit dem höchstmöglichen Lichtschutzfaktor für Vampire und eine dieser neumodischen Armeni-Brillen mit geschwärzten Sichtgläsern, hätte er den Dschob nicht annehmen können. Dabei war dieser verdammt gut bezahlt. Der Schatten sorgte für seine Leute.
Der Vampir behielt das gegenüberliegende Haus im Blick und war froh darüber, dass jenes in der gleißend grellen Beleuchtung stand und er selber stattdessen mit den dunklen Nischen auf dieser Seite der Straße verschmelzen konnte. Er wartete so reglos, wie dies nur einem Untoten möglich war. Im Geduldhaben machte ihm so schnell keiner was vor.
Sein Augenmerk glitt ein weiteres Mal aufmerksam über die Häuserfront, den Gehsteig davor, die reglosen Gardinen hinter den sauber blitzenden Fenstern und über den kleinen Platz mit seinen Marktständen.
Der Tag neigte sich von spätem Nachmittag in den frühen Abend, als sie auftauchte. Ihr rotes Haar leuchtete regelrecht und markierte unverwechselbar den Weg, den sie quer über den kleinen Platz zur Haustür hin nahm. Ebenso wie der Hauch zarter Emotionen und bruchstückhafter Gedanken, die ihr wie flatternde bunte Bänder folgten, um bis zu ihm hinüberzuwehen.
'Sie ist früh dran.'
Die Wächterin zog unter ihrem Umhang einen schmalen Schlüsselbund hervor und öffnete damit die Tür zum Haus. Eine schlanke, ältere Dame verließ in eben jenem Moment das Haus und verwickelte sie sofort in ein Gespräch. Ihrer Körperhaltung war nicht zu entnehmen, inwieweit diese Begegnung der Wächterin zusagen mochte. Doch sie ging freundlich lächelnd auf das Gesagte ein und die sacht herüberwehenden Gefühle kündeten ebenso von Erschöpfung, wie von geduldigem Dank.
Aber er war nicht hierher abgestellt worden, um sie im Auge zu behalten.
Sein Blick suchte neuerlich den Platz mit den verschiedenen Zufahrtsstraßen und Gassen ab. Und blieb an einer dunkel gekleideten, schmalen Gestalt weit entfernt hängen.
'Wer sagt's denn!'
Hinter dem kleinen Mann mit dem schwarzen Kapuzenumhang erkannte er flüchtig einen Kollegen, der ihm mit einem Nicken zu verstehen gab, dass er die Zielperson an ihn abtrat.
Der Vampir antwortete in gleicher Weise und übernahm damit die Observation.
Der Igor war ein Laie. Zwar sah er sich alle Minuten unwohl um, doch er sah dabei nicht wirklich. Er suchte weder richtig in den Schatten um ihn her, noch verhielt er selber sich unauffällig genug für diese Art von Aufgabe. Seine gesamte Aufmerksamkeit ruhte im Grunde auf der jungen Frau und er konnte seinen Blick kaum von ihr lassen, aus Angst, dass sie ihm dabei entschlüpfen mochte. Seine kurzen Versuche, Interesse an der Standware zu heucheln, wirkten unbeholfen und erzwungen, so dass sogar die Händler ihn teilweise bereits misstrauisch betrachteten.
'Dilletant!'
Die Wächterin verschwand im Haus und nach einigen Sekunden des Wartens entspannte der junge Igor sich sichtlich. Er atmete aus, ließ die Schultern hängen und wandte sich von dem Platz ab, um sich auf den Heimweg zu machen. Zu seinem Herrn, um diesem Bericht zu erstatten.
Nur, dass er heute einen ungeplanten Zwischenstopp einlegen würde.
Der Vampir machte sich lautlos an die Verfolgung des Bediensteten.
Die Stadt war voll von geschäftigen Menschen und anderen Spezies. Die Abendsonne drang größtenteils kaum noch in die Straßenzüge vor, sondern blieb stattdessen schräg an den Dachkanten etwas höher hängen, die dementsprechend goldübergossen wirkten.
Der Igor verhielt sich seiner Art entsprechend, indem er, wo dies möglich war, Abkürzungen und dunkle Gassen nutzte. Was es seinem Verfolger in gewisser Weise einfacher machte, immer mehr zu ihm aufzuschließen. Bis der Vampir so dicht hinter dem Igor lief, dass er diesen mit der ausgestreckten Hand hätte berühren können.
Doch noch vermied er direkten Hautkontakt. Stattdessen wartete er ab, seinen Blick intensiv auf dessen Hinterkopf gerichtet. Er nahm schon mal die verdunkelten Gläser ab und steckte die Brille in eine seiner Kleidungstaschen.
Der Igor kam ins Stolpern. Er dreht sich flüchtig um... und sah ihn mit schreckgeweiteten Augen direkt an.
'Perfekt!'
Sein konzentrierter Wille schnappte um den pulsierenden Geist des Igors herum wie eine Falle zusammen und er ließ seinen Blick mit hypnotischer Intensität in diesen sinken. Seine Stimme wiederholte tief und leise, was sein Geist dem Gefangenen in weitaus machtvollerer Variante befahl: "Bleib stehen und sieh mich an!"
Der Igor reagierte mit dem Körper derart prompt, dass die Schwerkraft anderer Meinung war. Er stoppte mit einem starken Ruck und fiel unbeholfen zu Boden. Seine Hände fingen ihn aus reinem Instinkt ab, doch an Aufstehen und Flucht war nicht mehr zu denken. Seine Augen waren panisch geweitet und sein Geist... ja, sein Geist war ungünstigerweise schon damit beschäftigt, alle Reserven zum stummen Widerstand zusammenzukratzen.
'Ausgerechnet einer aus dem Ascherclan... ich hasse das. Es wäre ja auch zu einfach gewesen, mal auf jemanden zu treffen, der nicht weiß, was geistige Barrieren sind.'
Der Vampir seufzte, trat näher an den Igor heran und ging vor ihm in die Hocke. Er stützte seine Unterarme locker auf den Beinen ab, weiter darauf bedacht, den Blickkontakt zu halten.
"Igor... sage mir, wie Du heißt!"
Der Befehl war lediglich Formalia, ein erster Schritt, um Zugang zu finden. Bei einem mentalen Angriff das Opfer die eigene Identität preisgeben zu lassen, war zwar nicht die eleganteste aber eine der schnellsten Möglichkeiten, Ergebnisse zu zeitigen. Das Nennen des eigenen Namens war etwas so Alltägliches und Harmloses, dass es in den seltensten Fällen verweigert wurde. Gleichzeitig wurde damit aber die Passivität des Opfers in aktive Mittäterschaft verkehrt und eine verbale Antwort half, die Schwelle von Trotz zu Auskunftsfreudigkeit zu überschreiten. War diese Hürde erst einmal genommen, konnten die wirklich wichtigen Fragen gestellt werden.
Der Igor kämpfte gegen seinen Einfluss an. Der obligatorische Schutz des Hauses schien zwar vor Kurzem von seinem Geist abgezogen worden zu sein, doch mit der so typischen Stärke der Igors versuchte dieser, es allein mit ihm aufzunehmen.
Ein hoffnungsloser Versuch. Natürlich.
"Sage mir, wie Du heißt!"
Der Igor versuchte tatsächlich, seine Augen vor ihm zu verschließen!
Er baute zusätzlichen Druck hinter den Worten auf und griff nun doch mit seiner Rechten nach dem Kinn des am Boden Liegenden. Er hob es höher und richtete so dessen Augenmerk neu auf sich aus.
"Sage mir, wie Du heißt!"
Der Igor rang krampfhaft um Atem, als wenn er unter Wasser gedrückt würde oder aus anderem Grunde keine Luft mehr bekäme. Und endlich begann sein Widerstand zu brechen. Das panische Irrlichtern in seinen Augen steigerte sich noch einmal, bevor er plötzlich nachgab. Sein Atem ging erst stoßweise, dann wurden die Lungenzüge länger, kräftiger. Der Blick wurde konstanter, ruhiger... stumpfer. Seine Halsmuskeln zitterten, dann sackte sein Körper minimal in sich zusammen. Der eiserne Griff unter dem Kinn fing das Gewicht auf. Die Stimme des jungen Mannes klang krächzend, als er mit weit geöffneten Augen flüsterte: "Ich heife Igor..."

Etwa eine halbe Stunde später erstattete ihm jener Spurensucher Bericht, welcher mit dem Auftrag ausgesandt worden war, Parsivals kleinen Spion auf dessen Heimweg abzufangen.
Die Berichterstattung erfolgte selbstverständlich auf mentalem Wege, gemäß den dafür vor langer Zeit von Racul festgelegten Regeln. Sein getreuer Diener Sebastian übernahm wie immer die Funktion des Vermittlers, während Racul reglos in der ewig währenden Finsternis seines verborgenen Sarkophags ruhte.
Sein Günstling beendete den Bericht soeben mit den Worten: "Weiter war nichts aus ihm herauszubekommen, Mylord."
Racul ließ die Informationen einen Moment auf sich wirken, bevor er zu einer Antwort ansetzte.
"Sie hat also einen zusätzlichen Wohnsitz, eine Nebenbeschäftigung, sowie eine weitere Identität angenommen?"
Sebastian übermittelte ihm die Antwort des Spähers.
"Ja, mein Herr."
Das war nichts, was er nicht augenblicklich in ihren eigenen Gedanken hätte überprüfen können.
Andererseits hatte er genau dies von ihr eingefordert: Ihre normalen Tätigkeiten wieder aufzunehmen und ihn mit den lästigen Details zu verschonen. So irritierend es klingen mochte. Sie war nun einmal Wächterin und ihre Spezialisierung bestand in diesen Verdeckten Ermittlungen. Wenn sie also wieder damit begann, in Verkleidung durch die Stadt zu spazieren und es obendrein noch schaffte, die Verbindung zwischen ihnen zu unterdrücken, so dass er in Ruhe seinen eigenen Geschäften nachgehen konnte, dann entsprach das seinen Wünschen. Es war nichts, wofür er freiwillig die Gefahr eingegangen wäre, sich neuerlich dem geistigen Sperrfeuer dieser hochemotionalen Frau auszusetzen.
Racul war sich der heiß pulsierenden Verbindung zu ihr stets bewusst. Der 'direkte Draht' zu ihr verlief mitten durch das Zentrum seines Seins und hatte sich, einem schubberndem Schiffstau gleich, tief in seine Persönlichkeit gegraben. Egal was er dagegen bisher ins Feld geführt hatte, nichts war diesem Strang gewachsen gewesen. Manchmal lösten sich von dem glühenden Flechtwerk Bilder und Eindrücke aus ihrem Umfeld. Und zu den ärgerlichsten Zeiten sprudelten ihre Gedanken völlig überraschend daraus hervor und überschwemmten ihn geradezu in seinem eigenen Domizil, ohne dass er ihr hätte entkommen können! Und sie merkte es nicht einmal! Mit Ophelia zu kommunizieren war so anstrengend, wie einen klatschianischen Sandsturm auszusitzen. Ihre Empfindungen schmirgelten ihm regelrecht den Geist herunter und wenn eine dieser Phasen vorüber war und die Eindrücke sich auf das übliche Minimum reduziert hatten, war er stets so ausgelaugt, dass er alle Vorsicht fahren lassen und Sebastian zu sich in die Gruft rufen musste. Sie unterwanderte seine in Jahrhunderten bewährten Sicherheitsvorkehrungen mit einer unbedachten Sorglosigkeit, dass er tief in sich Angst vor der Zukunft verspürte. Und er konnte dieses Problem nicht auf die gleiche Weise lösen, wie er andere Ärgernisse ausschalten lassen hatte!
Seine Gedanken kehrten zu der aktuellen Problemstellung zurück. Die erhaltenen Informationen waren vorteilhaft. So wie unzählige andere Informationen auch, die ihm Nacht für Nacht zuflossen. Er würde sie der Vollständigkeit halber in seinem Sinn abspeichern. Letztendlich ging es ihm hierbei allerdings vor allem darum, Ascher im Blick zu behalten. Dieser moderne Emporkömmling hatte auf die denkbar ungünstigste Weise seinen Weg gekreuzt und ließ sich, gleich einem Furunkel, nicht abschütteln. Ascher selber hatte bisher nicht bemerkt, wie nahe er seinem Verderben mit dieser unerwiderten Tendelei kam. Racul spielte immer häufiger mit dem Gedanken, in irgendeiner Weise einzugreifen. Was erst jüngst dazu geführt hatte, dass Parsival Ascher nähere Bekanntschaft mit den Schlägern des Schattens gemacht hatte. Allerdings ging der skandalbehaftete Geschäftsmann offenbar davon aus, dass der kleine undiplomatische Diplomatentrupp seitens des Kommandeurs der Stadtwache angeheuert worden wäre. Es war ein Anfang, dass Parsival die eingeforderte Mindestdistanz zum Wachhaus seither überaus gewissenhaft einhielt. Aber solange er sich gleichzeitig dazu erdreistete, Ophelia anhand von Blumengrüßen zu kontaktieren, würde dies nicht genügen. Vermutlich war bald der Zeitpunkt gekommen, deutlicher zu werden und nicht lediglich seine Briefe an die Wächterin abzufangen?
Er trat nur so ungern in Erscheinung...
Er drängte seine Überlegungen beiseite, um Sebastian eine angemessene Antwort übermitteln zu lassen.
"Dein Bericht bestätigt mein vorhandenes Wissen." Sebastian wartete gleichmütig ab, bis er fortfuhr: "Wie bist Du weiter mit dem Igor verfahren?"
Seine Anweisungen waren zwar sehr differenziert gewesen, in Anbetracht dessen jedoch, dass seine Elitetruppe zu Grobheiten zu neigen schien, schadete eine Nachfrage gewiss nicht.
"Wie Du es angeordnet hattest, Mylord. Ich habe ihm die Erinnerung an unser Treffen genommen, die Auswirkungen meines Eindringens in seinen Sinn hinter mir getilgt und ihn dann auf dem Weg zu Ascher wieder zu sich kommen lassen. Er wird seinen Bericht vorgelegt haben und dann seinem Tagewerk nachgegangen sein, ohne den geringsten Hinweis darauf, dass etwas nicht mit rechten Dingen verlaufen sein mag."
Racul vermittelte seine Zustimmung und entließ den Spitzel. Anschließend entließ er auch Sebastian mit einem knappen Dank.
Er hatte seinen Körper so lange schon nicht mehr bewegt, dass er jegliches Gefühl für ihn verloren hatte. Sein Geist hingegen schwebte in samtener Dunkelheit.
Was war es, das ihm keine Ruhe ließ?
Er kräuselte missgelaunt die Stirn, als es ihm klar wurde.
'Parsivals Aufmerksamkeiten. Sie gefährden nicht nur meinen zurückgezogenen Status. Ich finde den Gedanken lästig, dass er einen Besitzanspruch auf sie geltend zu machen versucht! Aber warum sollte mich das so stören? Ich habe schließlich nie selber daran gedacht, sie für mich...'
Er schlug bei dem heraufsteigenden Gedanken verblüfft die Augen auf. Was nur weitere Finsternis offenbarte.
'Nun, ich habe mich tatsächlich als ihr Mentor eingesetzt, nicht wahr? Und sie hat dem nicht aktiv widersprochen. Parsival verkompliziert diese Sache... Als wenn das noch nötig gewesen wäre!'
Sebastian nahte sich ihm auf der zweiten Ebene und er hieß den Jungen vorzutreten.
"Was hast Du zu berichten?"
"Mein Herr... Sie befindet sich in der Stadt. Wir können Ihren genauen Aufenthaltsort nicht lokalisieren aber Ihre Ankunft ist definitiv bestätigt."
Racul gestattete sich ein leises Seufzen.
"Natürlich tut sie das. Hast Du daran gezweifelt? Dennoch... einen Versuch war es wert gewesen."
Ein leicht wehmütiger Anflug ließ ihn wieder die Augen schließen.
'Erst vergehen drei Jahrunderte ohne nennenswerte Vorkommnisse und plötzlich überstürzen sie sich.'
Er sandte Sebastian die vordringlichsten Gedanken.
"Sorge dafür, dass es im Haus an nichts Wichtigem fehlt, so dass wir während Ihrer Anwesenheit in der Stadt auf größere Besorgungen verzichten können. Die Patroullien werden auf die Hälfte reduziert und sollen vermehrt auf ihre Tarnungen achten. Die Abwehr- und Kontrollzauber an den Zugängen zum Gelände werden aufgefrischt. Überzeugt den Zauberer im Anschluss, seinen Aufenthalt zu verlängern! Sie wird nicht ewig bleiben, dazu ist sie zu sehr Überwäldlerin. Dennoch... ich ordne volle Alarmbereitschaft an. Sie ist nicht zu unterschätzen."

~~~ Signalfeuer ~~~


Mina ignorierte gekonnt die ewige Tragödie des Drei-Mann-Büros und betrachtete stattdessen, in Ermangelung eines lohnenderen Objekts, die krepelige Grünpflanze im Weidenkorb.
'Es ist völlig egal, ob man sie gießt oder nicht. Sie sieht immer gleich mitgenommen aus. Wenigstens sendet das Grünzeug keine Emotionen aus. Selbst wenn Septi anderes behauptet.'
Bei diesem Gedanken musste sie unweigerlich an das Gespräch zurückdenken, welches sie vor einigen Tagen mit Ophelia geführt hatte.
'Ich hätte es anders beginnen müssen. Oder mich zumindest nicht von ihren gesendeten Gefühlen ablenken lassen dürfen.' Sie senkte den Blick auf ihre Hände und dachte nach. 'Es macht keinen Sinn, dass sie sich so dermaßen schuldig fühlt, wenn das Gespräch auf jene Nacht kommt! Sie ist schließlich keine Maschine. Viele hätten an ihrer Stelle ähnlich reagiert und das Bewusstsein verloren. Dass der Igor nicht sofort entlastet werden konnte und dementsprechend grob behandelt wurde, das könnte man allenfalls dem Kommandeur zur Last legen - wenn überhaupt - aber ganz gewiss nicht ausgerechnet ihr! Warum also eine dermaßen unlogische Reaktion? Einfach nur, weil sie ein Mensch ist? Oder steckt mehr dahinter?'
Sie fühlte sich unwohl, mit solch misstrauischen Gedanken in ihrem Kopf, zumal jene die stellvertretende Abteilungsleiterin von RUM betrafen. Ophelia hatte sich nie etwas zu Schulden kommen lassen. Und doch...
'Interpretiere ich zuviel hinein? Wenn da etwas wäre, dann wäre ich doch ganz sicher nicht die Einzige, die darauf aufmerksam werden würde? Oder?'
Sie hatte Ophelia unter dem fadenscheinigen Vorwand, Sicherheit für ihre anstehende IA-Befragung zu suchen, auf die Geschehnisse in Rogis Büro angesprochen. Irgendetwas schien ihr nicht logisch an der Kombination all der Einflussfaktoren, die dort aufeinandergetroffen waren.
Ophelia hatte Rogi gut genug gekannt, um in Sorge um diese zu sein? An sich ein schlüssiges Argument. Warum war sie dann aber ausgerechnet zu genau diesem Zeitpunkt zu der Sanitäterin gegangen, um auf deren Leichnam zu stoßen? Wenn Mina es richtig in Erinnerung hatte, wäre es vom Ablauf der Chronologie her logischer gewesen, erst die - ganz sicher für Ophelia sehr aufwühlende - Befragung von Joram zu verdauen und anschließend direkt zum Durchsprechen der erfahrenen Fakten in Breguyars Büro zu folgen. Hatte dieser nicht sogar darauf hingewiesen, dass er Ophelia zu sprechen wünschte? Es schien absolut untypisch für Ophelia, sich einem so deutlichen Hinweis dadurch zu entziehen, dass sie das Gegenteil tat.
Dann die Reaktion des Igors. Ophelia hatte keine plausible Erklärung dafür bieten können, dass dieser sie trotz des grausamen Anblicks in den Raum gelassen hatte. Sie war merklich ins Stocken geraten bei ihrer Antwort. Konnte die Kollegin nicht wissen, was den Igor angetrieben haben mochte? Oder verschwieg sie dieses Wissen wohlweislich aus einem Grund, der nur ihr bekannt war? Immerhin hatte sich inzwischen ja herausgestellt, dass die beiden einander gekannt hatten. Wieder einer dieser Zufälle! Niemand sonst hatte den Igor bewusst wahrgenommen, so er das Wachhaus wirklich schon zuvor betreten haben sollte. Außer Ophelia! Doch damit nicht genug. Sie hatte ihren tadellosen Leumund ohne das geringste Zögern dafür verwandt, einen blutbesudelten Fremden, den sie keine zehn Minuten früher über der zerfledderten Leiche einer geschätzten Kollegin vorgefunden haben musste, vor der Mordanklage zu bewahren! Egal aus welchem Grund der Igor sie so in den Raum gelassen haben mochte... die Frage, warum Ophelia ihn so rigoros vor den Folgen seiner Handlungen zu schützen versucht hatte, drängte beinahe noch mehr auf sie ein. Ophelia hatte selber eingestanden, dass sie erst hinzugekommen war, als Rogis Körper bereits übel zugerichtet gewesen war. Sie hatte in den wenigen Minuten, die der Festnahme des Igors vorangegangen waren, ganz sicher nicht feststellen können, was die Todesursache gewesen sein mochte. Das war gerüchteweise nicht einmal mehr Magane nach der Obduktion möglich gewesen! Sie alle mussten sich auf das Wort des Igors verlassen, was das anbetraf. Und auf Ophelias Vertrauen in diesen. Was noch viel ausschlaggebender war! Woher also nahm sie dieses Vertrauen?
'Warum habe ich nichts davon mitbekommen, wie es um Rogi stand? Das hätte mir doch auffallen müssen, wenn sie es mit dem Herzen gehabt hat! Oder nicht?'
Sie rekapitulierte die letzten Gelegenheiten, zu denen sie Rogi über den Weg gelaufen war und stellte dabei fest, dass keine der betreffenden Situationen ihr einen Hinweis ermöglicht hätte. Wenn man seit Stunden in einem Büro saß und Akten bearbeitet hatte, dann war das keine so außergewöhnliche Anstrengung für einen Körper, dass er darauf mit schnellerem Herzschlag oder holpernder Atmung reagiert und so seinen eigentlich bedenklichen Status offenbart hätte.
'Nein... auf die Art habe ich es nicht bemerken können.'
Alles zusammen verdichtete die Ahnung in ihr, dass Ophelia mehr wusste, als ihnen Übrigen bisher bekannt war. Das Gefühl, der Vorgesetzten aufgrund einer ahnenden Regung mit Skepsis zu begegnen und nicht formulieren zu können, was sie ihr vorwarf, machte Mina ganz elend.
'Worum auch immer ihr Wissensvorsprung sich dreht... es kann nichts sein, was man ihr selber in irgendeiner Art als böse oder eigennützig vorwerfen könnte. Keinesfalls! Das wäre nicht ihre Art. Warum also vertraut sie sich niemandem an? Wir sind doch Kolleginnen?'
Eine Woge von mit Tatendrang vermischter Unsicherheit brandete den Flur entlang und näherte sich zielstrebig dem Büro.
Mina wappnete sich innerlich gegen die Fremdgefühle und blickte erwartungsvoll zur Tür.
Diese Art der Emanation konnte nur zu einer ganz bestimmten Person gehören. Und noch immer rang sie mit sich, wie sie den unbedachten Signalen gegenüberstehen sollte. War es klüger, diesen eine Bedeutung beizumessen oder wäre es schicklicher gewesen, sie als Privatangelegenheit zu ignorieren?
Dieser Konflikt war ihr neu und sie hatte noch keinen Weg gefunden, diesbezüglich mit sich selber ins Reine zu kommen.
Kurz bevor die Wächterin anklopfen konnte, rief sie ihr schon die Aufforderung hindurch, hereinzukommen.
Ophelia öffnete und trat ein. Ganz offensichtlich wollte sie das Wachhaus verlassen und hatte ihre Sachen dazu bereits bei sich.
"Mina? Ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich heute etwas früher los muss. Ich habe noch einen Termin. Wenn Du also etwas benötigen solltest, dann wende Dich den Abend über bitte an Romulus, ja?"
Mina brachte es gerade so über sich, ihr bestätigend zuzunicken, so schockiert war sie von der Flutwelle, widerstreitender Gefühle, die seitens Ophelias über sie hinwegbrandete: Zurückhaltung, Ungeduld, Bedauern, Dringlichkeit und Scham hielten sich die Waage und spotteten dem Theorem Hohn, dass sie solche Empfindungen nicht wahrnehmen können sollte.
'Es wird stärker. Zuvor hat sie es in meiner Nähe so gut wie möglich unterdrückt.'
Und da war noch etwas: Ophelia konnte faktisch Kommen und Gehen, wie es ihr beliebte. Ihr Rang und ihr eigentliches Aufgabenfeld führten zu Freiheiten, die andere Wächter nicht hatten. Es hätte genügt, einen Zettel an die Bürotür zu hängen oder - noch wahrscheinlicher - Romulus von ihrem Entschluss in Kenntnis zu setzen. Ophelia hatte diese Freiheit bisher kaum genutzt. Doch selbst wenn sie es getan hatte... es war ihr dabei niemals in den Sinn gekommen, ausgerechnet Mina auf diese Weise zu informieren. Sprach aus ihrem Verhalten etwa das sprichwörtliche schlechte Gewissen?
Die Kombination der empfangenen Gefühlswellen und ihrer eigenen Gedanken führte zu einem unangenehmen Verdacht bei der Vampirin.
'Sie plant etwas, was sie geheim halten möchte. Und es ist nicht ohne Weiteres vertretbar.'
Sie war enttäuscht.
'Und ich habe mir eben noch Vorwürfe deswegen gemacht, ihr mit unangemessenem Misstrauen zu begegnen!'
Andererseits...
Sie wies sich selber gedanklich zurecht.
'Dir ist noch nie in den Sinn gekommen, dass sie trotz aller Arbeit und trotz des ganzen Kummers in der Wache vielleicht noch so etwas wie ein Privatleben haben könnte? Du nimmst die erstbeste Interpretation ihrer Handlungen sofort für bare Münze, um alles zu erklären? Dabei ist es nie so einfach, wie es auf den ersten Blick aussieht, erst recht nicht, wenn es um Gefühle geht. Es gibt tausend Möglichkeiten, diese zu interpretieren und das weißt Du genau. Sie sind von Natur aus widersprüchlich und unlogisch und niemals mit vollständigen Informationen gleichzusetzen. Du denkst, Du kennst sie? Du vertraust ihr? Bei ihrem charakteristischen Pflichtgefühl wäre es gar nichts Ungewöhnliches, wenn sie sich mit einem Mann treffen und allein deswegen ein schlechtes Gewissen verspüren würde, weil sie solch ein kleines Stückchen persönlichen Glücks in Anbetracht der Katastrophen hier als unangemessen empfinden würde!'
Ophelia stand unsicher inmitten des Türrahmens und sah sie an.
"Mina? Stimmt etwas nicht?"
Die vorangegangenen Emotionen verebbten und wichen dem einen Gefühl, welches Ophelia in letzter Zeit fast permanent auszustrahlen schien: tastender Sorge.
Mina beeilte sich, zu antworten.
"Ja, mach Dir keine Sorgen. Ich war in Gedanken woanders. Ist es wenigstens ein angenehmer Termin, so dass sich der frühe Feierabend lohnt?"
Die Frage hatte sich fast von selbst eingestellt. Dankte sie so etwa Ophelias Mitgefühl?
Doch sie war inzwischen zu lange Wächterin, um schnell genug ihres Dranges Herr zu werden, einer Ungereimtheit auf den Grunde zu gehen. Und Ophelia selber hatte sie ausgebildet, also...
Die Reaktion der Kollegin riss wieder einmal die innere Kompassnadel herum.
Ophelia nickte lächelnd.
"Eine Formalität. Das sollte schnell zu klären sein, so dass mir danach gewiss Zeit bleiben wird, ein Cafe aufzusuchen und bei einer wundervollen Tasse Tee zu entspannen. Ich werde den Abend also ganz vorzüglich nutzen."
Aber das Lächeln erreichte nicht ihre Augen und die Gefühle, die sie nun endlich in sich zu verbarrikadieren versuchte, brachen stattdessen links und rechts an den Gedankenmauern vorbei und strudelten verräterisch durch den plötzlich viel zu eng wirkenden Raum. Sie fauchten Mina förmlich die Botschaft ins Gesicht: Unwahrheit! Unrichtig... Betrug!
"Dann wünsche ich Dir viel Erfolg damit und einen angenehmen Feierabend. Bis morgen!"
Die Tür schloss sich hinter Ophelia und die emotionalen Schlieren sickerten durch die Wände und unter der Tür hindurch fort.
Mina kniff die Lippen zusammen. Sie setzte dazu an, eine rationale Erklärung für den Vorfall zu suchen, welche an der Integrität ihres Vorbildes festhielt. Dann unterließ sie den Versuch jedoch.
'In der Tat. Du hast inzwischen wirklich Schwierigkeiten damit, "diese Dinge" für Dich zu behalten. Mehr, als Du selber denkst.'

~~~ In privater Angelegenheit ~~~


Gladiola schloss für einen winzigen Moment die Augen, um sich genussvoll den ersten Strahlen der Morgensonne zuzuwenden.
'Aaaaah! Endlich wird es wieder wärmer! Gleich passe ich wieder ganz gewissenhaft auf... nur ganz kurz noch. Es wird ja wohl nicht genau in dieser Sekunde jemand Zutritt begehren...'
"Schwester Klinge? Rhododendra zum Gruße und einen angenehmen Morgen!"
Die freundliche Frauenstimme sprach sie von der Seite an und die Amazone zuckte erschrocken zusammen, nur um sofort Haltung anzunehmen. Die Säbelscheide rasselte lautstark gegen ihre blankpolierten Beinschienen.
"Dir auch, Rhododendra zum Gruße!"
Sie musterte die Fremde misstrauisch.
Gegen die Morgenkühle trug die schlanke Frau zwar einen weiten Umhang, bei Gladiolas Musterung ließ sie dessen weite Kapuze jedoch mit einer kurzen Bewegung ihres Kopfes zurückfallen.
Gladiola konnte sich, trotz der vertrauten Anrede, nicht an sie erinnern. Stattdessen forderte sie kurzangebunden eine Erklärung ein. Das konnte nicht schaden.
"Was ist dein Begehr?"
Falls es die Frau enttäuschte, nicht von ihr wiedererkannt worden zu sein, so ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. Sie antwortete ihr gleichbleibend freundlich.
"Ich weiß, es ist noch früh. Andererseits... bei dem straffem Tagesplan im Orden hatte ich gehofft, eventuell Schwester Petunia vor dem Beginn ihres Unterrichts abpassen zu können. Ist sie wohl zu sprechen?"
Sie würde ihren Platz ganz sicher nicht für solch eine Anfrage verlassen. Nicht, nachdem sie sich gerade erst diese dumme Unachtsamkeit zuschulden kommen lassen hatte!
"Bist Du angemeldet?"
"Nein, leider nicht. Ich wäre auch gerne zu einem passenderen Zeitpunkt erschienen aber meine Möglichkeiten werden derzeit immer begrenzter und bei ihr konnte ich wenigstens sicher sein, dass sie schon vor dem Morgengrauen anzutreffen sein würde, erst recht also kurz danach."
Gladiola überlegte kurz.
"Ich kann Schwester Petunia eine Nachricht zukommen lassen und sie würde dann selber entscheiden, ob sie Dich empfangen will. Was möchtest Du ausrichten?"
Die Fremde senkte leicht den Kopf, bevor sie antwortete.
"Dann teile ihr bitte mit, dass die Stadtwächterin Ophelia Ziegenberger sie gerne in einer privaten Angelegenheit zu sprechen wünscht. Ich nehme Bezug auf unser Treffen, bei dem es um die Notwendigkeit eines Schwimmkurses ging. Ich denke, das wird genügen. Sie sollte sich erinnern."
Auch Gladiola meinte, sich nun an das Eine oder Andere entsinnen zu können. Bilder stiegen vor ihrem inneren Auge auf, in denen der Orden mitten in der Nacht in helle Aufregung geriet. Die Ordensmutter war vor Kummer außer sich gewesen und selbst die Schwestern, die in Rucola so etwas wie ein Vorbild gesehen hatten, waren wegen der Entführung des Wappenlöwens in Tränen aufgelöst gewesen. Schlotternde und wie kleine Mädchen schniefende Kriegerinnen in ihren Nachthemden... ein erschütterndes Bild des Entsetzens! Und diese Frau war, gemeinsam mit einer Kollegin daran beteiligt gewesen, sie alle hinters Licht zu führen. Andere Eindrücke gesellten hinzu. Eine erbärmliche Truppe rot gekleideter Wächter, die im Innenhof unter Schwester Flinkhiebs strenger Kontrolle den leichten Morgenparcour absolvieren sollten - und in lächerlichster Weise daran scheiterten. Hochrote Gesichter, Schweiß und Staub in den ruinierten Uniformen einer der angeblich angeseheneren Abteilungen dieser überflüssigen Einrichtung. Sie hatten damals hinter den Fenstern gestanden und darüber gespottet, warum auf den Rekrutierungsplakaten der Stadtwache so oft von 'gestandenen Kerlen' die Rede war, wenn die Wächter die meiste Zeit der Tests über doch mit hängender Zunge durch den Staub krochen!
Sie runzelte missbilligend die Stirn und hätte am liebsten ihren Säbel gezogen. Aber sie zwang sich zu überlegener Selbstbeherrschung.
'Die ist es nicht einmal wert, die geheiligte Klinge meines Schwertes zu besudeln!'
Laut sagte sie: "Warte hier! Ich werde jemanden rufen."
Womit sie tiefer in das säulenumstandene Portal des Tempels zurücktrat und an einem in der Nische verborgenen Strang zog. Sie blieb im kalten Schatten der Säulen stehen, den Blick unverrückbar auf die Wächterin gerichtet, ihre Hand locker auf dem Säbelknauf abgelegt. Sie warteten gemeinsam - schweigend.
Hinter Gladiola öffnete sich die schwere Doppeltür des Tempels und Schwester Affenbrotbaum trat mit fragendem Blick in ihren Sichtkreis. Sie deutete die Stufen der breiten Vortreppe hinab und auf die rothaarige Gestalt im Umhang.
"Die Stadtwächterin Ziegenberger will Schwester Petunia sprechen. Es geht um einen Schwimmkurs. Sag Bescheid, dass die Wächterin hier ist und frag nach, ob sie sie noch vor dem Unterricht treffen will."
Die Verräterin am Fuß der Treppe unterbrach sie.
"Bitte richte ihr auch aus, dass ich sie nicht lange aufhalten werde. Es geht mir vor allem darum, zu erfahren, welche Bedingungen sie als unausweichlich erachtet und... nun ja, auch um... die Theorie dahinter."
Die Tempelbotin betrachtete die Wächterin und dann ihre Ordensschwester, bevor sie sich mit einem knappen Nicken auf den Weg machte und Gladiola wieder allein ließ mit dieser falschen Schlange.
Gladiola atmete tief durch, warf sich mit grimmiger Miene in Positur und gab vor, die Frau zu ignorieren.
Die Tür hinter ihr öffnete sich wieder, diesmal jedoch für die angefragte Lehrkraft. Schwester Petunia warf ihr nur einen kurzen Blick zu, bevor sie die Fremde entdeckte. Sie stockte kurz in der Bewegung. Dann ging sie die Treppe hinab, der Wächterin entgegen. Ihr polierter Brustharnisch fing dabei die Sonnenstrahlen funkelnd ein.
Die beiden Frauen reichten einander die Hände.
"Rhododendra zum Gruße... Ophelia."
Gladiola wusste die minimale Verzögerung mit grimmiger Schadenfreude zu deuten.
'Ha! Sie hätte genauso gut Claudia sagen können... sich hier unter falschem Namen einzuschleichen! Auf dass sie vor Scham im Boden versinken und zu Kompost werden möge!'
Die Angesprochene nahm das Zögern entweder nicht wahr, oder sie verdrängte dessen Bedeutung. Sie lächelte Petunia dankbar entgegen.
"Vielen Dank, dass Du dir die Zeit genommen hast, mich aufzusuchen! Ich möchte auch wirklich nicht lange stören. Gibt es eine Möglichkeit, unter vier Augen zu sprechen? Ich mache mir Gedanken um dein großzügiges Angebot und würde gerne mehr darüber erfahren. Falls es noch steht..."
Die Ordenskriegerin deutete eine zustimmende Geste an, bevor sie sich leicht umwandte. Sie sagte:
"Natürlich. Zehn Minuten kann ich erübrigen. Bitte folge mir."

~~~ Das Versprechen ~~~


Er musste sich der bitteren Erkenntnis wohl oder übel stellen. Auch dieser Dienstagabend würde keine Wende bringen, insofern er selber nicht dafür sorgte. Die ersten zwanzig Minuten ihres gemeinsamen Trainings waren bereits verstrichen und Ophelia hatte sich noch immer nicht unaufgefordert zu den Ereignissen der vergangenen Tage geäußert. Dabei wusste sie ganz genau, dass er nicht nur aus reiner Fürsorge ihr gegenüber auf Antworten bestehen musste.
Er ließ das Schwert sinken und sie folgte seinem Bespiel sofort, aufmerksam wie immer.
"Sör? Habe ich etwas falsch gemacht?"
Araghast ließ das Schwert mit einem leisen, metallischen Schaben in dessen Scheide zurückgleiten. Er schüttelte grimmig den Kopf.
"Nein. Der Fehler lag wohl eher bei mir." Er richtete seinen Blick unverrückbar auf ihr Gesicht und fuhr fort: "Ich hatte tatsächlich angenommen, dass Du mit mir reden würdest. Ohne, dass ich dazu gezwungen wäre, darauf zu bestehen. Ich habe mich wohl geirrt."
Das leichte Zusammenzucken in ihrer Haltung war ihm nicht entgangen. Unter anderen Umständen hätte er sie nicht weiter bedrängt. Aber in den letzten Tagen hatte sich viel geändert und es ging nun nicht mehr nur um ihre Püsche. Auch wenn diese wichtig war. Aber, nein. Es ging um mehr als das.
Er wandte sich zum Gehen und befahl ihr mit einem Wink, ihm zu folgen.
Sie gehorchte wortlos.

Er spürte sie dicht hinter sich, als sie das Wachhaus in unangenehmem Schweigen betraten und kurz darauf die Treppen zu seinem Büro erklommen. Es vergingen einige Sekunden, als er die Tür mit einem schweren Schlüssel entriegelte. Ophelia passierte ihn mit gesenktem Blick und augenblicklich kam er sich schlecht vor.
'Sie wirkt so zerbrechlich... und ich zitiere sie hier hinauf, als wenn es ihr Gang zum Schafott wäre!'
Sie wartete ergeben, bis er alle Lampen entzündet und hochgedreht hatte. Die Trainingswaffen fanden an deren Plätze zurück. Er forderte sie stumm dazu auf, sich zu setzen.
Ihre Röcke raschelten leise.
Er selber setzte sich ihr gegenüber und legte seine beiden Hände locker ineinander vor sich auf die Schreibtischplatte. Er übersprang jegliche Höflichkeitsfloskeln und kam direkt auf den Punkt.
"Ich benötige eine möglichst vollständige Beschreibung dessen, was in Rogis Büro geschehen ist. Und was dem voran ging."
Endlich sah sie ihn direkt an.
"Darf ich darauf hinweisen, Sör, dass wir dieses Gespräch bereits hatten?"
Das schlechte Gewissen ihr gegenüber verflüchtigte sich augenblicklich.
'Sie versucht schon wieder, mich abzulenken und klare Aussagen zu umgehen.'
Seine Frustration wandelte sich in Zorn.
"Und darf ich Dich darauf hinweisen, dass dem nicht so ist? Unsere bisherigen Gespräche waren nicht einmal im Ansatz so informativ, wie es unser jetziges gefälligst sein wird. Ich habe bisher Rücksicht genommen, doch damit ist nun Schluss. Ist Dir bewusst, dass der Verräterzwerg mich zu zerquetschen gedenkt? Die Interne wird nicht locker lassen und ich kann es mir einfach nicht mehr erlauben, im Trüben zu fischen. Ich muss wissen, was wirklich passiert ist und das werde ich auch! Du weißt mehr, als Du bisher zu sagen bereit warst. Es muss einen Grund dafür geben, warum Du den Igor von der ersten Sekunde an so vehement geschützt hast, obwohl ihr Euch offenbar nicht einmal annähernd so gut kennt, wie Du mir weismachen wolltest."
Ophelias Augen zeigten einen Teil der Emotionen, die durch ihren Sinn toben mussten. Doch immer wieder trübte sich dieser Eindruck ein, wenn sie mit der ihr eigenen Art dagegen vorging und ihre typische Gelassenheit aufzubauen begann, dieses innere Distanzieren, welches er inzwischen so zu hassen gelernt hatte. Wenn er sie richtig las, dann schwankte sie momentan zwischen mindestens zwei Gefühlsextremen. Wenn ihm dies helfen sollte, musste er schnell handeln, um sie zu packen zu bekommen, bevor es zu spät war und sie wieder hinter dieser Mauer verschwand. Und er wusste auch schon wie. Wenn es etwas gab, auf das man sich bei ihr verlassen konnte, dann waren das bisher ihre Loyalität und ihr Ehrgeiz gewesen.
"Ich habe mich die ganze Zeit über darum bemüht, Dich zu unterstützen und Dir zu helfen. Willst Du es mir mit Unehrlichkeit danken?"
Das Flackern in ihrem Blick kündete davon, dass er soeben einen gut Teil der Gefühlsbarrikade eingerissen haben musste, ehe sie diese vervollständigen konnte. Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf und widersprach mit einem kaum zu erahnenden Zittern in der Stimme.
"Sör, es tut mir leid! Ich bin Dir sehr dankbar für deine Rücksichtnahme. Ich habe niemals unehrlich sein wollen."
"Nicht unehrlich sein zu 'wollen' und es nicht zu 'sein' sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe. Du bist in deinen Formulierungen so verdammt vorsichtig, dass es mich nicht wundern würde, wenn ich dort die Wahrheit fände. Denke gut darüber nach! Hast Du mich auf irgendeine Art betrogen?"
Sie schüttelte den Kopf, doch ihre Augen glühten fast fiebrig und sie brachte die Worte nicht heraus.
Araghast lachte spottend auf und fixierte sie mit einem seiner gefürchteten Blicke.
"Willst Du hier und jetzt behaupten, dass Du mir keine Informationen vorenthälst? Und zwar wohlgemerkt Informationen, die ich - nicht Du - als wichtig oder zumindest nützlich und interessant einstufen würde?"
Sie wich seinem Blick aus und mehr brauchte er nicht, um sich sicher zu sein.
"Ophelia..."
Sie blickte hilflos beiseite, irgendwohin, nur nicht in seine Richtung und er konnte förmlich dabei zusehen, wie sie in Windeseile darum kämpfte, ihre Gelassenheit wiederzufinden, um weiterhin Ausreden aus dem Ärmel schütteln zu können, wie andere Leute alte Taschentücher.
"Feldwebel Ziegenberger! Ich rede mit Dir. Es wäre höflicher, wenn Du den Anstand hättest, deinen Vorgesetzten dabei anzusehen."
Sie umschlang mit der gesunden Rechten ihre geschiente Seite und presste hart die Lippen zusammen, als sie seiner Anweisung Folge leistete.
Auch das war nicht ganz fair gewesen, wie er sehr wohl ahnte. Sie hatte sich den neuen Rang verdient gehabt und inmitten all der Trauer schien es ihm eine gute Idee gewesen zu sein, ihren anhaltenden Fleiß und ihren essentiellen Anteil an der Aufdeckung der HIRN-Verschwörung mit dieser weiteren Stufe ihrer Karriereleiter zu belohnen. Doch allein an ihrer Reaktion damals hatte er ablesen können, dass sie der Rang viel zu schmerzhaft an Rogi gemahnte. Es war nicht nur der gleiche, den ihr Vorbild innegehabt hatte, als Rogi starb. Ophelia schien auch zu denken, dass Rogis Tod zu schrecklich war, als dass sie durch ihre Arbeit an dem Fall, der zu diesem Tod geführt hatte, auch noch zu einer Ehrung gelangt war.
Aber wenn er damit ihre volle Aufmerksamkeit zurückbekam...
"Ich habe die Nase voll von diesen Spielchen. Erkläre mir endlich den Zusammenhang! Der Igor wollte ausschließlich mit Dir reden. Warum? Was ist in Rogis Zelle passiert? Und was ging dem voran? Du kannst mir nicht mehr weismachen, dass es ein Zufall war, dass Du ausgerechnet zu dem Zeitpunkt dort warst. Ich habe zur selben Zeit hier auf Dich gewartet gehabt und Du wusstest das. Unter normalen Umständen wärst Du mir direkt gefolgt. Und dann all die Geheimnisse! Der Igor war unschuldig, was Rogis Tod betraf, davon gehe ich aus, denn ich vertraue deinem Urteil. Immernoch! Trotzdem Du mir etwas verschweigst. Rogi und Du, ihr hattet Euch miteinander angefreundet gehabt in den letzten Wochen, das ist mir klar geworden. Und Du würdest auch jetzt noch alles daran setzen, ihr beizustehen, wenn dies ginge. Das wird allein schon aus deiner Einsatz-Anfrage mehr als deutlich. Deswegen kann er kein Mörder sein, sonst würdest Du ihn nicht decken. Und doch... Was verheimlichst Du mir?"
Sie sah ihn wie befohlen weiterhin an und gleichzeitig schien es ihr unmöglich, auf seine Forderung zu reagieren. Ihre Lippen waren inzwischen nahezu blutleer und ihre Hand krampfte sich tief in den geschienten Arm. Sie schien darum zu kämpfen, ihr Gleichgewicht wiederzufinden, doch sein ungewöhnlich heftiger Auftritt ihr gegenüber hatte sie bis in ihre Grundfesten erschüttert.
Vielleicht wurde ihr jetzt erst voll bewusst, wie sehr ihn ihr Verhalten verletzte?
So wie sie ihn ansah... es fühlte sich nicht richtig an...
Araghast unterdrückte den Impuls, zu seufzen und er verbot es sich ebenso, in eine mildere Gangart umzuschalten.
'Nein. Wenn ich sie dieses Mal wieder ohne Resultate gehen lasse, dann habe ich endgültig meine Autorität ihr gegenüber verspielt. Dann wird diese Lüge, worin auch immer sie besteht, zwischen uns bestehen bleiben und die Zukunft vergiften.'
Er ließ seine Stimme eine drohende Nuance tiefer sinken, ebenso wie seine Stirn.
"Du willst mich nach allem, was ich für Dich getan habe, diesem Agenten zum Fraß vorwerfen? Was könnte so wichtig sein, es mit allen Mitteln vor mir zu verheimlichen?"
Ein scharfer Kopfschmerz blitzte durch seinen Schädel und mit ihm kristallklar ihre verzweifelte Stimme.
'...mein Versprechen an Rogi!'
Er fuhr auf und griff sich im Reflex an die Schläfen. Seine Stimme schnitt scharf durch die Luft zwischen ihnen.
"Welches Versprechen?"
Ihre Augen weiteten sich panisch und in seinem Sinn brach die Hölle los.
Ihre Stimme drohte ihm den Kopf zu sprengen, je mehr sie sich krampfhaft darum bemühte, das was gerade geschah, unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie schien ihre Gedanken einengen zu wollen, erreichte aber nicht mehr, als dass sie diese dabei verdichtete und sie - gleich dem Sonnenstrahl aus einer Brennlinse - noch intensiver auf ihn ausrichtete.
'Oh nein, er kann mich hören! Es passiert wieder! Ich darf auf keinen Fall daran denken, dass ich Rogi versprochen habe, niemandem etwas davon zu erzählen. Ich muss das aufhalten. Racul hat gesagt, dass ich das schaffen kann also muss ich das irgendwie hinbekommen. Am besten verschwinde ich hier so schnell wie möglich und verstecke mich irgendwo, im Fundus oder so, oder im Hof bei den Ställen... vielleicht ist im Taubenschlag niemand... nur bis ich das unter Kontrolle...'
Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Als sie jedoch von ihrem Stuhl aufsprang, war er schon an der Tür und zog den Schlüssel bereits wieder ab.
'Hier kommst Du nicht ohne Antworten raus und wenn ich dafür mein Hirn braten lassen muss!'
Sie erschrak und er war sich nahezu sicher, dass auch sie seine Gedanken empfangen konnte, so reflexartig, wie sie auf diese Absichtserklärung reagierte.
Sie blieb wie angewurzelt stehen und schluckte schwer, ihren flackernden Blick ängstlich auf ihn gerichtet.
Araghast blinzelte gegen den Kopfschmerz an.
'Verflucht, tut das weh!'
"Sör, es tut mir so leid! Ich will Dir nicht weh tun. Ich weiß nicht, wie ich das abstellen könnte."
Ihre Worte wurden von den lauten Gedanken begleitet, die ihm zwischen den Ohren gellten: 'Er sollte mich nicht hören, ebenso wenig, wie ich ihn. Das ist alles so falsch.'
"Ich tue es aber."
Sie schloss fassungslos die Augen und atmete tief ein, wie um sich selber zu beruhigen.
Der Schmerz ebbte abrupt ab.
Er blinzelte misstrauisch, straffte dann aber langsam seine Gestalt und blickte sie herausfordernd an.
"Wie funktioniert das? Du solltest nicht in meinen Kopf können - selbst die Blutsauger würden sich an dem Versuch die Zähne ausbeißen!"
Ophelia wich einen Schritt vor ihm zurück.
"Ich weiß es nicht, Sör." Obwohl sie sich sonst mit keiner Geste verriet, als sie relativ gelassen antwortete, empfing er auf der höheren Ebene ebenso deutlich den Gedanken 'Ich muss hier irgendwie raus! Sofort!'
Er wackelte in grimmiger Zufriedenheit mit dem Schlüssel in seiner Hand. Er umrundete sie und wandte ihr dabei provokativ den Rücken zu. Wobei er nicht verhindern konnte, kurz zusammenzuzucken bei ihrem prompten Gedanken daran, dass sie ihn theoretisch niederschlagen könnte.
'Untersteh' Dich! Schon der Versuch würde Dir nicht bekommen!'
Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch und lehnte sich zurück.
Ophelia stand noch immer nahe der Tür und ihre Gedanken begannen sich im Kreis zu drehen.
'Ich muss hier raus, ich muss weg! Ich muss mein Versprechen halten...'
Er rieb sich die Stirn.
"Anscheinend wirst Du mir jetzt die Wahrheit sagen. Ob Du es nun willst oder nicht. Sehr gut. Also? Was ist das für ein Versprechen, welches Du Rogi gegeben hast?"
Sie drehte sich panisch um und lief zur Tür, in der unnützen Hoffnung, sie vielleicht doch öffnen und vor ihm flüchten zu können. Sie rüttelte verzweifelt an der Klinke und ihre Stimme kippte, als sie ihn mit zugwandtem Rücken flehentlich bat: "Sör, bitte nicht! Zwing mich bitte nicht dazu, sie zu verraten!"
Ihre Gedanken jedoch eilten dem schon voraus, indem sie ihm endlich darlegte, worum es ging. Worum es die ganze Zeit schon gegangen war, ohne dass es jemand geahnt hatte.
'Sie hatte darauf bestanden, dass ich es niemandem sage. Und ich muss dieses Versprechen doch halten. Es ändert nichts daran, dass sie nun tot ist. Sie hat so viel für andere getan, wir schulden es ihr, wenigstens ihren Ruf zu schützen. Es war nicht richtig, dass sie ihr Beruhigungsmittel genommen hat aber sie war so lange auf sich allein gestellt gewesen und sie hat keinen Ausweg gesehen und...'
Araghast versteinerte. Sein Blick durchbohrte fast Ophelias Rücken, als er sie auf beiden Ebenen zugleich unterbrach.
"Rogi war drogenabhängig?"
Ophelia keuchte auf. Ihr Kopf sank voran, bis er an der verschlossenen Tür aufpochte. Ein einziger Gedanke schmetterte sie nieder.
'Ich habe sie doch noch verraten!'
Ihre Beine klappten unter ihr zusammen.
Sein Kopf war plötzlich frei von fremdem Einfluss und er atmete auf. Im nächsten Moment gab er sich einen Ruck und eilte dennoch zu ihr. Er wollte Puls und Atmung prüfen, hatte aber kaum damit begonnen, als sie auch schon wieder zu sich kam.
Sie fokussierte ihren Blick auf ihn und er erwartete schon, dass der mentale Kontakt sich jeden Moment erneuern würde. Aber nichts dergleichen geschah. Sie sahen einander nur stumm an. Bis sich in ihren Augen Tränen sammelten und sie ihren Kopf abwandte.
Er bot ihr eine Hand und nach kurzem Zögern nahm sie seine Hilfestellung an, um wieder auf die Beine zu kommen.
Sie strich sich die Kleidung glatt und ging dann zum anderen Ende des Zimmers, so weit entfernt von ihm, wie nur irgend möglich - und sie mied seinen Blick. Ihre Stimme war kaum zu hören, so leise flüsterte sie.
"...es tut mir leid, Sör..."
Araghast entschied, vorerst in der Nähe der Tür zu bleiben. Die Linien in seinem Gesicht wurden schärfer, die Konturschatten härter.
'Es ist viel zu spät, als dass noch viele im Wachhaus wären. Auf dieser Etage dürften wir fast allein sein. Aus dem Fenster wird sie nicht springen... also dann! Ich habe mich viel zu lange von ihr einwickeln lassen. Man sieht ja, wohin diese Gefühlsduselei uns geführt hat. Hätte ich früher auf Antworten bestanden... wer weiß?'
Ophelia war immerhin Stellvertretende Abteilungsleiterin der RUM, nicht nur das zerbrechlich wirkende Frauenzimmer, dort am dunklen Fenster. Wenn sie ihm einen sachdienlichen Rapport verweigerte, war es für ihn, als dem Kommandeur der Stadtwache Ankh-Morporks, schlicht und ergreifend an der Zeit, andere Seiten aufzuziehen.
Er behielt ihre Reaktionen genau im Blick.
"Feldwebel..." Ihre Schultern spannten sich leicht an, bei der Nennung des ungeliebten Ranges, doch sie sah weiter in die Dunkelheit hinaus.
'Ich muss sie wenigstens für die Dauer des Gesprächs unausgeglichen halten. Sonst schlüpft sie mir doch noch durch die Finger. Immer schön den Hebelpunkt beibehalten.'
"Hatte Rogi Feinstichs Sucht Einfluss auf ihre Dienstfähigkeit?"
Sie holte erschrocken Luft und drehte sich mit vorwurfsvollem Blick zu ihm um.
Er setzte mit der erstbesten Behauptung nach, die ihm einfallen wollte, um sie weiter aus der Reserve zu locken. Doch noch während er sie aussprach, spürte er ein Frösteln, eine schockierende Ahnung dessen, dass diese vielleicht gar nicht so weit hergeholt sein mochte.
"Könnte Feldwebel Feinstich deiner Einschätzung nach zum fraglichen Zeitpunkt nicht mehr dienstfähig gewesen sein und somit eine Mitschuld an Michael Machwas Tod zu verantworten gehabt haben?"
"Sör!" Gerechte Empörung rötete ihre Wangen. "Rogi ist... war eine exzellente Fachkraft, die stets ihr Äußerstes gegeben hat. Wie kannst Du solch eine Frage stellen? Sebastian Joram war der Täter! Er hatte die Armbrust auf Michael gerichtet gehabt, er hatte abgedrückt gehabt. Dieses Gespräch, dieser Vorwurf... sie sind absolut absurd! Willst Du Rogi etwa der Mittäterschaft an einem Mord beschuldigen? Willst Du die gleiche Person verdammen, an deren Grab Du Loyalität im Übermaß attestiert hattest? Sie ist an diesem Verlust zugrunde gegangen! Sie hat alles getan, um ihn zu retten! Sein Tod hat sie so sehr belastet, dass ihr Herz aufgab... Wie kannst Du nur..."
Er konnte nicht verhindern, dass seine Kiefermuskeln sich bei ihren Worten anspannten. Aber er würde ganz sicher nicht locker lassen.
"Jaaaa", presste er grimmig durch die zusammengebissenen Zähne hervor. "Das ist noch so eine Sache, die mich genauer interessieren würde. Wenn sie abhängig war... inwiefern ist ihr plötzlicher Tod dann noch einem natürlichen Herzversagen zuzuschreiben? Erst recht so direkt im Anschluss an den schmerzhaften Verlust Machwas', nach ihrer gescheiterten Operation an ihm..."
Ophelias Rücken drückte sich kerzengerade durch und ihre zart geschwungenen Brauen rückten auf der gerunzelten Stirn zusammen.
"Was möchtest Du damit andeuten, Sör?"
Araghast atmete tief durch und legte beide Hände scheinbar entspannt hinter seinem Rücken zusammen, während er entschlossen zu ihr hinüber zu schlendern und die Distanz zu verringern begann.
"Das Offensichtliche? Wenn sie abhängig gewesen ist... was hätte da näher gelegen, als sich am katastrophalen Ende dieses desaströsen Tages zurückzuziehen und zu beruhigen? Mithilfe ihres eigenen Serums."
Er stellte sich neben sie und blickte so aus dem Fenster, wie sie es bis eben getan hatte. Es dauerte einen Moment, ehe sie seine Nähe akzeptierte. Sie wandte ihren Blick von ihm ab, nach draußen. Ihr Schweigen war erstaunlich unangenehm.
Er seufzte tief und erklärte ihr dann.
"Drogen sind unberechenbar. Es kann hundert Mal gutgehen. Und beim einhundertundersten Mal..."
Die Ermittlerin sah ihn von der Seite aus an und ihre Stimme klang stark unterkühlt, als sie ihn fragte:
"Was erwartest Du jetzt von mir, Sör? Soll ich den Autopsiebericht holen?"
Er ignorierte den ungewohnten Anflug von Sarkasmus bei ihr und dachte stattdessen an die fleckigen Papierseiten eben jenes Berichtes und an das Wenige an Essenz, was er diesem hatte entnehmen können.
"Nicht nötig. Mein Gedächtnis funktioniert noch ganz gut."
Wenn er nach Maganes Berichten ging, war Michaels Tod fast unmöglich aufzuhalten gewesen, gleichgültig in welchem Zustand Rogi operiert haben mochte. Und was sie selber anging... ihr Herz war ja dankenswerterweise von dem idiotischen Igor an den Köter verfüttert worden, wenn er das richtig verstanden hatte. Und ob die Dosis des "Medikaments", welches sie sonst so intus gehabt hatte, auf sie selber tödlich gewirkt haben mochte, ließ sich ohne Vergleichswerte zu anderen Igors angeblich nicht feststellen.
'So viele Zufälle, die es mir unmöglich machen, eine eindeutige Antwort zu finden...'
Er brummelte unzufrieden gegen die Fensterscheibe.
"Zwei Wächter sind tot und ich habe nur Fragen, immer mehr Fragen, mit denen ich mich vor dem IA-Agenten herumschlagen muss. Wenn Sebulon damals die Zelle gestürmt hätte, wäre ihm dann etwa nach einem gemütlichen Plausch gewesen? Rogi ausgeweidet inmitten eines Schlachthauses, Du von einem bluttriefenden Irren bedroht! Und jetzt will er mir einen Strick daraus drehen, dass ich in der Situation klar Schiff gemacht habe..."
Er spürte ihren Blick auf sich ruhen und die abweisende Kälte zwischen ihnen schien sich etwas zu legen. Sie seufzte leise.
"Sör?"
Araghast brummte unzufrieden.
"Ja?"
"Wir machen alle Fehler. Aber die gute Absicht zählt trotzdem. Das weiß auch Roger... irgendwie. Was ich sagen möchte ist... an dem Abend standen wir alle unter Druck. Im Nachhinein betrachtet mag es sein, dass man einige Dinge anders gehandhabt hätte. Aber das würde bedeuten, über vergossene Milch zu trauern. Stattdessen sollten wir planen und vorausschauend handeln. Beispielsweise, indem wir uns die Verursacher vorknöpfen. Wir können unsere Energien darauf ausrichten, uns gegenseitig zu befragen und zu bedrängen... oder wir könnten gemeinsam die HIRN zerlegen."
Seine Mundwinkel zuckten humorlos.
"Sag das dem Zwerg."
"Gerne, Sör. Nur müsste ich dazu dein Büro verlassen, woran ich momentan durch die Umstände gehindert werde."
Er blickte sie an und sie erwiderte seine Aufmerksamkeit mit ruhigem Ausdruck in den grauen Augen.
'Sie hat ihr inneres Gleichgewicht wiedergefunden. Ich war nicht schnell genug... Werde ich alt, wenn mich allein der Anblick von so viel Kampfgeist allmählich erschöpft?'
Der Kommandeur hob seine Hand und öffnete diese. Er bot ihr damit den Schlüssel an.
"Mein Vertrauen, im Austausch gegen deine Ehrlichkeit?"
Ihr Blick zuckte von dem Schlüssel in ihrer Reichweite zu ihm und wieder zurück. Doch sie zögerte, die Gelegenheit zu ergreifen.
'Angeborene Zurückhaltung? Oder weitere Geheimnisse, von denen ich nicht erfahren soll?'
Sie sah zur Tür hinüber und sagte:
"Kann man Vertrauen denn eintauschen, Sör? Ich dachte bisher, dass es eines der Dinge ist, die man großmütig schenkt."
"Ich bin eher der Verfechter von 'man muss es sich verdienen'..."
Sie blickte lange auf den Schlüssel in seiner Hand hinab und er meinte quasi zu spüren, wie dessen Gewicht stetig zunahm. Schließlich wandte sie sich mit einem Ruck von ihm ab und sah wieder aus dem Fenster.
"Sör... Du hast natürlich Recht. Es wäre zuviel verlangt, dein Vertrauen zu erbitten, wo ich doch soeben erst unter Beweis gestellt habe, dies keinesfalls zu verdienen. Ich werde mich mit dem begnügen, was Du mir zugestehst."
'Na wunderbar!' Er rollte innerlich mit den Augen. 'Sie hat nicht nur sämtliche Blockaden bis zum Anschlag hochgefahren, nein, sie mimt auch wieder die personifizierte Unschuld. Unmöglich, jetzt noch irgendwas Wertvolles aus ihr herauszukitzeln. Ich würde nur meine Zeit vergeuden.'
Er gab sich einen Ruck, ging zur Tür, entriegelte diese und hielt sie ihr auf.
Ophelia sah ihn nur kurz an, dann schritt sie mit wehendem Rock an ihm vorbei und den kurzen Gang zu ihrem eigenen Büro hinunter. Sie sah nicht einmal zu ihm zurück!
Araghast Breguyar schloss die Tür wieder, umrundete seinen Schreibtisch, ließ sich auf den Stuhl zurückfallen und angelte kurz darauf den Flachmann mit dem Hochprozentigen aus dem untersten Schubfach hervor. Er schenkte sich einen Doppelten ein und ließ den Rum heiß die Kehle hinunterrinnen. Die Metallkappe pochte hart auf den Tisch auf, als er sie schwungvoll wieder abstellte. Er starrte finster vor sich hin und seine Gedanken kreisten um Ophelia.
'Sie ist eine falsche Schlange. Sie hat so eine Art an sich, einen um den Finger zu wickeln... Sie macht das mit Absicht, umgarnt einen mit ausweichenden Freundlichkeiten und Platitüden, bis man vergessen hat, was man eigentlich wissen wollte. Und das Schlimmste ist, dass ich darauf hereinfalle, obwohl ich es besser wissen müsste! Es geht mir jedesmal so, wenn sie in der Nähe ist. Entweder sie fordert meinen Beschützerinstinkt heraus. Oder sie treibt mich in den Wahnsinn mit ihrer Sturheit.'
Er dachte darüber nach, was er denn wirklich Neues erfahren hatte. 'Rogis Sucht. Davon hatte ich nicht einmal etwas geahnt. Schlimm genug. Aber selbst das hätte sie nicht preisgegeben, wenn diese mentale Störung ihr nicht so zu schaffen machen würde. Nein... Vertrauen verdient man sich anders.'
Er goss sich nach.

~~~ Die Witwe ~~~


Das Café 'Klammer' war eines der ersten, das morgens öffnete und Tische und Stühle auf den Gehweg stellte, wo sie in altbewährter Tradition den fluchenden Fußgängerstrom auf die Fahrbahn umlenkten. Vor allem später, gegen Mittag, wenn es hier im Zentrum voll werden würde, war das 'Klammer' ein Tourismus-Magnet.
Jetzt aber hatte er den Platz an der gerade erst aufgehenden Morgensonne noch nahezu für sich allein. Nur wenige Menschen nahmen sich die Zeit, die warmen Strahlen auf sich einwirken zu lassen. Wer jetzt unterwegs war, dem ging es meistens darum, entweder schnell zur Arbeit oder aber schnell nach Hause zu kommen.
Rach räkelte sich zurückgelehnt auf dem klapprigen Stuhl, wie es nur jemand fertigbringen konnte, der an wesentlich gefährlicheren Mechanismen ausgebildet worden war. Seine Beine streckte er an den Knöcheln überschlagen von sich, seine Rechte lag locker an der übergroßen Kaffeetasse und es hätte nicht viel gefehlt, um ihn genüsslich schnurren zu lassen, wie einen satten, zufriedenen Kater.
Er ließ mit halb gesenkten Lidern den Blick wandern. Das vertraute Panorama des Palastes auf der gegenüberliegenden Seite des weiten Platzes, die stetig aufsteigenden Tauben im Himmel darüber. Passanten, Karrenlenker und Reiter prägten das Straßenbild. Dabei waren alle nur erdenklichen Rassen vertreten. Werwölfe, Menschen, ein Troll, Kobolde, unzählige Dämonen auf ihren eiligen Botengängen, sowie übellaunig blinzelnde Vampire, deren Sonnenschutz anscheinend nicht mehr ganz frisch war.
Der Dunkle Sekretär liebte es, diesem Schauspiel unbemerkt beizuwohnen. Er war eindeutig ein Stadtmensch, musste dort sein, wo das Leben pulsierte.
Er orientierte sich am Stand der Sonne.
'Noch eine dreiviertel Stunde, bis seine Lordschaft mich erwartet.'
Er nahm einen weiteren Schluck aus dem duftenden Pott, stellte ihn wieder vor sich ab... und hielt inne.
Eine junge Frau in schwarzer Kleidung blieb vor dem Café stehen, überdachte die Sitzmöglichkeiten und entschied sich für einen Einzeltisch nahe der Tür.
'Ist sie ebenfalls eine Absolventin?'
Sein gedrillter Verstand begann mit einer systematischen Beobachtung und Analyse ihrer Person, während sein Körper sich weiterhin entspannt dem Sonnenbad widmete.
'Sie trägt weder Abzeichen, noch kann ich unter ihrer Kleidung verborgene Waffen erkennen. Unter dem Umhang folgt ihr linker Arm den Bewegungen des Körpers in einer Weise, als wenn er keine Spannung aufbauen könnte. Eine schwere ältere Verletzung? Ihr Auftreten spricht von Selbstbewusstsein. Mitte zwanzig. Sie trägt einen schmalen Silberring an der rechten Hand, gleich einem Verlobungs- oder Hochzeitsgeschenk. Um den Hals eine Kette mit Om-Anhänger. Ihre Kleidung ist konsequent in schwarz gehalten, weder modern, noch altbacken, sehr schlicht aber neu. Die abgetragenen Schuhe hingegen sehen aus, als wenn sie an einem Ort gekauft und häufig getragen wurden, an dem Mode ein Fremdwort war und es vor allem um Nützlichkeit auf schlechten Straßen ging. Sie wird wohl tatsächlich eher eine Witwe sein. Dass sie sich nicht von den Schuhen getrennt hat, als sie sich sonst neu einkleidete, kündet von einer schmalen Geldbörse... oha! Vielleicht revidiere ich die Theorie lieber gleich wieder...'
Die junge Frau hatte sich unweit von ihm ebenfalls in die Sonne gesetzt und dabei, während sie ihre Beine übereinanderschlug, für einen Sekundenbruchteil die unter ihren Röcken verborgene Filzscheide offenbart, welche mehrfach umschlungen an ihr Schienbein gegürtet war. Auf der anderen Seite des Beins mochte noch ein Dolch gegengebunden worden sein. Zumindest legte die Art, wie die Bänder über Kreuz liefen, dies nahe. Was er aber gesehen hatte, war schon aufschlussreich genug gewesen.
Die Waffe ihrer Wahl war demnach ein windschnittiger Plock der Marke "Indiziert100", Spezialanfertigung von Burlich & Starkimarm, mit einem Durchmesser von etwa drei Zentimetern. Die Dinger waren maßangefertigte Schmuckstücke, verstärkt durch einen Kernstab aus geschmiedetem Eisen, ummantelt mit polierter Eberesche, mit modelliertem, mattiertem und ledergewickeltem Griff für den optimalen Halt und einer sich leicht verbreiternden Aufschlagfläche am oberen Ende für einen Hammer. Sie waren weder alltäglich, noch billig. Die Deluxe-Ausführungen dieser Marke wurden sogar durch wochenlanges Tauchbad in Weihwasser aufgewertet und waren begehrte Sammlerstücke. Auf gar keinen Fall trug man so etwas versehentlich mit sich herum. Dazu brauchte es schon einen sehr stichhaltigen Grund!
Sie rückte die Röcke mit der gesunden Hand zurecht und gab ihre Bestellung auf. Einen überwaldischen Tee.
Seine Finger schwebten über dem Tassenrand, während er sich bewusst der Straße zuwandte, um sie nicht durch seinen Blick auf sich aufmerksam zu machen.
'Interessante Witwe.'
Der Gedanke an eine Gildenschülerin, die sich vielleicht unerlaubt vom Campus entfernt hatte, tauchte wieder in seinem Sinn auf. Immerhin lag das Gelände nur auf der anderen Straßenseite, rechterhand seines Blickfeldes, sozusagen einen Steinwurf entfernt. Es war ein Leichtes, sich für wenige Stunden vom Campus zu schleichen. Es wäre zwar dreist gewesen, sich dann ausgerechnet in Sichtweite an Tee und Gebäck gütlich zu tun aber er konnte sich noch gut an ganz andere Dreistigkeiten erinnern, derer er selber während seiner Schulzeit gefrönt hatte.
Er begann aus der Erinnerung abzurufen, von welchen weiblichen Attentätern er wusste, dass sie sich zur Zeit in der Stadt aufhielten. War ihre körperliche Einschränkung geschauspielert?
Rach senkte seine Fingerspitzen auf den Tassenrand und begann, den restlichen Kaffee langsam kreisen zu lassen.
'Angriff oder Verteidigung? Was ihr wohl mehr liegt?'
Wenn sie den Pflock für einen Angriff bei sich trug, dann standen die Chancen hoch, dass es sich um Nulla Nieselhoff handelte, die berüchtigte Spionin aus Bad Schüschein. Das würde dann sicherlich seine Lordschaft interessieren. Immerhin war Nulla für ihre konsequenten Tarnungen berüchtigt. Dank guter Beziehungen zum Igorclan schreckte sie angeblich selbst vor Amputationen nicht zurück, wenn es um besondere Aufträge ging. Wohlgemerkt: Amputationen an sich selbst! Bisher hatte sie offenbar immer gute Argumente finden können, dass man sie ohne unerwünschte Nachwirkungen wieder zusammensetzte.
Rach linste unauffällig zu der jungen Frau an den anderen Tisch hinüber, welche soeben mit der Lektüre der neuen Times-Ausgabe begann. Was sich anscheinend mit nur einer Hand etwas umständlich anging.
'Nein. Nulla wäre so unauffällig, dass mir selbst ihr Schatten entgehen würde. Die Dame dort wird also vermutlich kein Gildenmitglied sein. Vielleicht Freischaffende? Oder ein privates Motiv? Das müsste dann aber sehr stark sein, um sich etwas so dermaßen Teures ans Bein zu binden.'
Der Tee wurde serviert und sie schloss die Augen, um dessen Aroma auf ihre Sinne wirken zu lassen.
'Ich wünschte, ich wüsste ihre Hintergrundgeschichte...'
Rach ertappte sich dabei, dass er sie unverhohlen anstarrte.
'Schade, dass Jules gerade nicht hier ist. Er würde bei einer Wette garantiert gegenhalten, schon allein um sagen zu können, dass er auf die Nulla gesetzt hat!'
Der Gedanke lenkte ihn wirkungsvoll von der geheimnisvollen Fremden ab. Seine Wettleidenschaft war es immerhin, die ihn heute in den Palast führte.
Er seufzte leise und trank den restlichen Kaffee in einem Zug aus.
'Unangenehm... aber ich könnte darauf wetten, dass unser lieber Havelock sehr wohl Verständnis für den Reiz des Risikos hat. Es wird schon gut gehen, das Gespräch. Vermutlich will er mich nur wieder verwarnen, den unleidlichen Despoten raushängen lassen. Solchen Kinkerlitz eben.'
Die Witwe am anderen Tisch war inzwischen in eine Diskussion mit dem Kellner vertieft. Der arme Kerl sah gar nicht glücklich aus, mitten auf offener Straße eine Aussage zur Geschäftsideologie treffen zu müssen, mit der er sich eventuell die Hälfte der zu erwartenden Kundschaft verscherzen könnte.
"Ähm, also, unser Sortiment umfasst natürlich ein breites Angebot unterschiedlichster Spezialitäten." Er schien einen argumentativen Lichtblick zu sehen, auf den er sich auch prompt, geradezu erleichtert, stürzte. "Wie Du ja auch bereits gesehen hast. Immerhin... überwaldischer Tee... ich hoffe, er mundet?"
Die Frau machte eine ruckartige Bewegung mit dem Kopf, bei der ihr kinnlanges Haar nachschwang. Sie blickte den Kellner missbilligend an.
"Dass ich einen guten Tee zu schätzen weiß, heißt noch lange nicht, dass ich mich mit dem untoten Gezücht auf eine Stufe stellen oder gar mit ihm verkehren würde."
Der Kellner schüttelte schnell den Kopf und lächelte unverbindlich.
"Nein, natürlich nicht. Das wollte ich auch nicht andeuten."
"Gut. Es wäre nämlich ziemlich schade, wenn ich dein hübsches Café in Zukunft meiden müsste, weil man hier unangebracht herzlich mit den Unnatürlichen umgeht. Von der Sorte Einrichtung, wo man auf Du und Du mit den Schmarotzern steht, gibt es in dieser Stadt sowieso schon schockierend viele."
Der Bedienstete schien die Aussicht, dass die Dame seinen Arbeitsplatz künftig meiden könnte, keinesfalls als betrüblich anzusehen, hielt aber trotzdem krampfhaft an seinem beflissenen Lächeln fest und beeilte sich, die Pause, in der sie Luft holte, zum Unterbrechen zu nutzen.
"Schön, dass es Dir bei uns gefällt. Kann ich sonst noch etwas bringen?"
"Nein, danke."
Rach fügte die Aussage der jungen Witwe mit ihrem Äußeren zusammen.
'Das erklärt natürlich ihre Waffenwahl.' Dummerweise rückte ein dermaßen nachdrücklicher Auftritt die Idee, es mit der gesuchten Spionin zu tun zu haben, doch wieder in den Bereich des Möglichen. 'Nulla hat in letzter Zeit häufig Aufträge gegen den überwaldischen Adel angenommen. Aber so dilletantisch? Wenn sie es wirklich wäre, dann würde ihr Verhalten geradezu danach schreien, dass sie entdeckt werden will! Hmmm... einige der Älteren sind nicht nur in einer Hinsicht lichtscheues Gesinde. Spielt sie den Köder?'
Der ehemalige Assassine kam ins Grübeln.
Mit leisem Schrecken registrierte er den veränderten Stand der Sonne. Der Weg von hier aus zum Palast war zwar nicht sehr weit aber der Verkehr auf den Straßen hatte schon deutlich zugelegt und er würde das Palastareal erst vollständig umrunden müssen, um zum Haupteingang zu gelangen. Jetzt würde er sich doch beeilen müssen.
Er winkte den Kellner zum Zahlen heran und selbiger nutzte dankbar die Chance, sich von der unangenhemen Kundin zu distanzieren.
'Nun... wenn Havelock wieder mit der strengen Masche anfangen will, könnte ich diese Beobachtung zur Ablenkung in seine Standpauke einfließen lassen. Falls es wirklich die Nieselhoff ist, könnte es ihm wichtig sein, mich schneller als geplant zurückzuschicken, um ihre Spur aufzunehmen. Falls sie es nicht ist... schadet der Versuch trotzdem nichts.'
Er verließ das 'Klammer', indem er sich durch die Tische auf die Straße drängte, dicht an ihrem vorbei. Sie war wieder in die Lektüre der Zeitung vertieft und nahm ihn nicht einmal zur Kenntnis. Er warf einen kurzen, hoch konzentrierten Blick auf sie und prägte sich so viele Einzelheiten wie möglich zu ihr ein, von ihrer Größe und Statur, bis zu ihrem Gesicht. Frisuren und Kleidung würde sie wechseln können... diese grauen Augen jedoch würde er auf jeden Fall wiedererkennen.

~~~ Die Hälfte eines Ganzen ~~~


Ophelia saß unschlüssig auf der Tagesdecke. Die Leere der kleinen Wohnung bedrückte sie.
Sie strich sich mit einer müden Bewegung die Perrücke vom Kopf und legte diese vorsichtig neben sich aufs Bett. Ihre Finger begannen in traumwandlerischer Selbständigkeit damit, die kleinen Knoten in der Hochsteckfrisur zu lösen.
Der Tag war lang gewesen. Dazu kam...
Sie dachte an das Gespräch des vorigen Abends mit dem Kommandeur zurück und den vielen Lasten auf ihren Schultern, schien sich eine weitere hinzuzugesellen.
'Ich habe sein Vertrauen verloren...'
Der Gedanke traf sie härter, als erwartet.
Araghast Breguyar hatte sich wiederholt für sie eingesetzt. Er hatte sie mit Leonata, seiner Frau, bekanntgemacht und ihr sogar zwecks des Trainings seine wenige Zeit außerhalb der Wache geopfert. Er hatte viel mehr Geduld mit ihr gehabt, als mit jedem anderen Wächter. Und er hatte sie tatsächlich soweit gebracht gehabt, sich ihm in Sachen Parsival anzuvertrauen!
Sie schloss erschöpft die Augen.
'Wann ist mein Leben nur so kompliziert geworden?'
Sie konnte sich an keinen bestimmten Zeitpunkt erinnern.
Stattdessen ging ihr Raculs Befehl durch den Sinn: Reiß dich zusammen!
Sie lächelte kraftlos.
'Nun gut... Was ist jetzt das Wichtigste? Gedankenkontrolle? So etwas wie mit Breguyar darf mir unter keinen Umständen wieder passieren. Nicht auszudenken, was geschehen könnte, wenn ich mich mitten in einem verdeckten Einsatz auf diese Weise mitteile? Racul hat zwar nicht erklärt wie ich mich abschirmen kann aber da er es mir prinzipiell zutraut und außerdem auch die Vampirin auf dem Friedhof meinte, mein erster Versuch wäre ganz passabel gewesen... warum nicht?'
Sie dachte kurz darüber nach, wie sie mit einer Kontrolle ihrer Gedanken beginnen könnte. In ihrer Hilflosigkeit hätte sie beinahe Zuflucht zu ihrem oktruierten Mentor genommen. Doch der alte Vampir hatte etwas an sich, was sie stets frösteln ließ. Es würde genügen, ihn irgendwann zu fragen, ob er den Erfolg ihrer Bemühungen erkennen könne. Bis dahin... er hatte deutlich gemacht, keinen Kontakt zu ihr zu wünschen.
Ophelia versuchte, ihren Sinn zu leeren und sich zu entspannen.
'Das wird ja hoffentlich nicht verkehrt sein.'
Sie lockerte ihr Nackenmuskulatur, indem sie den Kopf leicht kreisen ließ. Dann klammerte sie die Geräusche außerhalb des Raumes nach und nach aus und letztlich selbst die Geräusche in der Nähe, bis sie nur noch ihren eigenen Atem im Körper nachhallen hörte. Ihr Herzschlag durchpulste sie. Ihre Gedanken begannen zu wandern.
'Ich bin so müde. Und ich muss in einer Stunde wieder zu Theridae werden. Die neue Nachtanstellung in dem klatschianischen Imbiss. Danach in die andere Wohnung... zu schade, dass ich dazu gezwungen war, die Dachkammer gegen das Kellerloch einzutauschen. Der Wärmestau war besser zu ertragen gewesen, als die klamme Kälte. Und es tut mir leid, wie ich die Hauswirtin wegen des Lärms der Mitbewohner angefahren habe. Eigentlich konnte sie ja auch nichts dafür. Aber der Vorwand war nötig und wäre die echte Theridae an meiner Stelle gewesen, hätte sie es genau so gehandhabt... alles nur für die Tarnung. Wechselnde Wohnsitze, wechselnde Dschobs... Falls ich den Zugang zur Organisation finden sollte, muss das bis zu einem gewissen Grad überprüfbar sein. Ich hoffe nur, dass es auch funktioniert und sich der Aufwand lohnt.'
Im Zuge des großen Sturms war eine der wenigen anderen Möglichkeiten zu Nachforschungen abhanden gekommen. Sie hatte erst gar nicht gewusst, wie sie reagieren sollte, als sie davon aus den Zeitungen erfuhr. Dann aber war es eigentlich egal gewesen.
'Weder Sebastian Joram, noch seine Bande, hätten in irgendeiner Form einer Frau Vertrauen geschenkt. Da hätte mir auch keine Tarnung genutzt.'
Es war die Rede von einem großen Mann, einem 'Schwarzen Rächer', einem gesichtslosen Schatten, so man den Gerüchten zu der Explosion Glauben schenkte.
Das Bild eines nicht näher beschriebenen Umrisses vor Augen, stieg ein Name langsam aber unaufhaltsam an die Oberfläche ihres Unterbewussten.
Parsival!
Die Sehnsucht traf ihren ungeschützten Geist völlig unvorbereitet. Wochenlanges Unterdrücken der fremdgesteuerten Gefühle, hatte deren Intensität offenbar nicht schwächen können. Im Gegenteil!
Ihr Körper krampfte sich unter schier unerträglichen Schmerzen zusammen, als ihr Geist darauf bestand, nur noch die Hälfte eines Ganzen zu sein und an diesem Verlust zugrunde zu gehen. Es war, als wenn ihr bei lebendigem Leibe das Herz entzwei geteilt würde. Sie spürte kaum, wie sie auf dem Bett zusammengekrümmt zur Seite kippte. Ihr Herzschlag setzte abwechselnd aus und wieder ein, mit einem plötzlich nur noch stolpernden Rhythmus.
'Ophelia?'
Seine wärmende Präsenz flutete durch ihren Sinn.
Alle ihre Gedanken drifteten ihm entgegen.
Keine Distanz mehr, der Schmerz sollte aufhören, das Sehnen Erfüllung finden!
Sie flog ihm entgegen und je schneller sie wurde und sich der anderen Hälfte ihres Daseins annäherte, desto mehr ließ das reißende Sehnen nach. Er war die Sonne ihres Universums, der Quell ihres Lebens...
Parsival wirkte völlig verwirrt, geradezu verschreckt. Er wich instinktiv vor ihr zurück, als er noch immer nicht verstand, wie sie unaufgefordert in seine Gedanken hatte einbrechen können. Auf was für eine Entfernung! Und das zudem, wo die Abschirmung als ausgeprägteste Fähigkeit des Clans galt.
'Wie hast Du das gemacht?'
Sein Misstrauen und diese eine Sekunde des Zögerns brachten sie wieder zu Verstand.
Ophelia stoppte sich instinktiv selbst, ohne überhaupt zu wissen, wie sie dies zustande brachte.
Der Galgenstrick ihres eigenen Willens zog sich auf mentaler Ebene mit heftigem Ruck um ihren Hals zu - und sie zurück - so, dass sie wie angeleint zwischen dem Hier und Dort hing, ihrem verführerischen Ziel auf Tuchfühlung nahe.
Dem leuchtenden Himmelskörper, der nur dafür geschaffen schien, sie zu verbrennen.
'Nicht! Das will ich doch gar nicht... ich will ich selber bleiben, kein eingesperrtes Eigentum sein... oh, Götter! Er hat nicht das Recht, für mich zu entscheiden... Zurück, zurück!'
Der Vampir in der Ferne begann allmählich zu ahnen, wie wenig sein Objekt der Begierde selbst dazu beigetragen haben mochte, in dieser Halbwelt auf ihn zu treffen. Und wie stark noch immer der Wunsch wirkte, den er ihr eingepflanzt hatte.
Ophelia konnte unmittelbar miterleben, wie seine eigene Trauer, sich von ihr fernhalten zu müssen, von Neuem aufglühte - nur um sich in Windeseile von seiner Arroganz zu nähren, sich mit seiner Gier zu verbinden und in unleugbarer Vorfreude zu entflammen.
Sein Geist breitete in einem jubelnden Willkommen die Schwingen aus, um den ihren endgültig zu umfangen.
'Ophelia, endlich! Endlich kommst Du von selbst zu mir, um unseren Bund zu besiegeln. Und dann auch noch auf diesem Wege...'
Sie versuchte, zurückzuweichen. Doch der Wunsch, ihm näher zu kommen, war fast ebenso stark wie ihre Angst vor dem, was es für die Zukunft bedeuten mochte, jetzt die Brücken hinter sich abzureißen.
Parsivals Bild entstand ihr vor Augen, wie er ihre Hand an seinem Arm unterhaken ließ, um sie zum ersten Mal in sein Haus zu geleiten. Sein amüsierter Blick, als er sie dabei besitzergreifend näher zog und nur allzu bereitwillig in die Rolle des unnachgiebigen Gefängnisaufsehers eines goldenen Käfigs für sie schlüpfte. Sie konnte seine Stimme geradezu wieder in ihrem Kopf raunen hören, wie damals, als sie noch dachte, dies nur zu träumen. "Du liebst mich... Du möchtest bei mir bleiben und in meiner Nähe sein..."
Seine Gedanken lasen die ihren und wie in einem Echo, welches die Zeiten übersprang, dachte er: 'Oh ja, das möchtest Du!'
Es war die Wahrheit. Sie wollte es ja wirklich, oh, so sehr! Aber sie wusste auch, dass sie es nicht aus sich selbst heraus wollte!
Sie stemmte sich gegen das Ziehen und Locken, gegen seine verheißungsvolle Wärme.
'Nein... ich... das will ich nicht. Das ist nicht mein Weg. Es würde mir nicht gut tun... Du würdest mir nicht gut tun...'
'Bist Du dir da so sicher? Ich würde Dich umsorgen, Dich schützen, keine Gefahr in deine Nähe lassen. Du wärest frei von Kummer. Du bräuchtest nie wieder Verbrecher zu jagen und Dich in einer deiner Rollen abzuplagen, um undankbaren Verlierern das Händchen zu halten, Leuten, die es nicht einmal wert wären, Dir die Schuhe zu putzen! Ophelia...' Seine Stimme wurde sanfter, drängender. 'Lass mich Dich verwöhnen und mit Blumen überschütten.'
Seine Worte ließen ihren Widerstand zusehends schmelzen, wenn auch nur aufgrund des liebevollen Tonfalls.
'Er weiß, was ich mir am meisten wünsche... Geborgenheit, ein Ende der Einsamkeit... ein Ende der Furcht.'
Dann jedoch brodelten Bilder in die Gedankenübertragung hinein und spülten ihr förmlich die Schlacke seiner Seele vor die Füße.
In seiner Fantasie malte er sich bereits aus, wie er sie zu sich nehmen würde. All das lange Warten hatte auch seine Geduld zermürbt. Die guten Vorsätze brökelten wie Kalkputz. Sein gutmütiges und hilfsbereites Selbstbild war längst schon vom Ehrgeiz unterspült worden, eine Tatsache, die sich lediglich sein Unterbewusstsein eingestand. Der Hunger nach ihr verlagerte sich, seine Gier wurde schier unbezwingbar. Sie erlebte in einem kaleidoskopartigen Aufblitzen verschiedener Eindrücke aus seiner Sicht, wie die Fangzähne entgegen seinem Vorsatz ein Eigenleben entwickelten, wie deren Klingenschärfe durch weiches Fleisch stieß, wie das verzehrende Gefühl eines Blutrausches alle anderen Sinne auslöschte, bis nur noch der pochende Taumel blieb, der das gesamte Universum drehte und belebte und ihm glaubhaft versicherte, dass er nichts dafür könne.
Ophelia fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. Weit entfernt begann ihr Körper zu würgen.
Parsival hielt überrascht inne. Die brutalen Fantasien verblassten, als er seinen unbewussten Fehler bemerkte.
'Ophelia, warte! Das ist nicht echt. Du weißt, dass ich Dir so etwas niemals antun würde, ich...'
Die Bilder weckten Erinnerungen: Etwas packte sie von hinten, glühende Betäubung, die ihre linke Seite lähmte, der gleiche Hunger nach mehr, der ihre Gedanken fortspülte, die von berstenden Schlägen gegen das Holz geschüttelte Dunkelheit, der Geruch von Blut und Knoblauch...
Der Vampir wollte sie festhalten...
Ihre Todesangst explodierte!
Das Bild einer Wand aus Feuer stand ihr vor Augen, die sich - wie vom Wind getrieben - schützend um sie schloss.
Sie rollte sich instinktiv zusammen, um Nichts und Niemanden an sich heran zu lassen und erst sehr viel später bemerkte sie, dass sie dies sowohl mental, als auch körperlich getan hatte.
Es folgte Stille. Und Einsamkeit.
Parsival war fort und die Verbindung zu ihm hing durchtrennt im Kosmos, wie ein verschmortes Seilende am windigen Fahnenmast.
Es dauerte lange, bis ihr ängstliches Zittern nachließ.
Und erst nach vielen, vielen Stunden wurde ihr klar, dass sie auch die neue Anstellung für ihre Tarnidentität vermutlich schon wieder verloren hatte.
Weil sie nicht zum Dienst erschienen war.

~~~ Einmal Rum für das Wohlbefinden ~~~


Der Wirt im 'Geflochtenen Fasan' war ein aufmerksamer Mann.
'Sie ist zum dritten Mal hier. Und, meine Herrn! Heute sieht sie wirklich übel aus. Die Trauerklamotten lassen sie sowieso käsig wie ein Totenlaken wirken aber jetzt auch noch die Augenringe? Wenn ich es nicht besser wüsste, würde sie als eine von Denen durchgehen.'
Er schob der Bedienung den vollgehäuften Teller mit Kartoffeln, Sauerkraut, Senf und einer ordentlichen Portion Fleisch rüber.
"Tisch 5..."
Die Kleine beeilte sich, der Anweisung nachzukommen, was auch besser so war. Wenn sie nicht spurte... gab genug andere Mädels, die für den Dschob Schlange standen.
Sein Blick wanderte wieder zu der Witwe. Und zu der Narbe an ihrem Hals, die heute, im Gegensatz zu den beiden vorigen Malen, nicht von einem Schal oder Schultertuch verdeckt war.
'Sie hat eine echte Attacke überstanden. Hundertpro. Ob ich sie ansprechen sollte? Wenn Schenk hier wäre, würde er es bestimmt machen...'
Andererseits durften sie gerade jetzt nicht unvorsichtig werden. Irgendwelche Neuen zu rekrutieren war nie ganz ungefährlich, weil diese die Sache manchmal zu Anfang nicht ernst genug nahmen oder sich sogar verplaperten, wenn sie plötzlich doch kapierten, womit sie es zu tun hatten. Und nach den zwei Fehlschlägen, in denen ihnen die Wache in die Quere gekommen war, sah es bei denen bestimmt grad wie im Bienenstock aus, vor lauter Aufregung und Gewusel. Es bestand die Gefahr, dass die Stadtwache nicht nur über ihre eigenen Füße stolperte, sondern tatsächlich auch mal über was Wichtigeres. Dann noch diese hoppsgenommene Schlägertruppe unten am Hafen... nicht, dass er da Genaueres drüber wusste aber man erzählte sich so Einiges. Irgendwer hatte geredet, davon konnte man ausgehen.
Kunter spülte die Bierhumpen, die sich inzwischen angesammelt hatten. Er blickte zu der Frau hinüber und versuchte eine Entscheidung zu treffen.
'Überlebende sind so selten. Sie könnte für unsere Sache verdammt praktisch sein. Vor allem kann ich mir nicht vorstellen, dass so eine sich gegen die Organisation stellen würde. Bestimmt denkt sie genau wie wir und würde sich darüber freuen, entdeckt zu werden. Man ist es ihr ja fast schuldig, dass sie sich rächen kann.'
Die Frau wirkte wie erschlagen. Klar, es war inzwischen spät geworden und eigentlich wollte jeder nur noch Feierabend machen und die Beine hochlegen. Aber das bei ihr... das sah nach mehr aus.
Der dürre Wirt gab sich einen Ruck, strich sein dichtes, kurzes Haar entschlossen zurück. Er griff nach einer der Flaschen im Regal hinter der Theke und nach einem der kleinen Gläser und füllte es bis zum Rand. Dann ging er zu ihrem Tisch. Als er dicht davor stehen blieb, blickte sie müde zu ihm auf, einen fragenden Ausdruck in den umschatteten Augen. Er stellte ihr den Likör hin.
"Auf Kosten des Hauses."
Sie sah erst ihn an, dann den Likör, dann wieder ihn.
"Warum?"
"Weil Du aussiehst, als wenn Du einen brauchen könntest. Ich hätte auch Rum da, falls Dir das lieber wäre..."
Ein humorloses Zucken in den Mundwinkeln, ein Zögern, dann ein Nicken von ihrer Seite aus.
"Wenn Du es ernst meinst... dann könnte ich eine Portion Rum gerade gut vertragen."
Ihre abweisende Art sprach ihn zwar nicht gerade an, der Wunsch nach etwas Stärkerem, anstelle des rosa Zuckerwassers hingegen, nahm ihn wieder für sie ein. Er nahm das kleine Glas und holte stattdessen ein richtiges. Mit richtiger Füllung.
Sie prostete ihm stumm zu und er deutete das als Einladung, sich mit an ihren Tisch zu setzen.
"Nicht gut geschlafen, hm?"
Sie setzte das Glas mit einem Seufzer ab und brummelte leise zur Antwort.
"Wem sagst Du das... verfluchte Vampirbrut!" Ihr Blick huschte kurz zu ihm, als wenn sie mit einer Rüge rechnen würde. "Tut mir leid. Ich wollte niemanden in Verlegenheit bringen. Macht man nicht, in dieser politisch ach so korrekten Stadt, richtig?" Sie setzte das Glas wieder an und trank diesmal einen deutlich größeren Schluck.
'Ich hab's geahnt! Schenk wird sowas von zufrieden mit mir sein...'
Er lehnte sich mit verschränkten Armen auf dem Stuhl zurück und schüttelte grinsend den Kopf.
"Eine kleine Rebellin oder wie? Keine Sorge, in meiner Kaschemme darf man auch mal ein offenes Wort riskieren. Ist ja nicht so, als wenn die Blutsauger Ankh-Morpork besitzen würden, nich?"
Sie sah ihn aufmerksam an und spiegelte sein Verhalten fast, als sie sich ebenfalls mit dem halb geleerten Glas in der Hand zurücklehnte, während ihr kaputter Arm lose in den Schoß herab hing. Sie schien zu überlegen, wieviel sie sagen könnte.
Kunter neigte kurz den Kopf und stellte sich vor.
"Kannst mich Kunter nennen."
Die Frau antwortete nahezu emotionslos.
"Theridae Ligand."
Er nutzte die ausgezeichnete Gelegenheit, neigte seinen Kopf schräg und deutete mit dem Kinn in Richtung ihres Halses.
"Ist die echt?"
Ihr Griff um das Glas versteifte sich und ihre Augen verengten sich.
"Was soll sie sonst sein? Aufgemalt?"
Er zuckte vage mit den Schultern. 'Sie ist offenbar leicht reizbar. Ich darf's nicht verderben.'
"Wäre nicht das erste Mal, dass ich jemanden treffe, der auf Bissmale abfährt..."
Sie lachte bitter.
"Nein, die Narbe ist sowas von echt. Da hab' ich noch mein Leben lang was von. Danke der Nachfrage."
Er lehnte sich gespannt vor und stützte dabei die Unterarme auf dem Tisch ab. 'Perfekt!'
"Das klingt ja übel. Wie konnte das denn passieren?"
Ihre Stimme troff vor Sarkasmus, als sie mit zornigem Funkeln in den grauen Augen antwortete.
"Ganz einfach. Wir...", sagte sie und hielt dabei ihre Hand mit dem silbernen Ring am Finger bedeutungsvoll in die Höhe. "Wir kamen nach Ankh-Morpork. Oder zumindest bis vor dessen Tore. Da erwischte uns dann zwar eine Gruppe Blutsauger aber die wollten ja nur spielen. Und man soll sich ja auch nicht beschweren. Immerhin... einer kam durch! Ich habe es ja schließlich überlebt. Das ist doch schon mal was. Furchtbar nett. Alles andere läuft wohl unter Schwund. Mein... Mann..." Sie zwang sich angestrengt, ein paar Mal tief durchzuatmen, bevor sie den Rest des Glases mit einem Zug ihre Kehle hinunterkippte und ihn dann trotzig ansah. "Naja... ich hab ja seinen Ring als Erinnerung. Was einen nicht umbringt, macht einen stark. So heißt es doch?"
Kunter nickte langsam. Er brauchte sich nicht umzusehen, um zu wissen, dass der letzte Gast soeben gegangen war und um sie her nur noch die Aushilfe am Aufräumen war. Und die war schlicht und ergreifend zu dämlich um zu begreifen, was hier wirklich vor sich ging. Er konnte also offen reden.
"Da hast Du ja Schlimmes durchgemacht. Diese Tiere! Hat die Wache sie wenigstens drangekriegt?"
Die junge Witwe lachte fast hysterisch auf.
"Du meinst die Stadtwache? Die haben keinen Finger gerührt." Sie holte nun doch schluchzend Luft und Tränen stiegen in ihre Augen. Sie immitierte eine kultivierte Damenstimme. "Du wurdest vor den Toren der Stadt angegriffen, liebe Frau. Versteh das doch bitte. Das ist nicht unser Zuständigkeitsgebiet, da dürfen wir nicht ermitteln."
Kunter war sich seiner Sache sicher. Hier brauchte er keine Mördergrube aus seinem Herzen machen.
"Man sollte sie am Galgen aufknüpfen und in der Mittagshitze braten lassen, einen wie den anderen. Die Stadtwache ist keinen Deut besser, als diese Monster. Die haben doch keine Ahnung davon, wie wichtig es ist, denen das Handwerk zu legen. Menschenskinder, ich würde Dir so gerne helfen! Was meinst Du, ich habe ein paar Freunde, wirklich dufte Typen. Die wissen wo der Hammer hängt. Vielleicht sollte ich Dich denen mal vorstellen? Ich meine... da kommst Du hierher, in unsere schöne Stadt und dann wird dein Freund plattgemacht. Ne, ehrlich, das geht gar nicht. Da muss man doch was machen! Schaden kann es nicht, oder?"

~~~ Waffengewalt ~~~


Grog Eisenbart kontrollierte grimmig seine Uhr, zog den Arm aber sofort wieder in den Schatten hinter die halb geöffnet stehende Tür zurück.
Zehn Minuten vor Vier in der Früh.
'Ihre Schicht ist gleich vorbei. Dann werden wir ja sehen, ob ich richtig liege mit meinem Verdacht!'
Der Zwerg war ausgesprochen schlechter Laune.
'Aber was stell' ich auch einen Menschen ein? Pah, selber Schuld!'
Die Holzstiege aus dem Keller hinauf knarrte und kurz darauf fiel ein Schatten in den schmalen Gang des Durchgangslagers.
'Erdrutschdreck! Sie ist zu früh! Ich bezahl sie doch nicht dafür, dass sie Feierabend macht. Die Schicht ist noch nicht zu Ende, das gibt so oder so gleich Ärger!'
Die dünne Menschenfrau war zwar eine billige Arbeitskraft aber wenn sie ihr Zeitsoll nicht erfüllte, dann glich sich das ja fast wieder aus.
Sie schlurfte müde zum Waschbecken in der Ecke, tauchte die eine Hand in das stehende Brackewasser darin und begann umständlichst, den öligen Schmutz abzuspülen.
'Sie sollte froh sein, dass ich ihr den Dschob überhaupt gegeben habe. Gibt nicht viele Arbeiten, die ein Krüppel machen kann. Altmetall zu sortieren, wie die Nägel und Schrauben meiner Zurück-und-Weiter-Geschäftsidee, als zusätzlicher kleiner Goldquelle, dazu braucht es nicht viel Können. Das bekommt sogar so eine hin. Aber wie zahlt sie es mir zurück? Na warte! Wenn ich Dich heute nacht auf frischer Tat ertappe...'
Endlich war sie mit dem Waschen fertig. Sie trocknete sich die Hand an dem Stofffetzen neben dem Becken, wobei sie die letzten Ölschlieren dort hineinrieb. Dann wandte sie sich dem Gang nach vorne zu.
'Ich wusste es! Oh, ich wusste es! Im Verkaufsraum hast Du nichts zu suchen, Du verräterisches Biest! Wenn Du irgendwas antatschst, mit deiner dreckigen Menschenhand...'
Sie blickte sich kurz um, als wenn sie nach seiner Anwesenheit lauschen würde und er hielt den Atem an. Dann schlich sie nach vorne. Er konnte ihr unmöglich folgen, ohne sich zu verraten. Die schweren, eisenbeschlagenen Stiefel, das rasselnde Kettenhemd, die knarzenden Lederhemden, das gehörte alles zu seinem Image als verkaufstüchtiger Zwerg und er war noch nicht bereit gewesen, sich fürs Bett umzuziehen. Das hier musste erst noch geklärt werden und da schadete es bestimmt nichts, wenn er die farblich passende Montur zu seiner Lieblingsaxt trug. Aber sie musste auf dem Weg zur Hintertür wieder an ihm vorbeikommen. Und dann würde er auf sie warten.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis ihr Schatten über die Schwelle fiel und anzeigte, dass sie sich endgültig auf den Heimweg machte. Aber in der kurzen Zeit hatte er vor lauter Zorn fast eine Delle in den Griff der Axt gedrückt.
Wenn er sich nur allein schon vorstellte, wie sie seine Schätze in den Vitrinen antatschte!
Ihre leisen Schritte näherten sich ihm, bis er entschied, dass es Zeit zum Handeln wurde.
Er trat aus dem Schatten heraus auf den Gang und ließ noch im selben Moment seine Wurfaxt fliegen. Diese krachte genau vor ihren Füßen in die Dielen, was sie sofort zum Innehalten zwang. Seine Stimme bebte vor Zorn, als er sah, was sie sich diesmal aus der Auslage herausgepickt hatte. Die beiden Flugstullen in seinen Händen, die mit scharf gemachten Rändern nur darauf warteten, ihre Flugbahnen auf Höhe des Menschenhalses zu kreuzen, zitterten vor Empörung.
"Keinen Schritt weiter, Weibsstück!"
Sie blickte ihn erschrocken an, den kunstvoll geschmiedeten Wurfdolch in merkwürdig unnützer Haltung in der Hand. Dessen gerußte Schneide schluckte in wellenförmigen Linien die Klinge hinab das Licht.
"Du hast da was, das mir gehört. Und obendrein bis Du gefeuert!"
Er machte einen Schritt auf sie zu, doch in der selben Sekunde wandelte sich ihre Haltung zu verschlagener Arroganz. Sie richtete sich zu voller Größe auf und lächelte spöttisch auf ihn hinab.
"Ich bin also gefeuert, ja?"
Grog zögerte, gab ihr aber missgelaunt wie nur irgendwas zur Antwort:
"Ja, bist Du."
Sie hob den Dolch auf der flachen Hand vor ihr Gesicht, das spöttische Grinsen noch immer auf den Lippen.
"Und ich dachte, Du wolltest mir dieses schöne Stück hier schenken, wenn ich heute kündige. Als dankbare Geste für meine gute Arbeit."
Er brauste wütend auf.
"Bist Du rammbockdösig, oder was? Du beklaust mich und ich soll Dir auch noch eins der teuersten Ausstellungsstücke hinterherschmeißen? Hälst Du mich für verschüttet oder wie?"
Er trat auf sie zu, um sich den Dolch zurückzuholen, doch sie hob ihn hoch über seinen Kopf und schüttelte den ihren.
"Ts, ts, ts! Du bist also nicht dankbar? Dafür, dass ich ohne weitere Umstände zu machen, verschwinden werde? Und dafür, dass ich meine Klappe halte, was deine dreckigen kleinen Geschäfte angeht?"
"Ich weiß nicht, wovon Du redest, Frau!"
Sie wirkte plötzlich alles andere als harmlos oder dämlich. Der Dolch lag jetzt perfekt in ihrer Hand, zum Zustoßen bereit und ihre grauen Augen fixierten ihn im Schattenspiel der Kellerbeleuchtung, wie ein zu zertretendes Insekt. Ihre blasse Haut und die schwarze Kleidung ließen sie wie einen Rachegeist wirken.
Grog wurde sich bewusst, dass er ihr zu nahe war, als dass er die Kampfstullen noch hätte einsetzen können, dass sie hingegen nahe genug war, um den Dolch effektiv auf ihn niederfahren zu lassen.
Sie hielten beide inne.
Sie sprach zuerst weiter.
"Überlasse mir den Dolch und ich verschwinde, ohne Probleme zu machen."
Er funkelte sie wütend von unten herauf an, die Dolchklinge unter Beobachtung.
"Das hast Du schon. Der Dolch hier ist nicht das einzige, was verschwunden ist, seit ich Dich angestellt habe."
"Kleinkram... hab Dich nicht so." Sie ließ ihren Blick bedeutungsvoll zur Kellertür huschen. "Nichts im Vergleich zu dem Ärger, den Du bekommen könntest, wenn deine Kunden wüssten, was Du da sonst noch so im Keller treibst. Oder mit wem Du Geschäfte machst. Dachtest Du etwa, ich wäre zu sehr Mensch, um das zu verstehen?"
Grog verfluchte sie innerlich.
"Das geht Dich gar nichts an. Und Du wärst besser beraten, mir nicht zu drohen."
Die Menschenfrau lachte dreckig.
"Mein lieber Grog Eisenbart, als nächstes willst Du mir wohl noch andeuten, dass ich unter deinem Kellerboden landen könnte?"
"Dich würde nicht mal jemand vermissen, Du Dreckstück. Weiß ich doch, dass Du hier in der Stadt keinen hast, der auch nur einen Schiss auf Dich gibt. Also warum nicht? Was sollte mich aufhalten?"
"Die Stadtwache!"
Er lachte laut auf und ließ die Wurfstullen dabei sinken.
Doch sie ließ sich nicht beirren.
"Weißt Du eigentlich, wie dämlich Du bist, Grog? Du hast mich nichtmal gefragt, warum ich für diesen Hungerlohn bei Dir angefangen habe. Aber ich bin mal nett und erzähle es Dir." Sie hatte wieder dieses höhnische Grinsen auf den bleichen Lippen. "Ich hab' mich darauf eingelassen, weil mich niemand anders anstellen wollte. Nicht wegen meiner Behinderung. Sondern weil die meisten anderen weiter gucken, als nur bis zu ihrer Nasenspitze und deswegen meistens verdammt schnell herausfinden, dass mir die Wache an den Hacken klebt. Und zwar dauernd. Das schlägt einem schneller die Tür vor der Nase zu, als alles andere, wenn man sowieso schon verzweifelt einen Dschob sucht. Ja, guck Du nur auf einmal mit deinen hässlichen Glotzaugen aus dem Bartgebüsch! Ich brauch die Trillerpfeifen nicht zu rufen - die sind sowieso immerzu mit einem Riecher an mir dran und haben ein Auge auf mich. Die werden mich ganz sicher vermissen. Willst Du das Risiko wirklich eingehen? Eine Leiche im Schlepptau, einen illegalen Ofen im Keller und die Stadtwache vor der Tür? Oder willst Du lieber weiter gemütlich kleine Brötchen mit Splitterfüllung backen und auf Du und Du stehen, mit den Trolldealern?"
Er war sich zwar nicht sicher, wieviel Wahrheit in ihren Worten stecken mochte aber er konnte auch keinesfalls ein Risiko eingehen. Wenn das rauskäme, dann wäre er nicht nur seinen Laden und seine Reputation los, dann konnte es ihm auch an den Kragen gehen - wortwörtlich.
'Dieses Luder!'
Er steckte ganz langsam die Stullen in den Gürtel und ging zu seiner Axt, um sie aus den Dielen zu hebeln.
"Was willst Du?"
"Ach, weißt Du, ich bin genügsam. Zuerst einmal will ich meinen noch ausstehenden Lohn."
Sie sah ihn herausfordernd an und nach kurzem Zögern riss er seine Geldkatze vom Gürtel und knallte dann drei kleine Kupfermünzen in das Stehregal neben ihr.
Sie nickte beifällig.
"Und zum anderen dachte ich mir, dass dieses niedliche kleine Messerchen meinen knappen Lohn soweit aufstocken sollte, dass man ihn wenigstens als gerade so ausreichend beschreiben könnte. Denk einfach nächstes Mal, wenn Du jemanden einstellen willst daran, dass sich Geiz nicht auszahlt."
Grog knirschte mit den Zähnen und als seine Axt sich mit einem Ruck löste, stieg noch einmal der verführerische Gedanke in ihm auf, wie nett es wäre, sie doch mundtot zu machen und sie der Dunkelheit anzuvertrauen, die der Dunkelheit folgte. Doch er riss sich zusammen. Er packte die Axt mit beiden Händen und trat an die Wand zurück.
"Verschwinde! Und lass Dich nie wieder hier blicken!"
Sie grinste ihn ein letztes Mal frech an, bevor sie an ihm vorbeisteuerte und im Gehen mit der gleichen Hand, mit der sie auch schon das wirklich schmerzhaft teure Unikat mitnahm, schnell noch die Münzen aus dem Regal angelte.
"Vielen Dank!"

~~~ Überwald-Roulette ~~~


Der Oktotag kam und mit ihm strahlender Sonnenschein. Es war angenehm warm und die Bäume und Sträucher standen bereits in voller Blüte.
Das wurde ihr besonders bewusst, als Ophelia die Teekuchenstraße verließ und über das Henne-und-Küken-Feld auf den Park am Mengensee zusteuerte. Der großzügige Platz vor dem Park wurde mittwärts einen ganzen Block weit von einem riesigen Herrenhaus, sowie daran anschließend vom Ankh begrenzt. Die Sonne ließ die Wasserflächen glitzern und den prächtigen Marmor weiß strahlen. Der Park wurde durch den breiten Kiesweg der Prachtallee namens Wasserstrasse geteilt. Und er war überfüllt mit bunt gekleideten Menschen. Zwischen ihr und der Grünanlage standen die parkenden Kutschen dicht an dicht, sogar zweireihig, so dass sie Mühe hatte, eine Lücke zwischen ihnen zu finden. Sie querte die Kutschenphallanx zwischen einem mahagoniefarbenen, eleganten Phaeton mit zwei weißen Stuten und einem hochgeschlossenen, schwarzen Vierspänner.
'Die Quirmianische Blumenschau lockt auf jeden Fall illustres Klientel an. Heute dürfte hier viel Geld unterwegs sein. Also keine Gefahr, bestohlen zu werden - da gibt es eindeutig aussichtsreichere Kunden für die Gilde, als eine abgebrannte Witwe. Nun gut... das wird dann wohl die Feuertaufe. Mal sehen, inwieweit ich die Herrschaften zu überzeugen wissen werde.'
Es traf sich gut, dass sie von Seiten der Wache aus heute frei hatte. Ihre Nachtschicht der Tarnidentität begann erst gegen zehn Uhr am Abend. Der neue Arbeitgeber war Gimlets Rattenfarm am Latschenden Tor und sie musste sich leicht schütteln, wenn die Erinnerungsbilder an ihre dortigen Aufgaben den Tag verdüsterten.
'Was soll's... auch das wird keine Arbeit sein, der ich ewig nachgehen werde.'
Viel schlimmer waren die abzulaufenden Strecken. Sie durfte gar nicht daran denken, wie sich die Wege kreuz und quer durch die Stadt allmählich zu summieren begannen. Je häufiger sie eine Stelle oder eine Wohnung wechselte, desto schwieriger wurde es, in angemessenem Abstand etwas Neues zu finden.
'Ich denke, ich werde sowohl Wohnung, als auch Anstellung diesmal etwas länger beibehalten müssen. Wenn ich nach dieser Verdeckten Ermittlung nicht von mir behaupten kann, die Stadt zu kennen, dann werde ich es wohl nie können.'
Der Zeitfaktor wurde allmählich zum echten Problem, denn der Schlaf blieb zusehends 'auf der Strecke'.
'Aber...', sie straffte die Schultern. 'Ich habe Kontakt zur HIRN. Das ist ein eindeutiger Erfolg. Ich muss mich konzentrieren.'
Sie sah sich in der Grünanlage um und schirmte die Hand gegen das grelle Funkeln des Sees ab.
'Wo sind sie denn nun, die 'freundlichen Freunde', mit denen ich mich bekannt machen und einen angenehmen Tag bei so unschuldigem Zeitvertreib verbringen soll?'
Der Park war voll von Leuten, deren Hüten, Sonnenschirmen, wippenden Federn, fliegenden bunten Bändern, die Luft erfüllt von lebhaften Gesprächen und dem koketten Lachen junger Mädchen. Sie entschied sich, in Richtung des Farmhauses zu schlendern und dabei die Augen nach dem Wirt offenzuhalten, denn Kunter zumindest wäre gewiss schnell zu erkennen.

Die Augen des Fahrgastes im geschlossenen Vierspänner folgten dem Weg der jungen Ermittlerin.
Die Pferde waren darauf trainiert, absolut still zu stehen und die heruntergekurbelte Glasscheibe ließ mit jedem Windhauch, der den Frühlingsduft mit sich trug, den dünnen Vorhang wehen und die Geräusche ungehindert in den Fahrgastraum strömen.
Ophelia Ziegenberger war gut zu erkennen, selbst als sie die Rasenfläche überquerte und in das Menschengewimmel eintauchte. In ihrer Tarnidentität war sie die einzige, die zu dieser Gelegenheit und bei diesem Wetter vollkommen schwarz trug.
Offensichtlich war sie hier mit jemandem verabredet, der ihr bei den Ermittlungen weiterhelfen würde, denn sie lief langsam, sah sich immer wieder um und zudem hatte sie es - bis heute - nicht für nötig erachtet, von ihrer üblichen Routine abzuweichen.
'Sie arbeitet auf eigene Verantwortung, anders kann ich es mir nicht erklären. Allein die häufigen Identitätswechsel und der für einen Menschen nicht unerhebliche Schlafmangel erhöhen das Fehlerrisiko und dem würde man in einer offiziellen Ermittlung entgegen wirken. Hat sie keine Anfrage gestellt? Oder hat Araghast es vermasselt?'
Sie beobachtete, wie die Wächterin plötzlich zielgerichtet auf einen Mann zuging.
Das allgegenwärtige Pulsieren unzähliger Herzen in dieser Stadt fiel in ihrer Wahrnehmung unter die bewusste Hörschwelle, als sie sich auf das weit entfernte Gespräch zu konzentrieren begann.
Das empfindliche Gehör eines Vampirs war viel zu oft ein Fluch. Besonders einige Vampirjäger hatten im Laufe der Jahrhunderte kreative Wege gefunden, diesen Umstand für ihre Zwecke zu nutzen. Aber in solchen Situationen wie der vorliegenden, wusste sie ihre besonderen Talente zu schätzen.
Die Gesprächsfetzen der flanierenden Menschen in direkter Fluglinie zwischen ihnen rissen auseinander und zerstreuten sich, als die Adlige den beiden Menschen ihre Aufmerksamkeit schenkte. Als erstes fing sie die Stimme der Frau auf, welche sie sofort wiedererkannte.
"...habe ich natürlich gerne angenommen. Etwas frische Luft kann mir nicht schaden und was könnte man schon gegen so ein Wetter auszusetzen haben?"
Ayami Vetinari kommentierte diese Aussage gedanklich mit einem weitaus weniger enthusiastischem 'Einiges!'
Der Mann antwortete der Ziegenberger, indem er ihr drei weitere Personen vorstellte. Er überschlug sich dabei fast, so beflissen gab er sich.
"... Hermine Allesnix, Shaun Paletti und Max Schenk."
Die Vampirin wusste augenblicklich, dass die Wächterin den Zugang zu der Organisation gefunden hatte. Die Namen der beiden Männer zumindest gehörten zu denen einer langen Mitgliederliste, von der sie wusste.
Es war gut gewesen, ihren Aufenthalt in der Stadt noch etwas zu verlängern, selbst wenn ihre Pläne im Zusammenhang mit der Igorina bereits Früchte trugen. Diese Angelegenheit hier war mindestens ebenso wichtig, wie lästig und Ophelia gab ihr die Möglichkeit, unerkannt zu agieren. Sie konnte der HIRN nicht offen entgegentreten. Jedwede Aktion als Vampirin und somit erklärter Erzfeindin der Infragesteller, hätte noch erbitterteren Widerstand von diesen bedeutet. Aber wenn es ihr gelang, die Menschenfrau auf diesem Spielfeld vorzuschicken... die knisternde Rivalität zu Ophelias unauffälligem Schatten trug nur ein Übriges dazu bei, diese Unternehmung als lohnend zu betrachten.
Die Menschen grüßten einander jeweils und das Gespräch wandte sich der Ausstellung zu und dem allgemeinen Wunsch, diese jetzt gemeinsam abzulaufen. Man einigte sich auf die Reihenfolge und die Gruppe ging gemächlich plaudernd auf das Gebäude in der Mitte des Parks zu, in welchem ein großer Teil der importierten Blumen dekorativ ausgestellt sein sollten.
Die Vampirin lehnte sich mit geschlossenen Augen in ihrer Kutsche zurück und folgte reglos, mit all ihrer Wahrnehmung, den vier charakteristischen Herzschlägen und dem Gespräch.
Wie oft bei solchen Gelegenheiten, wurden Belanglosigkeiten gewechselt. Erst als die Gruppe das Gebäude eine halbe Stunde später wieder verließ, um den Teil der Blumenschau zu bewundern, der unter freiem Himmel gepflanzt worden war, wurde es interessanter.
Offenbar war die Wächterin - sicherlich wegen ihres unverhältnismäßigen Schlafmangels - unübersehbar heftig vor dem grellen Sonnenschein im Freien zurückgewichen und hatte ihre überreagierenden Augen, nach den kühlen Ausstellungsräumen drinnen, abschirmen müssen.
Der größte Mann in ihrer Begleitung, Max Schenk, kommentierte ihre Reaktion augenblicklich.
"Na? Die Attacke hat doch nicht etwa weitere Spuren bei Dir hinterlassen, Theridae?"
Sein Tonfall sollte wohl besorgt klingen, kündete aber nur deutlich von sensationslüsternem Misstrauen.
Ophelia würde wohl intelligent genug sein, die unterschwellige Warnung ebenfalls zu hören. Oder?
Ihre Stimme klang rauh und leicht trotzig, als sie der vorgetäuschten Identität entsprechend mit agressivem Unterton antwortete.
"Nein, ganz sicher nicht so, wie Du es meinst... Herr Schenk." Ayami konnte sich regelrecht vorstellen, wie das sonst so gutmütige Gesicht der Wächterin bei ihren überheblichen Worten einen äußerst abweisenden Ausdruck annahm. "Ist es das, was Du sehen willst? Ein infiziertes Opfer? Tut mir leid, damit kann ich nicht dienen. Die einzige Spur, die der Vampir bei mir hinterlassen hat, außer den Narben, ist der feste Vorsatz, ihn umzubringen, falls er meinen Weg noch einmal kreuzen sollte."
Ayami lauschte in die angespannte Stille, die sich bei Ophelias Worten zwischen den vier Menschen auf der überdachten Veranda ausbreitete.
'Das war vielleicht etwas zu forsch, meine Liebe...'
Der Aktivist mit dem Namen Schenk antwortete mit leiser aber deutlicher Stimme.
"Große Worte! Wie gut für den Vampir, dass die Chancen sehr gering stehen, ihm in einer so großen Stadt zufällig nochmals über den Weg zu laufen."
Herzschlag und Atmung der Wächterin beschleunigten sich merklich und Ayami war sich sicher, dass diese zum gleichen Schluss kam, wie sie selber: Die Entscheidung stand unmittelbar bevor! Der Kontaktmann gedachte jetzt gleich darüber zu urteilen, wie weit man der Witwe vertrauen können würde und ob sie mehr erfahren sollte. Nur hatte Ophelia außer ihren Worten nicht viel zu bieten.
Die Vampirin in der Kutsche schlug die Augen auf und traf eine Entscheidung. Sie setzte die getönten Augengläser auf, zog die langen seidenden Handschuhe über ihre bloßen Arme und legte sich das feine Schultertuch um. Als sie sich geschmeidig von dem dunklen Samtpolster erhob, öffnete ihr der Kutscher bereits beflissen die Tür und klappte das Trittbrett aus. Sie setzte den breitkrempigen Sonnenhut auf und er ließ zeitgleich den großen Spitzenschirm über ihr aufschnappen.
Ayami lehnte mit einem knappen Wink ab.
"Danke, Philipp, aber den benötige ich nicht."
"Möchtest Du, dass ich Dich begleite, Hoheit?"
Sie musste kurz ein Schmunzeln unterdrücken, als sie in seinen Gedanken wie in einem offenen Buch las und diesen entnahm, dass er 'seine Königin' für die eleganteste Frau der Scheibe hielt und ihr das fliederfarbene, bodenlange Kleid seiner Meinung nach perfekt stand. Mindestens genauso perfekt, wie das schwarze vom Vortag. Oder das rote von davor...
Dann jedoch fing sie die weitere Konversation in der Ferne auf. Ihre Heiterkeit verflog.
"Vielleicht habe ich meinen guten Freund hier falsch verstanden? Kunter! Warum erzählst Du mir, dass sie vom Schicksal gebeutelt sei und Anschluss sucht? Das klang gerade gar nicht danach. Da stellt man eine besorgte Frage, zeigt Mitgefühl und so... und dann das! Ich werde meine Freundschaft keinesfalls aufdrängen... Frau Ligand."
Die Männerstimme hatte den Namen ebenso betont, wie Ophelia den seinen zuvor. Die wachsende Distanz zwischen den beiden schien schon jetzt unüberbrückbar und doch war es logisch, dass die Ermittlerin ihre Tarnung aufrechterhalten musste. Sie konnte die angenommenen Gefühle und Überzeugungen ihrer Rolle nicht einfach deswegen über Bord werfen, weil es anders auf einmal praktischer gewesen wäre. Nein, sie würde konsequent bei ihrem Auftreten bleiben und hoffen müssen, zu einer anderen Gelegenheit eine zweite Chance zu bekommen.
Die andere weibliche Stimme warf peinlich berührt ein: "Max, nun sei doch nicht so! Du musst nicht immer alles gleich in den falschen Hals bekommen. Es tut mir leid, Frau Ligand, bei dem Thema ist er etwas eigen. Bitte nimm es Dir nicht zu Herzen. Wir wollten doch einfach nur einen netten Oktotag zusammen verbringen."
Es fiel ihr nicht schwer, die wahrscheinlichsten Gedankenfolgen der Wächterin zu erraten. Die Verdeckte Ermittlerin musste hin und her gerissen sein zwischen den Grenzen ihrer Rolle und den Anforderungen der Situation an sie. Wenn sie den Redelsführer nachdrücklich beeindrucken wollte, würde sie mehr als den logischen aber harmlosen Hass gegen ihren damaligen Angreifer aufbieten müssen - wenn sie dies jedoch tat, war es leicht möglich, in ein unglaubwürdiges Extrem zu verfallen, aus dem es kein Zurückrudern mehr geben würde. Die Alternative bedeutete Versagen. Den Verlust des Kontaktes und vermutlich ein Scheitern ihrer Mission.
Etwas, was den Plänen der Königin zuwider lief. Und was diese daher verhindern musste.
"Bleib bei den Pferden, Philipp. Aber halte Dich bereit. Vielleicht werden wir den Rückweg schneller als statthaft zurücklegen müssen."
Mit diesen Worten schritt sie weit aus, eine von vielen eleganten Damen, die sich bei schönem Wetter zu einem Besuch der Blumenschau entschlossen hatten.
Die kleine Gruppe stand auf dem Rasen vor dem hell strahlenden Haus wie auf dem Präsentierteller. Sie näherte sich ihnen schnell und unbemerkt.
Die Wächterin schüttelte den Kopf und Ayami konnte eine gewisse Nervosität bei dem Gedanken, sich vielleicht zu spät zum Eingreifen entschieden zu haben, nicht verleugnen. Nur kurz ging ihr durch den Sinn, dass das Kommende ihren ohnehin bereits mehr als angeschlagenen Kraftreserven nicht gut tun würde.
"Frau Allesnix... Du brauchst Dir keine Mühe zu geben! Herr Schenk ist nicht der Einzige, der bei dem Thema etwas eigen ist. Ich bin es auch. Nur dass ich denke, mehr Anspruch auf meine Meinung zu haben, als er auf seine. Ich weiß wenigstens, wovon ich rede. Nein, wirklich. Es tut mir leid, dass ich die Stimmung verdorben habe. Das Kennenlernen war mir ein Vergnügen aber vermutlich wird es wohl besser sein, wenn ich jetzt gehe. Kunter, vielen Dank für den Versuch, mir Ankh-Morpork erträglicher zu machen aber ich werde wohl nie besonders gesellig werden. Wir sehen uns bestimmt morgen. Bis dann!"
Die Wächterin wandte sich von der verstummten Gruppe ab und dem Rasen zu.
Auf welchem sie ihr bereits in einem Abstand von etwa zehn Metern erwartungsvoll entgegen sah.
Ophelia blieb wie angewurzelt stehen.
'In Anbetracht der Umstände wäre deine Reaktion sehr ungünstig - wenn sie nicht gleichzeitig so gut zu pass käme. Du benötigst effektvollere Argumente, als bloße Worte, um dich bei ihnen einzuschleichen? Ich wäre im Gegenzug für einen Gefallen dazu bereit, Dir meine Hilfe anzubieten. Eine dramatische Schmierenkomödie von wenigen Sekunden Dauer und sie würden Dir, wenn Du es richtig zu nutzen wüsstest, zu Füßen liegen. Interessiert? Wir hätten uns demnach bereits einmal getroffen. Deine Reaktion jetzt gerade legt dies ohnehin nahe. Du hast mich abgewiesen. Ich bin Dir hierher gefolgt, um mein Angebot zu wiederholen. Möchtest Du mitspielen? Entscheide Dich schnell, sonst ist die Sekunde vorüber.'
Die junge Frau blickte sich verunsichert zu den hinter ihr stehenden Menschen um, die mit vorsichtiger Neugier beobachteten, was sich anbahnte.
Ophelia sah schnell zu ihr zurück.
Irgendetwas kippte den normalen, mentalen Kontakt und plötzlich stürzten zusätzliche Eindrücke auf sie ein, als wenn über ihre persönliche Sicht der Dinge ein bemaltes Fenster mit Fremdbildern gelegt worden wäre, welches den Gesamteindruck mit zig Details ergänzte. Sie sah den sonnengefluteten Park und die Blütenfarben, so wie Ophelia diese ohne die abgedunkelten Gläser vor den Augen wahrnehmen musste. Sie sah ihr eigenes schlankes Abbild, bedrohlich reglos im Schatten des hinter ihr emporragenden Baumes stehen. Und sie spürte den stockenden Atem der Beobachter in ihrem - Ophelias - Rücken. Die gesamte Bandbreite der Emotionen und Gedanken der Wächterin flutete ihr ungefiltert entgegen.
'Wieso will sie mir helfen? Woher kommt sie so plötzlich? Ist sie mir gefolgt? Aber warum? Woher weiß sie, was ich hier versuche? Natürlich... unsere Unterhaltung... sie hat es sich gedacht. Nein, moment. Sie hat mich beeinflusst? Warum sollte ihr daran gelegen sein, dass ich... oh... es ist logisch. Jedem Vampir müsste daran gelegen sein. Aber wenn sie mir jetzt helfen will... dann stehe ich tief in ihrer Schuld und ich vertraue ihr nicht einmal. Sie nutzt mich für ihre Ziele, Ziele, die ich nicht kenne. So etwas ist riskant. Andererseits... das hier ist vor allem mein Ziel. Und wenn ich ihr Angebot nicht sofort annehme, ist diese Chance vertan. Ein Scheitern ist absehbar. Selbst wenn ich mich nochmals von anderer Seite her heranarbeiten könnte... nicht nur, dass es kostbare Zeit benötigen würde... vielleicht würde ich wieder bei Schenk landen... ich muss mich entscheiden... ich muss mich sofort entscheiden... kann ich ihr vertrauen? Sicher nicht! Oder muss ich ihr vertrauen, egal wie die Konsequenzen aussehen werden?'
Es kostete Ayami alle Disziplin ihrer Jahrhunderte zählenden Erfahrung, um scheinbar ungerührt auf die Reaktion ihres Gegenübers zu warten, anstatt diese verwirrende Art der Gedankenübertragung zu kappen.
Die drei Männer hinter Ophelia witterten Ärger und kamen langsam näher.
Die Vampirin entschloss sich dazu, die Scharade zu beginnen und damit weitere kostbare Sekunden Aufschubs zu erwirken. Sie ließ eine Frühlingsbrise um sich wehen, um die lichten Stoffe ihres Kleides und des Schultertuches leicht zum Flattern zu bringen und den ätherischen Eindruck ihrer hochgewachsenen, schlanken Gestalt zu unterstreichen. Sie lächelte verführerisch und ließ ihre Stimme mühelos mit einem weiteren warmen Lufthauch zu ihr hinüberwehen.
"So sehen wir uns wieder. Was für ein un-glaub-licher Zufall."
Auf mentaler Ebene formulierte sie gerade die fordernde Frage, wie Ophelia sich entscheiden wolle, als sie registrierte, dass sie einen Widerhall ihrer eigenen Gedanken bereits in der Wächterin las - Gedanken, die sie ganz sicher nicht in dieser Form gesendet hatte!
'Du bist zu langsam, so unsagbar langsam. Entscheide Dich endlich, sonst muss ich Dir die Wahl abnehmen, um den Erfolg sicherzustellen...'
Ayami fuhr ihre persönliche Abschirmung in die Höhe, doch die Antwort der Ermittlerin nahm das Hindernis nicht einmal wahr, sondern umspülte es einfach, wie quierlige Stromschnellen.
'Gut... Ich folge deinen Anweisungen. Was hast Du vor, Mylady? Was soll ich tun?'
Die Königin war über die ungewöhnliche Art der Kommunikation beunruhigt, ließ es sich aber nicht anmerken. Wenn ein Abschirmen nicht den gewünschten Erfolg erzielen konnte, dann würde sie ihre Gedanken umso fester auf die aktuelle Problematik ausrichten, um ihre sonstigen Angelegenheiten weiterhin für sich zu behalten. Die Menschenfrau handelte nicht bewusst, also war es unwahrscheinlich, dass sie sie in den nächsten Minuten ausspionieren würde. Sie hatten ein gemeinsames Ziel, sie würden sich gemeinsam darauf konzentrieren.
Laut, so dass es auch die Begleiter der Ermittlerin hören konnten, sagte sie:
"Du hast mich bei unserem letzten Treffen so vehement abgewiesen... Du kannst Dir unmöglich die Zeit genommen haben, mein Angebot zu durchdenken. Vielleicht bist Du inzwischen anderer Meinung?"
In Gedanken hingegen wies sie die Wächterin an: 'Ich werde Dir helfen, den Zugang zur Organisation zu bekommen. Hast Du eine Waffe bei Dir?'
Ophelia tat so, als wenn sie ihre Röcke leicht raffen und sich zur Flucht bereit machen würde. Für die Menschen hinter ihr war nicht zu sehen, dass sie der Vampirin damit sowohl den umgegürteten Dolch, als auch den Pflock zeigte.
'Gut. Ich werde Dich provozieren, Du wirst mich abwehren. Sie werden beobachten, wie Du mich dazu mit dem Messer verletzt. Ich werde mich zurückziehen, sie werden ihre Heldin haben. Bist Du bereit?'
'Was? Halt! Mit dem Messer... ich soll Dich...'
Ayami wartete die Widerworte nicht ab, sondern löste sich aus dem Schatten und schlenderte mit provozierend langsamen Bewegungen auf Ophelia zu.
Diese reagierte endlich sichtbar, indem sie zurückwich und mit verunsicherter Stimme antwortete. "Warum sollte ich auch nur mit Dir reden?"
Der große Mann hinter ihr, Max Schenk, zischte seinem Kumpan zu: "Sie ist eine von denen." Seine Stimme klang gereizt, als er Ophelia herausfordernd fragte: "Was will sie von Dir? Was geht hier vor sich?"
Angst, Unsicherheit, Verwirrung und die anregende Vibration von Körpern, deren Systeme auf eine Gefahr reagierten und dazu chemisch und physisch einen Gang höher schalteten, hingen wie schwerer Duft in der Luft und kitzelten Ayamis Instinkte. Ihr eigener Körper reagierte auf seine Weise. Ihre Sinne schärften sich, ihr Kiefer ließ den beiden wichtigsten Jagdwerkzeugen mehr Raum.
Sie genoss die Situation, obwohl sie wusste, wie wenig Zeit dazu verblieb, bevor es unangenehm werden würde.
'Und wenn schon! Etwas Unterhaltung sei mir gestattet.'
Ihr Blick heftete sich auf Ophelia, was sie sagte hingegen war vorwiegend an das Publikum hinter jener gerichtet.
"Willst Du es ihnen nicht erzählen? Nein? Es muss Dir nicht peinlich sein." Sie war der Wächterin inzwischen so nahe! Deren Körperwärme und deren Ausstrahlung waren förmlich greifbar, deren mentaler Kommunikationsstrom so unmittelbar, dass es sich anfühlte, als wenn sie in einem Regenschauer stünde. Gedanken flogen ihr wie aufgewirbelte Gischt entgegen.
'...kann sie doch nicht angreifen! Sie hat mir ja nichts getan! Abgesehen davon, dass ich vor aller Augen nicht schnell genug an den Dolch herankomme. Soll ich etwa in den Röcken wühlen? Absichtlich verletzen... Wie kann sie nur auf eine so radikale Lösung kommen? Was, wenn ich versehentlich zu weit gehe? Ich glaub, das kann ich nicht... und wenn doch: Wie tief ich dann in ihrer Schuld stehen muss!'
Ayami grinste innerlich.
'Mach Dir darum keine Sorgen. Und... so leicht kannst Du mir nicht gefährlich werden. Du musst nur schnell genug reagieren, um glaubwürdig zu sein.'
Die Männer hielten Abstand aber sie waren ganz Ohr. Die Situation ging ihnen gegen den Strich. Immerhin war sie der erklärte Feind und trotzdem gerade tonangebend. Sie waren aber eindeutig nicht dazu bereit, vor so vielen potentiellen Zeugen, inmitten der Öffentlichkeit, zugunsten einer nahezu Fremden einzugreifen. Erst recht nicht, wo die Witwe sich eben erst durch ihre patzige Art bei ihnen unbeliebt gemacht hatte.
Ayami hob die offene Hand und deutete theatralisch auf Ophelias Hals mit der nur halb sichtbaren Narbe.
"Gekostet aber nicht wieder versiegelt... unvollendet. Du bist auf eine Weise gezeichnet, dass es jeden echten Vampir in den Fingern jucken muss, das Begonnene zu beenden. Ich frage Dich nochmals: Darf ich? Es würde Dir nur den nächsten Fragesteller vom Halse halten."
Die Augen der jungen Frau weiteten sich erschrocken und auf geistiger Ebene fragte sie entsetzt: 'Ist das die Wahrheit?'
Ayamis Jagdleidenschaft war endgültig geweckt und sie trat so dicht vor Ophelia hin, dass keine Handbreit Raum zwischen ihnen blieb. Sie sah auf das erwählte Opfer hinab, lächelte milde. Ihr Blick wanderte nun wirklich zu der Narbe, während ihre Hand Millimeter über der Haut schwebte. Sie antwortete ausweichend, sowohl im Stillen, als auch laut ausgesprochen, indem sie Ophelia eröffnete:
"Theoretisch ist vernarbte Haut empfindungslos. Aber es gibt eine schöne Parallele, zum Phänomen des Phantomschmerzes. Das direkt angrenzende gesunde Gewebe überreagiert und kompensiert das schadhafte mehr als ausreichend, wenn man es geschickt angeht. Und dann wird jeder weitere Biss zu einem quälend aufwühlenden Genuss, zu einem berauschenden Suchtfaktor, von dem manche Menschen gar nicht genug bekommen können. Sie lassen uns die Narben dann nicht mehr versiegeln, so dass diese wie Landmarken gesetzt Bereitschaft signalisieren. Solche Narben gleichen einer Einladung. Wusstest Du das?"
Die junge Frau begann ihr zu glauben, deren Körper begann in ängstlicher Erwartung fiebrig zu zittern. Fluchtreflex und der Bann der Faszination hielten einander die Waage.
'Hach... es wäre so einfach... nun denn. Sei bereit, zurückzuschlagen. Und sei schnell, damit es überzeugend wirkt und es den Verlust meines Kleides wenigstens wert ist!'
Ayami zögerte nicht länger, sondern senkte ihre Hand. Sie fuhr mit den Fingerspitzen unter den Kragen der schwarzen Bluse, durch diesen geschützt vor der Kette mit dem heiligen Anhänger. Der seidige, dünne Stoff des Handschuhs hielt nichts von der Eiseskälte ihrer Berührung zurück.
"Und weißt Du noch etwas? Es funktioniert."
Sie streifte das Narbengewebe nur leicht, doch der auf den Gedanken bereits vorbereitete Geist Ophelias erfüllte die beiderseitigen Erwartungen auf der Stelle. Es war eine ihrer leichtesten Fingerübungen, den vorhandenen Gefühlen weitere hinzuzufügen, indem sie eine Kaskade von Wärmewellen durch die Nervenenden auf der Haut rieseln ließ und mit deren sensitiven Möglichkeiten eine Sekunde lang Roulette spielte.
Die Wächterin schnappte schockiert nach Luft. Sie blinzelte und griff im Reflex mit der gesunden Hand nach Ayami, als sie im Sinnestaumel das Gleichgewicht verlor und fiel.
Die Überwäldlerin seufzte. Sie befahl in Gedanken: 'Jetzt! Nimm das Messer und greif an! Schneller!'
Die Männer hinter Ophelia hatten protestierend dazwischen gerufen.
Rund um sie herum wandten sich ihnen bei dem entstehenden Tumult die ersten Fremdbeobachter zu und innerhalb von Sekunden stand ihre Gruppe im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit. Schaulustige näherten sich von allen Seiten.
Ayami hatte sich mit Absicht ablenken lassen und die HIRN-Aktivisten im Blick behalten, während sie die Menschenfrau gedanklich zur Eile trieb. Aber es war ein Trauerspiel, wie unsäglich langsam die Wächterin wieder zu Sinnen kam. Zu allem Überfluss sah die Königin sich auch noch dazu gezwungen, die Wirkung ihres spielerischen Eingriffs in Ophelias Nervensystem über diese merkwürdige mentale Verbindung zu beobachten. Anscheinend bereitete es der jungen Frau Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Aber immerhin hatte sie bereits den Dolch ergriffen.
Die Adlige blickte den Herren giftig entgegen und legte ihre Hand wie besitzergreifend auf den Kopf der Witwe zu ihren Füßen.
'Eine Bühnenszene sollte auch Dialog enthalten. Vielleicht gibt es ihr genug Zeit zum Reagieren, wenn ich mit Worten ablenke?'
"Ich habe ihr nichts getan. Diese Angelegenheit betrifft Euch nicht im Geringsten. Geht Eurer Wege und lasst uns allein. Lasst sie selbst entscheiden, was sie möchte. Ich habe ihr nur eine Möglichkeit aufgezeigt, eine von vielen. Der Gedanke ist noch neu für sie, weswegen sie etwas Bedenkzeit benötigt. Also mischt Euch nicht ein!"
Ein entsetzter Gedanke floß von der Menschenfrau her regelrecht ihren Arm hinauf: "Ich... der Dolch... ich kann es nicht... sie hat mir nichts Böses getan... ich... ich habe es wirklich genossen..."
Ayami konnte durch ihren Sinn sehen, wie Ophelias Hand so sehr zu zittern begann, dass sie den eben erst ergriffenen Dolch fast wieder in ihren Röcken fallengelassen hätte.
'So war das nicht geplant gewesen.'
Die Vampirin sah in den Augen des Redelsführers, dass dieser sich dazu bereit machte, der Witwe beizustehen. Und wenn es nur um die Möglichkeit ging, endlich einen der Blutsauger gerechtfertigt anzugreifen.
'Dann eben anders!' Ayami öffnete die Gedankenverbindung völlig, übernahm für einen kurzen Moment die Kontrolle über den Körper ihres Opfers, um dessen Reaktionen mit leichten Impulsen anzufeuern und erteilte sofort darauf den direkten Befehl: 'Stich zu!' Sie löste einen Windstoß aus, der dazu führte, dass sie wie im Reflex mit beiden Händen nach ihrem Sonnenhut griff und sich schutzlos präsentierte.
Sie beobachtete aus den Augenwinkeln die viel zu langsamen Bewegungen der Ermittlerin, deren Aufspringen und Ausholen. Sie drehte sich leicht in den Weg des Dolches. Und dann traf sie die Klinge ungeschickt an der Schulter. So wie geplant. Die Schneide war hervorragend geschärft. Sie glitt nahezu reibungslos durch Haut und Muskeln, bis sie über die Knochen des Gelenks fuhr.
Der schnell anwachsende Zuschauerpulk schrie wie mit einer Stimme auf.
Der Schmerz folgte auf dem Fuße und war von erwartungsgemäß hohem Nivaeu. Sie unterdrückte ihn, bis ihr aufging, dass es in dieser Sache ja genau darum ging, den arroganten Vampir zu züchtigen, ihm sein Dasein zu vergelten und ihn öffentlich zu demütigen, um selber als Held dazustehen. Den aufwallenden Stolz zu zügeln fiel ihr tausendmal schwerer, als das Leugnen der Wunde zuvor.
Ayami blickte wie im Schock auf die Schulter mit den zerfetzten Stoffen von Kleid und Tuch hinab. Sie öffnete mit reiner Willenskraft die durchtrennten Enden der Blutgefäße wieder weit genug, dass der automatische Heilungsprozess stoppte. Rinnsal um Rinnsal des kostbaren Lebenselixiers lief an ihrem Kleid hinab. Sie taumelte von Ophelia fort, die mit hoch erhobener Blutklinge bleich vor ihr stand.
Ophelias Gedanken waren ein Strom aus Selbstvorwürfen und der Angst, sie zu schwer verletzt zu haben. Aber die Wächterin war eine exzellente Schauspielerin. Keiner dieser Gedanken war ihr anzusehen, als sie mit rauher Stimme drohte.
"Ich sage es nicht noch einmal: Bleib mir endlich vom Leib, Dämonenbrut!"
Ayami hätte trotz der Schmerzen, die langsam auch von der Sonneneinwirkung unterstrichen wurden, beinahe über die Absurdität der Situation gelacht. Die Wächterin entschuldigte sich auf der Ebene, die den Zuschauern nicht zugänglich war, pausenlos für diese lächerlich alltägliche Beleidigung.
Hinter sich hörte Ayami plötzlich die aufgebrachte Stimme ihres Kutschers näher kommen. Er war rasend vor Zorn.
"Weg da! Aus dem Weg! Ho..."
Sie stoppte ihn mit einem zielgerichteten Gedanken.
'Keine Namen und keine Titel, Philipp! Du darfst mir zu Hilfe eilen. Aber beschränke Dich auf reine Drohgebärden, sonst ruinierst Du alles.'
Er verstummte, kam aber schlitternd vor ihr zum Stehen, die Hände zu Fäusten erhoben, zu allem bereit.
"Weg da! Wer es wagt, meiner Herrin auch nur einen Schritt näher zu kommen, geschweigedenn ihr ein Haar zu krümmen, der hat sein nichtsnutziges Leben verwirkt!"
Im Stimmengewirr waren die ersten Wetten zu hören und irgendein Zeitungsreporter hatte beschlossen, dass Veilchen spannender waren, als Rosen.
Ayami schloss nun doch unangenehm berührt die Augen. 'Es wird Zeit, dass ich mich zurückziehe.'
"Bring mich zum Wagen!"
Philipp betrachtete vor allem Ophelia mit einem mörderischen Blick. Er behielt die Zuschauer soweit wie möglich im Auge, legte seiner Herrin aber einen Arm um die Hüfte, um sie von den Menschen fortzuführen. Er stützte sie und Ayami ließ es sich des Effekts wegen gefallen, bis sie die Wiese überquert hatten. Er half ihr besorgt in die Kutsche, wo sie ihm befahl, sie im Innern allein zu lassen und sich lieber darauf zu konzentrieren, sie in ihre Unterkunft zu fahren.
Sie zog die Vorhänge sorgfältig zu.
Die Gedanken der Wächterin folgten ihr, wurden aber merklich schwächer.
'Es tut mir so leid! Ich hoffe, es verheilt schnell wieder. Wenn ich irgendetwas tun kann... lass es mich bitte wissen! Wenn Du mir deine Adresse zukommen lässt, werde ich Dich dort, sobald es möglich ist, aufsuchen...'
'Im Parkweg Hotel...'
Die Herrscherin aus dem fernen Überwald hatte nicht vorgehabt, ihre Adresse mitzuteilen. Aber auf diese merkwürdig unstrukturierte Übertragungsart sah die Wächterin die angefragte Information anscheinend in ihren Gedanken aufscheinen und nahm dies als Antwort an.
Die Kutsche wurde sacht aus der Parklücke manövriert. Sofort darauf fuhren sie deutlich schneller an und strebten in fliegendem Tempo dem Stadtzentrum entgegen.
Das Letzte, was Ayami durch das Fenster hörte, als sie ihre Aufmerksamkeit von der Menschenansammlung und den relevanten Stimmen dort löste, waren Max Schenks bewegte Worte:
"Frau Ligand... ich war vorhin wohl etwas voreilig... Am Besten verlassen wir den Park und suchen ein ruhigeres Plätzchen auf. Kunter, wir kehren bei Dir ein, wenn es Dir Recht ist? Ich glaube wir könnten alle einen Schluck vertragen. Frau Ligand, vielleicht benötigst Du ein Taschentuch? Nein, wegen des Messers, zum Abwischen. Damit Du deine Waffe wieder fortstecken kannst. Es wäre unklug, es so besudelt von der Kreatur durch die Straßen zu tragen..."

~~~ Tödliche Choreographie ~~~


Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage trat Ophelia im Morgengrauen vor den Tempel der Rhododendra. Dieses Mal jedoch ging es nicht mehr nur um die Theorie.
Sie zupfte nervös an einem der Posamentenverschlüsse ihres Umhangs.
'Keine Sorge, es wird alles gut gehen. Es muss! Breguyar wird mir sonst niemals sein offizielles OK geben und gleichgültig, was jetzt bevorsteht... sie würden meine Tarnung innerhalb kürzester Zeit aufdecken, wenn ich weiter jeden Tag zur Wache zurückkehren würde.'
Sie streckte die Schultern und ging festen Schrittes auf die Amazone am Ende der Freitreppe zu.
"Rhododendra zum Gruße, Schwester Klinge!"
"Rhododendra zum Gruße, auch Dir... Ziegenberger?"
Gladiolas Gesichtsausdruck war für sie nur allzu leicht zu lesen. Von deren Seite schlug ihr nichts als Verachtung entgegen. Sie ignorierte es, so gut ihr dies möglich war.
"Ja, das ist richtig. Ich bin gemeldet und möchte gerne zu Schwester Petunia. Wenn Du mich bitte einlassen würdest?"
Gladiola Klinge verzog den Mund und antwortete: "Warte hier!"
Ophelia seufzte leise und wandte ihr den Rücken zu, um derweil den Sonnenaufgang zu beobachten. Sie schloss die Augen und ließ Licht und Wärme in sich hinabsickern, während sie zugleich die Ohren offen hielt für die sie umgebenden Geräusche.
Einer der schweren Eisenringe der Portalflügel wurde angehoben und die Pforte ein Stück weit geöffnet.
Sie drehte sich um und blickte der Lehrkraft entgegen.
"Schwester Petunia, Rhododendra zum Gruße!"
Die Ordensschwester trat mit vorgestreckter Hand vor und ergriff kräftig ihre Rechte.
"Rhododendra zum Gruße, Ophelia! Du willst es also wirklich machen. Das freut mich. Endlich Taten, statt bloßem Gerede. Wenn wir es gleich angehen, schaffen wir das noch vor dem Frühstück. Sehr gut! Komm mit!"
Schwester Petunia war ihr noch nie sonderlich herzlich erschienen. Aber der Gegensatz zu Gladiolas Blicken, als sie diese passierten, war erheblich und allein dadurch aufmunternd.
Sie tauchten in die kalten Schatten des steinernen Gebäudes ein und es war das Krachen der Tür, die hinter ihnen wieder ins Schloss fiel, welches sie zusammenzucken ließ. Die Ungeheuerlichkeit ihrer Situation wurde ihr für den Moment voll und ganz bewusst - bevor sie diese Erkenntnis mit willentlicher Anstrengung wieder verdrängte.
'Ich muss ganz ruhig bleiben. Es wird schon gelingen...'
Sie folgte den Schritten der Ordensschwester und versuchte, sich auf deren Stimme zu konzentrieren.
"...habe ich noch einmal über unser letztes Gespräch nachgedacht und muss sagen, dass ich doch... naja... besorgt wäre das falsche Wort... gespannt? Interessiert? Sagen wir, dass ich 'auf deiner Seite' bin. Die Anforderungen sind klar und deutlich formuliert und auch keinesfalls unmöglich umzusetzen. Sich zehn Minuten lang in Alltagskleidung über Wasser zu halten, sollte einer Frau schon abverlangt werden können. Männer sind vielleicht nicht willensstark genug dafür, so dass man bei ihnen ein Auge zudrücken könnte. Aber bei einer Frau... Dass Du nun etwas eingeschränkt bist, was deinen Arm angeht, ist zwar eine Überlegung wert, ändert aber letztlich nichts daran, dass Du auf Dich achten können solltest. Erst recht als Wächterin! Ich bin bereit, den Kürass aus der Übung auszuklammern, da Du auch in deinem Alltag normalerweise keinen trägst. Das sollte den Schwierigkeitsgrad angleichen. Aber mehr Zugeständnisse kann ich vor meinem Gewissen Rhododendra gegenüber wirklich nicht verantworten."
Ophelia musste schwer schlucken und die Zunge klebte ihr trocken am Gaumen fest.
Derweil überquerten sie den großen Innenhof, auf dessen Sand normalerweise die Kampfübungen der Novizinnen stattfanden. Zu dieser frühen Stunde jedoch wechselten sie unbehelligt zur anderen Seite des Platzes und nur Schwester Petunias klare Stimme hallte zwischen den Bogengängen hindurch und an den kargen Mauern ringsum hinauf.
"Wo die Umkleideräume sind, das weißt Du noch?"
Ophelia nickte, antwortete aber gleich darauf mit einem lauten Räuspern: "Ja, das weiß ich noch, danke!"
Die Ordensschwester leitete sie durch einen kurzen Gang, der in ein ebenerdiges Labyrinth aus weiteren Gängen zweigte. Hier kamen ihnen auch immer mehr Novizinnen in ihren leuchtenden Gewändern und mit blankpolierten Rüstungen entgegen. Besonders von den höherrangingeren Damen, die vereinzelt schon mit umgegürteten Schwertern ihrem Tagewerk entgegeneilten, wurden sie mit einem ehrfurchtsvollen Nicken gegrüßt. Schwester Petunia war eine strenge aber gerechte Frau, die sich mit ihren vernünftigen Einstellungen im mitunter harten Alltag der Schwesternschaft einen guten Ruf erworben hatte. Auch Ophelia war sich dessen bewusst, denn niemand sonst hier hätte ihrer Abteilung einen so rücksichtsvollen Umgang bei den damaligen Prüfungen zuteil werden lassen. Und niemand sonst hätte ihr persönlich ein so großzügiges Angebot unterbreitet. Die vorgesetzte Kampfamazone damals, Schwester Flinkhand, hatte Petunia dann auch dazu verurteilt, die der Wächterin angebotene Hilfe ausschließlich während ihrer seltenen Freizeit zu gewähren.
Sie gelangten an eine niedrige Holztür, durchschritten diese und standen unvermittelt in einem weiteren Innenhof und vor dem riesigen Wasserbecken, welches teilweise zur Aufzucht von Wasserpflanzen genutzt wurde. Die Sonne funkelte auf der ruhig daliegenden Oberfläche - und verbarg damit, dass in den Tiefen dieses Gewässers ein Raubtier hauste. Die Erinnerung an Minas damalige Begegnung mit diesem Tier ließ Ophelia unwillkürlich schaudern.
"Sind die Unterwassergitter dieses Mal auch wirklich verriegelt?"
Schwester Petunia blickte sich überrascht zu ihr um, bevor sie leise lachte.
"Ja, keine Sorge! Ich habe erst vor einer halben Stunde selber überprüft, dass die Kleine noch schläft und auch nach dem Aufwachen nicht dazwischen kommen wird. Du hast das Becken also nur für Dich."
Ophelia blickte unschlüssig auf das Wasser hinab, wo sie die kunstvollen, bunt gekachelten Muster des Beckenbodens heraufschimmern sah. Die Planerin hatte eindeutig eine Vorliebe für Lilien gehabt... genauer gesagt, für Wasserlilien.
Etwas an dem Anblick ließ sie frösteln, obwohl sie es sich bewusst verbot, an die reale Gefahr hinter diesem Test zu denken. Oder auch nur an alte Erinnerungen, im Zusammenhang mit einem anderen Wasserbecken...
Schwester Petunia beobachtete sie unverhohlen. Deren Frage war eine willkommene Ablenkung von der heraufdämmernden Angst.
"Hast Du meinen Rat beherzigt und bist gleich in den passenden Kleidern gekommen?"
Ophelia riss ihren Blick von dem hypnotischen Schwanken des Unterwasserbildes los. Sie zog sich mit der freien Hand die dick gepackte Tasche von der Schulter.
"Ja, habe ich. Die trockene Kleidung für danach habe ich hier drin. Ich muss nur darauf hinweisen, dass ich seit einiger Zeit eine Perrücke trage, die ich vorher abnehmen muss. Und mein Haar darunter ist anders gefärbt. Nicht, dass mein geändertes Aussehen gleich zu Verwirrung führt..."
Die Kriegerin zog eine Braue in die Höhe, beließ es aber dabei.
"Gut, dann bringe deine Tasche und... das Haar in die Umkleide. Ich warte hier auf Dich."
Sie beeilte sich, von dem Becken fortzukommen. Kurz darauf stellte sie die schwere Tasche auf eine schmale Bank der Gruppenumkleide. Sie löste die Haarnadeln und zog sich vorsichtig die Perrücke herunter, um diese ebenfalls abzulegen. Dann atmete sie tief durch.
'Nun gut... wollen wir hoffen, dass Korporal Golwarts Bastelei lange genug hält.'

Gesprächsfetzen wehten durch ihren Sinn, zusammen mit einem winzigen Stich Schuldgefühls darüber, dass sie den sympathischen Zwerg in diese Sache hineingezogen hatte. Aber an wen sonst hätte sie sich wenden sollen? Und von der Fragwürdigkeit dieses Unternehmens abgesehen, hatte er sich wirklich darüber gefreut, in dieser Art von ihr angesprochen zu werden! Sie hatte sich der Fairness halber dazu gezwungen gesehen, ihn darauf hinzuweisen, dass "Breguyar vermutlich nicht sehr erfreut" über diese Sache wäre, falls er jemals davon erfahren sollte. Seine Reaktion auf diese Eröffnung fiel positiver aus, als erwartet.
"Äh... das ist... ähm, also... schade, natürlich. Hm."
Davon ermutigt, dass er ihr Anliegen dennoch nicht rundheraus ablehnte, beeilte sie sich hinzuzufügen, dass es sich um einen privaten Auftrag handeln würde - wenn er ihn denn überhaupt annehmen wolle. Daraufhin gab es für den Zwerg kein Halten mehr und er stürzte sich mit Feuereifer in die Planungen seiner ersten Auftragsarbeit. Mit ihrer Anfrage dazu, wie viel er ihr denn erwartungsgemäß für den Arbeitsaufwand und das Endstück in Rechnung stellen würde, hielt er sich nicht lange auf. Sie musste ihn beinahe dazu nötigen, sich zumindest die Materialkosten erstatten zu lassen, bevor er sich schon wieder in die Details vertiefte und sie mit Fragen überhäufte, zu denen sie sich bis dahin keinerlei Gedanken gemacht hatte. Wie groß die Schwimmhilfe werden dürfe, wie sie sie zu tarnen gedächte, welche Materialien sie überhaupt nicht mögen würde, über welchen Zeitraum hinweg die Funktion aufrechterhalten werden müsse und vieles mehr. Innerhalb von fünf Minuten hatte er bereits eine Idee gehabt und wollte ganz unprätentiös damit beginnen, bei ihr Maß zu nehmen. Wovon sie ihn glücklicherweise mit dem Hinweis darauf abhalten konnte, dass sie ihre Maße auswendig wisse und sie ihm ansagen könne, so dass er sie nur zu notieren bräuchte.
Es gab während des Gesprächs einen Moment, an dem sie sich weit fort gewünscht hatte. Es stellte sich schnell heraus, dass es schwierig werden könnte, das Gleichgewicht zu wahren, zwischen den beiden Extremen der erhofften Wirkung. Einerseits würde die Gerätschaft ihre Auftriebskraft effektiv genug entfalten müssen, um Ophelia merklich zu unterstützen in dem Bemühen, trotz der schweren Kleiderschichten nicht zu ertrinken. Andererseits würde sie nicht der Art über das Ziel hinausschießen dürfen, dass Ophelia, gleich einem Korken, über ihrem natürlichen Schwerpunkt im Wasser triebe, denn dann wäre ihr misstrauische Aufmerksamkeit gewiss gewesen. Und eine Gefahr, die Ophelia nicht einmal in den Sinn gekommen wäre, ließ Braggasch besonders grübeln.
"Ähm... wir sollten das, was Du dann anziehen willst, vorher aussuchen. Die Schwimmhilfe wird ja schließlich im gefüllten Zustand mehr Raumvolumen benötigen. Wäre nicht so, naja, gut... äh... wenn Du zwar wunderbar an der Oberfläche treibst, es Dich dabei aber... äh... naja...also... quasi zerquetscht, nicht wahr? Irgendwo muss der Druck ja hin... So was Dummes aber auch! Jetzt wäre Rogi als Testperson toll. Sie hatte immer solchen Spaß daran, mit mir an meinen Erfindungen zu arbeiten, um sie zu optimieren."
Er bemerkte zwar nicht ihr Unwohlsein, das Gespräch wandte sich ganz von selbst weiteren technischen Fragen zu. Den Rest des Tages jedoch fiel es ihr schwer, sich wieder auf ihre eigenen Aufgaben zu konzentrieren. Erst recht, da sie von ihrem Büro aus kurz darauf sehr genau mitbekam, mit welchem Eifer der Kollege sich in sein Projekt stürzte. Nach Stunden, in denen sie von nebenan mit dem ennervierenden leisen Qietschen einer wieder und wieder gedrehten Kurbel gequält worden war, kam er sogar einmal verschwitzt und freudestrahlend mit einer Drahtrolle in den Händen herüber, um ihr mit stolzgeschwellter Brust zu zeigen, was für ein hauchfeiner Metalldraht ihm durch einige Modifikationen an einem seiner alten Geräte gelungen war. Auf ihre vorsichtige Nachfrage hin, für welchen Teil der Schwimmhilfe etwas so Delikates denn benötigt würde, sah er sie ungläubig an und antwortete mit dem allergrößten Selbstverständnis: "Für die ganze natürlich? Das wird das Netz, welches komplett durch das Innenteil verlegt werden muss. Wie willst Du sie sonst schnell wieder flach bekommen, wenn Du aus dem Wasser kommst?" Womit er, verwirrt ob ihrer Unkenntnis, wieder zurück in sein nominelles Büro wechselte. Sie war sich ziemlich sicher gewesen, dass er nichts von dem bearbeiten würde, was zu seinen eigentlichen Aufgaben als FROG-Stellvertreter gehören musste. Sie konnte nur hoffen, dass er das Projekt in seinem Eifer nicht an den Kommandeur verriet, falls Breguyar ihm einen seiner Neugierbesuche abstattete.

Ophelia konzentrierte sich wieder auf das Hier und Jetzt.
Sie kontrollierte den Sitz der Bastelei unter ihrem Kleid ein letztes Mal, dann ging sie zu dem Becken zurück, wo ihr die etwas ältere Frau bereits erwartungsvoll entgegen sah.
"Bist Du soweit?"
Sie trat mit dem alten Paar Schuhe nahe an den Beckenrand heran. In dem letzten, unlogischen Bemühen, das Unvermeidliche hinauszuzögern, fragte sie zurück:
"Es ist egal, ob meine Bemühungen koordiniert aussehen, richtig?"
Petunia nickte.
"Ja, ist es. Das einzige, was zählt, ist, dass Du die zehn Minuten durchstehst und Dich über Wasser hälst, ohne um meine Hilfe zu bitten. Wie genau Du das schaffst, ist egal. Leg alle deine Reserven in die Waagschale, hauptsache Du erfüllst die Aufgabe. In der Praxis später würde auch keiner fragen, warum man rumgezappelt hat oder zeitweise länger unter Wasser blieb."
Ophelia lief ein Stück am Becken entlang, scheinbar auf der Suche nach einer geeigneteren Stelle, das Becken zu betreten. In Wirklichkeit stemmte sie jedoch die Hand in die Hüfte und suchte möglichst unauffällig mit den Fingerspitzen in den Lagen ihres Rockes nach dem breiten Schlauchende. Sie fand es und bekam die kurze Metalkante zu fassen. Sie sandte ein kurzes Stoßgebet zu Annoia und zog den Schieber mit einem Ruck auf der gummierten Schlauchöffnung beiseite.
Gleichzeitig stieß sie ein abgrundtiefes Seufzen aus, um das Geräusch des plötzlichen Druckausgleichs zu übertönen, drehte sich mit so viel Schwung zu der Kriegerin um, dass ihre Röcke etwas flogen und fragte laut:
"Soll ich einfach hineinspringen oder lieber vorsichtig hineinsteigen?"
Der Ruck, mit dem der Polsterreif unter ihrer Kleidung sich straffte, als die Luft in ihn hineinschoss, erschrack sie. Trotzdem der Tüftlerkollege ihr die Wirkweise des Hilfsmittel demonstriert hatte. Sie folgte weiter seinen Anweisungen und schob die Klappe heimlich wieder über deren Verschluss. Der Luftreif fühlte sich fest und startbereit an. Ein Funken Hoffnung rührte sich in ihr.
Petunia wies mit der Hand übers Wasser.
"Spring einfach! Ich habe es Dir erklärt, wie es geht. Jetzt probiere es aus."
Es blieb ihr nicht genug Zeit, um Angst zu spüren, denn jede Sekunde des Zögerns hätte eine Entdeckung zur Folge haben können. Sie blickte fest auf das Muster am Beckenboden, hielt sich die Nase zu und sprang hinein.
Das Muster explodierte zu ihren Füßen und sofort darauf gurgelte ihr Körper durch die Fluten hinab, tausende Luftbläschen stiegen um sie her auf und in der Ferne des Beckens sah sie hunderte Seerosenwurzeln durch den trüben Himmel wuchern und ein dichtes Netz senkrechter Linien bilden.
Der Auftrieb setzte unendlich zögerlich ein. Sie begann Wasser zu treten.
Und sie spürte die Panik in sich aufperlen, ebenso wie die Luft, die aus ihrer Kleidung entwich.
Ein schwarzer Schatten huschte am Augenwinkel vorüber und sie zuckte zusammen, was nur dazu führte, dass weitere Luftblasen aus Nase und Mund entwichen.
'Ist das Tier doch entwichen?'
Ein ruckartiger Blick zur Wand des Beckens zeigte ihr jedoch, dass das Gitter fest an seinem Platz gesichert war und der lauernde dunkle Körper dort hinter den Stäben herumschwamm. Sie musste von ihrem ungewohnt schwarzen Haar abgelenkt worden sein.
Sie half mit ihrem rechten Arm nach, indem sie kräftig ausholte, wie um sich in den flüssigen Himmel hinaufzuziehen.
Die Wasseroberfläche brach und sie schnappte nach Luft.
"Sehr gut! Jetzt einfach weitertreten. Das sollte nicht allzu schwer sein. Denke einfach daran, dass dein Körper gar nicht untergehen will. Der schwimmt ganz von alleine, dafür musst Du nichts machen. Es sind bloß die Kleidungsstücke, die hinunter wollen. Das bisschen Stoff wirst Du ja wohl noch tragen können, also los!"
Ophelia sparte sich die Luft, die eine höfliche Antwort und Konversation benötigt hätten, erzwungenermaßen für den Kampf gegen das Element auf.
Oh ja, ihre Kleidung strebte bereits jetzt eindeutig dem Grund entgegen - und gab sich reichlich Mühe, ihre Besitzerin mit sich mit zu ziehen, so viel stand fest.
'Ich hatte verdrängt, wie schnell das geht, wie wenige Sekunden dazu ausreichen, dass der Stoff sich vollsaugt.'
Sie trat mit den Stiefeln, ruderte mit dem Arm und atmete hektisch. Ihr kam der Gedanke, dass die Schwimmhilfe vielleicht nicht ausreichen würde, um den Kopf über Wasser zu halten und sie vielleicht nur Millimeter unter der Oberfläche ertrinken lassen würde. Sie hatten keine Gelegenheit zu einem echten Test gehabt. Braggaschs Plaudereien tauchten ungefragt in ihren Gedanken auf, bei denen er Zahlen und Fakten aufgezählt hatte wie jenen, dass ein durchschnittlicher Menschenkopf etwa sechs Kilo wöge.
Ihre Füße verhedderten sich in den Rocklagen und klebten einen Moment lang zusammen, bevor sie sie wieder auseinander treten konnte. Die wenigen Sekunden genügten, um sie kurz abtauchen zu lassen. Sie kam hustend wieder zum Vorschein und trat noch verzweifelter aus, ohne dass die schmalen Schuhe auf nennenswerten Widerstand getroffen wären und dadurch etwas bewirken hätten können.
Schwester Petunia stand am nahen Beckenrand und redete weiter auf sie ein. Vermutlich wollte sie dadurch beruhigend wirken. Ophelia hatte aber schon früh festgestellt, dass Aufmunterung nicht zu den Dingen zählte, die den Schwestern lagen.
"Ich würde ja sagen, dass Du dich treiben lassen könntest aber ich glaube, deine Alltagskleidung ist dafür ungeeignet. Tja... vielleicht gleicht sich das Fehlen des Kürass nicht - wie angedacht - mit deinem kleinen Nachteil aus, sondern doch schon mit den Röcken? So viele Stofflagen tragen wir hier natürlich nicht. Naja... wird schon klappen. Einfach mehr anstrengen. Ist ja auch schon fast eine Minute rum, bleiben also nur gute neun über..."
'Ich muss mich beruhigen, gleichmäßige Bewegungen, Kräfte einteilen...'
Das theoretische Wissen half nicht viel, wenn einem zugleich immer wieder Wasser in Mund und Nase geriet.
Nach einer Weile verschmolzen Schwester Petunias Kommentare zu einem konstanten Hintergrundgeräusch, während Ophelia spürte, wie ihre Muskeln zu ermüden begannen. Ihr Gesicht geriet immer häufiger unter die Wasserlinie. Die bisher strengstens unter Verschluss gehaltenen Gefühle, sprudelten zu Tage und die nächtelang verdrängten Alptraumbilder forderten gemeinschaftlich die ihnen verweigerte Aufmerksamkeit ein: die Leiche mit dem Loch in der Stirn, deren Blut über den grob gehauenen, felsigen Beckenrand lief und das klare Wasser innerhalb von Sekunden rosig färbte, die glatte Holzstange, die sich ihr immer wieder schmerzhaft in den Körper bohrte, um sie gewaltsam unterzutauchen, die Gewissheit, diesem Becken so oder so keinesfalls wieder lebend zu entsteigen, das schreckliche Gefühl, flüssige Schwere einzuatmen, der schwarze Umriss einer Person, die sie in den letzten Sekunden ihres scheibischen Daseins mit beiden Armen umschloss, an sich zog und fortbrachte...
'Was in aller Götter Namen treibst Du da, Kind?'
Ophelia tauchte wieder auf und gierte nach Luft. Sie registrierte zwar die unerwartete mentale Anwesenheit des alten Vampirs, ignorierte ihn jedoch so gut es ging. Dafür konnte sie gerade keine Aufmerksamkeit erübrigen, er würde sehen müssen, wo er mit seiner uneingeladenen Präsenz bliebe.
Racul las unaufgefordert ihre Gedanken - und fast augenblicklich wurde sie zusätzlich auch von innen heraus überschwemmt. Von einer Welle der Empörung nämlich.
'Ich sollte Dich einsperren lassen! Was glaubst Du eigentlich, was Du damit erreichen wirst? Du wirst ertrinken und mich mit in dein Verderben reißen! Als wenn ich Dir jemals gestattet hätte, Dich einem dermaßen haarsträubenden Unterfangen auszulief...' Er stieß auf die Gedanken rund um das Hilfsmittel unter ihren Kleidungsschichten, was ihn kurzzeitig zu beruhigen schien. Jedoch eilte er nun, völlig frei in seiner gedanklichen Beweglichkeit, zurück in die Anfänge ihrer Erlebnisse der letzten Tage, bis zu dem Zeitpunkt, da sie ihre Entscheidung getroffen und die Weichen gestellt hatte, die sie hierher geführt hatten.
Ein starrer Klumpen kalter Wut ballte sich in ihrem Kopf zusammen, als Raculs Wesen in ihr zu gefrieren schien.
'Sie hat Dich dazu gebracht, Dich gegen die Infragesteller zu wenden?'
Ophelia konnte den Zorn des alten Vampirs ausgerechnet jetzt nicht gebrauchen. Sie hatte genug damit zu tun, sich oben zu halten und nach Luft zu schnappen.
Racul jedoch schien das nur sekundär zu berühren. Stattdessen stieß er auf weitere ihrer Erinnerungen und nun gab es kein Halten mehr.
'Oooh, nein, meine Liebe! Du schuldest ihr nichts! Absolut gar nichts! Wenn sie sich von dir mit einem Messer angreifen lassen will, bitte schön, dann ist das ganz allein ihre persönliche Angelegenheit. Wie es aussieht, hättest Du das nicht einmal alleine über dich gebracht. Wenn Sie dich also für ihre persönlichen Ziele missbraucht und geradezu dazu genötigt hat, sie anzugreifen, dann war das ein unerlaubter Eingriff in dein privates Seelenleben und Sie schuldet im Gegenteil dir etwas! Ihr seid mindestens quitt. Untersteh' dich, auch nur daran zu denken, noch einmal in Ihre Nähe zu geraten! Ich verbiete es dir ausdrücklich!'
Sie ließ ihn wettern, für solchen Unfug hatte sie wahrlich keine Zeit. Und Zeit war es, die immer knapper wurde. Sie wusste nicht, wie lange sie sich schon dieserart mühseelig über Wasser hielt oder wie lange sie noch durchhalten müsste. Sie wusste nur, dass ihr Herzschlag vor Anstrengung raste und die schrecklichen Schmerzen in den Seiten es ihr selbst in den kurzen Momenten, in denen es ihr gelang, den Kopf über Wasser zu bekommen, das Einatmen fast unmöglich machten. Ganz zu schweigen von den Muskeln in den Beinen, die entweder verkrampften oder sich vor lauter Erschöpfung kaum noch regen wollten. Sie würde sinken. Es konnte nicht mehr lange dauern.
'Das kommt nicht in Frage! Also gut, ich werde Dir notgedrungen helfen. Das ist so absurd! Ich, der Schatten von Ankh, schenke einem selbstmörderischen Menschen von meiner Kraft! Das ist, als wenn ich mir ein Haustier angeschafft hätte und es mit dem besten Jahrgang füttern würde. So lächerlich! Bloß gut, dass dies niemals Jemand erfahren wird...'
Was auch immer er tat, beinahe hätte Racul mit seinem Versuch, ihr zu helfen, das Gegenteil bewirkt.
Eine Kraft wie ein elektrischer Schlag durchfuhr sie und drückte ihr den Rest Luft aus der Lunge. Ihr Körper reagierte auf die fremde Macht innerhalb des Systems mit einer Starre, die keinen noch so winzigen Muskel ausließ. Sie schwebte bewegungslos inmitten des Beckens und Kleidung und Haar lösten sich aus dem Sog der vorangegangenen Bewegungen und stiegen allmählich auf. Ebenso wie sie selbst.
Sie blinzelte dem heller werdenden Licht entgegen. Die Muskeln in ihren Fingern zuckten.
Der Druck auf die Lunge nahm von Sekunde zu Sekunde zu und erinnerte unnachgiebig daran, dass sie wirklich Luft holen musste. Jetzt!
Und dann fiel die Starre mit einem Schlag von ihr ab. Sie zögerte nicht länger, sondern folgte der begonnenen Bewegungsrichtung, stieß sich mit neuem Schwung in die Höhe. Sie erreichte die Oberfläche und jappste nach Luft.
"Meine Güte, diesmal dachte ich wirklich, ich müsste Dir gleich hinterherspringen. Etwas mehr Ernst bitte! Noch drei Minuten, das ist locker zu schaffen!"
Sie trat mit einer Vehemenz gegen das Wasser an, die sie sich eben noch nicht zugetraut hätte. Ihre Muskeln schienen zu allem bereit, von Müdigkeit fehlte nunmehr jede Spur. Sie würde die Ordensschwester nicht um Hilfe bitten müssen, denn sie könnte vermutlich ewig so weitermachen. Raculs Eingriff würde den Erfolg dieser Aufgabe sichern.
'Ich werde den Test bestehen. Ich werde den Beweis dafür in den Händen halten und ihn Araghast auf den Schreibtisch legen. Und dann kann er nicht mehr nein sagen...'
Sie rang sich dazu durch, Raculs Anwesenheit zu akzeptieren und seine Hilfe zu honorieren.
'Danke!'
Seine Antwort bestand in einem beleidigten Schweigen.
Etwas Zeit verging, während der sie nicht nachließ, gegen den Sog hinab anzukämpfen und Schwester Petunias wenig hilfreiche Bemerkungen auszublenden.
"...na, wer sagt es denn. Ich wusste doch, dass mehr in Dir steckt... noch eine Minute..."
Raculs mächtiges Bewusstsein regte sich, mit einem grollenden Seufzer, einem missgestimmten Beben gleich.
'Du bestehst also trotz meines Verbots darauf, in dieser Sache weiterzumachen?'
Ophelia wäre diesem Gespräch liebend gern aus dem Wege gegangen. Was ihr aber nicht möglich war. Fast verbissen antwortete sie ihm daher:
'Ja. Ich sehe das als unausweichlich und notwendig an. Ich werde mich nicht umstimmen lassen. Und was Verbote deinerseits angeht... es wäre klüger, Herr, wenn Du dir diesen Gedanken ganz schnell abgewöhnen würdest.'
Sein Konter schmeckte bitter in ihrem Sinn.
'Dir ist schon bewusst, dass Sie dir diese Flausen in den Kopf gesetzt hat? Du bewegst dich im Gleichklang zu einer von Ihr vorgegebenen Choreographie - willst meinen Rat jedoch nicht annehmen?'
'Keiner von Euch meint es wirklich gut mit mir. Wie Du ganz genau weißt. Für dich bin ich ein lästiges Ärgernis, für Sie ein Mittel zum Zweck. Ich vertraue Ihr genauso wenig, wie Du es tust. Aber die Ziele Ayami Vetinaris decken sich derzeit mit den meinen, so dass sie mich einen Teil des Weges über begleiten darf. Mehr nicht. Meine Entscheidung, mein Risiko.'
Seine Gedanken nahmen eine spöttische Färbung an, durchsetzt mit Verachtung und deutlicher Beunruhigung.
'Wohl kaum! Sie wird es sein, die ab jetzt entscheidet, wann sich Eure Wege wieder trennen werden. Und es würde mich nicht wundern, wenn dein so genanntes Risiko zu meinen Lasten ginge...'
Vom Beckenrand erklang die erfreute Stimme der Rhododendra-Kriegerin.
"Hervorragend! Du hast es geschafft!"
Ophelia mühte sich, zum Rand zurück zu gelangen. Nach einem kurzen Moment des Verschnaufens, bei dem sie lediglich ihren Kopf über den Rand legte und sich an der gekachelten Steineinfassung des Beckens festhielt, ließ sie noch einmal los und tastete unter Wasser erst nach dem Metallschieber, um ihn wieder zu öffnen, dann nach dem kleinen umdrahteten Holzknopf, der ebenfalls an ihrer Hüfte verborgen nur darauf wartete, gezogen zu werden.
Sie bekam ihn im Rücken zu fassen, zog ihn mit einem Ruck vor, an ihre Seite und stopfte den Knopf mitsamt des angeleinten Drahtes noch in der selben Bewegung unter den Rockbund.
Der Draht, der in ihrer Kleidung verschwand, war dort in mehrere Schlaufen gelegt, immer wieder von winzigen Rollen umgelegt. Er löste flaschenzugartig mehrere Verkürzungen in den abzweigenden Drähten der Schwimmhilfe aus, so dass diese sich mit einem Ruck zusammenzogen und die Luft aus dem breiten Reif quetschten.
Die heimliche Luftreserve blubberte und sprotzte zwischen dem Beckenwand und ihrem Körper empor und Ophelia tat erschrocken so, als wenn ihr Gesicht dem Wasser zu nahe geraten wäre und sie vor lauter Erschöpfung dort hineingeatmet hätte. Sie hustete blinzelnd und griff nach der Kante, um sich hinaufzuziehen.
Schwester Petunia war allerdings viel zu abgelenkt von ihrer eigenen Begeisterung, um irgendwas mitzubekommen. Sie schien außerordentlich zufrieden mit ihr, denn sie ließ sich sogar dazu herab, ihr heraus und aufzuhelfen.
"Sehr gut! Siehst Du, es war doch gar nicht so schlimm, nicht wahr? Nun bist Du gewiss sehr zufrieden?"
Ophelia sah prüfend an sich herab. Ihre Röcke klebten in dichten Falten an ihren Beinen. Von der Schwimmhilfe war trotzdem nicht einmal die Kontur zu sehen.
Sie nickte erleichtert.
"Ja, das bin ich."

~~~ Plan A ~~~


Das Klopfen an seiner Bürotür ließ ihn alarmiert aufblicken.
'Ophelia? Welche Katastrophe bahnt sich nun schon wieder an, dass ausgerechnet sie mit mir reden will?'
"Komm rein!"
Er lehnte sich mit unleugbarer Anspannung zurück, während sie in einer Kombination von Türöffnen, Knicksen und hinter sich Türschließen vor seinen Schreibtisch trat. Sie sah ihn dabei nicht direkt an, wie ihm auffiel.
"Sör, hast Du einen Moment Zeit?"
Er deutete auf den freien Stuhl.
Sie setzte sich, ihre Aufmerksamkeit scheinbar voll von dem einfach gefalteten Blatt in ihrer Hand vereinnahmt.
"Worum geht's, Feldwebel?"
Sie atmete tief ein.
"Bei unserem letzten Gespräch hattest Du mir - zu Recht - vorgeworfen, Informationen zurückzuhalten, die für Dich von Interesse sein könnten." Er wollte schon aufbegehren, doch sie hielt ihn mit einer zaghaften Geste davon ab und fuhr fort: "Es tut mir leid, Sör! Und es wird gewiss nicht wieder vorkommen. Der Zeitpunkt war sehr ungünstig gewählt gewesen und... nun ja, ich denke, dass er jetzt besser sein dürfte. Hoffentlich! Ich möchte keine Geheimnisse mehr vor Dir haben, Sör, umso erleichterter bin ich, dieses aufdecken und mich einfach nur noch deinem Urteil stellen zu müssen."
Sie beugte sich leicht vor, entfaltete den Zettel und legte diesen vor ihm auf der Schreibtischfläche ab. Mitten auf die Akte, die er als letztes gelesen hatte.
Der kurze Text war mit gestochen scharfer Feder zu Papier gebracht worden und unterhalb mit offiziellen Insignien versehen. Er brauchte einen Moment, um das Löwenzahn-Wappen zuzuordnen. Er überflog den Inhalt und sah sofort zu ihr auf.
'Sie hat den Test absolviert und bestanden?'
Ophelia hielt ihren Blick noch immer gesenkt.
Und plötzlich war ihm klar, was das Schreiben und ihr Vorsprechen mit selbigem wirklich zu bedeuten haben mussten. Er erinnerte sich daran, welchen Stellenwert er selber diesem Test beigemessen hatte. Und warum!
Er atmete scharf ein.
"Du setzt mir also die gespannte Waffe auf die Brust, während Du die Dreistigkeit besitzt, gleichzeitig über Vertrauen zu philosophieren?"
Immerhin hatte sie noch genug Schamgefühl, um prompt zu erröten. Sonst regte sie sich jedoch nicht.
Araghast stützte seine Ellenbogen auf der Tischplatte ab und verschanzte sich hinter den an den Fingerspitzen zusammengelegten Händen.
"Also gut... sprich Dich aus! Ich werde zuhören und dann eine Entscheidung treffen. Ich hatte Dir mitgeteilt, dass ich Dich für solch einen Einsatz noch nicht wieder als gefestigt genug einschätzen würde. Du hingegen scheinst Dich absichtlich über meinen Rat und Willen hinwegzusetzen. Warum sollte ich dieses strategische Tauziehen nicht entsprechend quittieren und Dich hochkant aus meinem Büro werfen, Feldwebel?"
Sie sprach mit gesenktem Kopf und so leise, als wenn sie ein Selbstgespräch führen würde.
"Weil Du ebensogut weißt, dass die Wache etwas in dieser Sache unternehmen muss, Sör, ob es nun zeitlich gerade gelegen kommt oder nicht. Weil Du selbst gesagt hast, dass ich die richtige Wahl für diesen Einsatz wäre. Und..."
Sie zögerte merklich und einer seiner Sinne warnte ihn davor, dass ihm die große Überraschung erst noch bevorstünde.
"Weil... ich den Kontakt zur fraglichen Organisation bereits herstellen konnte und nun kurz davor stehe, den Hintermännern der höheren Ebenen vorgestellt zu werden. Und da wäre es äußerst ungünstig, wenn mir aufgrund täglicher Verpflichtungen hier im Hauptgebäude, allzuleicht ein direkter Bezug zur Wache nachgewiesen werden könnte."
Araghast starrte sie über seine Fingerspitzen hinweg an. Verletzter Stolz, weil sie seine Anweisungen ignorierte, hielt sich die Waage mit Verblüffung und schlimmen Ahnungen.
"Du hast... wie ist Dir das gelungen?"
Dass sie ihm noch immer mit ihrem Blick auswich, begann ihn allmählich zu nerven. Doch noch ließ er diesen Umstand unkommentiert.
Denn wollte er wirklich, dass sie ihn ansah? Wenn sie selbst seine direkte Aufmerksamkeit mied, dann konnte er gewiss davon ausgehen, dass sie Ähnliches befürchtete, wie er. Und darauf war er nicht erpicht!
"Ich hatte mir vorgenommen, einen Zugang zur HIRN zu finden. Da die Organisation sich aus vormals Unbeteiligten rekrutiert, wenn wir das richtig verstehen, konnte es meiner Meinung nach nicht allzu schwer sein, gewisse Parameter dafür zu erfüllen und dann, wenn es mir gelänge, an den einschlägigen Orten präsent zu sein, irgendwann den 'richtigen' Leuten über den Weg zu laufen. Ich suchte also nach Anhaltspunkten dazu, wo es am wahrscheinlichsten wäre, ihren Mitgliedern zu begegnen. Ich war nicht Willens, mehrere Monate auf einen Kontakt zu warten, sondern wollte die Prozedur deutlich beschleunigen. Von den Joram-Brüdern wussten wir mit Sicherheit, dass sie in direktem Dialog mit der HIRN standen, also nahm ich mir Sebastian Jorams Verhörprotokoll, beziehungsweise sein Geständnis, nochmals genauer vor und sichtete seine Aussage dahingehend, ob mögliche Treffpunkte eine Erwähnung fanden. Viele der aufgeführten Absprachen fanden tatsächlich in Bars und Cafés statt, also relativ öffentlich. Ich konnte aber keine bevorzugte Lokalität ausmachen. Ich legte mir daher eine passende Tarnidentität zu, sorgte für möglichst sichere Hintergrunddaten, indem ich schnell wechselnde Wohnsitze bezog... Ich nahm auch diverse Anstellungen an. Ich nutzte jede freie Minute dazu, die annähernd in Frage kommenden, eher zentral gelegenen Kaffeehäuser dies- und jenseits des Ankhs in unstetem Turnus aufzusuchen und mich dort jeweils typisch ins Bewusstsein zu bringen. Soll heißen, unangenehm spezizistisch aufzufallen. Und dann... wartete ich im Grunde."
Er legte beide Hände flach vor sich auf dem Schreibtisch ab. Seine gesamte Haltung war angespannt.
"Ich bin ganz sicher kein Kontrollfanatiker aber das wäre mir doch aufgefallen! Du hast über einen längeren Zeitraum hinweg verdeckt in der Öffentlichkeit ermittelt, andernorts gearbeitet und bist zwischen verschiedenen Wohnungen gependelt? Ich weiß, dass Du in der ganzen Zeit hier im Wachhaus warst und deinen Aufgaben nachgekommen bist. Ich habe Dich gesehen! Deine Protokollanmerkungen, Kopien deiner Anschreiben und die Unterlagen, die Du für Romulus gesichtet hast, deine Kürzel und handschriftlichen Hinweise, alles das ist jeden Tag über meinen Tisch gewandert. Wie also willst Du das gemacht haben, hm?"
Ihr Augenmerk wanderte seitlich weg, als sie ihm ihr Vorgehen mit leiser Stimme näher erläuterte. Und dabei unbeabsichtigt ihre tiefe Erschöpfung zeigte.
"Ich habe meine Mittagspausen dazu genutzt, die Straßenlokale in der Nähe aufzusuchen. Ich habe in der letzten Zeit häufiger in den frühen, anstatt erst wie sonst üblich in den späten Abendstunden, Feierabend gemacht und mich dann entweder auf neue Wohnungen oder neue Arbeitsstellen für die Nachtstunden beworben. Ich... ich habe nicht viel Schlaf bekommen aber das muss ich mir natürlich selbst zuschreiben. Und das war es mir allemal wert, Sör. Meine tägliche Arbeit für die Wache hat nicht darunter gelitten, das versichere ich Dir."
Er konnte nicht umhin, als dass sich Bewunderung in seine Haltung ihr gegenüber einschlich. Sein Blick glitt über ihren geschienten Arm.
"Nachtarbeiten also? Als was?"
Sie schlug die Augen nieder.
"Dieses und Jenes. Reinigungskraft bei der Bäckergilde, Aushilfe im Klatschianischen Imbiss, Kleinteil-Sortiererin in einer Zwergenwerkstatt... derzeit arbeite ich nachts auf Gimletts Rattenfarm, am Stadtrand. Es braucht kein besonderes Geschick, die aufgespießten Tierkadaver zur Weiterverarbeitung für diese neuen Knusperröllchen mit einem Schachtmesser auszunehmen und deren Behaarung abzubrennen. Nur einen starken Magen. Den man sich antrainieren kann. Und um am Ende der Schicht die Innereien in den köchelnden Restezuber zu werfen, aus dem der berüchtigte Zwergengulasch hergestellt wird, braucht man für die kleine Schaufel auch nur eine Hand."
Sie zuckte mit der Schulter.
Der ehemalige Pirat konnte es sich nur zu gut vorstellen.
'Das ist keine Arbeit für eine Dame wie sie...' Der Gedanke war schneller in seinem Kopf aufgetaucht, als er ihn verhindern konnte und sofort kehrte seine Verärgerung über sie zurück. 'Sie hat sich das selber zuzuschreiben! Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte sie nicht mal die Chance dazu bekommen, sich diesem Schlachthaus auch nur zu nähern!'
Er ließ sie nicht aus dem Blick, als er die zweite, ebenso wichtige Frage stellte:
"Du hast gesagt, Du legtest Dir eine 'passende Tarnidentität' zu. Darf man erfahren, was Du dafür an Land gezogen hast?"
Ihre Augen ruckten instinktiv zu ihm hin und für einen Moment war er sich sicher, dass sie ihre Vorsicht fahren lassen und zu ihm aufsehen würde. Doch dann hielt sie mitten im Reflex inne und strich sich stattdessen mit der freien Hand in einer Verlegenheitsgeste über die Stirn.
"Mir war klar, dass für einen Einsatz bei der HIRN vor allem eine sehr einseitige Sichtweise bezüglich kultureller Lebensvielfalt gefragt sein würde. Das zu schauspielern, traute ich mir zu. Um aber auch an die Hintermänner heranzukommen, bedarf es wohl mehr. Mein gelähmter Arm und die Narbe sind natürlich ein Vorteil, in diesem Fall, sozusagen das Ass im Ärmel. Selbst wenn wir es versuchen wollten, solche Dinge zu fingieren, sie könnten gar nicht besser gelingen. Aber genau deswegen brauchte ich eine glaubwürdige Hintergrundgeschichte, die nicht nur zu den äußerlichen Zeichen passen, sondern zumindest ansatzweise nachprüfbar sein musste. Ich... vor etwa zwei Monaten sprach eine junge Frau im Wachhaus vor..." Ophelia fasste ihm den Vorfall in wenigen Worten zusammen, ehe sie mit den Worten schloss: "Frau Ligand hatte eine Zeit lang mit ihrer Genesung zu tun, die obendrein ihre gesamte restliche Barschaft aufzehrte." Ihre Stimme klang eindeutig bedauernd. "Ich musste ihr leider mitteilen, dass sie sich mit ihrer Forderung nach Aufklärung und Vergeltung an den Palast wenden müsse, da wir als Stadtwache für die Verbrechen, die vor den Toren begangen werden, nicht zuständig seien. Dass uns die Hände gebunden sind."
Er konnte sich denken, wie nahe ihr dieses Gespräch damals gegangen sein musste. Das hielt ihn aber nicht davon ab, weiter nachzubohren.
"Und da dachtest Du dir, das käme wunderbar zu Pass. Und hast der armen Frau auch noch gleich ihre Identität gestohlen, als es sich so anbot?"
Sie legte den Kopf leicht schräg und antwortete:
"Sie hat die Stadt direkt im Anschluss an unser Gespräch verlassen, Sör. Sie sagte, es gäbe hier nichts mehr, was sie halten würde und auch wenn ihre Familie sie verachte, die omnianische Pflicht, den gläubigen Verwandten in Not beizustehen, würde dazu beitragen, dass sie dort zumindest wieder ein Dach über dem Kopf hätte. Es besteht also keinerlei Gefahr, dass sie direkt in diese Sache hineingezogen werden könnte, Sör."
"Was, wenn die HIRN Nachforschungen anstellt und es zu Widersprüchen in euren Beschreibungen kommt?"
"Das wird es nicht, Sör."
Er musste fast lachen, so unwahrscheinlich klang der Gedanke.
"Du willst mir weismachen, dass Frau Ligand ausgerechnet Dir ähnlich sieht? Schlank, mit einem gelähmten Arm und auffallend rotem, langem Haar? Das scheint mir zuviel des Zufalls zu sein."
Sie schüttelte leicht den Kopf und antwortete:
"Nein, das wäre es wirklich. Nicht sie sieht mir ähnlich. Sondern ich ihr: schlank... mit einer verheilten aber vormals 'schweren' Verletzung durch einen Vampirangriff... und... mit schwarzem Haar."
Bei diesen Worten sah sie endlich auf und begegnete seinem Blick.
Der scharfe Kopfschmerz zuckte intensiv durch seinen Sinn, bevor er diesmal schnell wieder verebbte. Die zusätzliche Kommunikationsebene setzte - wie insgeheim befürchtet - nahtlos ein. Ihre Stimme in seinen Gedanken klang erschreckend müde.
'Nicht meine Tarnidentität ist die Verkleidung, die durchschaut werden könnte. Sondern meine Rolle als unveränderte Kollegin...'
Laut sagte sie:
"Ich trage seit einiger Zeit mein eigenes Haar als Perrücke, Sör. Das ergab sich schon aus der Problematik, als... nunmehr alleinstehende Frau zur Miete nicht mehr über die Handreichungen eines Dienstmädchens verfügen zu können - und gleichzeitig nur eingeschränkt handlungsfähig zu sein, wenn es um das aufwändigere Frisieren ging. Als Theridae trage ich zudem Trauer. Die Gesamtwirkung ist eine völlig andere und recht überzeugend. Ich muss sogar einräumen, dass Schlaflosigkeit und... andere Einflüsse zur Glaubwürdigkeit meines Auftretens beigetragen haben."
Der Kommandeur kniff sein Auge zusammen und versuchte, den Wahrheitsgehalt ihrer Worte einzuschätzen. Seine Vorstellungskraft versagte dabei jedoch, zumal er nicht einmal einen Ansatz der angeblich falschen Haartracht erkennen konnte.
'Würde zwar Roms Erzählung stützen aber... ich sehe nichts davon, das kann nicht wahr sein.'
Ophelias Gedanken spiegelten umgehend die seinen.
'Er glaubt mir nicht. Ich muss es ihm demonstrieren.'
Sie hob ihre Hand an den Kopf und begann mit spitzen Fingern, einige gut versteckte Haarnadeln herauszuziehen und diese auf der Schreibtischfläche abzulegen.
'...Nummer acht, neun... na, wo ist die letzte? Ah, hier. Nummer zehn. Ich hätte lieber darauf verzichtet. Es ist immer so mühsam, sie wieder aufzusetzen. Aber wenn das dazu beiträgt, ihn zu überzeugen...'
Verbal verkniff er sich jeden Kommentar. Gedanklich hingegen war dies nicht so einfach. Er war einfach zu sehr daran gewöhnt, zumindest dort kein Blatt vor den Mund zu nehmen.
'Mich wovon zu überzeugen? Von deiner Sturheit?'
Sie zuckte in Reaktion zusammen, so dass ihr die letzte Nadel sogar unbeabsichtigt entglitt und zu den übrigen fiel. Ihr Blick streifte ihn hastig und ihre Gedanken bekamen eine defensivere Färbung, während sie die Hand tief ins Haar grub und dieses, mit schräg gelegtem Kopf, vorsichtig herunter zog.
Ein tiefschwarzer Kurzhaarschnitt kam zum Vorschein.
Sie schüttelte den Schopf und das Haar flog um sie her, ehe es sich in eine fast trotzig wirkende, sehr moderne Frisur legte.
Ophelia sah ihn nahezu emotionslos an.
Und dann wurde er stummer Zeuge dessen, was in der Ermittlerin vor sich ging, wenn sie in eine fremde Identität schlüpfte.
'Er sieht nur mich... seine Kollegin. Er wird mir solange nicht glauben, dass ich gut genug für diesen Dschob bin, solange er Ophelia sieht, anstelle von Theridae. Er muss sie sehen.'
Ihre Körperhaltung veränderte sich, ebenso wie ihre Mimik. Beides jedoch in so winzigen Details, dass er sie kaum hätte bennenen können, wenn man ihn dazu aufgefordert hätte.
Ihre Schultern sanken leicht vor, ihre Stirn wandte sich eher dem Boden entgegen, ihre Brauen rückten näher aneinander und zusätzliche Falten ließen ihr Gesicht altern. Ihre Mundwinkel wirkten strenger, ihre Handgelenke und Finger dadurch dünner, dass deren Sehnen angespannt waren, als wenn sie plötzlich von Etwas angetrieben würde, das sie unruhig machte und wie auf dem Sprung wirken ließ. Das kurz geschnittene Haar fiel ihr in aberwitzigen Strähnen ins Gesicht und ihre sonst so mitfühlenden Augen wirkten auf einmal... spöttisch?
Aber das alles war nichts, im Vergleich zu den inneren Verlagerungen!
Es schien ihm, als wenn die Raumtemperatur sank.
'Ich bin Theridae Ligand. Ophelia tritt in den Hintergrund und schließt die Augen, sie ist fort. Theridae tritt jetzt an ihre Stelle. Theridae ist ich - ich bin Theridae. Ich bin jung und stark. Mein Lebenstraum war die große Stadt. Mein Traum wurde zerstört, meine Liebe von diesen blutsaugenden Bastarden ermordet. Aber ich lebe. Ich bin Zorn. Ich bin Rache. Ich denke nicht über meinen Verlust nach, das wäre zu schrecklich. Ich kann nicht zurück, weil sie uns verstoßen haben. Ich bin allein in dieser Stadt, die mit ihrem glitzernden Schein trügt. Ich kann niemandem vertrauen. Die Vampire sind überall. Sie sind lächelnde Mörder, Zeitbomben. Tiere, denen ich niemals den Rücken zuwenden darf. Ich habe mich dazu entschieden, zu überleben. Ich habe Waffen! Wenn ich sie jemals wiedersehe, werde ich sie umbringen...'
Die junge Frau ihm gegenüber hob ihr Kinn und sah ihn herausfordernd an.
"Glaubst Du mir jetzt, dass sie keine Widersprüche in den Aussagen finden würden? Die Wächterin und ich, wir haben so gut wie nichts gemeinsam."
Der Kommandeur lehnte sich zurück.
'Unheimlich! Als wenn ihre merkwürdige Gabe nicht schon schlimm genug gewesen wäre, jetzt auch noch das. Zu einem anderen Zeitpunkt und aus anderem Anlass heraus, wäre es vielleicht sogar ganz spannend, einen so unmittelbaren Einblick in die Püsche eines Verdeckten Ermittlers zu bekommen. Aber jetzt gerade... sei's drum! Es ändert nichts.'
"Du irrst Dich, wenn Du denkst, dieses Theater könne mich versöhnlicher stimmen, Ophelia."
'Da hab' ich schon ganz andere Dinge gesehen...'
Die Rolle kippte, die unzähligen Hinweise auf Theridae Ligand in ihrer Gestik und Mimik lösten sich in Luft auf. Die Verdeckte Ermittlerin blinzelte irritiert.
Araghast nutzte den Moment, um seinem Unmut Luft zu machen.
"Gleichgültig, was Du ins Felde führst. Du hast mich hintergangen. Du hast auf eigene Faust ermittelt, ohne Rückendeckung durch deine Kollegen. Du kommst erst jetzt zu mir, da dies unumgänglich wird. Das was Du vorhast, ist ein Großeinsatz. Woher soll ich die Leute dafür nehmen? Von wo soll ich sie abziehen? Hast Du dir darüber schon mal Gedanken gemacht? Wie soll ich Dich unterstützen? Der Patrizier wird mir die Hölle heiß machen, wenn er davon erfährt, dass ich eine einzige Person gegen die Infragesteller ins Felde führe! Was, wenn das schief geht? Was, wenn sie dir auf die Schliche kommen, jetzt wo Du deine Gedanken so freimütig teilst? Oder wenn dich irgendwer doch von einem früheren Kontakt mit der Wache wiedererkennt? Wer trägt dann die Verantwortung für eventuelle Vergeltungsmaßnahmen seitens der HIRN?"
Ophelias sanftes Gemüt wirkte, im direkten Kontrast zu der soeben erlebten Tarnidentität, noch verletzlicher als sonst. Sie blickte ihn unschuldig an. Gleichzeitig unterwanderte die innere Stimme der Wächterin die angedachte Wirkung ihres Gesichtsausdrucks.
'Er muss einfach zustimmen. Alles andere wäre eine Verschwendung von Ressourcen. Und er ist ein guter Planer. Am besten lasse ich ihn einfach reden. Wenn er sich zu Ende aufgeregt hat, wird er es schon einsehen, dass ich Recht habe und wir es weiter so handhaben sollten, wie ich es für richtig halte.'
Sie sahen einander an und Ophelia registrierte erst verzögert, dass er auch diesen Gedanken wohl gehört haben musste.
Araghast knirschte mit den Zähnen.
"Ich verstehe. Es gibt also noch nicht einmal einen Plan B. Wenn das so ist..." Er zeigte zur Tür. "...viel Spaß! Lass dich umbringen! Aber denke nicht, dass die FROG dich wieder retten und den Karren für dich aus dem Dreck ziehen werden."

~~~ Sofort! ~~~


Havelocks Anwesenheit war ausgesprochen ermüdend. Gerne hätte sie ihn kommentarlos hier sitzen lassen, um stattdessen den angrenzenden Raum und das dort bereitstehende Bett aufzusuchen. Die Höflichkeit jedoch gebot es, ihm zumindest einmal während ihres Aufenthaltes in der Stadt eine informelle Audienz zu gewähren. Immerhin war er Blut von ihrem Blut und dieser Moloch von einer Ortschaft sein Revier. Mehr oder weniger.
'Wobei man im Gegensatz ihm sehr wohl einen Mangel an Höflichkeit zuschreiben könnte. Früher Nachmittag! Er hätte alternativ auch einen geeigneteren Zeitpunkt auswählen und in seine Ankündigungskarte direkt hinein schreiben können, dass ihm meine Haltung in der leidigen Liga-Angelegenheit missfällt.'
Wenigstens wirkte er in dem dick gepolsterten Brokatsessel ihr gegenüber, in welchem er beinahe zu versinken schien, nicht ganz glücklich.
Soeben vollendete der silberne Knauf seines aufgestellten Spazierstockes neben ihm eine weitere Drehung.
Havelock wirkte ruhig und beherrscht. Doch seine übliche Leichtigkeit, die er in zufriedeneren Momenten an den Tag zu legen pflegte, ging ihm ab. Er beobachtete sie sehr genau.
"Du willst also noch immer nicht mit Dir darüber reden lassen?"
"Ich bin dieses Thema leid, Havelock. Entweder Du hast deine Stadt im Griff. Oder nicht. Dann erübrigt sich diese Anfrage."
"Ich habe niemals behauptet, dass Ankh-Morpork meine Stadt sei."
"Du hast es aber auch nicht bestritten." Sie gestattete sich ein Seufzen. "Ich sehe keinen Sinn darin, meine Mittel weiter aufzusplitten."
"Der Posten wäre nominell, das weißt Du. Es würde genügen, Dich sehr vereinzelt sehen zu lassen und die Geschäfte sonst über den langen Draht zu regeln. Mit den modernen Errungenschaften ist so etwas heute kein Problem mehr."
"Und Du weißt, dass dies eine Illusion ist. Letztendlich läuft es immer darauf hinaus, Präsenz zu zeigen. Nein, deine Regeln sind nicht die meinen. Was man schon allein daran sehen dürfte, dass ich mich niemals in diese blasse Idee des Gleichgewichts der Kräfte verrennen würde, wie Du sie mit deiner Herzensdame inzwischen zelebrierst. Wie geht es ihr eigentlich?"
"Seit wann schenkt die 'Königin der Nacht' unbestätigten Gerüchten Glauben?"
Sie ließ sich zu einem milden Lächeln herab.
"Daten wandeln sich in dem Moment von Gerüchten, zu Informationen, sobald sie die Schwelle meines Nachrichtenapparates überwinden und dennoch Substanz beibehalten. Ich darf mich darüber erfreut zeigen, ein recht effizientes Beziehungsnetzwerk zu betreiben und die Überzeugung zu hegen, dass nicht einem meiner Bekannten daran gelegen sein kann, mich mit Ungenauigkeiten und fehlerhaften Details zu langweilen. Die zweite Partie dieses Jahr, im einunddreißigsten Zug? Pass gut auf deinen nächsten auf, würde ich sagen."
Seine dunklen Augen ruhten gelassen auf ihr, während sich eine seiner Brauen elegant in die Höhe schwang.
"So viel Interesse? An einem Spiel? Andererseits... man konnte zuletzt den Eindruck gewinnen, dass Du es nicht müde wirst, Risiken einzugehen und wechselnde Strategien zu testen. Wobei dein Augenmerk sich scheinbar von der großen Bühne fort- und dem Puppentheater zuwendet..."
Natürlich konnte ihm der Vorfall in 'seiner' Wache nicht entgangen sein. Vielleicht spielte er aber auch auf die dramatische Schmierenkomödie zur Blumenschau an? Das reine Wissen um die Vorkommnisse allein, hätte sie an seiner Stelle ebenso wenig zum Eingreifen veranlasst. Solange das Gesamtkonglomerat funktionstüchtig blieb...
Seine Hand hing locker über die Lehne und der Stock darin vollendete die nächste Umdrehung des Knaufs.
Ayami bemerkte, wie sich ihre Geduld allmählich erschöpfte.
"Havelock, nimm es mir bitte nicht übel aber der Zeitpunkt ist nicht unbedingt der günstigste, um über deine amourösen Neigungen zu plaudern. Oder diesem Thema auf tausend verschiedenen Wegen auszuweichen. Wenn Du gestattest, werde ich mich jetzt zurückziehen. Du kannst dich natürlich gerne noch an den vorzüglichen Mandelplätzchen dort bedienen, die der Hoteldirektor liebenswürdigerweise immer bereit stellt oder Dich mit Philipp unterhalten. Allerdings auch nur, falls diesem der Sinn nach einer Unterhaltung mit Dir steht."
Sie erhob sich von der Chaiselonge und legte ihre Hände locker ineinander, so dass sie beinahe den Eindruck vermittelte, sich mit der angedeuteten Höflichkeitsgeste der Achatenen von ihrem Gast verabschieden zu wollen.
Ihr Ur-Enkel erhob sich ebenfalls erstaunlich grazil aus dem heimtückischen Möbel, bis er in der enganliegenden, schlicht schwarzen Amtsrobe wie der Inbegriff der Obrigkeit dieser Stadt vor ihr stand.
"Es wäre überaus freundlich von Dir, Ayami, wenn Du mich auf dem Laufenden halten könntest, was diese Geschichte mit den Infragestellern anbetrifft..."
Nun war es an ihr, die Braue nichtssagend in die Höhe zu ziehen und ihm doppeldeutig zu antworten.
"Du wirst es erfahren."
Er schien kurz darüber nachzudenken, bevor er langsam nickte.
"Ja, das werde ich."
Der Sekretär hinter ihrem Ur-Enkel löste sich aus seiner starren Haltung. Als Havelock sich von ihr abwandte, hielt Rufus Drumknott ihm bereits die Tür auf.
Ihr eigener steter Begleiter und dessen Anspannung verschwanden endlich hinter ihrem Rücken, als Philipp den Besuchern zur Eingangstür der Suite folgte, um sie hinaus zu geleiten.
Ayami schloss erleichtert die Augen und massierte sich die Schläfen.
'Gesellschaftliche Konventionen! Ich kann noch so alt werden, ich werde ihnen niemals völlig entkommen können...'
Vor der geöffneten Tür ihrer Hotelunterkunft verzögerte sich Havelocks Abgang scheinbar um einige Sekunden, da sein Weg den einer Passantin auf dem Flur kreuzte. Sie grüßten einander in distanzierter Höflichkeit, wie es Fremde gewöhnlich taten, von denen einer unzweifelhaft als der Herrscher der Stadt wiederzuerkennen war, dessen Konterfei selbst die Münzen und Briefmarken hier zierte und von denen der andere ein unbedeutender Bürger war, dem es dabei nahezu die Sprache verschlug.
Dann war der Junge endlich fort.
"Philipp, würdest Du dann jetzt bitte auch in den vorderen Räumen für eine anständige Verdunkelung sorgen?"
"Sofort, Majestät... Verzeihung! Kann ich Dir weiterhelfen?"
Eine Wärmewelle flutete ihr entgegen und umspülte sie mit erfreuten, besorgten und aufmerksamen Empfindungen, ohne die geringste Rücksichtnahme vor ihrer Privatsphäre zu zeigen oder ihre natürlichen Abwehrwälle auch nur ansatzweise in Rechnung zu stellen.
"Ich wollte gern bei Ihrer Ladyschaft vorsprechen. Ich hatte meinen Besuch, gewissermaßen bei unserem letzten Treffen schon, am Mengensee, im Voraus angekündigt und da die Gelegenheit sich jetzt gerade ergab, dachte ich mir, dass es einen Versuch wert wäre. Bevor es mir in den nächsten Tagen voraussichtlich nicht mehr so ohne Weiteres möglich sein wird, sie aufzusuchen."
'...ah, da ist Sie ja. Ich sehe Sie...'
Ayami schlug die Augen auf, als ihr Bediensteter sich soeben mit einem fragenden Ausdruck auf dem Gesicht zu ihr umwandte.
Die Wächterin blickte ihr erwartungsvoll durch die offen stehende Tür entgegen.
'...es scheint Ihr gut zu gehen, dann hat sie die Wunde vermutlich ohne Komplikationen heilen können. Aber es würde mich doch beruhigen, wenn... was? Wieso sieht sie mich so schockiert...'
"Philipp, schaff sie hier raus... SOFORT!"
Der Kutscher nahm sich nicht einmal die Zeit, ihren Befehl zu überdenken. Er sprang wie ein lebender Schutzschild zwischen die Besucherin und sie, packte diese grob am Arm und drängte Ophelia in den Gang zurück, während er mit der anderen Hand die Tür zwischen ihnen zuschlug. Er zerrte die Wächterin hastig den Flur hinab, was an ihren schnellen Schritten und ihrem leiser werdenden Protest über diese schockierende Behandlung herauszuhören war.
"Ich verstehe nicht... Du tust mir weh, Herr!"
"Wir wurden einander zwar noch nicht vorgestellt, ich kann mich aber sehr gut an unsere letzte Begegnung erinnern. Mir war doch gleich so, als wenn irgendwas an Dir mir bekannt vorkäme. Und es hat mir gar nicht gefallen, wie Du auf meine Herrin zugegangen bist!"
Seine knappe Erwiderung ließ Ayami vorsichtshalber eingreifen.
'Philipp, nicht! Sie stellt keine direkte Gefahr da. Und ihr Angriff im Park war fingiert und so abgesprochen.'
Er nahm diese Informationen zur Kenntnis und antwortete:
'Was soll ich mit ihr machen?'
'Bring sie einfach nur aus meiner Nähe fort. Aber sei dabei höflich!"
Der Blickwinkel der Wächterin überspülte sie wie in Wellen, die schwächer ausfielen, je weiter diese sich entfernte.
'Schon gut, ich gehe ja freiwillig mit, da braucht er mich doch nicht so zu drängen! Ich habe verstanden, dass ich unerwünscht bin. Meine Güte... Sie meidet mich. Weil Sie mich als Gefahr ansieht...' Der Gedanke schien die Ermittlerin ungemein zu verwirren. '...eine Vampirin, die mich fürchtet? Aber ich könnte Ihr doch niemals...'
Ayami nahm mit wachsendem Entsetzen zur Kenntnis, dass es ihr unmöglich war, diese - zweiseitige - Kommunikation zu unterbinden.
'Du könntest sehr wohl. Gerade jetzt, nach den außergewöhnlichen Strapazen der letzten Tage. All die Interventionen und kräftezehrenden Einflussnahmen fordern allmählich ihren Tribut. Auch wenn die Chancen schlecht für Dich stünden, den Versuch zu überleben. Aber die eigentliche Gefahr besteht eher in einem Wissens- und Kontrollverlust für mich...'
Egal welche Arten der gedanklichen Barrieren sie gegen die junge Frau auffuhr, Ophelia Ziegenberger ließ sie reihenweise in sich zusammenstürzen, als wenn sie unbedacht durch eine Blumenwiese liefe, auf der ihr eben hier und da einige Blüten zum Opfer fielen. Das einzige, was den Strom an Erkenntnissen allmählich zu unterbinden begann, war die wachsende Distanz zwischen ihnen.
Flüchtig erahnte die Königin über die zwiefachen Sinneseindrücke, die aus der Entfernung auf sie einstürmten, dass die beiden Menschen sich inzwischen schon im Eingangsbereich des Hotels aufhalten und diesen in unstandesgemäßem Tempo durchqueren mussten.
Sie sandte der Ermittlerin ganz gezielt einen Gedanken nach.
'Deine Sorge ist unbegründet, Ophelia. Unser kleines Stelldichein hat keine Spuren hinterlassen. Suche mich künftig nur auf meinen ausdrücklichen Wunsch hin auf! Schriftliche Korrespondenz sollte im Normalfall genügen und sei Dir gestattet. Über deine Schuld mir gegenüber können wir ein andermal sprechen; ich werde sie gewiss nicht vergessen.' Ein erinnerter Gesprächsbestandteil flimmerte ihr seitens der Wächterin entgegen und sie musste, trotz ihrer Beunruhigung, kurz auflachen. 'Racul lehnt sich weit aus dem Fenster, wenn er diesen Anspruch abstreitet.'
Eine mentale Antwort blieb aus. Sie hatte ihre Gedanken wieder für sich.
Eine einzelne Überlegung ließ sie innehalten.
'Havelock muss die Szene mitbekommen haben! Philipp hat alles andere als dezent reagiert. Sie müssen Havelock spätestens auf dem Weg durch das Foyer überholt haben...'
Sie stöhnte entnervt auf.

~~~ Schnittchen ~~~


Gerda stieß Eva unauffällig in die Seite und blickte dann bedeutungsvoll zur Tür des Wohnzimmers. Sie beobachteten die blasse Person in schwarz, die dort eintrat und sogleich überschwänglich von der Dame des Hauses empfangen wurde.
"Theri!... Ich darf Dich doch sicherlich so nennen, nicht wahr? Es ist sooo schön, dass Du die Zeit erübrigen konntest. Komm rein, komm rein! Darf ich Dir die Anderen vorstellen? Keine Sorge, es sind alle furchtbar nett, nicht wahr?"
Hermine führte die Fremde in den Raum und stellte sie den Anwesenden nacheinander vor.
"...ihre Kuchen sind immer wieder ein Gaumenschmaus, das kann ich Dir versichern. Wanda, da brauchst Du dich gar nicht so zu zieren, wenn ich es doch sage? Und hier, Max und Shaun kennst Du ja schon. Ja, lasst sie doch erst mal ankommen, ihr Schwerenöter! Männer eben, nicht wahr?"
Eva konnte Gerda gerade so noch einen unauffälligen Blick zuwerfen, in dem sie darin übereinkamen, dass die Allesnix sich unmöglich benahm. Diese plumpe Leutseeligkeit war es, an der sie immer wieder scheitern würde in dem Bemühen, über ihren Stand hinaus zu gelangen.
Dann war Hermine bei ihnen angelangt. Sie beeilten sich, unisono ein freundliches Lächeln aufzusetzen.
"Darf ich vorstellen? Gerda Krangel und Eva Schlegel. Und Theridae Ligand."
Gerda zog aus der Aufmachung die offensichtlichen Rückschlüsse und beeilte sich, den gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen.
"Mein Beileid, Theridae!"
Eva schloss sich dem schüchtern und mit leiser Stimme an.
"Ja, darf auch ich mein Beileid aussprechen?"
Die Witwe blickte kurz auf den Ring an ihrer Hand und ballte diese dann zur Faust, bevor sie ihre Blicke fest erwiderte.
"Danke!"
Hermine legte der Witwe vertrauensvoll eine Hand auf die Schulter, während sie ihnen mit gesenkter Stimme erläuterte:
"Eine schreckliche Geschichte. Schrecklich! Aber jetzt ist sie ja hier, bei uns. Hier kann ihr nichts mehr geschehen und wir werden schon dafür sorgen, dass es ihr bald besser geht, nicht wahr?"
Sie nickte der blassen Frau als Bestätigung ihrer eigenen Worte zu.
Eva tat sich leichter damit, die Unbekannte in ein unverfängliches Gespräch zu verwickeln. Gerda begnügte sich stattdessen mit der Rolle der zurückhaltenden Freundin und beschränkte sich aufs Beobachten. Die Hausherrin wandte sich derweil mit einer fadenscheinigen Entschuldigung den anderen Gästen zu. Evas Blick streifte immer wieder mitleidig die frische Narbe Theridaes und den leblos herabhängenden Arm an ihrer Seite, doch sie war zu höflich, um ausgerechnet dieses Thema anzuschneiden. Letztlich war das auch unwichtig. Sie alle wussten - dank Hermine - längst schon, woher diese Spuren stammten. Und keiner von ihnen hätte mit der Fremden tauschen wollen.
Als Überraschung stellte sich dann allerdings heraus, dass die Neue weder eine verstaubte Langweilerin, noch eine atemberaubende Schönheit war, mit denen zu rechnen gewesen wäre. Theridae war eine moderne junge Frau mit eigenen Ansichten. Und sie schien nicht vorzuhaben, wortreich ihr schweres Los zu beklagen, um ihnen damit auf die Nerven zu gehen.
Gerda war sogar recht angetan von ihr und begann, sich ebenfalls an dem Gespräch zu beteiligen.
Die Zeit verging wie im Fluge und bald hatten sich auch die übrigen Gäste ihrer Gruppe hinzugesellt.
Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte Gerda mit einer gewissen Schadenfreude, wie Hermine Allesnix Versuche unternahm, die Aufmerksamkeit ihrer Gäste mithilfe eines Schnittchentabletts wiederzugewinnen. Vergeblich!
Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand unverrückbar die schwarzgekleidete Fremde, an der vor allem der sonst so kritische Max Schenk einen Narren gefressen zu haben schien.
Auch Eva waren die Veränderungen in der Gruppenkonstellation aufgefallen und mit einem weichherzigen Blick auf die Gastgeberin, welche inzwischen dazu übergegangen war, sich die Häppchen selbst einzuverleiben, flüsterte sie ihr zu: "Theridae hat aber auch irgendwas, findest Du nicht? Die Art wie sie einen anschaut, wie sie erzählt... ich weiß nicht einmal, woran es liegt. Sonderlich herzlich wirkt sie schließlich nicht unbedingt und auch diese religiös angehauchten Nebensätze sind nicht unbedingt meins."
Gerda grinste ihrer Freundin verschmitzt zu und antwortete im verschwörerischen Flüsterton: "Das ist der Schleier des Geheimnisvollen! Ich prophezeie ihr noch eine großartige Karriere als 'Die Frau, die die Schnittchen schnitt'. Nein, wirklich. Sie spielt sich wenigstens nicht so künstlich auf wie Hermine. Und sie ist auf ihre rauhe Art sympathisch. Sie tut nicht so, als wenn sie alles interessieren würde, was Max im Laufe eines Abends von sich gibt. Sie ist einfach... sie selbst! Jemand Besonderes, weil sie so ist, wie sie ist. Vielleicht, weil sie den Angriff überlebt hat? Vielleicht war sie aber auch von Anfang an so? Omnianer... wer versteht die schon? Die fand ich von jeher... exotisch. Zum Glück ist sie nicht so extrem wie andere von denen. Ich könnte mir vorstellen, dass Lady Amalia sie gerne kennenlernen würde. Was meinst Du?"
Eva beobachtete die Witwe, die soeben über eine humorvolle Bemerkung des braungebrannten Shauns lachte.
"Ja, das könnte tatsächlich sein. Ob ich sie auch Madame vorstellen sollte? Sie scheint genug Benimm dafür mitzubringen und die Gute langweilt sich so schnell."

~~~ Eine ganz feine Sache ~~~


Max Schenk blickte zum wiederholten Male aus dem Fenster des Stadthauses, auf die ruhig daliegende 'Abstimmungssteige' hinaus. Er ließ den feinen Vorhangstoff durch seine Finger gleiten und runzelte verärgert die Stirn.
'Wo bleibt sie denn? Bei den vorigen Einladungen war sie doch auch immer pünktlich und jetzt, wo ich für die Organisation des Abends verantwortlich bin, da stellt sie sich plötzlich quer, oder was? Ausgerechnet heute!'
Er stieß ein verärgertes Schnaufen aus, als ihm eine Vermutung kam.
'Wahrscheinlich will sie mir damit nur eins auswischen. Vielleicht hätte ich sie vor dem Blumenpavillion nicht so angehen sollen? Andererseits... ich habe ja nicht ahnen können, dass sie nicht nur eine große Klappe riskiert, sondern wirklich Mumm in den Knochen hat...'
Seine Nervosität ließ ihn an den Fenstern auf und ab gehen.
'Oder will sie sich etwa drücken? Das wäre jetzt wirklich ungünstig. Wo ich sie heute Abend doch Christian vorstellen will.'
Schenks Gedanken wanderten kurz zu dem kleinen Rednerpodest in dem Nebenraum, welches extra für diese Gelegenheit aufgebaut worden war. Seine Blicke überflogen die vielen bekannten Gesichter der bereits eingetroffenen Gäste.
'Dieses Treffen wird etwas ganz Besonderes. Und wir werden dabei sein. Eine echte Überlebende, die erzählt...'
Er lief wieder zu dem Fenster, um nach ihr Ausschau zu halten und wirklich erblickte er Theridae, wie sie sich etwas verunsichert dem prächtigen Haus näherte. Ihr linker Arm schlenkerte bei jedem Schritt haltlos an ihrer Seite und die Art, wie sie die wenigen Stufen zum Eingang hinauf blickte, mit schattigen Augenringen und vereinzelten schwarzen Strähnen, die ihr ins Gesicht fielen, ließ sie klein und hilflos wirken.
'Unglaublich! Hätte ich es nicht selber miterlebt, wie sie von einer Sekunde auf die andere von diesem Zustand in den Angriff übergehen kann... ich würde es nicht glauben können, wenn es mir jemand erzählte.'
Sie schritt die Stufen hinauf und kurz darauf wurde sie auch schon ins Entree eingelassen, kaum dass sie ihren Namen genannt hatte.
Max beeilte sich, ihr sofort entgegen zu eilen, bevor irgendjemand anderer ihm zuvorkommen und ihre Aufmerksamkeit an sich binden könnte.
"Theri, Du siehst gut aus. Soll ich Dich herumführen und vorstellen oder Dir etwas zu trinken besorgen?"
Die eigenwillige Witwe sah sich hektisch um und nestelte verlegen an ihrem schlichten Schultertuch. Es war nicht zu übersehen, dass sie sich inmitten der bessergestellten Menschen im Raum fehl am Platz fühlte.
'Da merkt man ihr dann doch das Landei an. Umso besser. Vielleicht sieht sie so eher ein, dass es nicht schaden würde, sich mir gegenüber kooperativer zu verhalten...'
Sie nickte zurückhaltend und er winkte den zunächst stehenden Lakaien heran, um ihr eines der Weingläser zu reichen.
Bei dem Anblick des tiefrot leuchtenden Weines in dem kostbaren Kristall wurde sie merklich bleicher und lehnte mit einem schnellen Kopfschütteln ab, so dass er es, um eine interessante Information reicher, zurückstellte.
"Lieber einen edlen Weißen?"
Sie nahm das durchscheinende Getränk schweigend entgegen und nippte schnell daran, während ihr Blick über den Rand des Glases in alle Ecken des Raumes huschte.
"Ist alles in Ordnung mit Dir, Theri? Meinst Du, Du kannst die Diskussion durchstehen? Oder stimmt irgendwas nicht?"
"Nein, alles in Ordnung. Aber irgendwie... ich wünschte, ich hätte nicht ja gesagt dazu."
Sie nippte ein weiteres Mal an ihrem Glas.
Er beugte sich vertrauensvoll näher und redete ihr gut zu.
"Mach Dir keine Sorgen! Du kannst stolz darauf sein, überlebt zu haben. Und es ist eine großmütige Geste von Dir, uns heute an deinen Erlebnissen Anteil haben zu lassen. Wer weiß, vielleicht trägt dein Vortrag dazu bei, einen deiner Zuhörer irgendwann zu retten? Du weißt, wir leben mitten unter ihnen und nichts ist gefährlicher, als Unwissenheit! So oder so, gibt dein vorbildlicher Einsatz jedem von uns Hoffnung. Halte Dir das einfach vor Augen, wenn Du dort vorne stehst."
Sie hatten inzwischen den Salon betreten, von dem aus man durch die offenen Schiebetüren in die Erweiterung, einen runden Aufenthaltsraum, hindurchsehen konnte. Das zweistufige Podest stand bar jeder sonstigen Ergänzung am Ende des Runds und griff dessen Form auf. Es war mit einem hellen Tuch als Überwurf bedeckt und Theridae würde dort, quasi wie auf einem Präsentierteller, wunderbar zur Geltung kommen.
Ihr Blick klebte an der Bühne, so dass sie nicht mitbekam, wie sich nach und nach die Aufmerksamkeit der anderen Gäste unauffällig auf sie ausrichtete. Er hingegen nahm dies sehr wohl wahr - und genoss es. Er rückte etwas näher an sie heran und richtete sich mit lässigem Gesichtsausdruck auf.
'Wer mit ihr reden will, der soll sich erst mal mit mir gut stellen.'
Gerda Krangel trat auf sie zu, im Gegensatz zu sonst jedoch ohne ihre Freundin Eva, sondern in dieser Runde als unbedeutende Gesellschafterin der hohen Lady Amalia. Die alte Dame stützte sich schwer auf den Gehstock und wartete kaum die Formalität ab, sich vorstellen zu lassen. Gerda trat sogleich in den Hintergrund, während Lady Amalia der Neuen beifällig zunickte.
"Wir haben von deiner Großtat erfahren, junge Dame. Sehr gut! Die Vampire sind es inzwischen zu sehr gewohnt, mit Allem durchzukommen. Man muss ihnen langsam ihre Grenzen aufzeigen. Du hast unser Wohlwollen."
Teridae Ligand lächelte die alte Dame schüchtern an und nippte wieder am Alkohol.
'Sie hat nicht mal eine Ahnung davon, was für eine Auszeichnung ihr mit Lady Amalias ausdrücklichem Zuspruch soeben zuteil wurde. Es gibt Leute, die würden sich für ein freundliches Wort der alten Dame ein Bein amputieren lassen. Und sie bekommt nicht mal ein Wort des Dankes heraus. Ein Jammer!'
Von der anderen Seite gesellte sich ihnen ein junger Mann hinzu, der Theridae mit strahlender Bewunderung in den Augen anhimmelte.
'Wie heißt er noch gleich? Ach ja, Lord Putter, Joachim... einer der weiter entfernten Verwandten des berühmten Lord Rust.'
Max beeilte sich, die Vorstellung vorzunehmen und mit einem eifersüchtigen Stich bemerkte er, wie Theridae das Leuchten in den Augen ihres Gegenübers erkannte und darauf nicht etwa abweisend oder spöttisch reagierte, wie er es in seinem eigenen Fall bei ihr erwartet hätte, sondern mit unvoreingenommener Freundlichkeit. Sie lächelte den jungen Dandy offenherzig an und bekam sogar etwas Farbe auf den Wangen, als er ihr seine Hochachtung für den Vorfall aussprach, welcher - dank des Zeitungsartikels in der letzten Ausgabe der Ankh Morpork-Times - inzwischen unter dem Begriff "Blumenschau-Abrechnung" ein legendäres Eigenleben zu entwickeln begann. Zwar war es für Max leicht zu sehen, dass sie sich so gut wie gar nicht für die Rennpferde des jungen Mannes interessierte, selbst nicht für jenes, welches er heute Abend zur Anreise genutzt und hier in den Stallungen des Hausherrn untergestellt hatte. Aber ihrem Blick war ebenso deutlich zu entnehmen, dass sie solcherlei Aufmerksamkeiten von einem reichen Adligen nicht gewohnt war und als angenehm empfand.
'Pah! Immer das Gleiche. Die Geldsäcke haben so verdammt viele Vorteile, egal wobei!'
"Des-Königs-Daunen ist ein gute Adresse dafür, obwohl ich noch immer darüber sinniere, ob eine einzige Stallung nicht vielleicht genügen würde und ich diejenige am Marstall aufgeben sollte. Aber ich möchte Dich nicht mit solchen Details langweilen, werte Frau Ligand. Viel wichtiger... morgen findet auf der Rennbahn der nächste Lauf statt und vielleicht darf ich dann auf deine Anwesenheit hoffen? Es wäre mir ein außerordentliches Vergnügen, den Platz neben mir auf der Tribü..."
Er unterbrach das Gespräch der beiden brüsk, als sich ihm die erstbeste Gelegenheit dazu bot.
"Entschuldige bitte, Herr, leider muss ich Dir Frau Ligand ganz kurz entführen und sie endlich auch unserem Gastgeber vorstellen. Du hast sicherlich Verständnis dafür, nicht wahr?"
Er fasste sie kurzentschlossen am Ellenbogen, was beinahe dazu führte, dass sie etwas von dem Wein verschüttet hätte und sie ihm einen finsteren Blick zuwarf. Er ignorierte das.
"Dort vorne siehst Du den heutigen Gastgeber herein kommen: Baron Christian Von Hopfenhauff. Er ist in vielerlei Hinsicht... einflussreich. Es wäre von Vorteil, wenn ihr euch gut verstündet."
Sie entzog ihm ihren Ellenbogen mit einem Ruck. Dann warf sie ihr Haar zackig zurück und funkelte ihn wütend an.
"Mit wem ich mich verstehe und mit wem nicht, das entscheide ich glücklicherweise immer noch selber. Und, nur um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, Herr Schenk: Ich brauche keinen Aufpasser. Ich bin heute nur Gerdas freundlicher Bitte gefolgt, nicht deiner Einladung. Sie hatte gesagt, dass das Ganze hier eine gute Idee wäre. Ich bin inzwischen anderer Meinung. Also nimm Dir nicht zu viel heraus, sonst überlege ich es mir nochmal anders und dann kannst Du sehen, wo Du mit deinen ganzen feinen Freunden und dem schrecklichen Podest bleibst."
Damit schritt sie ihm trotzig voran.
Er blickte ihr eine Sekunde lang wie vom Donner gerührt nach, bevor er sich beeilte, aufzuschließen, damit niemand den kurzen Disput bemerken und Gerüchte daraus entstehen konnten. Seine Stellung innerhalb der Organisation war ohnehin nicht sonderlich gefestigt, Zweifel an seiner Wirkung auf den neuen Liebling der Créme de la Créme wären dem alles andere als zuträglich.
Gekränkter Zorn begann in ihm zu gären. Er hastete ihr nach und es fühlte sich an, als wenn sie ihm bestimmend voranschritte und er als persönlicher Diener nur noch gut genug dafür wäre, sie vorzustellen und ihre Wünsche entgegenzunehmen.
'Ich habe so lange dafür gearbeitet, meine Position zu erreichen. So viele Monate! Nächte, die ich mir zugunsten des großen Ziels um die Ohren geschlagen habe, um passende Leute aufzuspüren, mitreissende Reden in den passenden Lokalen zu schwingen und die Masse der einfachen Bürger hinter unsere Idee zu bringen! Und plötzlich taucht sie auf, muss fast nichts tun und alle schmeißen ihr den Roten Teppich vor die Füße! Das ist nicht fair... so einfach sollte sie es nicht haben. Ich werde... so einfach kommt sie mir jedenfalls nicht davon. Sie wird schon sehen, was sie davon hat, mich so links liegen zu lassen!'
Theridae blickte sich um und warf ihm einen fordernden Blick zu.
Er holte gerade in der Sekunde wieder zu ihr auf, als der Baron sich ihnen salbungsvoll lächelnd zuwandte.
"Herr Schenk! Es freut mich, Dich zu sehen. Läuft alles zu deiner Zufriedenheit? Die Getränke stehen bereit? Es wäre mir unangenehm, wenn es auch nur einem meiner Gäste an irgendetwas mangeln würde. Du hast die Dienstmädchen im Griff, nicht wahr?"
Er lächelte verkrampft und beruhigte den Baron.
"Es läuft alles wie am Schnürchen, Herr, Du brauchst Dir keine Gedanken darum zu machen. Deine Soiree ist bei mir in guten Händen. Darf ich die Gelegenheit ergreifen und Dir endlich unseren viel gerühmten Ehrengast vorstellen? Theridae Ligand, die energische Dame mit den festen Überzeugungen. Theridae, dies ist seine Lordschaft, Baron Von Hopfenhauff."
Die junge Witwe blickte den Gastgeber nahezu emotionslos an, machte jedoch einen kurzen, hölzern wirkenden Knicks vor ihm.
"Herr..."
Er seufzte innerlich.
'Warum hat sie keins unserer Mädels sein können? Eine von hier, aus der Stadt... selbst die Milchmädchen bekommen das mit dem Eifrig-Beflissen besser hin, als sie...' Der Gedanke, sie bei einer längeren Zusammenarbeit eventuell an seiner Seite beziehungsweise 'am Hacken' zu haben, begann ihm Bauschnerzen zu bereiten.
"Sie ist etwas nervös, wegen ihres kleinen Auftritts nachher."
Der Baron wollte ihre Hand zum obligatorischen Kuss ergreifen. Die Omnianerin hingegen starrte ihn nur verständnislos an, bis er sich mit einiger Verzögerung daran zu erinnern schien, dass ihr herabhängender Arm ja nutzlos war, während die andere Hand offensichtlich mit dem hochstieligen Weinglas belegt und somit ungeeignet war, um diese Höflichkeitsgeste anzunehmen.
Er zog die seine wieder unverrichteter Dinge zurück, strich seine reichlich verzierte Weste mehrmals glatt und räusperte sich demonstrativ.
"Nun, das ist ja auch kein Wunder, nicht wahr? Eine ganz feine Sache, Frau Ligand, dass Du uns an deinen Erlebnissen teilhaben lassen wirst. Ich bin schon ganz aufgeregt und kann es kaum erwarten. Du kannst nicht schon jetzt eine kleine, pikante Einzelheit zum Besten geben? Unter uns, was mich schon immer interessiert hat... Wie fühlt man sich nach so einem Angriff dieser unangenehmen Kreaturen?"
Er zuckte ob dieser Unhöflichkeit des Gastgebers innerlich zusammen. So etwas fragte man nicht derlei unverblümt, mitten auf einem Empfang, nachdem man sich soeben erst vorgestellt worden war. Auch nicht als Baron, dem kein Wunsch abgeschlagen wurde. Er konnte selbstredend nachvollziehen, dass einen diese Frage interessierte. Aber sie auch zu stellen...
Die schwarzhaarige Frau versteifte sich leicht und hob den Kopf an.
'Sie wird irgendwas Dummes sagen, irgendwas ganz und gar Beleidigendes...'
Doch sie überraschte ihn.
"Meine Antwort mag enttäuschend sein, Herr. Aber die Schmerzen und die Erschöpfung lassen einen nicht lange darüber nachdenken. Ich war nicht mehr ganz aufnahmefähig zu diesem Zeitpunkt und habe kaum mitbekommen, was um mich her geschah."
"Ach, wie schade!"
Theridae presste ihre Lippen bei dieser Antwort leicht aufeinander, was der Gastgeber allerdings nicht mehr mitbekam. Seine Aufmerksamkeit wurde von dem kurvenreichen Anblick eines anderen weiblichen Gastes abgelenkt.
"Schön, schön... weiter so! Wenn Du mich entschuldigen würdest, Frau... ähm... genau."
Sie sahen dem schlanken Baron nach, betrachteten dessen auffallende Erscheinung in seltsam einvernehmlichem Schweigen. Mehr noch als sonst registrierte er die typischen Anzeichen der gelangweilten Oberschicht an jenem und fragte sich unwillkürlich, wie die einfach gestrickte Fremde wohl über all die Rüschen, die goldenen Schnallen, die für einen Mann ungewöhnlich hohen Absätze an den Stiefeln oder das lässig geschwenkte Stofftüchlein in Von Hopfenhauffs Hand denken mochte.
Ihre Stimme gab ihm einen Hinweis, als sie mit kalter Verachtung leise kommentierte:
"Für Gerda. Ich zieh das nur noch schnell für sie durch und dann kann er sich sein Tüchlein sonstwo hinstecken, der Lackaffe."
Sie wandte sich ohne einen weiteren Blick von ihm ab und ging zu der unbedeutenden Gesellschafterin und deren einflussreichen Gönnerin hinüber.
Zumindest lag es nicht mehr nur an ihm, falls sie sich gegen all dies hier entscheiden würde. Auch wenn er das nach oben hin kaum deutlich zum Ausdruck bringen können würde.
Einer der Diener trat an ihn heran und plötzlich verging die Zeit sehr schnell. Die letzten Vorbereitungen waren getroffen, die meisten Gäste bereits gut gelaunt in den Saal mit den bereitgestellten Stuhlreihen geschlendert. Er sah sich nach ihr um und fand sie innerhalb eines Kreises interessierter Zuhörer. Er stockte in der Bewegung und war kurzzeitig mit der Frage überfordert, ob er sie unterbrechen dürfte.
'Das sind alles... also... wenn ich nicht für den reibungslosen Ablauf hier zuständig wäre und wenn es nicht um die gemeinsame Sache ginge... dann dürfte ich mich nicht einmal im selben Raum mit den Herrschaften aufhalten. Und sie bewegt sich mit einer Selbstverständlichkeit in deren Mitte... Manchmal ist Unwissenheit ein wahrer Segen. Es scheint, als wenn Lady Amalia sie in ihren Kreis einführen würde... Wenn Theri nur nicht völlig daneben greift, mit ihrem Verhalten...' Ein Gedanke beruhigte ihn etwas. 'Aber sie werden ihr Einiges durchgehen lassen. Für die Lords und Ladies kann sie nicht viel mehr als ein amüsantes Spielzeug sein. Ungewohnt und unterhaltsam...'
Er trat näher und räusperte sich dezent.
"Meine Damen, meine Herren... entschuldigt bitte vielmals die Störung. Es wird Zeit, dass Frau Ligand ihren Platz einnimmt."
Theridae war die einzige, die in Form eines direkten Blickes in seine Richtung auf ihn reagierte. Der Kreis der erlauchten Adligen um sie herum hingegen öffnete sich lediglich wie zufällig, um sie hinaus zu lassen. Die Herrschaften umgingen ihn auf dem Weg in den künstlich geschaffenen Saal beiläufig wie eine naturgeschaffene Barriere.
Sie atmete tief durch und sah ihn dann erwartungsvoll an.
Er beschloss, sämtliche nebensächlichen Gedanken und Vorbehalte ihr gegenüber für den Moment zu verdrängen. Die geladenen Gäste wollten unterhalten werden und für ihn hing viel davon ab, wie die Witwe sich dabei anstellen mochte. Immerhin hatte er es sich allerorten auf die Fahne geschrieben, sie entdeckt zu haben. Sie musste einfach gefallen! Ein paar letzte Instruktionen mochten da nicht schaden.
"Du bist soweit? Gut. Ich werde das Podest vor Dir betreten und dich nochmal allen Gästen in kurzen Worten vorstellen. Dann eröffne ich deinen Vortrag, indem ich das Thema zur Debatte stelle und auf Dich überleite. Du gehst an meiner Statt hinauf und beginnst zu erzählen. Am besten der Reihe nach. Lass Dir Zeit aber nicht zu viel. Sollten Fragen auftauchen, beantworte sie einfach. Du kannst durchaus Gefühle zeigen, sowas kann ganz gut ankommen."
Sie kniff die Augen leicht zusammen und patzte ihn überraschend an.
"Ich darf also Gefühle zeigen? Wie gnädig!"
Er blinzelte kurz, bevor er sich darauf besann, ihre merkwürdig deplatzierten Anwandlungen zu ignorieren. Er musste sich jetzt auf das Gelingen des Abends konzentrieren, da konnte er sich solche Kinkerlitzchen wie Streitgespräche nicht gestatten.
"Ich gehe davon aus, dass das ein 'In Ordnung' sein soll."
Er drehte sich um. Sie folgte ihm, an den voll besetzten Stuhlreihen vorüber. Dann betrat er endlich das runde Podium und überblickte die Anwesenden. Er räusperte sich demonstrativ.
"Wie die meisten von Euch wissen, ist mein Name Max Schenk. Stellvertretend für unseren hochverehrten Gastgeber, Baron Von Hopfenhauff...", bei diesen Worten streckte er seine Hand mit einem dramatischen Diener dem Angesprochenen in der ersten Stuhlreihe entgegen und das Publikum reagierte mit Applaus, "...möchte ich Euch gerne zu diesem ganz besonderen Abend willkommen heißen."
Es folgte ein weiterer verhaltener Applaus.
"Wir haben heute in unserer Mitte eine Frau von besonderem Format. Sie kam zu uns, nach Ankh-Morpork, in der vertrauensvollen Zuversicht, hier ein neues Leben zu beginnen, ein Leben an der Seite ihres geliebten, frisch angetrauten Ehemannes. Sie hatten Pläne geschmiedet, Pläne für eine gemeinsame Zukunft, Arm in Arm, verbunden in Liebe und ehrlichem Broterwerb. Doch sie wurden bitterlich enttäuscht. Die große Bedrohung schlug unbarmherzig zu, jene Gefahr, die unser aller Leben bedroht, die unsere Frauen in ihren Kammern und unsere Kinder in ihren Betten belauert... Ihr wisst, wovon ich rede. Bitte begrüßt mit mir Theridae Ligand, jene Frau, die die Bestien gleich zweimal überlebt hat, jene Frau, die der Gewaltherrschaft der Blutsauger die Stirn geboten hat. Theridae, die sich nicht scheute, einer grässlichen Vampirin in aller Öffentlichkeit, um der eigenen Unversehrtheit willen, zu trotzen und deren geifernden Gier mit einer blutigen Klinge zu antworten!"
Der brausende Applaus der Zuhörerschaft setzte bereits ein, bevor er überhaupt ganz ausgeredet hatte. Er streckte seinen Arm schwungvoll in ihre Richtung und bat sie mit beruhigendem Lächeln zu sich auf die Bühne.
'Ja, wenn ich etwas kann, dann ist es, die Mengen zu begeistern.'
"Theridae hat sich dazu bereit erklärt, uns von ihren Erfahrungen zu berichten. Wie überlebt man? Wie stärkt man sich, gegen die Bedrohung? Gibt es Möglichkeiten, sich auf den Ernstfall vorzubereiten? Bitte, Theri... die Bühne gehört Dir."
Sie wirkte plötzlich so verunsichert, als sie neben ihm zum Stehen kam, dass er in einer Anwandlung spontanen Mitgefühls ihre Hand drückte. Bevor er sie dort oben alleine ließ. Er nahm seinen bisher frei gehaltenen Platz in der ersten Reihe ein, direkt neben dem Gastgeber. Er überschlug ein Bein und lehnte sich gespannt zurück, sah dabei erwartungsvoll zu ihr auf. Ein klein wenig regte sich die Schadenfreude in ihm, als er die trotzige Witwe auf dem Podium beobachtete und untrügliche Zeichen von Nervosität an ihr ausmachte. Sie hielt sich überraschend gut - kein Stoffkneten der gesunden Hand an ihren Röcken, den Rücken aufrecht und gerade. Aber ihre Augen huschten unstet von einem zum anderen und ihre Stimme klang leise und schwankend, als sie zu sprechen begann.
"Ähm... vielen Dank für Euer Willkommen. Mein Name ist Theridae, äh, ja, das... ich... ich wurde gebeten, über meine Erlebnisse mit Vampiren zu erzählen." Sie räusperte sich laut. "Also, ich weiß nicht genau, wo ich dabei anfangen soll..."
Die Menge wirkte gespannt, kein unnötiges Geräusch lenkte von ihr ab.
Sie senkte den Blick auf den Boden, was den Eindruck von ihr ungünstig von der starken Kämpferin zum schwachen Opfer zu verlagern begann. Doch daran konnte er nun nichts mehr ändern.
"Mein... Mann und ich kamen hierher. So wie Herr Schenk es schon gesagt hat. Wir hatten eine lange Reise hinter uns und als wir die Stadt sahen, waren wir glückllich darüber, das Ziel fast erreicht zu haben. Wir entschieden uns dazu, eine letzte Rast einzulegen. Es gab keinen Wald oder so, nur endlose Felder, unterbrochen von den immer dichter stehenden Dörfern und Vororten. Wir hielten an einer der verlassenen Wechselstationen für die Postkutschen. Der Unterstand war am Wegesrand gelegen und zur Stadtseite hin offen und als wir dort auf dem Boden unsere Picknickdecke ausbreiteten..."
Sie schloss die Augen und kam ins Stocken. Stille breitete sich im Raum aus, als kaum jemand zu atmen wagte. Den Teil der Geschichte kannte auch er noch nicht und er beugte sich unbewusst näher, um ja nichts von dem zu verpassen, was sie mit dieser so leisen Stimme erzählen würde.
Die Pause hielt lange genug an, um Unbehagen zu bereiten. Dann atmete sie zitternd ein und öffnete wieder ihre Augen. Sie hob den Blick und nicht etwa Angst oder Verzweiflung sprachen daraus. Eine unbändige Wut irrlichterte in den grauen Tiefen und es war der natürlichste Vergleich überhaupt, sich zusammenballende Gewitterwolken darin auszumachen, in denen Rachegedanken wie Blitze den eigenen Blick kreuzten. Ihre Stimme bebte nun vor unterdrücktem Tatendrang.
"Es waren vier von ihnen. Vier Vampire, wo schon zwei oder sogar nur einer genügt hätten, um uns zu zerstören. Ich war so damit beschäftigt, den letzten Proviant herauszuholen, dass ich völlig davon überrascht wurde, als sie mich von hinten packten. Einer lachte mir ins Ohr, dass es freundlich von uns sei, sogar mit einem Tischtuch anzureisen. Das hätten sie nicht so oft. Und ich müsse mir gar keine weitere Mühe mehr geben, appetietlich zu posieren... Zu dem Zeitpunkt fing Martin an zu schreien..."
In einem winzigen Winkel seines Gehirns wusste er in diesem Moment, dass der Abend als brilliant und überaus gelungen in die Annalen der HIRN eingehen würde. Gleichgültig, welchen Fehler sie sich jetzt noch erlauben könnte. Die Zuhörer waren in ihren Bann geschlagen und jeder, der heute nicht geladen worden oder der Einladung möglicherweise nicht gefolgt war, würde dies künftig bereuen.
"Sie zwangen mich, hinzusehen. Sie tranken ihn bei lebendigem Leibe leer. Die Wunden schlossen sich nicht, so dass viel daneben ging. Sie waren so grausam. Alle zugleich... Es war für sie wie ein Spiel und er nicht mehr, als ein unbedeutendes Insekt, dem man die Flügel ausreißt, um es dabei zu beobachten, wie es sich quält und immer weniger rühren kann. Sie haben... Es war eine Gnade, als er sein Bewusstsein verlor..."
Die einsame Frau ließ ihren Blick über die Köpfe hinweg schweifen. Ihre Stimme wurde träger, stockender. Sie erinnerte sich nun, für alle im Saal deutlich erkennbar, offenbar an die Bilder, die zu ihren Worten dazu gehörten. Das Publikum schien in ihrem Bewusstsein zur Bedeutungslosigkeit zu verblassen, denn sie fokussierte ihren Blick auf nicht einen einzigen von ihnen.
"Ich war überrascht, als der Vampir mich angriff. Meine Gedanken wurden von seinen weggeschwemmt. Er hatte solchen Hunger! Der Hunger war unerträglich..." Ihr Blick streifte blind den Boden zu ihren Füßen. "Es war da so viel Blut. Überall... auch in meinem Kleid, obwohl es gar nicht mein Blut war. Der ganze Rock voll. Meines hat er ja getrunken, davon wollte er keinen Tropfen hergeben... ich habe dann die anderen beobachtet, denn ich konnte ja eh' nichts weiter machen, so fest, wie er mich umklammert hielt. Aber ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Ich wurde schwach. Und so müde. Er hielt mich fest, als wenn ich zwischen Kisten eingeklemmt worden wäre. Es war unmöglich, mich zu bewegen und ich wurde immer noch schwächer. Ich wäre am liebsten eingeschlafen und nie wieder aufgewacht. Jemand kam und rüttelte an mir. Oder auch an ihm. Es gab Geschrei, die Schmerzen wurden plötzlich schrecklich stark an meinem Hals und dann fiel ich zu Boden..."
Sie blinzelte und ihr Blick wurde klarer.
Die Zuschauer atmeten tief ein.
Auch er.
Die Ligand suchte seinen Blick und hielt sich mit einer Intensität an diesem fest, als wenn sie einen Ankerpunkt im Hier und Jetzt gesucht hatte, um nicht davon zu treiben. Als sie sich wieder stabilisiert hatte und von ihm ließ, als sie die Augen von ihm ab- und wieder den anderen Zuhörern zuwandte, war er davon überzeugt, dass sie sich nur ihm allein von allen Anwesenden anvertraut und ihm soeben ihre wahre, verletzliche Seite gezeigt hatte.
'Sie ist einfach unglaublich! Ich werde mir alle Mühe geben, sie nicht nochmal vorschnell zu verurteilen. Wer weiß, wie nervig ich an ihrer Stelle wäre, nach allem, was sie erlebt hat?'
Sie ergänzte ihre Erzählung hölzern mit den Worten:
"Eine Söldnertruppe griff ein und rettete mich. Die Handelskarawane, der sie angehörten, führte auch einen Igor mit sich. Der Igor..." Sie musste schwer schlucken und setze nochmals von vorne an. "Der Igor hat mir das Leben gerettet..."
Sie senkte den Kopf und Max wartete, wie alle anderen auch darauf, dass sie sich wieder fangen und von dem berüchtigten Vorfall auf der Blumenschau zu erzählen beginnen würde, jetzt, wo sie die dramatischste Passage ihrer Geschichte ja bereits hinter sich gebracht hatte. Doch dann hob sie die Hand vor ihr Gesicht und sagte nichts mehr.
Er ahnte, dass es das für heute gewesen sein würde und sprang schnell von seinem Stuhl auf, um zu ihr zu eilen. Er legte ihr einen Arm um die Schulter und flüsterte ihr leise zu.
"Theri? Alles in Ordnung?"
Ein mitfühlendes Wispern ging durch die Reihen.
Sie fühlte sich steif und bewegungslos an in seinem Arm. Es ging keine Regung von ihr aus.
Er wandte sich dem Publikum zu.
"Nun gut, das alles sind sehr belastende Erinnerungen. Theridae ist sicherlich gerne dazu bereit, zu einem späteren Zeitpunkt und in persönlicheren Gesprächen auf Fragen einzugehen. Aber ich bitte um Euer aller Verständnis dafür, wenn wir ihr jetzt etwas Raum lassen werden, um sich wieder zu fassen. Bitte, fühlt Euch frei, den Abend mit den bereitgestellten Getränken dort am Büffet und in anregenden Diskussionen zu beschließen. Wenn Ihr uns dann bitte entschuldigen würdet? Ich werde später wieder dazustoßen."
Er dirigierte sie mit vorsichtigem Nachdruck vom Podest, wobei sie keinerlei Widerstand leistete und schob sie zu den seitlichen Türen des Raumes, wo es zu den privaten Gemächern des Hauses ging.
Der Baron kam ihnen auf halbem Wege entgegen.
"Wie geht es ihr? Sie ist ja so blass! Vermutlich wäre es von Vorteil, wenn sie sich zurückziehen könnte? Lass Dir eines der oberen Zimmer zeigen von... Henry! Zeige Herrn Schenk doch bitte die leer stehenden Gästezimmer. Die Dame ist unpässlich."

Christian Von Hopfenhauff war hingerissen von ihr.
'Unter all dem schwarzen Fummel sieht sie gar nicht so schlecht aus, würde ich denken.'
Er tappte gelangweilt mit den beringten Fingern auf die Armlehne, während um ihn herum der aktive Kern der HIRN diskuttierte.
'Etwas blass ist sie schon. Der Gedanke an die Pandämoniumsbrut liegt da nahe und wäre natürlich unwillkommen. Aber ich muss sie ja nicht ansehen dabei. Dafür hat sie Feuer. Für eine amüsante Nacht würde es gewiss reichen... ja, ich gestehe, von der Bettkante stoßen würde ich sie nicht.'
Die Debatte um ihn her wurde etwas hitziger, als der lästige Prolet darauf zu bestehen schien, die Pläne für den Rest der Nacht beizubehalten und sie nicht Kasimiers wegen um eine weitere zu verschieben.
'Was bildet der arme Tropf sich nur ein? Ich verstehe wirklich nicht, warum der Chef so große Stücke auf ihn hält. Ausgerechnet!'
Schenks Stimme drohte, sich vor Aufregung zu überschlagen.
"...sind darauf eingestimmt. Wie stehe ich denn da, wenn dann nicht wie angekündigt etwas passiert? Ich sehe ja ein, dass wir keine konkreten Informationen an die große Glocke hängen können aber ich konnte ja auch schlecht Woche um Woche mit einem 'irgendwann mal' argumentieren! Und 'jetzt' ist eben nicht morgen oder übermorgen oder am Sanktnimmerleinstag. Wir haben die Aktion schon einmal verschoben, wenn ich daran erinnern darf. Und es hat uns einige Tage gekostet, um an die Zeiten und Routinestrecken der neuen Wachen heranzukommen. Der Alpha des Reißzahn-Clans ist sehr vorsichtig und das Gelände um sein Anwesen schwierig zu observieren. Weder vom Endlosen Weg, noch von der Seite der Geldfallenstraße kommt man richtig ran, so wie sie sich mittig eingebaut haben. Das bedeutet nicht nur Zeitverlust, sondern auch eine Verschwendung von Leuten, die ich darauf ansetzen muss. Erst Recht, wo die Gegend dort nicht eben durch viel Laufkundschaft gekennzeichnet ist. Da neue Leute reinzubringen, ohne dass es auffällt, ist verdammt schwer."
Einer der Männer blickte empört zu ihm hinüber und auch die Übrigen hatten kein Verständnis für das Lammentieren von Schenk.
Der Baron konnte es ihnen nicht verübeln aber da er darum wusste, in welch unverständlich hohem Ansehen diese Jammergestalt beim Chef stand, beruhigte er seine Leidensgenossen mit einem besänftigenden Blick und beteiligte sich - doch endlich - mit einem leidgeprüften Seufzer an der Diskussion.
"Es ist ja nicht so, dass wir hier leichtfertig Termine hin und her schieben würden, mein lieber Schenk. Die Angelenheit mit der Lieblichen Lola ist eine ernste Sache und ich kann sehr gut verstehen, dass Kasimier es zur Sprache gebracht hat. An dieser Stelle möchte ich mich für dein Vertrauen bedanken, Kasi."
Der runde kleine Mann, den er damit angesprochen hatte, nickte ihm ernst aber erleichtert zu.
"Ich bin mir so oder so nicht sicher, ob die netten kleinen Geheimbundtreffen mit den schwarzen Kapuzenkutten in den abgedunkelten Baracken wirklich noch sein müssen. Oder ob Du es nur etwas zu sehr liebgewonnen hast, stellvertretend für den Chef am Kopf der Tafel zu sitzen."
Max Schenk lief zornesrot an, doch er unterbrach ihn mit einem gekonnten Abwinken und einem entschuldigenden, nonchalanten Lächeln.
"Nein, nein, versteh' das nicht falsch! Wir alle wissen deine Dienste durchaus zu würdigen."
Das Lächeln erstarb auf seinen Lippen, als er sich daran erinnerte, dass der Chef es nicht gerne sehen würde, wenn er ihm den kleinen Emporkömmlung zurechtstutzte. Der Mann war ihnen sehr nützlich gewesen und wenn das so bleiben sollte, durfte er dessen Rest an Autorität in dieser Runde nicht fahrlässig unterwandern. Selbst wenn es ein kümmerlicher Rest war. Nichts motivierte Bedienstete mehr, als die Angst vor Bestrafung - oder die Hoffnung, dieser zu entgehen und es eines fernen Tages besser zu haben.
Er setzte sich etwas aufrechter. Sein Blick galt erst Schenk, dann nach und nach jedem Einzelnen der Mitverschwörer.
"Männer! Ihr scheint zu vergessen, dass es hier um die gemeinsame Sache geht, um das große Ganze! Die Aktion wird wie geplant vor dem Morgengrauen durchgeführt werden, um weitere Verzögerungen zu vermeiden. Kasimier, es tut mir leid, dass Du dadurch gezwungen sein wirst, dein wöchentliches Stelldichein abzusagen. Das ist ausgesprochen unangenehm, ich weiß. Aber Du wirst dankbar sein, wenn auch Du zum infrage kommenden Zeitpunkt ein unantastbares Alibi vorweisen kannst, das durch unser aller vortrefflichen Leumund gestüzt wird. Die Aussage einer Näherin wird bei den Dimensionen unserer Aktion nicht ausreichend sein, um selbst schon vor den reinen Spekulationen zu schützen. Und nach der Überprüfung ihrer Aussage wäre es zu spät für deinen Ruf, gleichgültig ob man ihr glauben würde."
Der kleine Bankdirektor senkte den Blick bedauernd auf seinen runden Bauch, hielt sich sonst aber zurück.
Max Schenk hingegen atmete erleichtert auf und nickte entschlossen.
Er selber machte seiner Unzufriedenheit darüber, dass er soeben einen guten Freund hatte brüskieren müssen, an dem abstoßenden Männlein in ihrer Mitte Luft, indem er ihn herausforderte.
"Sind deine Leute denn bereit? Oder wird sich die Hälfte von ihnen wieder während der Wartezeit betrinken?"
"So etwas kommt nicht noch einmal vor. Ich habe dieses Mal Profis rekrutierten lassen. Sie sind eingestimmt und bereit."
"Gut, gut... Wir werden sehen, wie sie sich diesmal schlagen." Er konnte nicht verhindern, dass sich seine Gedanken nun, da diese Angelegenheit geklärt sein sollte, anderen Dingen zuwandten. Reizvolleren Dingen.
Mit einem Wink hob er die Tafel auf und der Kreis der erlauchten Mitverschwörer begann, in lebhaft diskuttierende Grüppchen zu zerfallen. Der Rauch der entzündeten Zigarren wob einen feinen Nebelteppich über ihren Köpfen und auf sein Läuten hin waren zwei der weiß behandschuhten Diener in ihren Fräcken in den Raum getreten, um mit weiteren Getränken aufzuwarten.
Eigentlich zog es ihn nur noch zu den Gästeräumlichkeiten, um nach der hilfsbedürftigen Frau zu sehen und ihr seine überaus interessierte Aufwartung zu machen. Sie konnte ganz sicher etwas Trost gebrauchen. Andererseits war er sich aber natürlich auch seiner gesellschaftlichen Pflichten bewusst. Und so häufig er sich auch auf fragwürdige Liasons einließ, niemals würde er zulassen, dass eine dieser unbedeutenden Affären seinen Ruf schädigen könnte. Ein Gastgeber hatte sich zu zeigen und das Gespräch zu suchen. Und sei es nur, um den lästigen Juwelier zum zwanzigsten Mal dahingehend zu beruhigen, dass die ausstehenden Rechnungen von einem gelasseneren Standpunkt aus betrachtet unbedeutend waren und er sich nur noch ein kleines Weilchen gedulden müsse.
Irgendwann machte sich sein getreuer Butler dezent bemerkbar.
Von Hopfenhauff trat beiseite und erblickte erst jetzt den jungen Rust-Spross, der außerhalb des Rauchersalons mit blassem Gesicht, großen Augen und hecktischen Flecken im Gesicht zu ihm hinein starrte und ganz eindeutig darauf hoffte, dass der Butler ihm Beistand organisieren würde.
"Was gibt es, Henry?"
Der Butler klärte ihn mit gedämpfter Stimme auf.
"Es scheint so, Herr, als wenn seiner Lordschaft das Pferd abhanden gekommen ist. Aus unseren Stallungen heraus, wenn ich das anmerken darf, Herr. Er hatte es dort untergestellt, für die Dauer des Abends."
Der Baron fuhr verärgert auf und konnte sich gerade eben so noch davon abhalten, lauter zu werden.
"Aus meinem Haus? Was für ein Unfug soll das denn sein! Wie konnte es dazu kommen?"
Der Butler ließ einen vorsichtigen Blick zu den anderen Gästen schweifen, bevor er noch leiser hinzufügte:
"Diese junge Dame, die unpässlich war und für die Du uns beauftragt hattest, eines der Gästezimmer herzurichten..."
"Was ist mit ihr? Sprich Dich aus, Mann, und lass Dir nicht alles aus der Nase ziehen!"
"Das Fräulein hat den Raum verlassen. Der Stallbursche allerdings hat beschrieben, dass eine Person gleicher Beschreibung in die Boxengasse gestürmt kam und in panischer Eile das erstbeste Pferd mit sich nahm, welches aufgezäunt bereitstand. Und das war jenes seiner Lordschaft, weil er darauf bestanden hatte, dass es nach dem Trockenstriegeln und einer Portion besten Hafers sofort wieder abrufbereit sein solle."
Die Enttäuschung traf ihn doppelt so heftig.
'Die Ligand hat sich aus dem Staub gemacht? Und obendrein auch noch einen meiner Gäste beklaut?'
Der junge Mann sah ihm noch immer mit fassungsloser Verzweiflung entgegen.
"Das kann ich nicht auf mir sitzen lassen. Gebt ihm eines meiner Pferde für den Heimweg und teilt ihm mit, dass ich mich darum kümmern werde!"
"Sehr wohl, Herr!"

Der Wind peitschte ihr ins Gesicht und ließ das kurze Haar fliegen. Es war ein ungewohntes Gefühl, irgendwie frei.
Ophelia trieb das Pferd zusätzlich zur Eile an.
'Er hat nicht übertrieben, auch wenn er mich beeindrucken wollte. Es ist unglaublich schnell.'
Und das war auch gut so, denn die Katastrophe saß ihr im Genick und drohte, sie einzuholen.
'Wenn ich doch nur schnell genug bin, um das Schlimmste zu verhindern. Und zurück muss ich auch. Ich gehe hiermit schon bis zum Äußersten. Aber ich kann nicht gegen mein Gewissen handeln. Der Werwolf-Clan muss gewarnt werden! Ich könnte mir im Spiegel nicht mehr in die Augen schauen, wenn auch nur einer von ihnen meiner Tarnung zuliebe zu Schaden käme.'
Der Auftritt vor dem sensationslüsternen Publikum hatte ihr viel mehr zugesetzt, als sie jemals gedacht hätte, dass er es können würde. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie den Schockzustand abschütteln konnte und allein, in einem stillen Zimmer, wieder zu sich kam. Ihre Gedanken drehten sich noch immer im Kreis, gefangen von der Erinnerung an Rogi. Das waren die schmerzhaftesten Bilder, jene, die sie nur mühsam zurückdrängen konnte. Zumindest aber war ihr selbst in diesem Moment klar gewesen, dass sie ermitteln wollte und dass es vergeudete Zeit sein musste, abseits des Geschehens in einem abgedunkelten Zimmer herumzuliegen. Sie hatte den Raum verlassen und nach einem Weg zurück in die Salons gesucht, als der Geruch herber Zigarren sie umnebelte und die aufgewühlten Gespräche unterschiedlicher, männlicher Stimmen an ihr Ohr drangen.
Die Tür, hinter der die Stimmen zu hören gewesen waren, war lediglich geschlossen gewesen - nicht wie eigentlich zu erwarten gewesen wäre, von mindestens einem bereit stehenden Diener flankiert. Sie nutzte die Gelegenheit kurzentschlossen, mit einem Ohr zu lauschen. Ein Verhalten, welches ihr vermutlich immer unangenehm sein würde. Welches sich aber als sehr nützlich herausstellte.
Ein Anschlag war geplant worden und sie wusste nicht nur die Adresse zuzuordnen, sondern auch von der verbleibenden Schonfrist!
Die Entscheidung war schnell gefällt, die Ausrede parat gelegt, das Mittel auserkoren. Und so hatte sie sich auf den Weg gemacht, dankbar dafür, dass sich gerade Bedienstete niederer Ränge durch ein selbstbewusst harsches Auftreten mit der nötigen Vehemenz soweit einschüchtern ließen, dass sie nicht einmal gegen einen Diebstahl vor den eigenen Augen Einwände erhoben. Natürlich tat der Stallbursche ihr leid. Aber das musste im Vergleich zu der drohenden Lebensgefahr für eine ganze Familie zurückstecken.
Inzwischen war sie vor allem froh darum, in der Zeit ihrer Wachezugehörigkeit auch das Reiten im Herrensattel gelernt zu haben.
Der Lange Weg raste links und rechts an ihr vorüber, als das Rennpferd in sein typisches Trainingstempo verfiel und seine pochenden Eisen Meter um Meter des Kopfsteinpflasters überflogen und sich die Wegstrecke wie gefräßige Monster einverleibten. Die Ruinen der ehemaligen Stadtmauer erhoben sich zu ihrer Linken wie ein in Finsternis gehüllter, schlafender Koloss.
Ihr blieb kaum Zeit und nur eine Hoffnung, um die Informationen noch schnell genug weiterzuleiten, ohne ihre Tarnung auffliegen zu lassen: der Bergiger!
Sie sah direkt vor sich den breiten Parkweg kreuzen, wich einem mit Laternen behängten Karrenzug aus, der in gemütlichem Tempo zum Randwärtigen Tor unterwegs war und schwenkte die Zügel mit einer knappen Geste ihrer Hand nach rechts, um das Pferd leicht nach links und damit auf den verlassenen Kiesweg mitten in den Hide Park zu lenken. Der neue Untergrund sagte ihm spürbar mehr zu, so dass sie trotz fehlender Beleuchtung nochmals an Tempo zulegten.
Sie preschte voran, dass der Kies hinter ihr in dichten Wolken wegspritzen musste. Aus dem Augenwinkel sah sie rechterhand den dunklen See daliegen. Dann stürmten sie bereits auf der anderen Seite wieder aus dem Park hinaus. Sie riss die Zügel umständlich quer vor ihrem Körper nach links und das halsbrecherische Tempo verlangsamte sich minimal, als das Pferd rechts abbog und mit der Unvergleichlichen Straße wieder auf härterem Untergrund lief.
Ophelia zog an den Zügeln und lehnte sich tiefer in den Sattel zurück, um das Tempo zu drosseln - was ihrem Reittier zuwider zu sein schien. Sie bog in die dritte Querstraße zum Fluss hin ab, von der sie wusste, dass diese sie in den Hafen führen würde. Kurz darauf lag das breite Band des Ankh träge dümpelnd vor ihr. Sie hielt das Tier wenigstens solange an, bis sie sich am diesseitigen Ufer orientiert hatte. Es tänzelte aufgeregt auf der Stelle, während sie ihre Gedanken ordnete und sich zu beruhigen versuchte.
'Noch ist Zeit... wie hieß diese Spelunke nur, in der er meistens um diese Zeit anzutreffen sein soll? Schwankende Dublone? Trunkene Krone?'
Sie suchte das Ufer mit ihren Blicken ab und ignorierte dabei sowohl den typischen Gestank, als auch das beinahe idyllische Blinken der Laternen auf der schwappenden Matschoberfläche des Flusses.
'Er muss einfach dort sein. Wenn die Gerüchte stimmen, ist er fast immer dort. Wegen dieses Mädchens, für das er Gefühle hegt... er wird nicht ausgerechnet heute Nacht mit der Gewohnheit brechen. Bestimmt nicht! Hoffentlich nicht...'
Ihr Atem beruhigte sich etwas und endlich konnte sie die typische Geräuschkulisse einer gut besuchten Kneipe zu ihrer Linken ausmachen.
Mit einem leichten Schenkeldruck und leisem Schnalzen dirrigierte sie das edle Tier auf das verfallene Gebäude zu. Dessen verhangene Fenster ließen nur wenig Licht hinaus, welches ein verwittertes Schild streifte. Sie konnte mit einiger Mühe die Umrisse eines Handelsschiffes ausmachen. Und einen Bierkrug. Die Schrift darunter war schnörkelig bis zur Unkenntlichkeit und zudem bereits so großflächig abgeblättert, dass sie mit Mühe "Zur schwan..." und die Buchstaben "Gal..." entziffern konnte.
Ophelia atmete erleichtert auf und ließ sich vom Rücken des Pferdes gleiten. Sie nahm seine Zügel, blickte sich um und band es kurzerhand an einem Uferpfosten etwas abseits fest. Mit nur einer Hand gestaltete sich das schwierig, so dass sie nicht nur darauf hoffen musste, dass die hiesigen Diebe ihre Quote für die Nacht bereits erfüllt hatten, sondern auch darauf, dass das ungestüme Tier nicht auf den Gedanken verfiel, zu sehr an seinen Leinen zu ziehen.
Sie fuhr sich ein letztes Mal durch das ungewohnt kurze Haar, richtete ihren Umhang und atmete tief durch.
'Ruhig! Ganz ruhig... ich darf auch seine Tarnung nicht gefährden. In meiner derzeitigen Aufmachung wird mich niemand der Wache zuordnen können. Habe ich an alles gedacht? Soweit ich weiß, beinhaltet seine Rolle ohnehin ganz offiziell das Sammeln von Informationen. Ich darf nur nicht zu sehr auffallen. Gelassenheit...'
Sie schritt auf die Tür zu und betrat zielstrebig die Hafenkneipe.
Die Luft war zum Schneiden dick und erst nach einigen Sekunden gewöhnten sich ihre Augen an die neue Umgebung. Eine Theke schälte sich heraus, ebenso wie jede Menge kleinerer Tische und Nischen, dicht besetzt mit rauhbeinigen Gesellen. Das Klientel hier trug Narben und Tätowierungen gleichermaßen stolz zur Schau. Fehlende und durch Holzstumpen oder Haken ersetzte Gliedmaßen, Augenklappen und nur noch rudimentär vorhandene Zahnreihen machten deutlich, dass diese Spelunke das Hoheitsgewässer der Seefahrer darstellte, zu dem Landratten nur beschränkter Zugang gewährt werden würde. Eine rothaarige Kellnerin eilte um die Tische herum und der grobschlächtige Seebär hinter dem Tresen schien sie im Auge zu behalten, wie eine Golddublone.
Ophelia ignorierte die vereinzelten neugierigen Blicke in ihre Richtung und sah sich suchend um. Doch der Raum war größer, als von außen zu vermuten gewesen war und die verwinkelten Sichtblenden an den Wandnischen schufen reichlich Gelegenheiten, sich den Augen eines Neuankömmlings zu entziehen. Sie biss die Lippen zusammen.
'Ich habe nicht die Zeit, ihn erst zu suchen. Wenn er nicht hier sein sollte, muss ich sofort weiter und doch das Risiko eingehen, dass mich einer der Cemaphore-Jungs wiedererkennt.'
Sie gab sich einen Ruck und ging zur Theke und dort auf den Wirt zu.
Er bedachte sie mit einem wachsamen Blick.
"Entschuldige bitte, Herr! Hast Du hier einen großen, kräftig gebauten Mann mit rotem Bart und Glatze gesehen? Durchtrainiert, nicht auf den Mund gefallen."
Der Wirt lachte polternd auf, als wenn sie einen Witz erzählt hätte. Trotzdem ging sein Lachen fast unter in der allgegenwärtigen Lautstärke. Gegröhlte Gespräche, johlende Zechrunden, pochende Bierhumpen und das stete Klappern und Kollern der Würfel, wirkten als allgegenwärtiger Schutz der Privatsphäre. Der Wirt beugte sich mit einem breiten Grinsen vor, um die Distanz zu ihr zu verkürzen und sich verständlich zu machen. Er breitete die muskulösen Arme mit den schaufelgroßen Pranken beidseitig von sich aus und fragte fast verschwörerisch:
"Ham 'ne ganze Menge Burschen hier, auf die deine Beschreibung zutreffen würde. Welchen willste haben?"
Ihr sank der Mut. Für Ratereien würde ihre Zeit nicht reichen. Sie beschloss, einen letzten Versuch zu unternehmen.
"Er ist auch ein guter Kämpfer. Und er ist immer daran interessiert... sein Wissen zu erweitern. Er schätzt Informationen."
Der Wirt stemmte seine Hände in die Hüften und musterte sie demonstrativ von Kopf bis Fuß. Seine Augen sahen ihr hellwach entgegen.
"Ich will hier keinen Ärger, ist das klar?"
Sie beeilte sich zu nicken.
"Versuchs mit dem da! In der Ecke."
Sie wandte sich um und bedachte die Tische in der angedeuteten Richtung mit einem ausgiebigeren Blick. Einer von ihnen stand besonders günstig, so man dort auf jemanden zu warten, selber aber unentdeckt zu bleiben gedachte. Und an diesem Tisch saßen zwei Schatten im Zwielicht, zwei Männer, einer von ihnen mit dem Rücken zur Tür, der andere...
Ihre Blicke trafen sich. Der Hauptgefreite schien sie bereits eine Weile zu beobachten, wenn er auch keinerlei Anzeichen davon zeigte, sie darüber hinaus zu erkennen.
Mit einem knappen Dank an den Wirt ging sie auf den Tisch im Schatten zu.
Sein Gesprächspartner redete unaufhörlich, wild gestikulierend auf ihn ein und schien sich auch nicht daran zu stören, dass der Bergiger lediglich stumm vor seinem Bierhumpen saß, ihm zwar zuhörte aber sonst nur an ihm vorbei sah, um das Geschehen ringsum zu verfolgen.
Der Abstand zu dem Ecktisch wurde kleiner.
Ophelia fühlte sich schlagartig unwohl. Gleichgültig, wie dringend die Situation sein mochte, sie wusste nur zu gut darum, wie der Informantenkontakter von ihr dachte. Er hatte keinen Hehl aus seiner Verachtung gemacht und es sogar kürzlich erst fast zum öffentlichen Eklat kommen lassen. Sie stand noch immer zu ihrer Entscheidung, ihn bei der Internen anzuzeigen, auch wenn sie keinesfalls stolz darauf gewesen war. Allerdings hatte sich ihre Sicht der Dinge seitdem etwas gemildert. Vielleicht hätte sie ihm erst die Gelegenheit zu einer Erklärung einräumen sollen? Rogi gegenüber war sie so fair gewesen. Wenn sie es sich ehrlich eingestand, war es bei beiden um Medikamentenmissbrauch gegangen. Die Igorina hatte lediglich den Vorteil gehabt, dass sie sie als ihr Vorbild gesehen und vor möglichem Gerede hatte schützen wollen.
Nur bittere Ironie konnte eine neuerliche Welle der Trauer abwenden, bevor diese sie zu überschwemmen und niederzudrücken drohte.
'Man sieht ja, was ihr meine 'Fairness' eingebracht hat... Ettark lebt wenigstens noch. Vermutlich sollte er sich glücklich schätzen und mich weiterhin so vehement meiden.'
Sie schüttelte die Gedanken ab.
Ettark würde vermutlich für immer eine Verräterin in ihr sehen, jemanden, der seine Kameraden hinterging.
'Und er hat Recht... gewissermaßen...'
Sie musste schwer schlucken, besann sich dann aber auf die aktuelle Situation.
'Es nützt alles nichts... jetzt ist jetzt. Und hier ist hier.'
Sie trat dicht hinter den noch immer redenden Mann, während der Hauptgefreite interessiert aber wachsam aufsah.
"Ich muss mit Dir reden. Sofort!" Der schlacksige Vielredner vor ihr wandte sich mit einem scharfen Protest auf den Lippen zu ihr um, doch sie ließ ihn nicht mal zu Wort kommen, als sie anfügte: "Unter vier Augen."
Erst in der Sekunde, als sie den schwachen Lichtschein der Kerze betreten hatte und er ihre Stimme hörte, sah sie das Erkennen durch seinen Blick huschen.
"Verschwinde, Luigi!"
"Aber..."
"Ich wiederhol' das nicht."
Sein Gesprächspartner schob den Stuhl mit lautem Scharren schwungvoll zurück, warf ihr einen finsteren Blick zu und ging in Richtung Theke davon.
Ettark kreuzte die Arme vor der Brust und lehnte sich langsam, regelrecht provokativ, zurück.
"Sieh' mal einer an..."
Ophelia scheiterte in dem Bemühen, seine Mimik zu deuten. Stattdessen nahm sie unaufgefordert Platz, beugte sich etwas über den schartigen Tisch und kam sofort zur Sache.
"Du musst eine Nachricht weiterleiten!"
Seine Augen verengten sich widerwillig.
"Ach... sagt wer?"
Seine Reaktion löste eine unterschwellige Aggression in ihr aus, die sie selbst erschreckte.
'Er weiß ganz genau, dass ich nicht so weit gehen würde, ihm an diesem Ort unsere jeweiligen Ränge vor Augen zu führen. Er ist weisungsgebunden! Und er hat im Moment die besseren Rahmenbedingungen, um aktiv zu werden.'
Sie atmete tief ein und antwortete mit aller zu Gebote stehenden Ruhe: "Die Vernunft."
Der Bergiger wollte zu einer weiteren abfälligen Bemerkung ansetzen, doch sie unterbrach auch ihn.
"Wir haben keine Zeit für solche Spielchen. Wirst Du zuhören und handeln oder muss ich meine... Möglichkeiten gefährden, indem ich nach Alternativen suche, wo mir die Zeit durch die Finger rinnt?"
Er verharrte noch kurz bewegungslos, dann beugte auch er sich näher zu ihr und stützte sich auf seinen Unterarmen soweit vor, dass kein halber Meter mehr zwischen ihnen lag.
"Was willst Du?"
Die Flamme der Kerze zwischen ihnen irrlichterte in seinen Pupillen und ließ jede Menge Interpretationsspielraum, was die möglichen Gefühle hinter den Worten anbetraf.
Sie setzte ihn ohne weitere Verzögerungen darüber ins Bilde, mit welchen Aktivitäten seitens der HIRN in dieser Nacht noch zu rechnen wäre.
Seine Augen weiteten sich zunehmend, als er die Dimension des Ganzen erfasste.
Sie strich sich eine der schwarzen Strähnen hinters Ohr und schloss mit den Worten: "Ich müsste im Grunde schon längst wieder auf dem Rückweg sein, wenn die Ausrede mit der Panikattacke glaubwürdig sein soll. Ich hoffe, das Entwenden des Pferdes wurde nicht sofort gemeldet. Aber vermutlich habe ich nicht so viel Glück." Sie sah ihn an. "Hast Du noch Fragen? Irgendwas, das ich übersehen hätte?"
Er überlegte kurz.
"Vor der Dämmerung, sagst Du?"
Sie nickte knapp.
"In Ordnung. Ich werde dafür sorgen, dass die Grünhemden informiert sind."
Sie atmete erleichtert auf. "Danke!"
Der SEALS hielt sie mit einem intensiven Blick auf, als sie sich zum Gehen wenden wollte. Seine Stirn war leicht gerunzelt.
"Du bist reingekommen?"
Ihre Antwort kam zögerlich, während ihre Nervosität aufgrund der dahinschwindenden Zeit stetig zunahm.
"Wenn Du die Heimlichen Infragesteller meinst... ja."
"Wie hast Du das gemacht?"
"Ich... hatte Hilfe."
Er musterte sie kritisch.
"Und der alte Haudegen hat sein OK dazu gegeben?"
Sie wich seinem Blick aus.
"Ja, das hat er. Und nun entschuldige mich bitte... Ich muss mich beeilen."
Sie erhob sich von dem Stuhl.
Der Informantenkontakter wirkte fast schon etwas geistesabwesend, als er vor sich hinmurmelte: "Baron Von Hopfenhauff also... das Anwesen habe ich schon mal gesehen..."
Ophelia forderte ein letztes Mal seine Aufmerksamkeit ein.
"Ich lege das vertrauensvoll in deine Hände."
Sie drehte sich um, doch er hielt sie auf.
"Stop!"
Sie blickte zurück und er schnippte eine funkelnde Münze so über den Tisch, dass sie diese nur knapp aus der Luft fangen und an sich drücken konnte.
Er grinste sie dreckig an.
"Nette Info. Vielleicht sogar brauchbar. Hast Du dir verdient."

~~~ Er ist der Püschologe! ~~~


Der Zwerg war mehr als nur etwas nervös. Sein Stellvertreterposten hatte bisher irgendwie sowas rein Nominelles an sich gehabt. Bis heute.
Die Reisekutsche, die sie sich kurzerhand vom Gänsetor hatten kommen lassen, war vollgequetscht mit den zur Verfügung stehenden FROG - dem Kommandeur, ihm selbst, Valdimier, Nyvania und Kanndra. Ein Armutszeugnis für die Eingreifftruppe, selbst wenn jeder Einzelne von ihnen sich momentan noch mehr Bewegungsfreiraum gewünscht hätte. Ihre Waffen waren in den Reisetaschen auf dem Dach der Kutsche verstaut. Kanndra und Nyvania wirkten noch am gelassensten, wohingegen der Kommandeur ein extrem verkniffenes Gesicht machte und Valdimier immer wieder merkwürdig auf seinem Sitz herumhibbelte, als wenn ihn das Gedränge so sehr stören würde, dass es ihn dauernd dazu verlocken wollte, einfach die Gestalt zu wechseln und dem Inneren der Kutsche zu entkommen.
"Du hättest den ganzen Kram wirklich mit in die Reisetasche hinauf tun können.", sagte er vorwurfsvoll, mit einem Blick auf Braggaschs prall gefüllte Westentaschen, die sich wie ein eckiges Rundumpolster zwischen ihnen spannten, von all dem kleinteiligen Werkzeug.
Der Stellvertreter wollte widersprechen, doch Breguyars Blick hielt ihn davon ab. Stattdessen wich er der Feststellung mit einem Erröten und einem unartikulierten "Äh..." bestmöglich aus. Was hätte es auch genutzt? Er konnte sich schließlich nicht vom Werkzeug trennen und halb nackt herumrennen!
Der Einsatzort lag auf der anderen Seite der Götterinsel, hinter dem Palast und dem Platz der gebrochenen Monde. Es blieb ihnen allen also noch genug Zeit, die Fahrt zu 'genießen'.
Er versuchte, sich soweit wie möglich an die Kutschenwand zu drücken, um dem Vampir mehr Platz einzuräumen.
Kanndra nutzte die peinliche Pause, um den Plan nochmal durchzusprechen und Breguyar hielt sie nicht auf.
"Wir reisen also als lautstarke Truppe an und lassen uns ins Haus führen, mitsamt unserem Gepäck. Du, Sör, informierst den Wachtposten am Tor unter der Hand darüber, dass wir von der Wache kommen und eine Warnung für den Hausherrn bringen und uns zugleich auch als Verstärkung anbieten, dass sie unauffällig die Wachrouten wechseln und die Routineabläufe ändern sollen, um den Gegner zu verwirren. Braggasch und Valdimier werden auf dem Innenhof mehr Zeit als üblich brauchen, um angeblich nach der langen Reise Luft zu schnappen."
Es entstand eine kurze Pause. Der Kommandeur blickte genervt aus dem Fenster der Kutsche. "Mir gefällt das auch alles nicht. Wir machen einfach eine Menge Aufhebens und hoffen darauf, dass der Wirbel dazu führt, dass sie ihre Pläne ändern." Das skeptische Schweigen hielt an, bis Araghast seinem Unmut Luft machte. "Meine Güte, was soll ich denn machen, Eurer Meinung nach? Mit fünf Mann! Ich bräuchte Euch nur um das Gelände verteilen und schon hätten wir uns aus den Augen verloren! Nicht mal einen Komm-Ex haben wir dabei! Wie soll das gehen, ein koordinierter Zugriff ohne Informationsfluss?"
Braggasch sah sich betroffen in der Kutsche um. Das verbissene Schweigen der Kollegen, deren teils traurige, teils trotzige Blicke zeigten ihm, dass auch sie der Meinung waren, dass es den Hinweis auf die fehlende Igorina in dieser Situation nicht noch gebraucht hätte. Die Stimmung sank endgültig in den Keller und ein Jeder versuchte, den Blicken der anderen auszuweichen.
Kanndra lehnte sich mit einem resignierten Seufzer in das Sitzpolster zurück.
Kurz darauf wurde die Kutsche merklich langsamer und der Kutscher öffnete die kleine Sichtlucke oberhalb ihrer Köpfe, um sie zu informieren.
"So, die Herrschaften! Wir sind da. Soll ich erst noch warten oder gleich mit dem Abladen beginnen?"
Breguyar war in einer fließenden Bewegung aufgesprungen und bereits zur geöffneten Kutschentür hinaus gestiegen. Seine Stimme von dort drängte zur Eile.
"Du kannst gleich abladen!" Sein Kopf schoss wieder zur Tür herein und er blickte hochkonzentriert zu ihnen. "Auf, auf! Jetzt kommt es drauf an."
Der Zwerg begann schneller zu atmen und wartete bewusst, bis seine erfahreneren Kollegen vor ihm ausgestiegen waren.
Sie sammelten sich plaudernd vor dem hohen Tor, welches aus einer beiseite zu rollenden Metallplatte bestand. Ein Wappen in Form einer Wolfstatze, die parallele Rillen in das Muster gerissen hatte, war zu sehen und gemeinsam mit dem Familienmotto in das Tor graviert worden.
Vor ihnen ließ Breguyar mehrmals kräftig den schweren Eisenring der Tür gegen den Metalluntergrund krachen, um lautstark den Einlass zu fordern.
"Heda! Wo bleibt ihr denn? Gute Freunde lässt man doch nicht warten! Wir sind extra die ganze Nacht hindurch gereist!"
Braggasch unterdrückte den überaus starken Drang, sich allzu auffällig nach Verdächtigen umzuschauen. Er bezweifelte, dass diese Personen sich von ein paar Leuten mehr oder weniger wirklich in ihren Plänen abhalten lassen würden. Aber andererseits hatten sie mit dem Zeitpunkt ihres Angriffs offenbar den Weg des geringsten Widerstandes gehen und die Clanmitglieder ahnungslos im Schlaf überraschen wollen. Das wäre jetzt definitiv nicht mehr gegeben. Konnte es wirklich so leicht sein?
'Nun... ich werde wohl meinem Chef vertrauen müssen. Er ist der Püschologe...'
Er schloss zu den anderen auf, als sich die Sprechluke im Fenster des Tores mit einem zackigen Rutsch öffnete.
"Was soll das Getöse?"
Im Innenhof des Anwesens wurden zusätzliche Lampen und Fackeln entzündet, das Klappen einer Tür war zu hören.
Araghast rief regelrecht leutseelig hindurch: "Wir sind's! Kannst Bescheid sagen, dass wir endlich angekommen sind. War ein weiter Weg aber jetzt endlich... tadaaa! Angekommen! Ich hoffe, es gibt noch was zu essen? Wir haben einen Mordshunger!"
Valdimier neben ihm begann drauflos zu plappern, so dass er sich tatsächlich in der ersten Sekunde etwas erschrak, bevor ihm wieder einfiel, wozu dies dienen sollte.
'Richtig... harmlos wirken...'
"...man sich endlich mal wieder so richtig schön strecken. Ich dachte schon, wir kommen nie mehr an, bei all dem Stau."
"Äh... ja, also, ich... ich dachte das... ähm, auch?"
Hoffentlich konnte der Kommandeur schnell dafür sorgen, dass sie hereingebten wurden und diese Scharade fallen lassen konnten. Lange würde sein Gesprächsthemenvorrat nicht ausreichen.
Der Vampir sah ihn vorwurfsvoll an und rollte andeutungsweise mit den Augen.

~~~ Silbergraues Reich ~~~


Sie schloss die Wohnungstür hinter sich und sofort traten ihr all die anderen Türen vor Augen, die sich an diesem und in den Tagen zuvor so vehement vor ihr geschlossen hatten; nicht nur die buchstäblichen. Das ansatzweise Verständnis, welches sie zwischen sich und Roger erahnt zu haben glaubte - ausgelöscht. Das Vertrauen Breguyars - verloren. Das, was einer Freundschaft so ähnlich, zwischen Rogi und ihr bestanden hatte... vom Tode geraubt.
Die allmählich vertraute Geruchsmischung dieser Wohnung umfing sie; frisch gestärktes Leinen, kalte Bruchkohle, trockenes Feuerholz, ein Hauch würzigen Tees und zarter Blütenduft.
'Zu Hause?' Sie ließ die Frage unbeachtet in den Hintergrund rücken und legte stattdessen ihre Tasche auf dem kleinen Beistelltisch im Flur ab.
Das graue Zwielicht des Morgens sickerte bereits durch die Küche und ihre offen stehende Zimmertür hinein.
'Hoffentlich konnten die Kollegen Schlimmes verhindern. Und sind nicht selber zu Schaden gekommen...'
Die Erinnerung an den Abend, als die schnelle Eingreiftruppe niedergeschlagen zurückgekehrt und nur Rogi nirgends zu sehen gewesen war, ballte sich gleich Magenkrämpfen in ihr zusammen.
Die geschlossene Tür am Ende des Flures, rechts neben der geöffneten ihres Zimmers, zog Ophelias Blicke wie magisch auf sich.
Eine Sekunde später lag ihre Hand auf der Klinke und ehe sie ein weiteres Mal davor zurückschrecken konnte, drückte sie sie hinunter und stieß die Tür auf.
Der Zugang öffnete sich langsam und mit einem knatternden Knarren, welches jedem einzelnen Millimeter Ehre zuteil werden ließ. Das Tempo verlangsamte sich noch mehr und die Tür kam mit einem hochfrequenten Quietschen zum Stehen.
Sie hatte dieses Zimmer bisher nur ein einziges Mal betreten, so unglaublich dies auch klingen mochte. Es war Rogis Privatsphäre gewesen und weder hatte diese sie dazu aufgefordert gehabt, noch war es ihnen vergönnt gewesen, in unbeschwerter Weise gemeinsame Zeit zu verbringen, wie dies normale Stubenkameraden wohl taten. Und danach... danach hätte sie es noch mehr als Verstoß gegen Rogis Wünsche gesehen, einfach so hier hereinzuspazieren und in deren Hinterlassenschaften zu wühlen.
Staubpartikel schwebten in der Luft und ein allgegenwärtiger, samtiger Belag bedeckte alle Flächen. Rund um die beiden Fenster, die nach vorne zur Straße hinausgingen und von dem das eine eher einer Tür ähnelte, zogen sich Spinnweben wie schwere Spitzenbögen zu den Seiten hin. Das graue Morgenlicht füllte den Raum diffus, ohne klare Linien, an denen man hätte erkennen können, wo Schatten begannen oder endeten.
'Rogi ist erst seit einem knappen Monat tot... und es sieht aus, als wenn selbst die Geschichten um sie langsam in Vergessenheit geraten sein müssten, so sehr vermittelt ihr Zimmer den Eindruck, dass es Jahre ist, dass sie selber hier herum ging.'
Sie betrat den Raum langsam und umsichtig, um ja nur keine der kunstvollen Spinnweben zu zerstören.
'Als wenn die Farben verblasst wären und die Zeit hier stillstünde.'
Es gab, bis auf das silbergraue Ambiente, welches die Igorina in ihrem Privatreich geschaffen hatte, nur sehr wenige Dinge, die an Rogi erinnerten. Eines ihrer Uniformhemden, welches ordentlich über der Stuhllehne hing, eine Schreibfeder auf dem Sekretär und die Tasche am Fußende ihres Bettes.
Ophelia starrte blicklos auf diese Tasche. Ihre Gedanken umkreisten den Verlauf der Nacht, kehrten dabei aber immer wieder zu dem Moment ihres Vortrages vor dem Publikum zurück, als der Erzählfaden zu ihrer Tarnidentität sich unentwirrbar mit den echten Bildern ihrer Erinnerungen überlappt hatte.
"Der Igor" hatte sie gerettet...
Sie hatte nicht vorgehabt, in Rogis privaten Dingen herumzuwühlen, auch jetzt nicht. Aber der Verlust kochte immer häufiger in ihr hoch und mit dem heutigen Abend kam sie nicht mehr umhin, sich einzugestehen, dass sie inniglich um die Verstorbene trauerte. Sie wollte nicht einfach unstatthafter Neugier nachgeben, sie wollte vielmehr die Entfernung zu Rogi überbrücken. So unlogisch es klingen mochte, da es ja nichts ändern konnte aber sie wünschte sich, irgendetwas von dieser in Händen halten zu können, was eine persönliche Bedeutung beinhaltete. Um den Gedanken zu ertragen, dass deren Körper kalt im Grund ruhte, so weit fort und deren Wesen ihr für immer fehlen würde, unerreichbar.
Sie stand verzweifelt mitten im Raum, den Blick immer noch wie hypnotisiert auf die Tasche gerichtet und gleichzeitig darum bemüht, irgendwie Aufschub zu erwirken.
Sie rief sich die Ereignisse der letzten Stunden in Erinnerung zurück, um zu prüfen, ob sie irgendetwas übersehen hatte oder ob ihre Tarnung, trotz der Eskapaden, wirklich noch immer intakt sein konnte.

Die Gäste waren größtenteils bereits gegangen oder im Begriff, dies zu tun. Bei den Stallungen, auf der Rückseite des Anwesens, war der Aufruhr, den sie ausgelöst hatte, im Gegensatz dazu spürbar. Nicht nur sah ihr der Stalljunge vorwurfsvoll mit einem feurig roten Handabdruck im Gesicht entgegen. Von Hopfenhauff kam ihr gemeinsam mit Schenk quer über die Kiesfläche entgegen geeilt, kaum dass man ihre Rückkehr gemeldet hatte und sie sich vom Rücken des schwitzenden Pferdes gleiten ließ. Zumindest das Tier wurde sofort und ohne die leiseste Frage in fürsorgliche Obhut genommen. Sie führten es so schnell und mit so besorgten Blicken von ihr fort, als wenn sie eine unberechenbare Irre wäre.
"Frau Ligand! Was hast Du dir dabei gedacht, eines der Pferde aus den Stallungen zu stehlen?" Der Baron war deutlich aufgebracht, hecktische rote Flecken verunzierten seine makelos geschminkte, ebenmäßige Haut. "Ich lade Dich Herrn Schenk zuliebe in mein Haus ein und Du hintergehst mich!"
Schenk trat mit verkniffenem Mund neben sie und wartete angespannt auf ihre Erwiderung.
"Es tut mir leid, Herr Baron. Wirklich! Ich war wohl irgendwie sehr verwirrt. Ich bin allein in diesem riesigen, dunklen Zimmer zu mir gekommen und dann waren die ganzen Erinnerungen zu den V... den V... den Blutsaugern wieder da und ich hatte solche Panik, dass ich nur noch raus wollte und ich habe auch gar nicht richtig Luft bekommen und dachte mir eben, dass ich draußen, bestimmt besser würde atmen können. Und dann bin ich durch das Haus geirrt und immer panischer geworden, weil es kein Ende nehmen wollte, wo es doch so groß ist und dann war ich auf dem Hof und vor mir auf einmal dieses Pferd, was auf mich gewartet zu haben schien, so ganz aufgezäumt und unruhig herumtänzelnd! Und dann wollte ich nur noch weg, egal wohin." Sie holte tief Luft. "Ich... wie gesagt, es tut mir total leid... ich bin irgendwann langsamer geworden. Oder besser gesagt, das Pferd wurde es. Ich bin dann schnell wieder umgekehrt. Ich wollte dein Pferd nicht stehlen, das musst Du mir glauben, Herr, bitte!"
Sie sah, wie die beiden Herren sich Blicke zuwarfen. Der Baron runzelte unwillig die Stirn, bevor er sie verärgert an seinen Mitstreiter verwies.
"Nun ja, Du hast es ja wiedergebracht und es ist kein weiterer Schaden entstanden. Nochmal werde ich solch ein Verhalten allerdings nicht tollerieren. Nur dass Du es weißt: Dieses Pferd, das Du fast zu Schanden geritten hast, das gehört einem meiner Gäste und ist ein Vermögen wert, mehr als Du in deinem ganzen Leben verdienen kannst! Ich musste sogar eines meiner eigenen Pferde deswegen als Ersatz verleihen. Wie stehe ich denn nun da?"
Sie warf einen niedergeschlagenen Blick auf ihre Schuhe.
Max Schenk legte ihr sanft eine Hand auf den Rücken.
"Geht es denn jetzt wieder, Theri?"
Sie blickte halb zerknirscht, halb scheu zu ihm auf und nickte.
"Ja, geht schon."
Die beiden Männer wechselten noch einen schnellen Blick, dann wedelte Von Hopfenhauff ungeduldig mit der Hand.
"Gut, gut! Dann kann ich mich ja endlich zur Ruhe begeben. Du begleitest Frau Ligand noch bis vor ihre Wohnungstür!"
"Das ist wirklich nicht nötig, ich..."
"Keine Widerworte! Meine Gäste sollen ihr Heim allesamt unbeschadet erreichen und so bin ich mir dessen sogar in deinem Fall sicher."

Der Aktivist hatte ihnen die Kutsche vorfahren und sich von ihr die Adresse geben lassen. Die meiste Zeit der Fahrt über hatte sie aus dem Fenster gesehen und er es dabei belassen, ohne ihr ein Gespräch aufzudrängen. Sie hatte ihm bewusst gestattet gehabt, einen flüchtigen Blick zur Tür ihrer schäbigen Unterkunft hineinzuwerfen, ihn dann aber erleichtert ausgeschlossen. Es dauerte lange, bis sie sich sicher war, dass er gegangen und die Luft rein genug war, um den wahren Heimweg anzutreten.
Und nun stand sie hier.
Es war Leichtsinn gewesen, ein letztes Mal heimzukehren. Und dumm obendrein, wo sie hier alles Wichtige geregelt und längst für ihre Abwesenheit vorbereitet gehabt hatte. Selbst Frau Jahwohl hatte sie darauf eingestimmt gehabt, einige Tage "bei Freunden" unterzukommen und nun ließ sie sämtliche Scharniere auf ihrem Weg durch die Wohnung knarren...
Sie merkte erst, dass sie die prall gefüllte Tasche aufgenommen und sich mit dieser mittig auf die Bettkante gesetzt hatte, als der Staub rund um sie her deswegen etwas aufwirbelte. Ihre Finger strichen zitternd über das rauhe Leder der alten Reisetasche. Sie fanden den Verschluss und öffneten ihn. Die Tasche klappte mit einem leisen Klicken auf.
Sie war angefüllt mit Kleidung, die unangetastet den Boden füllte. Darauf lagen eine kleine Holzkiste und ein handtellergroßer, schlichter Spiegel, welcher ihr eigenes Gesicht reflecktierte: bleich und müde, von dem kinnlangen schwarzen Haar umrahmt wie von Trauerflor, mit deutlich erkennbaren Augenringen. Sie klappte die kleine Schatulle auf und entdeckte ein alt anmutendes aber nichtsdestotrotz blitzeblank poliertes Operationsbesteck mit Skalpellen und Pinzette. Sie strich mit bebenden Fingerspitzen sacht über die Skalpellgriffe.
'Woher sie dieses wohl gehabt hat? In der Wache hat sie meistens andere genutzt, wenn ich mich richtig erinnere...'
Sie klappte sowohl das Kästchen, als auch die Tasche zu, erhob sich schleppend und stellte die Tasche wieder auf die niedrige Ablage am Fußende des Bettes. Dort lag die zweite Tasche, die bis eben hinter der größeren verborgen gewesen war.
'Ihre Umhängetasche aus dem Büro. Das Wenige, was ich dort von ihr mitgenommen habe, als ich ihre Hinterlassenschaften zusammen gesucht habe. Bevor der Raum wieder allen zugänglich gemacht wurde...'
Sie nahm auch diese Tasche auf und ging zurück, um sich auf das Bett zu setzen. Es bereitete ihr etwas Mühe, die Verschlüsse zu lösen. Die Umhängetasche der Igorina enthielt verschiedene Kleinigkeiten, wild zusammengewürfelt. Sie war nicht sicher gewesen, was Rogi wichtig gewesen wäre. Nur bei dem schlichten, kleinen Lederetui mit dem Nadelset hatte ihr Gespür merkwürdigerweise sofort angeschlagen. Das hätte sie unter keinen Umständen dort lassen können, wo es vielleicht unter die Räder gekommen wäre. Mit ihren Operationsutensilien war Rogi immer eigen gewesen, diese hatten ihr offensichtlich etwas bedeutet gehabt. Aber der Rest... bei vielen dieser Sachen war ihr nicht einmal bewusst gewesen, dass sie sie eingesteckt hatte. Wie beispielsweise bei dem matt schimmernden Gegenstand, den sie nun aus dem Kleinkram herauszog. Sie tat einen langen Atemzug.
'Rogis Taschenuhr...'
Das silberne Gehäuse war schlicht, ohne jegliche Schnörkel gehalten. Es trug keinerlei Gravur oder sonstige Hinweise auf den Besitzer.
Ophelia ließ den Deckel aufspringen.
'Auch hier keine Gravur, keine Initialien, keine Ikonographie...'
Von draußen setzte das versetzte Stundengeläut unzähliger Turmuhren ein.
'Sechs Uhr...'
Sie betrachtete die beiden unbeweglichen Zeiger, die mangels der üblichen Fürsorge exakt auf zwölf Uhr stehengeblieben waren. Lediglich der Sekundenzeiger hatte den Wettlauf mit seinen größeren Geschwistern nicht ganz geschafft und war zehn Sekunden vor dem Zenit zum Halt gekommen.
Ophelias Blick klebte an dem so symbolischen Minutenzeiger.
'Nicht einmal fünf vor...'
Der Kloß in ihrem Hals wuchs wieder an. Sie zwinkerte die aufsteigenden Tränen fort, doch es kamen schnell neue nach. Sie klemmte die Uhr zwischen ihren Knien fest und stellte die Zeit neu ein, indem sie die Uhr immer wieder aufnahm und milimeterweise nachbesserte. Dann betätigte sie im Innern der Uhr die Wippenfunktion, schob den Mechanismus des Kronenaufzuges sachte zurück, bis das Getriebe umsprang und zog dann die Feder im Innern auf.
Ein kaum hörbares Ticken setzte ein und der große Zeiger rückte gemächlich auf den nächsten Teilstrich vor.
Sie blickte auf die Uhr in ihrer Hand. Dann schloss sie langsam deren Deckel.
'Niemand kann die Zeit anhalten... Ich werde Rogis Uhr mitnehmen und bei mir behalten. Als Andenken und als Trost. Sie ist so neutral gehalten, dass sie mir selbst, wenn sie entdeckt werden würde, nicht gefährlich sein könnte. Falls es zu Fragen kommen sollte, werde ich sie als Erbstück meines angeblichen Mannes ausgeben.'
Sie erhob sich entschlossen, stellte die Tasche zu der anderen zurück und blickte sich noch einmal im Zimmer um. Ihre Anwesenheit hatte, so vorsichtig sie auch gewesen war, deutliche Spuren hinterlassen. Die Staubschicht war, in einer schmalen Spur zum Bett und von diesem zurück zur Tür, mit ihren Fußabdrücken gezeichnet und sie hatte eine leichte Mulde dort hinterlassen, wo sie gesessen hatte.
'Wenn sie hier wäre, würde es sie dann stören? Oder hat sie es als normalen Veränderungsprozess gesehen, wenn der Staub von anderen quasi neu verteilt wurde? Eine so einfache Frage - und ich werde nie die Antwort darauf erfahren."
Auf einmal fühlte sich das Zimmer, ja die ganze Wohnung, beengt an.
Ophelia beeilte sich, die Tür zu schließen. Sie wechselte in ihrem Zimmer die Kleidung und setzte die Perrücke auf, die sie inzwischen mit der richtigen aus ihrem eigenen Haar hatte ersetzen können.
Es mochte unprofessionell sein aber sie konnte den Gedanken nicht ertragen, jetzt gerade als Theridae, die Fremde, durch die Straßen zu ziehen. Sie musste wenigstens für einige Stunden noch sie selbst sein, authentisch, unverstellt... allein mit ihren wahren Gefühlen, bevor sie diese für die nächsten Tage oder Wochen fortzuschließen hätte. Sie plagte die unerträgliche Vorstellung, dass sie sich selbst irgendwie verlieren würde, wenn sie es nicht täte.
Kurz darauf trat Ophelia leicht verunsichert auf die Straße und in den frischen Frühlingssonnenschein. Vor dem Haus, auf dem kleinen Platz des Häuserkarees, begrüßte sie das ausgelassene Markttreiben. Die ersten Händler hatten sich bereits häuslich mit ihren Gemüseständen eingerichtet.
Rogis Taschenuhr steckte, in einen ledernden Einschub zwischen ihrem Körper und der Armschiene eingeklemmt, dicht an ihrem Herzen. Ihre Füße trugen sie von selbst an den laut rufenden Marktschreiern, den bunt leuchtenden Blumensträußen und den Korbwaren vorbei, in die Richtung, in der ihr Lieblingscafé lag. Und sie war von ganzem Herzen froh darüber, ausgerechnet dieses aus ihrer Verdeckten Ermittlung der letzten Zeit herausgehalten zu haben, so dass sie dort zumindest keine Angst würde haben müssen, einem der Beteiligten zu begegnen.
'Diese wenigen Stunden noch... dann werde ich soweit sein. Bestimmt.'

~~~ Vom Zauber getroffen ~~~


Der warme Duft des Fruchttees strich ihm um die Nase und so etwas wie müde Behaglichkeit hatte sich seiner bemächtigt. Sein Blick streifte fast verträumt über die vielen Tische und Stühle des Cafés, die wenigen Kunden, die sich zu dieser frühen Morgenstunde für ein schnelles Frühstück an ihnen niedergelassen hatten und die vielen Kunden, die nur gehetzt vom Gehsteig hereinstürzten, zum Verkaufstresen hasteten und sich ein heißes Getränk zum Mitnehmen orderten, bevor sie ebenso schnell wieder verschwanden. Sein geschultes Auge registrierte dabei viele Dinge, die andere nicht einmal bei längerer Beobachtung wahrgenommen hätten, doch er versuchte diese geschäftliche Ebene weitestmöglich auszublenden. Immerhin hatte er Feierabend.
'Oder Feiermorgen... wie man es auch nimmt.'
Die Sache von heute Nacht war nicht ganz einfach gewesen und doch hatte er sie zu Havelocks vollster Zufriedenheit erfüllen können.
Rach lächelte hinter dem Tassenrand. Seine Gedanken begannen zu wandern, jetzt wo seine Arbeit getan war und er sich diesen Luxus wieder erlauben durfte.
'Jules wird große Augen machen, wenn ich ihm davon erzähle.' Der Wunsch, das Erlebte mit seinem Mitbewohner zu teilen, führte ihn unweigerlich zu der mahnenden Stimme seiner nörgelnden jüngeren Schwester, Esther.
'Jules hat das blöde Katzenvieh bestimmt noch nicht versorgt, wenn ich zurückkomme. Großartig... also stinkendes Futter nachfüllen und den Abort reinigen. Was tut man nicht alles für Geschwister! Nur, weil sie unbedingt eine Katze haben wollte und jetzt überraschenderweise keine Zeit mehr hat, sich auch um sie zu kümmern.'
Er trank entschlossen den letzten, fast kalten Schluck aus und stellte die Tasse vor sich ab.
Da streifte sein Blick die Eingangstür des Geschäftes, an der soeben eine junge Frau eintrat. Ihr Gang wirkte elegant und fließend, ebenso wie ihre schlichte Aufmachung. Er war sofort von ihr fasziniert, ohne den Grund dafür genauer benennen zu können. Dann sah sie mit einem kurzen Lächeln in die Runde, bevor sie sich nicht weit von ihm entfernt an einen der hinteren Tische setzte, von denen aus sie die Straße im Blick haben würde.
Ihre Augen waren von einem so ausdrucksstarken hellen grau, wie er es bisher nur ein einziges Mal gesehen hatte. Und das vor gar nicht allzulanger Zeit.
Allerdings war sie nun rothaarig.
Seine Aufmerksamkeit war mit einem Schlage gefesselt.
Er wandte den Blick mit Mühe von ihr ab und beobachtete sie stattdessen durch die matte Spiegelung im Fensterglas.
'Zweifellos die gleiche Frau. Sie hat noch immer das Problem mit dem Arm, es wird also vermutlich etwas Ernstes sein und nicht bloß ebenso geschauspielert, wie ihr sonstiges Auftreten. Sie ist die Gleiche! Selbst wenn sie jetzt eine Perrücke trägt und die Trauer abgelegt hat.'
Rach entsann sich daran, in welchem der vielen, von ihm bevorzugten Cafés er sie das erste Mal gesehen hatte.
'Das war im 'Klammer' gewesen... ein ganzes Stück von hier entfernt, andere Flussseite.'
Es war nicht schwer, sie im Blick zu behalten. Ihr Gesicht wirkte so blass, dass die Spiegelung vor ihm beinahe greifbar in der Luft schwebte.
Der Kellner eilte zu ihr und sie gab mit leiser Stimme die Bestellung auf: einen beruhigenden Kräutertee.
'Dann würde ich mal vermuten, dass auch sie bereits eine lange Nacht hinter sich hat.'
Aus der Art, wie der Kellner sie ansprach und ihr mehr Aufmerksamkeit schenkte, als er dies bisher bei den anderen Gästen getan hatte, ohne deswegen aufdringlich oder allzu vertraut zu wirken, seine freundlichen kleinen Kommentare und die fürsorgliche Nachfrage, ob sie sonst noch etwas bräuchte... aus all dem ließ sich ableiten, dass sie hier vermutlich häufiger anzutreffen und gern gesehen war.
'Ihr Lieblingscafé?'
Der Kellner verließ ihren Tisch, um sich um das Gewünschte zu kümmern. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich zuerst aus dem Fenster, so dass Rach sich gezwungen sah, die leere Tasse an seine Lippen zu führen, um seinen eigenen Blick in einer natürlichen Bewegungsfolge zu senken.
Sie saß steif und aufrecht auf dem kleinen Stuhl, als wenn sie einen Besenstiel verschluckt hätte. Allmählich senkte sie den Kopf, bis sie gedanklich ganz klar in einer anderen Realität weilte und die Tischplatte vor sich anstarrte.
'Hm... eigentlich wollte ich gleich gehen. Aber andererseits... ich habe jetzt Zeit...'
Zudem hatten die Gedanken an diese Frau ihm lange keine Ruhe gelassen. Auch wenn Havelock sich sehr sicher gewesen schien, dass es sich bei der von ihm beschriebenen Frau keinesfalls um die Nulla handelte, so hatte sie sich ihm doch als Rätsel präsentiert. Und nun saß dieses Rätsel ein weiteres Mal keine fünf Meter von ihm entfernt!
'Ob sie auch für Havelock arbeitet? Er war sich zu schnell zu sicher gewesen. Andere Abteilung, andere Zuständigkeit?'
Der Kellner huschte durch Rachs Blickfeld und schreckte die Frau aus ihren Gedanken, als er den Tee und einige zusätzliche Plätzchen brachte. Ihre freundliche Erwiderung klang einerseits ehrlich dankbar, andererseits aber auch fast etwas erzwungen.
'Sie will ihre Ruhe haben, ganz eindeutig.'
Er wandte sich in dem Moment scheinbar zufällig dem vorbeieilenden Kellner zu, als sie ihr Bein überschlug und dazu mit der gesunden Hand die Röcke leicht raffte. Fast hätte der Bedienstete im Weg gestanden.
"Noch einen solchen Tee bitte, vielen Dank!"
Die Sichtblockade verschwand dienstbeflissen und Rach speicherte zufrieden eine weitere Information zu diesem gestaltgewordenen Puzzle ab.
'Sieh an! Dolch und Pflock trägt sie noch immer bei sich, auch in dieser Aufmachung. Dann vermute ich jetzt mal ganz gewagt, dass ihre spezizistische Attitüde nur zum Teil mit der gespielten Rolle zu tun hat. Zum anderen Teil aber wohl begründet ist. Ein kompliziertes Verhältnis zu unseren nachtaktiven Mitbürgern? Oder eine persönliche Angelegenheit, die noch nicht zur Zufriedenheit geregelt werden konnte? Da steckt auf jeden Fall mehr dahinter! Beim letzten Mal wirkte sie auffällig, unangenehm und extrovertiert, jetzt hingegen ruhig, freundlich und in sich gekehrt. Ihr heutiges Auftreten dürfte ihre wahre Identität sein - auch wenn es mehr als ungewöhnlich ist, diese mithilfe einer Perrücke zu etablieren, anstatt es andersrum zu handhaben...'
Sein Tee kam und wurde sorgsam vor ihm abgestellt, wenn auch ohne die Dreingabe von Plätzchen, wie er das am anderen Tisch beobachtet hatte.
Die Frau hatte sich inzwischen Zucker in den Tee getan und diesen mit dem kleinen Löffel verrührt. Tatsächlich saß sie still wie eine Puppe an ihrem Tisch, den Ellenbogen auf diesem abgestützt und den Löffel wie zum Verühren noch immer in der Tasse. Dabei blickte sie starr vor sich hin, so leblos...
Der Sekretär für Sonderaufgaben runzelte unmerklich die Stirn.
'Sie bewegt sich gar nicht mehr. So überhaupt nicht. Ist sie von einem Zauber attackiert worden?'
Er wartete noch einige Sekunden, ließ dann aber seinen Blick wie den eines gemütlich herumlungernden Cafébesuchers durch den Raum schweifen. Die Unauffälligkeit nützte ihm nichts, als der Blick an ihr hängen blieb. Was in der schattigen, leicht verschwommenen Reflexion nicht zu sehen gewesen war, war die Tatsache, dass ihr Tränen lautlos über das völlig abwesende Gesicht liefen.
'Was in aller...'
Der kleine Zweifel löste sich vollständig in Luft auf. In dieser Weise verhielt sich niemand, der in verschiedenen Rollen unterwegs zu sein gewohnt schien, insofern er sich in der Gefahr einer Entdeckung wähnen musste.
'Das ist eindeutig ihre echte Identität und sie fühlt sich unbeobachtet. Sonst hätte ihr Unterbewusstsein ausgerechnet das nun in einem öffentlichen Bereich auf gar keinen Fall zugelassen.'
Er war hin und her gerissen von dem peinlich berührten Drang, sich vor einem so typisch weiblichen Verhalten, das an überspannte Hysterie grenzen mochte, abzuwenden und dem entgegengesetzten Drang, zu ihr zu gehen und ihr Beistand anzubieten.
'Ich kenne sie doch nicht einmal! Und vorgestellt wurden wir einander auch nicht.' Er spürte eine seltsame Befangenheit, die ihn kaum jemals bisher befallen hatte. Normalerweise war er für sein leidenschaftliches Draufgängertum bekannt, für furchtlose Wetteinsätze und die hohen Ansprüche eines Erstgeborenen aus gut betuchten Kreisen. Es gab nur Weniges, was er sich nicht zugetraut hätte, vor allem seitdem er sich zu Recht als erfolgreichen Absolventen der Assassinengilde bezeichnen durfte. Und dann zögerte er, sich einer schmächtigen Frau zu nähern? Der spöttische Gedanke an seine kleine Schwester schoss ihm durch den Sinn, doch er verdrängte ihn schnell wieder. 'Verdammt!'
Neugier und Mitgefühl hielten sich die Waage, als er sich in einer einzigen Bewegung erhob, aus der Innentasche seiner dunklen Jacke das frische Stofftaschentuch mit seinem Monogramm herauszog und zu ihr an den Tisch trat. Er näherte sich ihr von der Seite, so dass er keinen Schatten auf sie warf.
"Darf ich?"
Der Moment war zwar zufällig aber dennoch gut gewählt gewesen - sie waren genau jetzt allein im Raum. Von der Straße blieb Kundschaft aus, der letzte Frühstücksgast war soeben gegangen und die Bedienung holte aus dem hinteren Raum Nachschub an belegten Broten.
Sie blickte auf.
Rach hielt das blütenweiße Tuch etwas näher und lächelte zurückhaltend. Er hatte es sich schwierig vorgestellt, sie anzusprechen und nicht gleichzeitig mit seinen unzähligen, neugierigen Fragen über sie herzufallen. Nun jedoch... Zwar pochten diese Fragen noch immer aufgeregt hinter seiner Stirn und buhlten um Aufmerksamkeit, ihr hilfloser Blick aber machte es unmöglich, auch nur eine einzige davon in Erwägung zu ziehen. Er wurde sich dessen bewusst, dass er keine Ahnung hatte, warum sie so litt. Nur, dass sie es fraglos tat, andere Rollen hin oder her. Das hier war authentisch und es war so tief, dass er sich dagegen linkisch und unbeholfen vorkam.
Er räusperte sich und noch immer schien sie ihn nicht wirklich wahrzunehmen.
Da tat er etwas, von dem er sich weder in diesem Moment, noch später jemals erklären konnte, was ihn zu einer so dreisten Vertraulichkeit einer absolut Fremden gegenüber verleitet hatte. Vielleicht eine längst verschüttete Erinnerung an die Tränen seiner kleinen Schwester?
Er ging leicht in die Knie und wischte ihr mit dem Tüchlein vorsichtig über die Wangen.
Sie blinzelte und holte erschrocken Luft. Pötzlich war sie ganz anwesend. Sie zuckte zusammen und errötete.
Er wich zurück, erhob sich schnell wieder und legte das Tuch vor ihr auf den Tisch ab.
'Bei den Göttern! Was ist nur in mich gefahren?'
Sie fasste sich mit der freien Hand an die heiße Wange und blickte mit schreckgeweiteten Pupillen zu ihm auf.
"Ich habe... oh! Es tut mir leid, Herr, ich wollte niemandem Anlass dazu geben, mir... ich... danke! Es tut mir aufrichtig leid, Du brauchst mich wirklich nicht weiter beachten..."
Er beeilte sich, sie zu beschwichtigen.
"Bitte, Madame, mir tut es leid. Ich hätte mich nicht einmischen sollen. Sicherlich wäre es Dir viel lieber gewesen, wenn ich mich um meine eigenen Angelegenheiten gekümmert hätte. Bitte verzeih meine Aufdringlichkeit! Ich habe mich noch nicht einmal vorgestellt." Er holte dies aus reiner Verlegenheit sofort nach. "Rach Flanellfuß, habe die Ehre, Madame!"
Sie erhob sich von dem Stuhl und knickste.
"Ophelia Ziegenberger, Herr."
Die Ladenglocke bimmelte, als ein neuer Gast hereinkam und zum Tresen eilte. Aus dem hinteren Raum kam sofort der Kellner an die Theke und nahm die Bestellung an.
Rach beobachtete, wie die junge Frau sich verunsichert nach den beiden Stimmen umblickte. Er deutete einen weiteren Diener an.
"Dann möchte ich nicht weiter..."
"Nein! Wartet..."
Sie lächelte verlegen und errötete prompt erneut, diesmal jedoch auf ganz bezaubernde Weise. Sie schlug die Augen nieder und deutete auf den zweiten Stuhl, ihr gegenüber.
"Möchtest Du vielleicht... also... vielen Dank, für deine freundliche Aufmerksamkeit, Herr. Darf ich Dich in Erwiderung vielleicht auf einen Tee einladen?"
Dieses Angebot kam für ihn völlig überraschend. Nicht nur, dass er unter diesen Umständen keinesfalls damit gerechnet hätte, dass sie auf ein Gespräch eingehen würde, zumal mit einem Unbekannten. Nein, er war auch - bis auf die neckenden Sticheleien Esthers - noch nie von einer Frau eingeladen worden. Normalerweise war er derjenige, der einlud.
Er blickte auf den Stuhl, dann auf sie.
'Ein reizvolles Puzzle. Und vermutlich die einzige Gelegenheit, es näher in Augenschein zu nehmen.' Er dachte unweigerlich an die Tränen. 'Aber auch eines, mit dem man behutsam umgehen muss. Keine Spielchen...'
Er neigte den Kopf.
"Wenn Du das wirklich möchtest?"
Sie atmete tief ein und lächelte wieder, dieses Mal etwas sicherer.
"Ja, das möchte ich gerne, wenn es Dir nicht unangenehm wäre. Das Schlimmste ist ausgestanden und vermutlich werde ich heute keine bessere Gelegenheit mehr dazu geboten bekommen, auf erfreulichere Gedanken zu kommen. Bitte, nimm doch Platz! Ich werde Antoinne gleich anweisen, ein weiteres Gedeck aufzutischen. Was darf ich uns bestellen?"

~~~ Gleichgesinnte ~~~


Ein Botenjunge war voraus geschickt worden und teilte ihm sowohl mit, dass sie auf dem Weg zu ihm sei, als auch, wo man sie gefunden hatte: Auf der Tribüne der Rennbahn, in der Loge, wo sie sich scheinbar gut mit dem jungen Rust-Nachkommen zu unterhalten schien. Er hätte auf Vieles getippt, darauf jedoch ganz sicher nicht.
'Heute Nacht noch sah er aus, als wenn er alles dafür gegeben hätte, sein geliebtes Rennpferd wiederzubekommen, bis hin zum Vierteilen und Aufsradbinden der Omnianerin. Und plötzlich sind sie ein Herz und eine Seele?'
An dieser Vorstellung nervte ihn vor allem, dass sie sich offenbar eher zu dem Jungspund hingezogen fühlte, freiwillig Zeit mit diesem verbrachte, ihn jedoch ignoriert hatte. Dabei war er der Gastgeber gewesen! Er hatte bedeutendere Beziehungen aufzuweisen, als der mickrige Lord Putter und auch viel mehr Gold. Und überhaupt! Wie konnte sie mit einem Mann Zeit verbringen, der Joachim hieß? Solch einen gravierenden Fauxpass konnte auch kein Titel wieder wett machen!
Seine Pläne für die Nacht hatten anders ausgesehen. Gezwungen zu sein, seine Kontakte zu aktivieren und diese in hecktische Betriebsamkeit verfallen zu lassen, um die Ligand zu überprüfen, während gleichzeitig die Gilden, die Stadtwache und diverse Clans in Alarmbereitschaft gewesen sein mochten, hatte zu eben jenen Dingen gehört, die man besser nicht machte, wenn einem am Gelingen einer besonderen Aktion gelegen war. Er war sich auch jetzt noch nicht sicher, ob der Fehlschlag in den frühen Morgenstunden damit zusammenhing, dass er beobachtet worden war. Das alles ärgerte ihn jedenfalls ungemein. Die neuen Informationen hatten lediglich ein Gutes an sich: Ihm war die Lust auf die kleine Witwe endgültig vergangen! Für die Zwecke der HIRN war sie möglicherweise sogar noch besser geeignet, als ursprünglich erhofft, denn wer schwarze Flecken in seinem Lebenslauf aufwies, den lohnte es, von Zeit zu Zeit an eben jene zu erinnern. Er selber allerdings fand allein schon die verschiedenen Arbeiten, denen sie bisher in der Stadt nachgegangen war, so dermaßen entwürdigend, dass es ihn bei der Vorstellung schüttelte, sie könne ihn mit eben jenen Händen berühren, mit denen sie auch Ratten ausgenommen oder in brackigen Öllachen gewühlt hatte.
Oder auch nur mit einer dieser Hände, wie er sich in Erinnerung rief.
'Vielleicht wäre es gar nicht so spannend gewesen, sich mit ihr abzugeben', versuchte er sich einzureden. 'Sie ist weit unter meinem Niveau angesiedelt.'
Jedenfalls hatten sich bei den beauftragten Nachforschungen zu ihr einige interessante Fakten herausgestellt. Fakten, mit denen er sie würde konfrontieren können, so sie sich gar zu sehr querzustellen gedachte.
Es klopfte an der Tür zu seinem Arbeitszimmer und Henry trat ein.
"Frau Theridae Ligand ist eingetroffen. Möchtest Du sie hereinbitten, Herr?"
Von Hopfenhauff erhob sich aus dem schweren Stuhl und ließ bitten.
Die kleine Frau trat ein und sah sich mit großen Augen in dem prächtigen Raum um, ehe sie sich auf die nötige Höflichkeit besann und ihn mit einem schüchternen Knicks begrüßte.
"Du wolltest mich gerne sprechen, Herr?"
"Ja, das wollte ich in der Tat. Schön, dass Du die Zeit erübrigen kannst, Frau Ligand. Bitte... setz Dich doch!"
Er deutete bewusst nicht in die gemütlichere Sitzecke des Raumes, sondern auf den verschnörkelten, harten Stuhl vor seinem Schreibtisch.
'Ich werde mich ganz sicher niemals so leutseelig geben, wie der Chef es sich angewöhnt hat. Schon gar nicht solch einer Person gegenüber. Vielleicht sollte ich Henry um seine Anwesenheit bitten, damit sie hinter meinem Rücken keine Gegenstände entwendet? Aber, ach, das wäre auch nicht gut. Der Chef wäre höchst erbost, wenn ich sie mein Misstrauen merken lassen würde. Er will sie unbedingt mit im Boot haben.'
Er deutete liebenswürdig lächelnd auf die kleine Konfektschale, die Henry gemeinsam mit einer Tasse Tee neben ihr abstellte.
"Bitte, gute Frau, greif zu! Es soll Dir an nichts fehlen." Er wartete, bis sie sich bedient hatte und die zarte Porzellantasse mit der Hand umklammert an ihre Lippen hielt, um immer wieder hineinzupusten, wie es wohl auch die Seeleute am kalten Hafenbecken machen mochten. Er seufzte innwendig.
'Es gibt Menschen, an die sind die Feinheiten von Geschirr und Besteck verschwendet. Wozu Henkel, wenn es auch Pranken gibt?'
Sie leckte sich nervös über die Lippen und sah ihn ängstlich an.
"Ist es wegen der Sache heute Nacht? Ich habe mich bei dem Lord persönlich entschuldigt und ihm erklärt, dass Du nichts dafür konntest, Herr. Ich habe ihn extra deswegen auf der Rennbahn gesucht. Er hatte mir gestern davon erzählt, dass er dort sein würde und ich habe ihm alles erklärt. Er ist wirklich sehr nett und hatte Verständnis dafür, Du brauchst Dir also keine Sorgen mehr zu machen."
'Ach! Daher weht der Wind? Sie wollte nur die Wogen glätten und sich gar nicht mit ihm einlassen?'
Der Baron lehnte sich etwas vor und strich mit seinen schlanken Fingern immer wieder das aus dem Ärmel hervorlugende Spitzentuch glatt.
"Aber, aber, meine Gute! Darüber brauchen wir wirklich kein weiteres Wort mehr verlieren. Schnee von gestern! Ich wollte Dich aus einem anderen Grund sprechen. Zuallererst einmal möchte ich Dir für deinen bewundernswerten Einsatz am gestrigen Abend danken! Wir haben gewiss alle von deinen offenen und ehrlichen Worten profitieren können. Es war ja wirklich außerordentlich bewegend. Und auch kein Wunder, dass es Dich so mitgenommen hat! Allein schon die Stelle mit dem Schrei deines Mannes, da lief mir ein kalter Schauer den Rücken hinab, meine Güte!"
Insgeheim war es sehr befriedigend für ihn, sich mit dieser kleinen Spitze für den nächtlichen Aufruhr zu revanchieren, zumal die Wirkung seiner Worte ihr so deutlich an der erblassenden Nasenspitze abzulesen war.
"Ähm... danke, Herr! Es... war mir eine Ehre."
"Um es kurz zu machen... ich sitze auch stellvertretend für eine größere Organisation vor Dir, der daran gelegen ist, den armen Seelen in Not beizustehen. Solchen, die es nicht so gut getroffen haben, wie wir beide. Es gehören einige sehr hochrangige Herrschaften zu dieser Hilfsorganisation, die lieber bescheiden in Anonymität wirken und nicht im Rampenlicht stehen möchten. Du allerdings bist uns, und somit auch ihnen, durch deinen bemerkenswerten Mut aufgefallen. Sie haben mich im Anschluss an den gestrigen Abend wissen lassen, dass es in ihrem Interesse wäre, Dich auf der Seite dieser guten Sache zu wissen."
Sie hielt die Tasse reglos an ihre Lippen und sah ihn nur erschrocken an.
"Hättest Du deinerseits ebenfalls Interesse daran, deutlich Stellung gegen die dunkle Bedrohung zu beziehen? Es soll dein Schaden nicht sein."
Sie schluckte schwer und wich seinem Blick aus, bevor sie die Tasse überaus behutsam neben sich abstellte. Dann erst sah sie ihn wieder an.
"Ich bin nicht dumm, Herr."
Hätte er etwas im Mund gehabt, er hätte sich in diesem Moment daran verschluckt.
"Liebe Frau, wie kommst Du denn auf solch eine Aussage? Es hat doch niemals irgendwer behauptet, dass..."
Sie unterbrach ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen.
"Ihr hängt alle irgendwie miteinander zusammen. Auch wenn ich den Wirt vermutlich niemals in deinem Hause aufkreuzen sehen werde."
"Den Wirt?" Nun war er wirklich etwas verwirrt. Welch seltsame Wendung das Gespräch nahm. Hatte der Vampirangriff möglicherweise auch einen Teil ihres Gehirns in Mitleidenschaft gezogen und sie vermutete nun Gespenster? Das wäre ihren Plänen hinderlich gewesen, denn wie sollte man dann ausschließen, dass sich zu einem späteren Zeitpunkt überaus peinliche Situationen ereignen mochten?
Sie hielt anklagend den Zeigefinger in die Höhe.
"Der Wirt... Kunter! Er hatte als erster mit mir geredet und mich dann Herrn Schenk als 'seinem guten Freund' vorgestellt. Ein Freund von denen, die wissen würden, wo der Hammer hinge. So hatte er das gesagt, wenn ich mich richtig erinnere. Ich war damals schon vorsichtig, was das bedeuten mochte. Und wem auch immer ich seitdem begegnet bin... jeder von Euch hasst Vampire."
Er lehnte sich lächelnd in seinen weich gepolsterten Lehnstuhl zurück.
"Und Werwölfe." Er spürte, wie seine Lippen sich bedenklich zu einem verächtlichen Grinsen verzogen und hob die Hand mit dem Tüchlein vor den Mund, als er fortfuhr. "Ebenso wie Zombis, Gnome, Trolle, Hexen, Elfen... all diese widernatürlichen Kreaturen, die das Antlitz unserer Stadt verunstalten."
Sie sah ihn stur an und er konterte ihren Blick ebenso unnachgiebig.
Ihre Worte waren fast ein Flüstern.
"Ich wusste es!"
Nach einer Weile ließ sie sich ebenfalls an ihre Stuhllehne zurückfallen und er hatte das deutliche Gefühl, auf der Siegerseite dieses Spiels zu stehen.
"Meine Liebe, es ist nicht verboten, eine eigene Meinung zu dieser Seuche zu haben. Oder sollten wir uns in Dir getäuscht haben und Du lieber mit den Blutsaugern packtieren wollen?"
Sie schüttelte vehement den Kopf, dass ihr strähniges Haar nur so flog.
"Vor Dir brauche ich mich ganz bestimmt nicht verteidigen, Herr. Meinen Standpunkt zu den Vampiren habe ich eindeutig klar gemacht."
"Dann wirst Du dich uns anschließen?"
Sie zögerte. Dann aber enttäuschte sie ihn.
"Jeder, wie er mag, nicht wahr? Ich misch mich nicht bei Euch ein, ihr mischt Euch nicht bei mir ein. Ich bin seit dem schrecklichen Fehlstart ganz gut alleine klargekommen in dieser dreckigen Stadt, ich werd's auch weiterhin schaffen. Wenn ich mich jetzt aber in solche Machenschaften hineinziehen lassen würde, Menschen gegen Vampire und so, dann hätte ich ganz schnell schlechte Karten. Ich will keinen zusätzlichen Ärger. Kann ich echt nicht gebrauchen. Ich hab endlich eine Arbeit gefunden, bei der ich vielleicht sogar länger bleiben und mein Geld verdienen kann. Die geb' ich nicht so schnell wieder her. Für eine wie mich ist es nicht leicht, hier was zu finden." Sie deutete kurz auf ihren baumelnden Arm an der Seite. "Ich halte das lieber so wie bisher. Wenn mir einer an den Karren fahren will, dann geb' ich dem Feuer, wie einst der heilige Parabol den Verrätern. Dafür brauch ich keinen, der das für mich macht. Nimm's mir nicht übel, Herr, aber ich glaube kaum, dass die Stadtwache erfreut wäre, wenn sie von den Machenschaften dieser noblen Herrschaften wüsste. Nichts für Ungut, wie gesagt, jedem das Seine. Ein Vampir weniger ist in jedem Fall ein guter Vampir. Aber... mir reicht es auch, einfach nur die netten Leute zu treffen. Die Gemeinschaft mit Gleichgesinnten fehlt mir. Daheim war das anders, dort waren wir immer in großen Gruppen unterwegs, um die Ungläubigen oktotags zu bekehren oder wir haben riesige Treffen veranstaltet, auf denen diskuttiert und gegessen wurde. Hach, wenn ich nur an die herrlichen großen Feuer mit den unreinen Schriften zurückdenke, die uns so bereitwillig dafür gespendet wurden! Jedenfalls... das alles fehlt mir doch mehr, als ich gedacht hätte. Und ich bin dankbar dafür, dieses Gemeinschaftsgefühl, diese Einigkeit, wenn es um Ziele und Überzeugungen geht, hier wiedergefunden zu haben. Wirklich, das weiß ich sehr zu schätzen! Mit allem anderen aber will ich lieber nichts zu tun haben."
Er ließ sich Zeit, ihre Ausführungen zu durchdenken, ehe er ihr antwortete.
'Sie hat anscheinend eine relativ genaue Vorstellung dessen, worum es wirklich geht. Hätte ich ihr gar nicht so zugetraut. Was aber viel spannender ist: Das war zwar eine Abfuhr... aber dem Kern des Ganzen ist sie durchaus zugeneigt. Soll ich sie zu überreden versuchen? Sie würde es als Drängen empfinden, da bin ich mir sicher. Und dann aus reiner Sturheit gegenteilig reagieren. Nein, das bringt genauso wenig, wie Drohungen. Vielleicht Bestechung? So oder so, ich darf jetzt nichts überstürzen. Hier ist Fingerspitzengefühl gefragt. Ich werde sie beschwichtigen und dann Rat beim Chef suchen. Mal sehen, was er davon hält. Noch ist nichts verloren.'
"Meine liebe Frau Ligand, ich bin froh darüber, dass Du mir so unverblümt und aufrichtig antwortest. Dadurch vermeiden wir Missverständnisse. Ich nehme das bedauernd zur Kenntnis, habe aber natürlich volles Verständnis für deine Sicht der Dinge. Das war auch vielleicht alles ein Bisschen viel auf einmal. Bitte entschuldige!"
Sie sah ihn erst misstrauisch an, bis er sich zum Abschied von seinem Stuhl erhob und sie freundlich zur Tür geleitete. Da erst entspannte sich ihre gesamte Haltung etwas und sie verließ sein Haus mit nachdenklichen, kleinen Schritten.

~~~ Unausweichliches Schicksal ~~~


Es war leichtsinnig. Und so dumm. Hätte der Kommandeur von dem gewusst, was sie im Begriff war zu tun, hätte er ihr ganz sicher einen strengen Vortrag gehalten. Darüber, dass eine Tarnung mit der Konsequenz stand und fiel, die man ihr entgegenbrachte, dass kritische Phasen einer Verdeckten Ermittlung sich nicht immer ankündigten und man es sich daher nicht leisten konnte, die angenommene Identität nach Belieben fallenzulassen. Selbst ihr Abteilungsleiter hätte vermutlich die buschigen Brauen missbilligend zusammengezogen und einen ansatzweisen Versuch unternommen, es ihr zu verbieten. Und noch am vorangegangenen Morgen hatte für sie festgestanden gehabt, dass es für lange Zeit das letzte Mal hätte sein müssen, dass sie als sie selber durch die Straßen der Stadt lief und sich darum bemühte, der Last ihrer Gefühle und Sorgen bei einer Tasse Tee zu entkommen.
Das Problem war nur, dass sie all jene Argumente ganz genau kannte - und dies rein gar nichts an dem unbändigen Wunsch in ihr änderte! Sie musste es tun, es war unausweichlich.
Ophelia näherte sich ihrem Lieblingscafé. Nichts schien in ihr übrig geblieben zu sein von der taffen Ermittlerin. Ihre in den letzten Jahren erarbeitete Selbstsicherheit schmolz mit jedem weiteren Meter dahin, den sie sich dem Café näherte. Sie bangte darum, ob er da sein würde.
Links von ihr wehte ein frischer Wind durch die Bäume und Büsche des kleinen Friedhofs am Mondteichweg.
Es fiel ihr nicht leicht, sich an sein Gesicht zu erinnern. Er hatte definitiv etwas Unauffälliges an sich gehabt. Nicht groß, nicht klein, dunkelhaarig mit freundlichem Blick und samtiger Stimme. Sie würde ihn wiedererkennen, wenn er da wäre, ohne Frage! Aber es würde ihr dennoch schwer fallen, beispielsweise ein Suchbild von ihm zeichnen zu lassen.
Sie zwang sich, ruhig weiter auf das im Wind schwingende Schild zuzugehen, welches das "Totenstübchen" pries. Ursprünglich hatte es von sahnigen 'Torten' gekündet aber wie viele solcher verlockenden Buchstabenkombinationen, war auch diese in die Mangel genommen worden.
Ophelias Herz klopfte wie wild gegen ihren Brustkorb und sie machte sich Gedanken darum, dass ihr Gesicht erhitzt wirken könne, wenn sie das Café betreten würde.
'Er hatte sich mit dem 'Bis morgen!' verabschiedet. Es war seine Idee gewesen, warum also sollte er es sich anders überlegt haben?'
Sie griff nach dem Türknauf und überlegte im selben Augenblick bereits, welche Gründe es für sein Fernbleiben geben mochte.
'Vielleicht gab es einen Unfall und die sich stauenden Massen, haben ihn aufgehalten, bis er aufgab? Oder er hat etwas Schlechtes gegessen und sich den Magen verdorben? Ein Termin, der dazwischen kam?' Der letzte Gedanke, der ihr als mögliche Erklärung kam, tat besonders weh: 'Und wenn er es nur als Scherz leicht dahin gesagt hat?'
Die Türglocke klingelte fröhlich über ihrem Kopf und sie traute sich aufzusehen und den Raum mit ihrem Blick abzusuchen.
Rach erhob sich an eben jenem Tisch, an dem sie gestern gemeinsam gesessen hatten. Er sah ihr mit einem breiten Lächeln erwartungsvoll entgegen.
Sie sog die süße Luft tief ein.
Er trat etwas um den Tisch herum und sie merkte, dass sie ihm sehr enthusiastisch entgegen geeilt sein musste daran, dass sie beinahe Antoinne übersehen hätte. Und daran, dass Rach ihre gesunde Hand für den gehauchten Handkuss nur aus der Luft zwischen ihnen zu pflücken brauchte, so weit hatte ihr Körper sie bereits verraten und sich ihm entgegengestreckt.
"Madame Ziegenberger... ich freue mich, dass uns der Zufall auf diese erfreulich zufällige Art erneut zusammenführt."
"Herr Flanellfuß, die Freude ist ganz meinerseits. Zufälligerweise."
Sie sahen einander an und sie war sicher, dass sie sich das belustigte Leuchten in seinen Augen nicht nur einbildete.
'Ein wundervolles, warmes braun... Bei Annoia! Reiß Dich zusammen! Was soll er nur von Dir denken? Außer seinem Namen weißt Du nichts von ihm. Er könnte ebensogut ein gesuchter Verbrecher oder ein Pantomime sein! Himmel!'
Dieser Gedanke ausgerechnet dämpfte ihre Freude prompt etwas. Sie zwang sich dazu, etwas mehr Zurückhaltung an den Tag zu legen und wieder mehr auf ihre Umgebung zu achten.
Antoinne wartete mit deutlich erzwungenem Gleichmut darauf, ihrer beider Bestellung aufzunehmen.
Rach blickte sie an und ein schelmisches Lächeln ließ ihn jünger wirken.
"Lass mich raten! Einen Milchkaffee und ein Stück Erdbeerkuchen?"
Ihr Herz machte einen unsinnigen Sprung.
"Woher weißt Du das?"
Er gab die Bestellung an den inzwischen grinsenden Kellner weiter.
"Ich hätte darauf wetten können. Zweimal das Gleiche, bitte, Antoinne. Und dazu eine Karaffe mit frischem Wasser."
"Sehr wohl!"
Ihre neue Bekanntschaft wandte sich ihr wieder zu und erklärte mit verschwörerischem Tonfall: "Soll ich das Geheimnis wirklich aufdecken? Damit verliere ich in deinen Augen aber gewiss meinen mysteriösen Anstrich..."
Sie konnte das alberne Lächeln nicht mehr aus ihrem Gesicht bekommen aber das lag natürlich an ihm. Er war so... sympathisch!
"Wenn Dir so viel an deinem geheimnisvollen Ansehen mir gegenüber liegt, dann verzichte ich natürlich darauf zu erfahren, woher Du von meinen Vorlieben weißt."
Sie war sich beinahe sicher, dass er ihr fast zugezwinkert hätte. Fast. Stattdessen wurde er gespielt ernst und fragte laut in die Richtung des Kellners:
"Antoinne, sagen wir es ihr?"
Der Bedienstete lachte leise und ballancierte das Tablett bereits beladen an ihren Tisch.
"Das musst Du wahrlich selber entscheiden, Herr."
"Dann will ich nicht so sein... Ich habe einfach Antoinne danach gefragt."
Ophelia musste herzlich lachen und das fühlte sich nach all den Tagen des fast unerträglichen Kummers so unglaublich befreiend an, als wenn er eine Fessel um ihre Lunge gesprengt hätte.
Selbst wenn ein Stich neu hinzu kam, als sie an Rogi denken musste.
'Nein, sie hätte es nicht gewollt, wenn ich mir Freude jedweder Art nur um ihres Andenkens Willen verbieten würde. So war sie nicht.'
Trotzdem blieb ihr das Lachen im Halse stecken.
Der Mann ihr gegenüber bemerkte es mit nur einem seiner aufmerksamen Blicke, beließ es aber unkommentiert - wofür sie ihm dankbar war.
Er schob ihr die Zuckerdose herüber und sie hatte bereits Angst, dass sie die Leichtigkeit der Situation ruiniert haben könnte. Doch dann begann er von sich aus über harmlose Belanglosigkeiten zu plaudern und sie nachsichtig ins Gespräch zurück zu ziehen, bis sie sich angeregt unterhielten.
Die verstreichende Zeit wurde gleichgültig.
Wenn sie ihm so zuhörte, wurde selbst der Gedanke an ein haarendes Haustier verlockend. Seine Beschreibung dessen, was er vor ihrer Verabredung an Anstrengungen unternommen hatte, um die verräterischen Spuren dieses kleinen Mitbewohners von seiner Kleidung zu entfernen ("zlobenisch blau" sei zwar ein schöner Farbton, korrespondiere aber nicht unbedingt in ästhetisch anspruchsvoller Weise mit dunkler Kleidung), entlockte ihr Lachtränchen, bis er ihr irgendwann lächelnd ein weiteres seiner Stofftücher über den Tisch zuschieben wollte.
"Hoffentlich wird das nicht zur Gewohnheit, dass Dir die Tränen kommen, Madame, wenn wir uns sehen."
Sie nahm die Richtung, in die seine Formulierung deutete, sehr wohl mit Freude zur Kenntnis, wehrte das Angebot des Tüchleins jedoch mit einem kleinen Lächeln ab. Sie zog stattdessen das Tuch vom Vortag aus dem gleichen Einschub des Armgeschirrs, in dem sie auch Rogis Uhr aufbewahrte.
"Bitte, mach Dir meinetwegen keine Umstände, Herr. Ich habe bereits eines."
Sie fühlte sich verwegen, doch der intensive Blick, mit dem er auf den Anblick ihres Souvenirs reagierte, wärmte ihr Inneres. Der Blickkontakt hielt so lange an, dass sie letztlich doch errötete und ihr Augenmerk senkte.
Ihr wurde mit einem Schlag bewusst, dass es draußen bereits dämmerte. Sie sah erschrocken auf und der Gedanke an Trennung war schwer zu ertragen. Sie wollte noch nicht gehen! Erst recht nicht, wenn jetzt der Zeitpunkt gekommen sein musste, an dem sie ihn darauf vorzubereiten hätte, dass sie ihn lange Zeit über nicht mehr treffen könnte. Wie würde er darauf reagieren? Würde er es als freundliche Abfuhr interpretieren? Sie hatte fast Angst, die folgenden Worte auszusprechen.
"Herr Flanellfuß... ich befürchte, dass ich die Zeit gänzlich aus den Augen verloren habe und mich leider auf den Weg machen muss."
Er wurde ernster, als wenn er ahnen würde, was nun käme.
Sie zwang sich, weiterzusprechen.
"Unser Gespräch hat mir sehr zugesagt."
"Mir auch, Madame!"
Sie hielt sich beinahe an dem Taschentuch fest.
"Herr Flanellfuß, ich... ich würde Dich gerne wiedersehen..."
Er nickte mit einem kleinen Lächeln, wartete aber schweigend auf das unausgesprochene 'aber', welches dem Tonfall ihrer Stimme deutlich anzuhören gewesen war.
"Aber... ich werde die nächsten Tage nicht die Gelegenheit dazu haben. Es könnte eine Weile dauern, bis ich Dich wieder treffen kann. Und ich kann nicht einmal genau sagen, wie lange. Das ist alles sehr kompliziert. Bitte, nimm es nicht als Absage an deine Person!"
Sie seufzte schwer und sah hoffend auf.
Er blickte sie eine Weile schweigend an, bevor er ihre Hand in die seinen nahm und einfach nur hielt.
"Ich verstehe. Bitte pass auf Dich auf!"
Seine Antwort verwirrte sie in mehrfacher Hinsicht. Der Gedanke jedoch, der sich allen anderen voran drängte war: Konnte das wirklich sein? Gab es etwas im Leben, das so einfach war? Sie bat ihn um Verständnis für etwas, das sie nicht näher ausführen konnte und er war einverstanden damit?
Ophelia wagte zu hoffen.
Seine Hände um die ihre, die noch immer das Tuch barg, fühlten sich warm und glatt an.
"Madame... darf ich es wagen und Ophelia sagen?"
Ihr Herz begann schneller zu schlagen, was kaum noch hätte möglich sein sollen. Sie nickte schüchtern.
"Gerne... Rach."

~~~ Gefühllos ~~~


Timotheus Van Barrik ließ seine Männer warten und betrachtete in aller Ruhe durch den Morgennebel hindurch das schäbige Haus. In seiner Kutsche blieben ihm für den Augenblick noch der unangenehm kalte Wind und der Gestank der Straße erspart, so dass das Elend dieses verkommenen Stadtteils durch die Scheibe betrachtet beruhigend substanzlos wirkte. Dennoch waren die Zeichen nur zu deutlich. Das Hausdach war löchrig und stellenweise eingefallen, es fehlten Dachziegel, so dass die marode Lattenkonstruktion darunter zu sehen war - eine Dämmung existierte wohl schon seit der Errichtung des Gebäudes nicht. Die Fenster waren von unzähligen Sprüngen durchzogen und fast blind von Kratzern und Schmutz, zwei der unteren Etagen waren sogar mit Brettern vernagelt worden. Die Fassade wies mehrere Risse auf, die daran zweifeln ließen, ob die Pläne des Hauses jemals einer statischen Schätzung ausgesetzt gewesen sein mochten und alles das wurde von Schmierereien und Müllhaufen eingerahmt. Die Schatten lagen nur eine Querstraße weiter. Wer hier wohnte, ging damit ein hohes Risiko für Leib und Leben ein - so er noch eines besaß.
Er kraulte seinen Hausdrachen geistesabwesend unter dem Kinn, was diesen zum Schnurren brachte. Sachte Wärmewellen hoben die Temperatur im Kutscheninneren wieder auf ein wohliges Maß an und das grollende Vibrieren des kleinen Körpers wirkte beruhigend. Schmetterwurm entfaltete mit einem leisen Krächzen seine ledernden Schwingen und flatterte mit ihnen, bis die Wärmewolke sich gleichmäßig um ihn verteilt hatte.
Van Barrik tätschelte ihm den knochigen Kopf und bezog ihn flüsternd in sein Selbstgespräch mit ein.
"Tiefer sinken kann sie nicht mehr. Es sollte mich wundern, wenn sie unser Angebot ablehnen würde."
Er strich ein letztes Mal vom Kopf her über den langen, dünnen Hals hinab zu den Flügelansätzen, was Schmetterwurm mit einem freudigen Quieken und Recken des Halses kommentierte. Dann erhob er sich und entstieg der Kutsche.
Alec, Bela und Casi waren sofort zur Stelle und standen aufmerksam bereit, nachdem sie sich bis eben die Beine vertreten und die kalten Hände warmgerieben hatten. Vierfacher Atem stieg in feinem Dunst zu ihren Köpfen in die Höhe und vereinte sich dort mit dem rußigen Dunst.
"Der Eingang ist gesichert, Herr. Ihre Wohnung liegt eine Treppe runter, im Keller."
Er nickte und ging ihnen wortlos voran.
Hinter ihm blickte Schmetterwurm traurig aus dem Kutschenfenster, als sein Herrchen ihn alleine ließ. Die schlanke Gestalt des kleinen Albinodrachen drückte sich hell gegen die Scheibe und ließ diese beschlagen.
Van Barrik war sich dessen bewusst, dass er in dieser Gegend absolut deplaziert wirken musste und sein stumpfes Spiegelbild in den Resten der geborstenen Eingangsscheibe bestätigte ihm dies: schlank und in elegantes grau gekleidet. Sein feiner Mantel war maßgeschneidert und dennoch schlicht, mit geraden Linien und aus hochwertigem Tuch gefertigt. Die seidige Qualität hatte ihren Preis, natürlich. Aber das war er sich seiner Meinung nach schuldig. Bei all der vielen Arbeit, die er tagein, tagaus leistete. Ganz abgesehen davon, dass Schmetterwurm dadurch immer wieder dazu verführt wurde, sich an ihn anzuschmiegen, obgleich er sonst ein so schwieriges, widerspenstiges Haustier abgab.
Der geheimnisvolle Anführer der HIRN strich sich mit der Hand durch das streichholzkurze, weiße Haar.
Ihm fiel ein amüsantes Detail zu dieser Frau ein, die er gleich aufsuchen würde. In der von seinen Männern angelegten Akte stand, dass auch sie graue Augen hatte, wie er selbst.
Sie betraten das Haus und der allgegenwärtige Gestank, der ihnen entgegenschlug, ließ einen seiner Leute hörbar würgen. Auch ihm selber fiel es schwer, die aufsteigende Magensäure wieder herunterzuschlucken und in gleichbleibend gelassener Haltung in den Keller hinabzusteigen.
Alec hatte am Kopf der Treppe eine mitgebrachte Lampe entzündet gehabt und diese mit hier hinunter gebracht. Deren unsteter Schein flackerte über bemalte und verschimmelte Wände. Vor den Holzverschlägen stapelte sich den sehr engen Gang hinunter vergessenes Gerümpel. Hinter den Türen waren vereinzelt Geräusche auszumachen: Schnarchen, ein keifendes Pärchen, ein leises Kinderwimmern und verhaltenes Rascheln. An der vorletzten Tür des klammen Ganges blieben sie stehen. Hier war ihm trotz seines pelzgefütterten Mantels kühl. Ein handschriftlicher Zettel mit den Initialien 'T. L.' war dort an einem überstehenden Nagel aufgespießt worden.
Er nickte und Casi schlug die dünne Brettertür fast ein bei dem Versuch, anzuklopfen.
"Frau Ligand? Bist Du da? Wir müssen mit Dir reden!"
Das hastige Rascheln von Stoffen und das Geräusch weicher Füße auf nacktem Steinboden war deutlich zu hören.
"Wer ist da?"
"Das tut im Moment nichts zur Sache, da wir uns ohnehin noch nicht vorgestellt wurden. Aber glaube mir: Es wird Dich interessieren, was ich zu sagen habe."
Das Stoffrascheln nahm eine andere Klangfarbe an. Sie holte sich anscheinend etwas zum Überziehen. Ein Streichholz wurde in mehrmaligem Versuch angerissen. Ihre Stimme wirkte müde, genervt und vorsichtig.
"Ich finde sehr wohl, dass das was zur Sache tut. Aber meinetwegen... es ist eine unmögliche Zeit für einen Überraschungsbesuch. Ich bin grad erst von meiner Nachtschicht zurückgekommen und nicht zu Scherzen aufgelegt. Also... was willst Du?"
Sie musste inzwischen direkt hinter der Tür stehen - und es vermutlich bedauern, dass diese über kein Guckloch zum Gang hinaus verfügte.
In den angrenzenden Kammern war es verdächtig still geworden. Nur das Kleinkind jammerte noch immer kläglich.
Er sprach leise und freundlich in Richtung der Tür.
"Es geht um deine neuen Freunde, hier in der Stadt. Und um die... Möglichkeiten, die sich daraus für Dich ergeben könnten."
Sie schwieg.
Er schloss die Augen und meinte ihre Nähe hintern den Brettern zu spüren. Ein einfühlsames Lächeln legte sich über seine Lippen, als er noch leiser nachsetzte.
"Du möchtest doch gewiss nicht in diesem heruntergekommenen Dreckloch verrotten, Frau Ligand, oder? Ich könnte mir vorstellen, dass Du anderes gewohnt warst, ehe Du hierher kamst. Omnianische Gemeinden stehen ja regelrecht in dem Ruf, alles was ihnen in die Finger fällt mit Feuereifer zu reinigen und ein klar strukturiertes, ordentliches Leben zu bevorzugen. Jeder hilft jedem. Wo einer Mangel leidet, wird ihm vom Überfluss des Bruders zuteil... Diese gestaltgewordene Abraumhalde menschlicher Verwahrlosung muss Dich doch ziemlich belasten, nicht wahr? Ich biete Dir eine Möglichkeit, heraus zu kommen. Falls Dir meine Ansichten zusagen und Du dir vorstellen kannst, für mich zu arbeiten. Ein Dschob wie jeder andere. Besser als jeder andere."
Hinter dem Sperrholzverhau klapperten jede Menge Vorhängeschlösser und kurz darauf öffnete sich die Tür einen kleinen Spalt breit. Schwarzes Haar und ein graues Auge waren teilweise zu erahnen. Sie musterte ihn kritisch von oben bis unten und registrierte auch die drei stummen Begleiter.
"Du kommst von Schenk? Oder von dem Von Hopfenhauff?"
Er lächelte amüsiert.
"Sagen wir lieber, diese beiden Herren kamen von mir, als umgekehrt. Darf ich eintreten? Auf dem Flur redet es sich schlecht."
"Heißt 'ich' in dem Fall mit den drei Männern hinter Dir zusammen? So viele passen hier nicht mal rein. Und außerdem... ach, egal! Du wirst ja eh' keine Kompromisse eingehen, sieht man so schon."
Sie zog die Tür ganz auf und bat ihn, einzutreten.
Van Barrik lächelte noch mehr. Das hatte sie gut erkannt. Er mochte sie jetzt schon.
'Kein Wunder, dass Christian nichts mit ihr anzufangen weiß. Sie hat eine gewisse Bauernschläue an sich. Sie wird ihm schnell auf die Schliche gekommen sein, mit seiner überheblichen Attitüde, die er in letzter Zeit immer mehr an sich hat. Das dürfte sie nicht sonderlich beeindruckt haben.'
Der Raum, den sie bewohnte, war mickrig, wenn es hochkam sieben Quadratmeter in der Fläche. Es fehlten Fenster oder fließend Wasser und einen Abort gab es schon gar nicht - was in Anbetracht der Umstände vielleicht sogar besser war. Sie hatte die Liegestatt in die Mitte des Raumes gezogen, als wenn sie vermeiden wollte, den kahlen Wänden mit deren feuchter Ausstrahlung zu nahe zu kommen. Auf einem wackligen Hocker stand eine geöffnete Reisetasche, in der sie offenbar Kleidung aufbewahrte. Auf dem Boden daneben eine zur Hälfte abgebrannte Kerze und eine geöffnete Packung Zündhölzer.
Sie selber stand aufrecht und trotzig vor ihm.
Er betrachtete sie genauer und sie ließ es über sich ergehen.
Sie war ebenso groß wie er selber. Aber im Gegensatz zu ihm wirkte sie blass und erschöpft und dadurch insgesamt kleiner. Ihr Haar war strähnig auf eine Art, der man die falsche Pflege ansah. Sie hatte sich dürftig in ein dünnes Nachthemd und einen zusätzlich übergeworfenen Morgenmantel gehüllt, beides ehemals weiße Leinenstücke, aus einem anderen Leben, einem besseren. Alles an ihr wirkte ärmlich. Aber sauber, was angesichts der kargen Zimmereinrichtung beachtlich war.
'Vermutlich sucht sie die öffentliche Badeanstalt auf? Zumindest das... es hätte mich schlimmer treffen können. Mit etwas Aufwand lässt sich schon noch was aus ihr machen.'
Max hatte gesagt, dass sie stark sei. Eine Kämpferin, deren Überlebenswillen man ihr nicht auf den ersten Blick ansehe.
Er entschloss sich, ohne Umschweife auf den Punkt zu kommen.
"Mein guter Freund, Max Schenk, hat mir erzählt, wie es Dir bisher in Ankh-Morpork ergangen ist. Er hat mir auch davon erzählt, dass Du nicht zögerst, Vampiren die Stirn zu bieten."
Sie sah ihn herausfordernd an.
"Ja und?"
"Es gibt nicht viele, die sich das trauen."
Sie schwieg misstrauisch, blieb aber aufmerksam.
Er fuhr fort: "Vor vielen Jahren gab es einen kleinen Jungen, dem seitens eines Vampirs Unrecht widerfuhr. Dieser Junge nahm sich vor, früher oder später für Gerechtigkeit zu sorgen. Wenn es schon niemand anderer tut, dann muss man sich selber darum kümmern. Der kleine Junge wurde größer, er gewann an Einfluss und Kontakten. Er wurde reich. Aber niemals verlor er sein Ziel aus den Augen. Er begann Freunde zu finden, denen es ähnlich ging. Sie begannen weitere Freunde um sich zu sammeln und die geeinten Kräfte dazu zu nutzen, etwas zu verändern."
Sie ließ ihn nicht aus dem Blick, was vor allem in Anbetracht seiner drei kräftigen Begleiter bemerkenswert war, die sich auf dem beengten Raum genauestens umsahen und auch nicht davor zurückschreckten, sie zu umrunden. Er bedachte sie in Erwiderung ebenfalls mit seiner vollen Aufmerksamkeit und schloss mit den Worten:
"Es wäre mir eine Ehre, auch mit Dir Freundschaft zu schließen, Frau Ligand. Eine Frau mit solch klaren Überzeugungen wäre ein Juwel für unsere Sache, ein prachtvolles Vorbild. Von unser aller Bewunderung abgesehen, biete ich Dir darüber hinaus Unterkunft in meinem Stadtanwesen. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass es luxuriös eingerichtet ist. Vor allem im direkten Vergleich zu diesem... Zimmer. Du hättest drei Räume nur für Dich allein, ein Zimmermädchen, fließend Wasser, täglich vier Mahlzeiten, Konfekt und Kuchen, eine Kutsche, die auf Abruf bereit steht, maßangefertigte Kleider... Alles ohne für Dich entstehende Kosten. Und obendrein ein bescheidenes Taschengeld für zusätzliche Ausgaben."
Ihre Augen hatten sich bei seiner Aufzählung erstaunt geweitet und sie schien die Luft anzuhalten. Sie flüsterte entsetzt:
"Bei Om! Das könnte nur ein unreiner Pakt sein, nichts anderes wäre möglich..."
Würde diese Religionssache doch noch hinderlich werden? Er hatte vergessen, wie wichtig das manchen Leuten war. Vor allem jenen, die neu in die Stadt kamen.
"Frau Ligand, ich bitte Dich... wir helfen einander. Ich helfe meinen Freunden, ich helfe Dir! Du hilfst mir... Wie könnte Hilfsbereitschaft so scharf verurteilt werden?"
Sie schluckte schwer und antwortete mit rauher Stimme.
"Ich habe das schon verstanden. Ich soll als Gallionsfigur herhalten für Aktionen, von denen ich vermutlich lieber nichts wissen will. All die Vampire, Werwölfe und anderen Leute, die irgendeinem deiner Freunde in die Quere kommen... denen geht es dann vermutlich weniger gut? Aber solange ich als überlebendes Opfer herumgezeigt werden kann und mich vorbildlich und dankbar Liebkind mache... solange werden reiche Gönner Dich finanziell unterstützen, richtig? Ich wäre sowas wie adoptiert, ein werbewirksames Wiedergutmachungs-Projekt?"
Er nickte bestätigend.
'Sie ist wirklich schnell...'
Sie schien fieberhaft zu überlegen und er legte ihr einen weiteren Leckerbissen vor, damit sie anbeißen würde.
"Du müsstest nie wieder zu Gimlets zurück. Und auch nie wieder stehlen."
Sie wollte aufbegehren, was er aber mit einer Geste unterband.
"Nein, nicht! Lass uns die Zeit dafür sparen. Ich weiß, dass Du es nur zum Überleben tatest und Du brauchst von mir nichts befürchten dafür, ausgerechnet einen Zwerg bestohlen zu haben. Wirklich! Wenn es nicht schon aufgrund deines mickrigen Lohns gerechtfertigt gewesen wäre, dann dadurch, dass einer seiner Art ohnehin nicht hierher gehört."
Sie wich seinem Blick aus, wodurch ihr das volle Elend ihrer Behausung vor Augen geführt wurde. Ihre Schultern sanken herab. Noch immer seinen Blick meidend sagte sie:
"Ich bin nicht gut darin, mich anzubiedern, Herr. Wollts nur vorher sagen. Und... ich... ich werd auch niemanden... töten. Solange ich nicht angegriffen werde oder das sonstwie für mich alleine entscheide!"
In seinen Augen blitzte es kurz vor Genugtuung auf, auch wenn sie das nicht sehen konnte.
"Du wirst dein Bestes geben. Und als Ausgleich das Beste bekommen."
Sie nickte verhalten.
Van Barrik ließ etwas von seiner professionellen Kühle durchstrahlen, als er sagte: "Eine letzte Bedingung habe ich noch, bevor Du deine Sachen packen und in dein neues Leben mitkommen kannst."
Sie sah alarmiert zu ihm auf.
"Ja?"
"Die Spuren, die Du von dem Vampirangriff davongetragen hast..."
"Was ist mit denen?"
"Du musst mir hier und jetzt, sofort, unter Beweis stellen, dass sie echt sind. Casi kennt sich zweifelsfrei mit Narben aus. Wenn Du ihn einen kurzen Blick auf deinen Hals werfen lässt und wir zweifelfrei davon ausgehen können, dass das kein Trick ist, um an mich heranzukommen... dann nehme ich Dich als hoch geschätztes Mündel in meinem Haus auf."
Er beobachtete ihre Reaktion ganz genau.
Erst wirkte sie erschrocken und er begann schon zu befürchten, einem raffinierten Schwindel aufgesessen zu sein. Dann aber brach sie plötzlich in bitteres Gelächter aus.
Seine Männer blickten einander nervös an und auch er selber runzelte die Stirn.
Sie hatte sich schnell wieder gefangen und warf ihr strähniges Haar mit einem Ruck zurück. Sie riss sich den Morgenmantel von der Schulter und löste die Bänder des Schlafkleides soweit, dass sie auch dieses weit genug beiseite schieben konnte.
Das rosa Narbengewebe zog sich von hinter ihrem linken Ohr, über Hals und Schlüsselbein bis zu ihrem entblößten Brustansatz unter den verbliebenen Stoff hin.
Der Schläger aus seiner Schutztruppe trat von der Seite her näher an sie heran und nahm die verheilte Stelle genau in Augenschein. Er drückte darauf herum und sie wandte ihren Kopf dabei ab.
Er brauchte eigentlich nicht erst Casis fachmännisches Urteil abzuwarten um zu erkennen, dass hier ein Profi am Werk gewesen war.
"Darf ich die Narbe berühren, Frau Ligand? Um mich selbst von ihrer Beschaffenheit zu überzeugen?"
Sie nickte spröde.
Die Hautverbindung war an der Oberfläche seidig glatt, wenn auch noch immer gespannt. Er konnte die harte Wulst darunter erspüren und erahnte mit ehrlichem Staunen, wie tief die Wunde dazu auseinandergeklafft haben musste.
Er nickte zufrieden und ergriff ihre linke Hand, die schlaff in der seinen auflag.
"Das ist die Folge der Wunde? Du hast keinerlei Gefühl mehr in dem Arm?"
Nun war es an ihr, zu nicken.
Er warf Bela einen heimlichen Blick zu, der in der Zwischenzeit unbemerkt hinter sie getreten war und nun keine Sekunde länger zögerte. Er ließ sein kleines Klappmesser lautlos aufschnappen und zog damit leicht über die Haut ihres entblößten Oberarms.
Sie blickte erst fassungslos auf das hervortretende Blut des Schnittes, dann empört zu ihm.
"Was soll das?"
Er befahl Bela mit einem kurzen Blick, sich darum zu kümmern, dass der Schnitt versorgt würde und ließ ihre Hand rücksichtsvoll an ihre Seite zurückgleiten, wo diese bewegungslos herabhing.
"Keine Sorge, Frau Ligand. Ich musste sicher gehen. Aber da Du nicht einmal gezuckt hast, darf ich Dir erfreulicherweise gratulieren: Willkommen bei den 'Heimlichen Infragestellern Rücksichtsvoller Neuordnung'! Wenn Du jetzt bitte so freundlich wärest, Dich vollständig anzukleiden und deine Sachen zu packen? Diese Gegend bekommt weder meinem Ruf, noch deiner Gesundheit. Ich werde mit meinen Männern derweil draußen, in der Kutsche, auf Dich warten. Ich darf Dich doch Theridae nennen, wenn wir ab jetzt im gleichen Haus wohnen und die Tafel miteinander teilen werden? Sehr erfreut! Dann nenne mich doch bitte auch bei meinem Vornamen: Timotheus."

~~~ Jäger und Gejagter ~~~


Der schwere Seidenstoff raschelte bei jedem Schritt, den sie tat und schmiegte sich wie eine schwere Frühlingsbrise um ihren Körper. Schnell oder gar leise konnte sie sich in den kostbar bestickten Kleidern, die der Hausherr ihr zur Verfüfung stellte, gewiss nicht bewegen. Weswegen sie es gar nicht erst versuchte. Sie hatte es sich stattdessen angewöhnt, möglichst viel in dem großen Stadthaus unterwegs zu sein. Als wenn sie es nicht ertragen könne, lange Zeit über stillzusitzen. So war sie eigentlich immer irgendwo anzutreffen und es würde schon eines ungemein guten Gedächtnisses bedürfen, ihre Aktivitäten nachzuvollziehen. Dazu kam, dass sie in Glimmer einen guten Verbündeten gefunden hatte, den sie ohne großes Aufsehen zu erregen, immerzu 'suchen' konnte.
'Schmetterwurm!', korrigierte sie sich in Gedanken.
Es gab Weniges, wie sie schnell festgestellt hatte, was den alten Herrn schneller verärgern konnte, als aus seiner Sicht unpassende Kosenamen für seinen kleinen Liebling. Da dies alle seine Gäste und Bediensteten wussten, hüteten sie sich gut davor, den kleinen Weißen offen mit seinen gebräuchlicheren Namen zu rufen, die auf 'Mistvieh', 'kleines Biest', 'Nervzwerg', 'elendiger Schlot', 'Fressbirne' und 'verfluchter Dieb' lauteten. Oder eben wie in ihrem Fall auf 'Glimmer'. Im Gegensatz zu den anderen Menschen jedoch, mochte sie das süße Tierchen abgöttisch. Was, zu Timotheus' Erstaunen, auf Gegenseitigkeit zu beruhen schien. Der kleine Drache hatte sie schon bei ihrer ersten Begegnung aufmerksam angestarrt und war dann, keine zwei Minuten, nachdem sie zu den beiden in die Kutsche gestiegen war, auf ihren Schoß gehüpft, um sich an sie anzukuscheln und sich von ihr den Kopf kraulen zu lassen. Was sie auch gerne tat, bis feine Rauchwölkchen aus seinen Nüstern quollen und die Wärme in der Kutsche fast unerträglich wurde.
Ophelia schritt in ihrem eleganten Tageskleid raschelnd durch die langen Gänge des wundervollen Anwesens und kam sich dabei selber wie eine Art exotisches Haustier vor. Glimmer nicht unähnlich, lief sie in strahlendem weiß umher, einer Farbe, der sie im normalen Alltag nicht über den Weg getraut hätte. Offenbar hatte Timotheus jedoch entschieden, dass sie ihrer vorgeblichen Trauer dieserart symbolisch geläutert entsteigen sollte, wie ein zu allem entschlossener Feuervogel seiner Asche. Es war die einzige Farbe, die er ihr zugestand. Es wurden ihr ausschließlich Kleider in verschiedenen Nuancen davon gefertigt.
Vielleicht gefiel es ihm, sie ebenso strahlend und schimmernd Seite an Seite zu seinem Eigentum zu sehen?
Wenn ihr solche Gedanken kamen, fröstelte es sie, weswegen sie sie schnell verdrängte.
Davon abgesehen war das Leben in den 'Hoffnungsquellen 1', dem luxuriösesten und größten Haus am Platze, so leicht und angenehm, dass es ihr auf Cori Celesti nicht besser ergehen hätte können. Es wurde ihr tatsächlich jeder unnötige Handschlag abgenommen. Sogar ihre Speisen wurden in der Küche mundgerecht vorgeschnitten, so dass sie sich nicht mit nur einer Hand darum bemühen musste, ein kulinarisches Desaster zu vermeiden.
Sie kam an einem der unzähligen Spiegel vorbei, die das Haus zusätzlich größer und heller wirken ließen.
Die wenigen Tage in Timotheus' Obhut hatten ihr bereits deutlich gut getan. Die Augenringe waren verschwunden. Das regelmäßge Sonnen in dem wundervollen Wintergarten auf dem Flachdach, hatte ihr ungewohnte Farbe ins Gesicht gezaubert. Und Jennies hingebungsvolle Pflege des Haars entlockte dem stumpfen schwarz einen fantastischen Glanz. Jennie wartete ihr täglich zum Frisieren des viel zu kurz geschnittenen Schopfes auf, welchen sie mit vielen Tricks und Accessoires zu wahren Wunderwerken hochsteckte. Schmuck und Schuhwerk wurden passend angefertigt und ergänzten somit den Eindruck eines glitzernden Gesamtkunstwerks, wenn sie nach dem morgendlichen Ankleideritual dem weißhaarigen Hausherrn gegenüber an der Morgentafel Platz nahm. Dieser nickte ihr dann wohlwollend zu und wurde für die Dauer der Mahlzeit zum reizendsten Gesprächspartner, den man sich nur vorstellen konnte.
Abgesehen von einem gewissen, abwesenden, Herrn Flanellfuß natürlich... doch an ausgerechnet diesen jungen Mann zu denken, brachte sie jedes Mal dermaßen aus dem Konzept, dass sie es sich strickt verbot. Wie hätte sie einen Versprecher erklären sollen, wo sie offiziell doch noch immer um ihren geliebten Gatten trauerte? Ganz zu schweigen davon, dass sie ihn nicht einmal versehentlich in diese Sache hineinziehen durfte.
Ophelia seufzte und versuchte, das Bild der braunen Augen aus ihrem Sinn zu verdrängen. Es dauerte erstaunlich lange, bis sie sich vor dem Spiegel wiederfand und ihr so verändertes Antlitz betrachtete.
'Ob er mich so überhaupt erkennen würde?'
Sie aß und trank genug und endlich, endlich schlief sie auch wieder tief und gelassen.
So skurril es klingen mochte, hier fühlte sie sich das erste Mal, seit dem Alptraum im Hause Ascher, wieder sicher. Kein Vampir Ankh-Morporks würde es wagen, in dieses Haus einzudringen und irgendetwas von ihr zu fordern! Die Sicherheitsvorkehrungen waren hoch, gewiss, aber noch mehr mochte das daran liegen, dass es bisher kaum einen Abend gegeben hatte, an dem sie zu den Empfängen nicht gleich die Bekanntschaft einer ganzen Reihe von berühmten Vampirjägern gemacht hatte. Diese legten bei Timotheus gerne Zwischenstation ein und berichteten begeistert von ihren erfolgreichen Reisen. Oder sie fügten den Aufzeichnungen, die dieser führte, mit betrübter Miene den Namen eines weiteren, gefallenen Bruders im Geiste hinzu.
Ophelia bemühte sich darum, alles in ihrem Sinn abzuspeichern, was sie in den Gesprächen aufschnappte. Es fiel ihr dabei allerdings immer schwerer, zwischen objektivem Sammeln relevanter Daten für ihre Ermittlung und tatsächlich gebannter Faszination zu unterscheiden. Konnte es möglich sein, dass normale Menschen eine so effektive Bastion gegen die Vampire halten konnten? Waren Menschen vielleicht stärker, als sie gedacht hatte? Sie ertappte sich immer häufiger dabei, wie sie den Ausführungen über eine Jagd mitfiebernd folgte und dabei innerlich den Standpunkt des menschlichen Verfolgers einnahm. Oder wie sie über die unkontrolliert übermittelten Worte Ayami Vetinaris zu ihrem Einwand nachdachte, dass sie ihr wohl kaum ernsthaft gefährlich werden könne. "Du könntest sehr wohl. Gerade jetzt..."
Die Herren waren stets entzückt davon, wenn Timotheus sie dazu aufforderte, ihnen von ihrem eigenen 'kleinen Abenteuer' zu berichten und sie ihnen dann gar, auf Nachfrage, schüchtern die umgürtete Wade zeigte. Ihr Gastgeber hatte für weitere Waffenholster gesorgt, die sie farblich passend zu ihren Kleidern tragen konnte. Sie selber fand den Anblick eines weißen, sehr eleganten Lederholsters, bedeckt mit glitzernden Edelsteinmotiven und gleichzeitig bestückt mit Waffen, die ursprünglich nicht für solch eine Dekadenz vorgesehen gewesen waren, zwar jedes Mal irritierend aber sie hatte darauf bestanden, sich von ihren eigenen Waffen nicht trennen zu wollen. Und er hatte kein zweites Mal nachgefragt, sondern diesen Wunsch sofort akzeptiert.
Unterhalb des Anwesens gab es speziell eingerichtete Räume. Einige waren ihr, in Begleitung Timotheus', zugänglich. So zum Beispiel der große Saal. Manchmal veranstalteten die Vampirjäger zur Unterhaltung ihres großzügigen Gastgebers, ebenso wie zum Teil als ernsthaftes Training ihrer Fähigkeiten, kleine Kampfrunden, in denen sie sich im Wettstreit in ihren unterschiedlichen Techniken miteinander maßen.
Sie liebte es, ihnen dabei zuzusehen, auch wenn sie während dessen bemüht war auszublenden, dass die vorgeführten Techniken andernorts brutal zum Einsatz kamen. Außerdem vermisste sie zu solchen Gelegenheiten die Trainingsstunden mit Araghast. Timotheus gestattete es ihr nicht, an den Übungen teilzunehmen. Seitdem agierte sie nur noch als bewundernde Zuschauerin. Letztlich war sie in den Augen der Männer doch nur eine schwache Frau, die zwar über Mut verfügte, wohl aber mehr Glück als Verstand gehabt haben musste. Sie sah in ihrer neuen Aufmachung zu unschuldig, zu verletztlich aus... unberührbar. Sie sprach ihre Vermutung, dass 'der Feind' das vermutlich anders sähe, nicht aus.
Sie hörte die leisen Stimmen zweier Männer, die sich im Gespräch vertieft auf sie zu bewegten. Kurz darauf kam Timotheus mit Alec um die Ecke, der in eben diesem Moment sagte:
"Von Hopfenhauff hat ihn über den Dienstbotenausgang rausschaffen lassen aber da war er schon betäubt und in der Kiste. Es wird ihn wohl keiner gesehen..."
Ihre strahlend weiße Erscheinung musste trotz der ebenso hellen Wände aufgefallen sein, denn die beiden blieben wie ertappt stehen.
Sie lächelte ihnen entgegen.
"Timotheus, hast Du Schmetterwurm gesehen? Der kleine Rabauke ist schon wieder nirgendwo auffindbar."
Ihr Gastgeber runzelte die Stirn.
"Wieviel hast Du von unserem Gespräch mitbekommen, Theridae?"
Sie zögerte nicht, denn alles, was sie brauchte um mit ihren eigenen Ermittlungen voranzukommen, war sein Vertrauen. Was konnte da näher liegen, als das ihre in scheinbar selbstverständlicher Weise als Vorschuss zu gewähren?
"Nur das, was Alec eben sagte, als ihr beiden um die Ecke kamt. Ich nehme aber an, dass es sich um einen ernsteren Zwischenfall handelt? Hat Christian eine Dummheit begangen und jemanden zu öffentlich... aus dem Weg geräumt?"
Der weißhaarige Mann betrachtete sie in seiner typisch gelassenen Art, während er scheinbar überlegte. Dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Er bot ihr seinen Arm zum Geleit.
"Glücklicherweise nicht öffentlich. Im Gegensatz zu unseren bevorzugten Kontrahenten hat der Gute sich an einem Menschen vergriffen. Andererseits... manchmal ist es eben nicht leicht, die Motive zu beurteilen und wenn ein offenbar kampferprobter Muskelmann deutliches Interesse für mein Haus entwickeln würde, täte ich es vermutlich ähnlich handhaben und erst einmal das Gelände sichern, bevor ich Fragen stellte. Komm! Besagter Eindringling war wohl eine Nummer zu groß für den lieben Christian, so dass er ihn uns als Geschenk hat zustellen lassen. Möchtest Du das Problem mit eigenen Augen betrachten? Nun macht es auch keinen Unterschied mehr, nicht wahr? Du bist schon viel zu tief mit drin."
Sie gab sich nervös, wozu es nicht viel Schauspielkunst brauchte.
"Was wirst Du mit ihm machen?"
"Mal sehen, was er so von sich gibt."
Sie ging zu ihm hinüber und ignorierte Alecs missgestimmten Blick, als sie sich an Timotheus' Seite unterhakte. Aufgrund ihrer Einschränkung zwar auf der 'falschen' Seite aber der ältere Gentleman wechselte mit dem Angebot in einer fließenden Bewegung unkommentiert zu seinem linken Arm, als wenn dies die selbstverständlichste Sache der Welt wäre. Was es nicht war! Sie hatte gesellschaftliche Ereignisse vor Augen, in denen die ihr zugewiesenen männlichen Begleiter schier an der Aufgabe gescheitert waren, sich für einen Bruch mit der Tradition zu entscheiden oder ihr auch nur in die Augen zu blicken. Andererseits stand Van Barrik auch nicht vor der Problematik, sich unter diesen Umständen mit ihr in eine Parvane oder einen Longway einreihen zu müssen. Würde er selbst dafür eine Lösung finden? Sie wusste seine Rücksichtnahme jedenfalls zu schätzen. Und zweifelte gleichzeitig daran, dass diese sich ebenso auf den unangekündigten Gast erstrecken würde.
"Ich möchte nicht zugegen sein müssen, falls er... schlimm befragt werden müsste."
Der Mann an ihrer Seite nickte wissend.
"Das würde mir auch nicht zusagen, keine Sorge. Du hast genug Blut ansehen müssen für den Rest deines Lebens. Wir werden ihm einfach erst einmal einige Fragen stellen, in Ordnung?"
Sie nickte ebenfalls.
Gemeinsam gingen sie die Etagen hinab, bis sie an einer der Türen angelangten, die sie bisher noch nicht hatte durchschreiten dürfen. Alec schloss mit einem schweren Schlüsselbund auf. Dahinter führte ein schmaler Gang zu verschiedenen, von ihm abzweigenden Räumen. Genauer gesagt zu fünf voneinander getrennt stehenden Käfigen, von denen nur der hinterste belegt war. Ein großer Mann lag zusammengekrümmt auf der kleinen Grundfläche, als wenn er schon Einiges hätte einstecken müssen.
Als sie sich ihm näherten, überlief es Ophelia eiskalt. Irgendetwas an der Krümmung des Rückens wirkte vertraut auf sie. Etwas an der Wahl der Kleidung. Sein kahler Kopf...
Sie zuckte zusammen und konnte nicht verhindern, dass Timotheus an ihrer Seite es bemerkte. Er sah sie aufmerksam an und sie beeilte sich, in unsicherem Ton anzumerken:
"Er wurde schon... befragt?"
Timotheus tätschelte ihr beruhigend den Arm.
"Ja, seitens Christians Männer, bevor er zu uns geschickt wurde. Sie haben ihn wohl nicht groß zu Wort kommen lassen, als sie ihn ertappten und dann sind sie nervös geworden."
Beim Klang ihrer Stimme ging eine Regung durch den Körper am Boden der winzigen Zelle und der Mann rappelte sich sichtlich angeschlagen auf.
Ettark blickte ihr mit glühendem Blick aber schweigend entgegen.
'Oh nein! Er ist es wirklich!'
Alec und Timotheus waren glücklicherweise beide viel zu sehr darum bemüht, den Fremden einzuschätzen, als dass ihnen irgendetwas Ungewöhnliches an ihrer Reaktion aufgefallen wäre. Sie beschloss augenblicklich, sich in den folgenden Minuten soweit wie nur irgend möglich zurückzuhalten, um ihrer beider Tarnungen nicht zu gefährden.
'Was tut er hier? Es gibt keine logische Erklärung dafür, warum er in meine Ermittlung geraten sein sollte. Er sollte doch nur die Nachricht weiterleiten! Und Araghast hat mir deutlich zu verstehen gegeben, wie sehr er meinen Alleingang missbilligt und dass er mich zur Not meinem Schicksal überlassen wird. Er würde niemals einen Kollegen abziehen, um mir beizustehen. Erst recht nicht in dieser Phase. Was hat das zu bedeuten, dass ausgerechnet er hier auftaucht?'
Der glühende Blick des Informantenkontakters schien sich bis in ihr Innerstes zu bohren und jeden noch so kleinen Makel an ihr zu verabscheuen. Als er sich endlich ihren Begleitern zuwandte, war dies die reinste Erlösung. Sie fühlte sich plötzlich schmutzig und schuldig, als wenn er etwas in ihr gesehen hätte, was ihn anwiderte.
'Selbst in dieser Situation noch, in der er davon abhängig ist, dass ich mitspiele, verachtet er mich!'
Ophelia war von der Intensität seines Hasses erschüttert. Sie musste sich willentlich dazu zwingen, ihre aufrechte Haltung zu bewahren, sich zu konzentrieren und in der Rolle zu bleiben!
Timotheus' gewohnt sanfte Stimme half ihr dabei.
"Es scheint, dass wir Besuch haben."
Alec ergänzte die Worte seines Arbeitgebers mit deutlich hörbarem Spott.
"Und zwar einen von der neugierigen Sorte."
Der Kollege hinter den Gitterstangen versuchte sich an einem überheblichen Lachen, welches aber umgehend zu einem deutlich schmerzhaften Keuchen verkam.
'Von Hopfenhauffs Schläger müssen ihn ernsthaft bedrängt haben. Das klingt nicht gut.'
Der Gedanke an Michaels verletzte Lunge und dessen daraus folgendem Tod schlich sich ungebeten in ihre Erinnerungen.
'Um Himmels Willen! Ich muss in der Rolle bleiben! Theridae, trotzige junge Frau, Vorzeigeprojekt, harmlose Vertraute... ich kenne diesen Mann nicht...'
Der Hausherr schritt dem Käfig ohne die geringste Scheu entgegen - und zog sie dabei mit sich, unbeachtet, als wenn ihre kalte Hand in seiner Armbeuge nicht viel mehr als ein vergessener Blumenstrauß wäre.
Der Informantenkontakter war ziemlich in die Mangel genommen worden. Ein Gutteil der Blutergüsse wurde gnädigerweise durch die schlechte Beleuchtung im Aussehen gemildert und durch seine Kleidung verborgen. Das Wenige jedoch, was sich ihr darbot, ließ Ophelia innerlich stocken.
'Er braucht eine gesundheitliche Versorgung. Es ist nicht richtig, ihn so festzuhalten. Seine Haltung... er muss Schmerzen haben, die über die Blauen Flecken hinaus gehen. Wenn ich mich später heimlich zu ihm schleichen und ihm Salbe und etwas zum Betäuben bringen könnte... aber Alec hat die Schlüssel und... bei Annoia, was denke ich? Ich darf ihm nicht helfen! Er wird das so durchstehen müssen. Er kann froh sein, wenn ihm dazu die Gelegenheit bleibt.'
Timotheus klang leichthin, als wenn er lediglich mit einem alten Bekannten Belanglosigkeiten tauschen würde.
"Ich habe erfahren, dass Du Fragen stellst. Viele Fragen."
Das klägliche Husten des Kollegen ging ihr nahe.
'Wie würde die echte Theridae reagieren? Nervös und unsicher?' Sie musste fast lachen bei dem ironischen Gedanken. 'Das dürfte mir leicht fallen. Hauptsache ich zeige keine übermäßige Sorge um den angeblich Fremden. Falls Timotheus beschließen sollte, ihn umzubringen, dann würde Theridae zwar empört reagieren aber... sie wäre misstrauisch dem Gefangenen gegenüber und würde Distanz zu ihm wahren.'
Ettarks Worte drangen durch ihre Unruhe hindurch.
"...wollte ich nur wissen, wie ich mit einer Organisation namens HIRN in Kontakt treten kann. Offensichtlich ist mir das gelungen."
Sie hatte Mühe, normal weiterzuatmen und bekam kaum noch mit, wie Timotheus das Gespräch mithilfe einer höflichen Vorstellung in zivilisiertes Fahrwasser geleitete.
'Er hat... das kann nicht wahr sein... aus irgendeinem Grund hat er es bewusst darauf angelegt, es hierher zu schaffen?' Zorn stieg in ihr auf. 'Wie kann er es wagen? Er bringt nicht nur sich selber in Gefahr, sondern mich ebenso. All meine Bemühungen... und er betritt den Schauplatz dermaßen unprofessionell, stellt alles in Frage, was ich bisher erreicht habe!'
Die zivilisierte Stimme ihres Gastgebers gemahnte sie gewissermaßen zur Zurückhaltung.
"Vielleicht sollten wir von Neuem beginnen. Freundlicher. Zumindest vorerst."
Der glatzköpfige SEALS gab sich trotz der Umstände souverän und beinahe jovial, als er antwortete.
"Habe ich momentan nichts gegen einzuwenden."
Van Barrik lächelte freundlich.
"Mit wem habe ich das Vergnügen, Herr..."
Der Informantenkontakter grinste verhalten und räusperte sich, ehe er eine Verbeugung andeutete. Während er sich aus dieser wieder aufrichtete sagte er:
"Mein Name ist Ettark von Bergigen."
Ophelias Wut auf ihn löste sich von einer Sekunde zur nächsten auf, als ihr vor Angst um ihn elendig wurde.
'Ist er denn jetzt gänzlich von Sinnen? Wie kann er seinen wahren Namen offen legen? Das ist Wahnsinn! Was, wenn sie Nachforschungen anstellen und möglicherweise über Kontakte zur Wache verfügen? Das kann nicht sein Ernst sein. Hat er denn nicht einmal den Ansatz einer Tarnidentität geplant gehabt? Sie werden ihn umbringen..."
Es war leicht zu erkennen, dass er bei jeder noch so kleinen Bewegung Schmerzen spürte, die er zu unterdrücken suchte. Dennoch ließ er sich sein überhebliches Gebaren nicht nehmen.
"Und mit wem habe ich das Vergnügen?"
Timotheus neigte amüsiert den Kopf und antwortete lächelnd.
"Mit einem Freund."
Der Gefangene ließ seinen Blick betont langsam durch den großen Zellenraum mit den unterteilten Käfigen wandern. Seine Stimme troff vor Ironie, als er entgegnete:
"Interessante Gästezimmer haben Sie... Freund."
Das Lächeln ihres Gastgebers vertiefte sich noch.
"Sicherheitsvorkehrungen. Zu deinem eigenen Besten."
Das falsche Lächeln sprang erst zu Alec und von dort aus zu dem Kontakter über. Timotheus beendete es mit einem leisen Seufzen und konkreten Fragen.
"Nun denn, Ettark von Bergigen. Gesetzt den Fall, mir würde dein Begehr irgendetwas bedeuten, wie kommt es, dass Du dich nach einer... ja, was soll man dazu sagen? Nicht sonderlich populären Organisation erkundigst? Und was brachte Dich zu der Annahme, dass die Dienerschaft meines Bekannten Dir in dieser Frage hätte weiterhelfen können?"
Die Antworten auf diese Fragen interessierten auch Ophelia, selbst wenn sie sie gleichermaßen fürchtete.
Der unerkannte Wächter vor ihnen setzte erst zögerlich, dann etwas forscher damit an, von seinen Überlegungen und Schlüssen zu erzählen.
"Nun ja, ich bin erst seit einiger Zeit Gast Eurer wunderschönen Stadt aber es ist mir doch recht schnell aufgefallen, dass hier etwas nicht ganz stimmig ist."
Timotheus´ freundlicher Einwurf gemahnte zur Vorsicht.
"So? Ist es das?"
Der Mann im Käfig beeilte sich, diese Aussage klarer zu formulieren.
"Verstehen Sie mich nicht falsch. Mir gefällt sie. Wirklich! Aber überall dieses... Geschmeiß! Ich meine, Zwerge und Trolle sind ja schon schlimm genug. Aber es wundert mich doch sehr, wie die Stadtführung zulassen kann, dass sich eine solche Menge an Kläffern und Zecken hier rumtreibt. Selbst in den besten Vierteln der Stadt! Also habe ich mich danach erkundigt, warum niemand etwas dagegen unternimmt und bin dabei auf Ihre Organisation gestoßen. Und relativ schnell war mir klar, dass dieser Hoffenpoff damit zu tun hat."
Die Mundwinkel des Oberhauptes eben jener Organisation zuckten amüsiert, als der ungebetene Besucher den Namen des vorangegangenen Gefängnisaufsehers dermaßen verunstaltete. Doch er ließ ihn unbehelligt ausreden.
"Also habe ich versucht, direkt mit ihm in Kontakt zu kommen und als mir das misslang, habe ich mich eben an seine Bediensteten gewandt. Sie reagierten nicht sehr... zuvorkommend. Aber immerhin bin ich jetzt hier."
"Ich wüsste nicht, von welcher Organisation Du redest, die mir gehören sollte. Da muss es sich um ein Missverständnis handeln." Der weißhaarige Chef der Infragesteller wandte sich amüsiert seinem Sicherheitschef zu. "Oder weißt Du, wovon er redet?"
Alec grinste zurück.
Der Kollege stöhnte entnervt in seinem Käfig auf. Seine Geduldsreserven waren ihr nie nennenswert umfangreich vorgekommen. Sie hatte ihn als überheblich und impulsiv in Erinnerung und begann sich ohnehin allmählich darüber zu wundern, wie gut er sich, dem zum Trotze, im Griff hatte. Aber natürlich ging es hier um nicht weniger als sein Leben und er wäre ein Narr gewesen, wenn ihn dies nicht zu Höchstleistungen angespornt hätte.
"Hören Sie, Herr... ich vermute mal, dass ich mit Van Barrik nicht ganz falsch liege?"
Die Stimmung kippte auf einen Schlag von 'gelöst und heiter' auf 'gefährlich angespannt'.
Ophelia verfolgte mit flatterndem Herzschlag, wie die Haltung des Genannten sich versteifte und wie Alec am Rande ihres Sichtfeldes plötzlich ein Klappmesser aufschnappen ließ.
Timotheus mochte es offensichtlich gar nicht, dass dem Fremden selbst dieser Zusammenhang bereits geläufig schien. Mit unzufriedenem Unterton in der Stimme stellte er leise fest:
"Soso... einer von der ganz schlauen Sorte."
'Was hat er vor? Wenn er so weiter macht, kann ich ihm nicht mehr helfen. Er manövriert sich immer tiefer in die Misere. Jetzt kann Timotheus ihn nicht mehr ohne Weiteres gehen lassen.'
Ettark blickte überheblich auf Alecs Messer herab. Gleichzeitig beeilte er sich, dem Hausherrn zuvorzukommen, gleichgültig welche Absichten dieser nun hegen mochte.
"Ich vermute, Sie haben noch nicht von denen von Bergigen gehört? Dann sollten Sie sich besser schnell erkundigen, bevor Sie einen Fehler machen, den Sie mit Sicherheit bereuen werden."
'Er redet sich um Kopf und Kragen. Wie kann er sie auch noch dazu auffordern, seine Identität zu überprüfen?'
Timotheus deutete mit einer nonchalanten Geste seines Armes an, dass sein Gast sprechen möge.
"Bitte! Wenn Du etwas zu sagen hast..."
Ophelia konnte es kaum fassen, mit welcher beispiellosen Kaltblütigkeit der Kontakter sich in dieser bedrohlichen Situation bewegte. Anstatt der Aufforderung nachzukommen, solange diese noch gelten mochte, richtete er den skeptischen Blick mit bedeutungsvoll hoch gezogenen Brauen auf Alec.
Und gab damit tatsächlich den Ton an!
Auf Van Barriks strenges Augenmerk hin, steckte der Muskelprotz widerwillig das Messer fort.
"Vielen Dank! Ist doch gleich eine viel freundlichere Atmosphäre."
Alec schnaufte verächtlich, doch Ettark ignorierte ihn schlichtweg, als er fortfuhr.
"Nun, wenn Ihnen der Name nichts sagt, sollten Sie sich wirklich dringend erkundigen. Vor allem, wenn Sie etwas gegen dieses Geschmeiß in der Stadt unternehmen wollen. Aber ich kann Ihnen so viel verraten, dass meine Familie schon Vampire getötet hat, als Ihr Vater noch in den Windeln lag."
Van Barrik betrachtete den Gefangenen plötzlich mit deutlich mehr Interesse.
Ophelia registrierte kaum das beiläufige Geplänkel, mit dem der Kollege in Richtung des muskelbepackten Aufpassers stichelte, so sehr waren ihre Gedanken in Aufruhr.
'Die Geschichte klingt zu aufgesetzt, zu perfekt auf die Situation zugeschnitten, als dass sie stimmen könnte. Er schöpft aus dem Nichts. Er erfindet, wo nichts sein kann und verlässt sich darauf, dass Timotheus ihm seinen guten Willen mangels Nachweismöglichkeit in Rechnung stellt. Doch das wird ihm das Genick brechen. Auf bloße Behauptungen wird Timotheus nicht hereinfallen, so leichtgläubig ist er nicht. Ich muss ihn ablenken, bevor es zu spät ist. Und wenn ich Ettark dafür lächerlich machen muss. Worüber man lacht, darüber wird man nicht so sehr in Rage geraten, es umzubringen...'
Sie atmete schnell ein, bevor sie den Mut verlieren würde und ließ sich tiefer in Theridaes Gedankengänge fallen.
'Der Mann im Käfig ist unnötig in Gefahr. Er behauptet haltloses Zeug, um sich zu retten und ist dabei zu dumm, um zu erkennen, dass er es nur schlimmer macht. Er ist dumm und einfältig und ein überheblicher Blender, er...'
Ihre Gefühle glichen sich dem Gedankenmuster an und kurz darauf fiel es ihr sehr viel leichter, das Gespräch mit einer abfälligen, fast gelangweilten Bemerkung zu unterbrechen.
"Timotheus, er ist so ein Angeber."
Der Mann hinter den Gitterstäben blickte sie wütend an. Doch glücklicherweise war ihr das beinahe egal. Sie wollte ihm eigentlich helfen aber wenn er sich bockig stellte, dann wäre sie nicht an seinem Unglück schuld.
Timotheus lächelte sie amüsiert an, fiel aber nicht auf die unterschwellige Verlockung herein, den Besucher als ebenso unbedeutend zu klassifizieren, wie sie es ihm mit ihrer ganzen Haltung vorzugaukeln versuchte.
"Ja, das ist er. Aber das bedeutet nicht, dass man ihm kein Gehöhr zu schenken braucht. Lass ihn ausreden."
Sie blickte Ettark direkt an und konnte nicht verhindern, dass sich ihre Sorge um ihn, um seine Verletzungen, ihre Frustration über ihr Unvermögen, ihn besser zu schützen und die anfängliche Wut auf seinen dummen, dummen Leichtsinn, sich in ihre Ermittlung einzumischen, in diesem kurzen Moment miteinander verbanden.
"Er will sich nur wichtig machen."
Doch der Wächter ihr gegenüber hatte andere Pläne. Er konterte ihren Blick und seine größenwahnsinnigen Worte machten selbst die kleinste Chance, die er vielleicht noch gehabt hätte, endgültig zunichte.
"Ich habe alles gesagt, was ich zu sagen habe. Wenn Ihr meinen Worten nicht glaubt, werdet Ihr hoffentlich wenigstens denen von Van Dunkelsinn glauben. Er hat dem Reich in seiner Abhandlung über Überwald ein recht interessantes Kapitel gewidmet."
Bildete sie es sich nur ein, oder fiel es ihm bei Weitem nicht mehr so leicht, wie zu Beginn, sein aufgesetztes Lächeln beizubehalten?
Timotheus ließ sich Zeit mit einer Erwiderung. Dann nickte er seinem zuverlässigen Bediensteten zu.
"Alec?"
"Ja?"
"Bitte, sei doch so nett und bringe mir Van Dunkelsinns Abhandlung. Sie steht in dem hohen Regal rechterhand meines Schreibtischs. Zweites Fach von oben."
In Ophelia breitete sich Kälte aus.
'Natürlich hat er diesen Aufsatz hier. Woher hätte Ettark es wissen sollen, dass dieser Haushalt mit Sicherheit eine der größten Bibliotheken der Scheibe zum Thema Überwald bereit hält? Solch eine großspurige Behauptung könnte hier niemals Bestand haben. Nun wird es nur noch Minuten dauern, ehe sie ihn überführen.'
Alec blickte unsicher zwischen dem Gefangenen und seinem Chef hin und her.
"Ähm... soll nicht lieber sie... ich meine, falls er..."
Timotheus antwortete harsch und mit deutlicher Ungeduld in der Stimme.
"Werd nicht albern."
Der gefangene Kollege klopfte mit schwärzestem Galgenhumor gegen die Metallstangen.
"Keine Angst. Ich werde die Gitterstäbe heute nicht verbiegen. Schließlich sind sie ja zu meiner eigenen Sicherheit da."
Ophelia blickte dem Sicherheitschef mit Bedauern nach. Hätte Timotheus stattdessen wirklich sie geschickt, um den Band zu holen, dann hätte sie vielleicht irgendeinen Ausweg finden können. Das Buch zu verstecken, beispielsweise. So aber würde ihnen nichts zu tun bleiben, als abzuwarten, bis Alec wiederkäme.
Die beiden verbliebenen Männer unterhielten sich mit angenehm ruhigen Stimmen miteinander, bis ihr Gastgeber sich überraschend direkt an sie wandte.
"Das könnte etwas länger dauern, meine Liebe. Es tut mir leid, dass die Einrichtung hier unten zu wünschen übrig lässt. Ich hoffe, das ist dennoch akzeptabel für Dich?"
Die Frage in Gegenwart des übel zugerichteten Kollegen war ihr peinlich. Ihr Blick schnellte ungewollt zu ihm und beinahe wäre es ihr ein Bedürfnis gewesen, sich bei ihm dafür zu entschuldigen, dass Van Barrik sich so um sie sorgte, ihm hingegen, als wesentlich leidgeprüfteren Gefangenen, nicht einmal eine Decke zum Setzen anbot. Sie wich seinem Blick betroffen aus.
"Das ist in Ordnung für mich. Mach Dir keine Gedanken."
Die Aufmerksamkeit des obersten Planers der HIRN wandte sich wieder dem inzwischen Auf- und Abgehenden in dessen kleinem Käfig zu.
"Wenn ich Dich richtig verstanden habe, wünschst Du eine Möglichkeit, dein aggressives Potential zu entfalten? Gegen 'das Geschmeiß'?"
Ettark warf ihm einen verwunderten Blick zu. Mit schockierendem Selbstverständnis antwortete er.
"Mit Aggressionen hat das nun wirklich wenig zu tun. Es geht hier schließlich um Selbstverteidigung. Entweder sie oder wir. Und ich würde ungern aufwachen, wenn so 'nen Gewürm an meinem Hals hockt und mich aussaugt. So wie die sich ausbreiten, wird es nicht mehr lange dauern, bis sie uns ehrliche Menschen von unseren angestammten Plätzen vertreiben."
'Wie selbstverständlich das über seine Lippen kommt! Denkt er wirklich so?'
Timotheus schien das Gespräch zu genießen und sich zu einer philosophischen Debatte zu seinem Lieblingsthema bemüßigt zu fühlen.
"Es gibt Personen, die Selbstverteidigungsmaßnahmen erst dann als angemessen ansehen würden, wenn die genannte Situation bereits akut eingetroffen ist."
Ihr Kollege hinter den Metallstangen blickte herausfordernd zwischen diesen hindurch.
"Ja und es gibt Menschen, denen es gegeben ist, vorausschauend zu leben. Glauben Sie mir! Die Situation ist schon lange eingetroffen. Meine Heimat kann ein Lied davon singen."
Timotheus deutete mit weit gestrecktem Arm gelassen um sich.
"Ich kann mich zwar irren aber ich sehe keine Vampire in diesem Raum."
Ophelia kam für einen kurzen Moment der beunruhigende Gedanke, ob Racul die Szenerie womöglich in eben diesem Augenblick durch ihre Sinne hindurch wahrnehmen mochte? Sie verdrängte auch diese Sorge schnellstmöglich.
Ettark ignorierte sie derweil. Er konzentrierte sich ganz auf Van Barrik und grinste zur Antwort.
"Was wohl meine anfängliche These stützt, dass hier solch vorausschauende Menschen leben."
Timotheus lachte leise über die schlagfertige Antwort seines Gegenübers und dann war auch schon Alec zurück. Er reichte seinem Chef ein in Leder gebundenes Buch.
"Ich danke Dir, Alec. Herr von Bergigen, möchtest Du meine Suche nach den von Dir genannten Informationen verkürzen?"
Ophelia nahm sehr wohl wahr, wie der kampferprobte Kontakter sich schwer am Gitter anlehnte. Er hielt eine Hand möglichst unauffällig an die Rippenbögen gepresst. Seiner Stimme war keine Pein anzuhören.
"Es müsste auf Seite 325 verso beginnen, wenn ich mich nicht irre."
Timotheus blätterte schnell zu besagter Stelle und begann zu lesen.
Die Verdeckte Ermittlerin registrierte aus dem Augenwinkel, wie der Kollege den kurzen Moment der Ablenkung dazu nutzte, die Körperspannung fallen und sich zusammensacken zu lassen. Obgleich Alec ihn noch immer scharf im Auge behielt, musste er zu Atem kommen.
'Sein selbstsicheres Auftreten kostet ihn Kraft. Er ist es im Gegensatz zu mir vermutlich nicht gewohnt, in wechselnde Rollen zu schlüpfen. Nutzt er sonst nur eine einzige weitere Identität, die des Informationssammlers im Hafenviertel?'
Dann jedoch nahm der Text auch sie in Beschlag. Bis auf die detaillierte Kohlezeichnung einer Kette aus Vampirzähnen als Jagdtrophäe war er unbebildert. Dennoch! Das Geschlecht Derer Von Bergigen wurde darin ausführlich und in großen Worten gerühmt. Auch wenn es nur kurz währte. Sie las von einem Zusammenschluss mehrerer Dörfer, die tapfer in den Krieg gegen die schnell gegründete 'Liga der Überwäldischen Reinheit' zogen. Es musste ein beispielloses Gemetzel gewesen sein. Über 500 Seelen hatte das Land gezählt gehabt. Die Vampire machten kurzen Prozess mit ihnen. Die Familie Von Bergigen wurde als 'das Feuer der Hoffnung' bezeichnet, welches in ihnen allen hell gebrannt hatte.
Van Barrik blickte auf und schloss das Buch bedächtig.
"Hmmm..."
Der Gefangene lächelte ebenso grimmig, wie herausfordernd.
"Bestätigt Van Dunkelsinn meine Worte ausreichend?"
Ophelia konnte ihren Blick nicht von dem Kollegen im Käfig wenden.
Dieser sah sie kurz direkt an - bevor es beinahe so wirkte, als wenn er es nicht fertig brachte, sie länger anzuschauen.
Alecs misstrauischer Blick flog zwischen ihnen allen hin und her. "Was?"
Die Worte lösten sich von selbst aus ihrem Mund und waren beredtes Zeugnis ihrer Verwirrung: "Wenn das stimmt...", begann sie, ganz und gar im Unklaren darüber, wie sie diesen Satz jemals beenden sollte.
Der Informantenkontakter fuhr beinahe empört auf.
"An Dunkelsinn wird in diesem Haus doch hoffentlich nicht gezweifelt?"
Timotheus verneinte mit einem leichten Kopfschütteln und in nachdenklichem Ton.
"Nein, an ihm nicht."
Ettark nickte ahnend.
Van Barrik fuhr in gleichbleibend zurückhaltender Weise fort.
"Die Frage, die bleibt, ist vielmehr: Jeder könnte dies nachgeschlagen und es als willkommene Identität angenommen haben. Vorschläge, Herr Von Bergigen?"
Der große Mann im Käfig blickte finster zu ihnen hinaus und griff in eine seiner Manteltaschen.
"Das habe ich befürchtet..." Er tastete vorsichtig nach einem Gegenstand und wäre er dabei nicht so offensichtlich vorgegangen und seine Hand nicht so tief in die Tasche gefahren, so dass es mehr als deutlich wurde, dass dieser Gegenstand relativ klein sein musste, wäre Ophelia instinktiv zurückgewichen. "Sie haben das wunderschöne Bild der Kette meines Großvaters gesehen?"
Seine Frage stand bedeutsam zwischen ihnen, während er stattdessen in der Innentasche zu suchen begann.
"Dieses feine Unikat? Durchaus... es war kaum zu übersehen."
Alec horchte auf.
"Welche Kette? Die, die der Kerl bei sich hat?"
Timotheus drehte sich ruckartig zu seinem Bediensteten um.
"Er hat..."
Ettarks Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes für den Zellenwart, was diesem jedoch völlig entging. Alec beeilte sich, seinem keineswegs erfreuten Chef Rede und Antwort zu stehen.
"Ich habe seine Taschen natürlich kontrolliert aber ich habe sie als ungefährlich angesehen. Ist sie das nicht?"
Er machte einen unsicheren Schritt auf den Käfig zu, als wenn er sein Versäumnis sofort nachholen und die Kleidung des Gefangenen komplett umkrempeln wollte.
Dieser fuhr ihn zornig an.
"Das... das... ich hoffe, Sie haben sie nicht angefasst... Das ist ein sehr wichtiges Erbstück!"
Timotheus war sichtlich aufgebracht, auch wenn er seinen Gefühlen nicht ebenso die Zügel schießen ließ, wie es der Kontakter tat.
"Du hast es nicht für nötig befunden, mir davon zu berichten, Alec?"
Endlich zog Ettark ein kurzes Seil aus der Innentasche. An dem schlichten Band baumelten vier mit Runen verzierte Vampirzähne. Er hielt das Schmuckstück so, dass sein Gastgeber es gut sehen konnte.
Van Barrik trat ohne zu zögern an die Zellenstäbe heran und streckte den Arm hindurch. Er fuhr unter das herabhängende Beweisstück und hob seine Hand soweit an, dass die spitzen Anhängsel auf der geöffneten Fläche auflagen und zur Ruhe kamen. Er neigte seine Hand, um den Winkel, in dem das Licht auf das Objekt fiel, zu ändern. Er betrachtete die Kette eingehend, scheinbar ohne dabei auch nur einen einzigen Gedanken an seine Sicherheit zu verschwenden.
Alec bemühte sich immer noch darum, seinen Fehler zu erklären.
"Tut mir leid, Sör! Sie sah so dermaßen weibisch aus... Ich dachte, sie wäre eine Fälschung."
Ophelia konnte deutlich erkennen, dass es dem verdeckt agierenden Kollegen schwer fiel, seine vorgetäuschte Gelassenheit zu wahren. Ob das jedoch mit einer rapiden Verschlechterung seines Gesundheitszustandes zusammenhing oder ob ihm vielmehr der Gedanke zu schaffen machte, dass dieses besondere Erbstück von dem unfreundlichen Handlanger berührt worden war, ließ sich nicht genau festlegen.
Timotheus ließ die Kette mit bedeutungsvoller Gelassenheit wieder in den Käfig zurückschwingen und richtete sich auf. Seine Stimme klang beeindruckt.
"Nein. Das ist sie nicht."
Er nickte dem Bergiger respektvoll zu.
Der Wächter im Käfig nahm dies als Erlaubnis an, das dünne Band umsichtig zusammenzulegen und die Trophäenkette mit stummer Genugtuung in seine Manteltasche zurückzustecken.
Noch immer sah sie ihn verwirrt an.
"Dann ist er..."
Timotheus vollendete den unfassbaren Gedanken in seinem typisch milden Tonfall.
"…entweder ein sehr geschickter Betrüger. Oder ein Jäger aus Tradition."
Ettark grinste ihn überheblich aus seinem Käfig heraus an.
Ophelia atmete tief durch.
'Das ist... eine Überraschung. Ich hatte angenommen, dass sein Auftauchen vielleicht doch irgendeinen Zusammenhang zu meiner Ermittlung haben könnte. Dass er mich vielleicht sogar warnen sollte. Jetzt aber sieht es eher so aus, als wenn das hier eine persönliche Sache für ihn wäre und ich ihm störend in die Quere gekommen bin. Kann das wirklich und wahrhaftig sein, dass er sich den Infragestellern anschließen will? Obgleich er ganz genau wissen musste, dass er hier auf mich treffen würde, während ich versuche, sie aufzuhalten?'
Verschiedene Erinnerungen dämmerten an die Oberfläche ihrer bewussten Überlegungen und sprachen für diese erschreckende Möglichkeit: Ettark, wie er inmitten einer dichten Fledermauswolke auf der befestigten Stadtmauer stand und wie ein Berserker in den Schwarm hieb. Wie er seiner Aggressivität in wilden Schreien Luft machte, blind gegen alles andere als nur dem einen Vorhaben: jeden Vampir, der in seine Reichweite geriet, endgültig auszulöschen! Ettark inmitten eines unzufriedenen Mobs, wie er - unter fremdem Einfluss zwar aber mehr als nur bereitwillig - gegen seine eigenen Kollegen Breda und Valdimir hetzte, dabei Flüche auf das 'untote Gezücht' ausstoßend, wie sie sich diese nicht gröber hätte vorstellen können.
Sie alle hatten damals unter dem Einfluss der Vampire zu leiden gehabt. Selbst unter demjenigen, der wohlmeinenden Mitverschwörer. Aber ihn hatte es besonders hart getroffen. Ein Umstand, der auch Auslöser dafür gewesen war, dass sie ihn bei der Internen anzeigen musste. Sein rücksichtsloses Verhalten war letztendlich untragbar, sein ungezügelter Fanatismus im Moment der Überdosis nicht mehr zu tolerieren gewesen.
Ophelia erinnerte sich mit einem Frösteln daran, dass die Belagerung der Stadt durch den fremden Vampirclan auch jener Zeitpunkt gewesen war, zu dem sie zum allerersten Mal mit Racul in Kontakt gekommen war. Er hatte sie so plötzlich und rücksichtslos mit seiner eisigen Präsenz geflutet, dass sie noch Wochen danach das Gefühl gehabt hatte, innere Wunden an ihren Nervenbahnen entlang brennen zu spüren. Vielleicht war das in Wirklichkeit schon das erste Anzeichen der bleibenden Verbindung zwischen ihnen gewesen? Was, wenn sie mehr darauf hätte achten müssen? Aber das war ebenfalls der Zeitpunkt gewesen, als die wärmende Verbindung zu Breda zerbrochen wurde und sich ohnehin alles falsch angefühlt hatte. Zumindest hatte Racul ihr auch einige wenige glänzende Momente geschenkt, die sie mit ihm versöhnt hatten. Sie würde gewiss niemals vergessen, wie berauschend es sich angefühlt hatte, als er ihren vergleichsweise zerbrechlichen Körper aus der Ferne mit seinen Kräften und seiner Lenkung in den tödlich präzisen Schwerttanz gegen zwei Gegner zugleich gezwungen hatte! Das Unwetter, welches die Nacht mit Blitzen stürmisch durchleuchtete, die beiden Vampire, die sie gierig umkreist hatten und seine schnellen Reaktionen, die ihr den Freiraum schufen, um trotzdem zu überleben... Das waren besondere Erinnerungen. Und sie bezweifelte, dass der Informantenkontakter ähnlich Erhebendes erlebt hatte. Ihn betreffend konnte sie sich nur an Bilder erinnern, in denen er gegen Zwang und Schmerz ankämpfte, bis hin zu dem Punkt, als er durch Kannichguts blutige Klinge an seiner Kehle vor Graf Stroganoff auf die Knie gezwungen worden war, weil es diesem nicht lohnend genug erschien, den widerspenstigen Geist des Bergigers zu brechen, wenn er stattdessen auch dessen Blut zur Neige kosten konnte.
Die Erinnerung konfrontierte sie auch unbarmherzig mit dem Wissen, dass sie selber, Stroganoffs Willen unterworfen, tatenlos zugesehen hatte. Ein weiterer nachvollziehbarer Grund, aus dem sein Hass auf sie sich speisen mochte...
Sie verdrängte die vergangenen Dinge aus ihrem Sinn.
'Er hat Vampire schon immer verabscheut, soweit ich zurückdenken kann. Der Text über seine Familie erklärt das natürlich plötzlich mit schmerzlicher Tragik.' Das altbekannte Schuldgefühl erfasste sie. 'In Anbetracht dieses neuen Wissens zu seiner Vergangenheit war es nicht nur nachvollziehbar, sondern geradezu unausweichlich, dass er damals zu dem Betäubungsmittel Zuflucht gesucht hat! Ich hätte mit ihm reden sollen, anstatt ihn IA in die Arme zu treiben.'
Und jetzt standen sie wieder gemeinsam vor einer Entscheidung, die unabsehbare Konsequenzen nach sich ziehen mochte.
'Habe ich etwas übersehen? Geht es ihm um mehr, als das Offensichtliche? Ich kann nicht die Hand für ihn ins Feuer legen. Noch hat er mich zwar nicht verraten aber... Vermutlich wird er das in absehbarer Zeit noch nicht können, denn dazu müsste er seine eigene Wachezugehörigkeit offen legen und Timotheus ist niemand, der ihm danach noch lange genug zuhören würde. Sonst wäre die Versuchung, sich an mir zu rächen und mich aus dem Weg zu schaffen, vermutlich groß. Will er mich möglicherweise im Auge behalten, um mein Bemühen zu boykottieren? Will er mir so schweigend zu verstehen geben, dass er auf der anderen Seite steht und ich gut daran täte, eine passivere Rolle einzunehmen und die HIRN zu verschonen? Ist dies seine Art, mir zu drohen?'
Sie rang fassungslos nach Worten.
"Was bedeutet das? Für ihn... für uns?"
Timotheus konnte die Tragweite dieser Frage auf ihren Standpunkt bezogen selbstverständlich nicht erahnen. Seine Antwort hingegen brachte sie vollends wieder zur Besinnung. Sie musste sich konzentrieren!
"Eine gute Frage. Herr Bergiger... gesetzt den Fall, Du hättest jene fragwürdige Organisation gefunden. Was hätte dies zur Folge?"
Der weißhaarige Ältere legte interessiert den Kopf schief und wartete die Antwort des Gefangenen ab.
"Zuerst würde ich dem... Leiter dieser Organisation gratulieren."
Timotheus schmunzelte in stillem Einverständnis.
"Eine überflüssige, wenn auch noble Geste. Weiter! Was würde folgen?"
Der Informantenkontakter tastete sich mutiger vor.
"Als zweites würde ich... zumindest temporär, meine Hilfe anbieten, diese Stadt zu reinigen. Es darf nicht sein, dass sich hier ein Nest entwickelt, während tapfere Streiter an anderen Fronten für das Überleben unserer Spezies kämpfen. Einen Zweifrontenkrieg können wir uns wirklich nicht leisten, dafür sind wir zu Wenige. Und drittens würde ich um eine gemütlichere Unterbringung bitten. Der Boden in diesem Zimmer ist doch etwas hart."
Van Barrik ignorierte den Hinweis auf die karge Unterbringung geflissentlich.
"Gestatte mir eine Frage!"
Ettark machte eine auffordernde Geste.
"Du kommst nicht von hier. Warum sollte Dir an dieser Stadt gelegen sein?"
Der große Wächter blickte mit zusammengeschobenen Brauen auf sie herab.
"Wie schon gesagt, es liegt mir nicht viel an der Stadt. Zuerst war ich hier, auf der Suche nach... einem Freund. Aber als ich sah, was sich hier entwickelt..." Er schüttelte traurig den Kopf. "Dies ist die größte Stadt der ganzen Welt. Wenn wir hier verlieren, welche Chancen hätten wir in Überwald?"
Das Oberhaupt der Infragesteller taxierte ihn mit abwägendem Blick.
"Trägst Du deine Gefühle immer so offen zur Schau?"
Ettarks Mundwinkel zuckten.
"Nun ja, jemand sagte mir, ich wäre hier unter Freunden."
Timotheus wirkte deutlich ernster, als er erwiderte:
"Es gibt verschiedene Arten von Kampf, verschiedene Fronten. Und einigen von diesen täte ein dezenteres Vorgehen gut."
Ettark senkte den Kopf.
"Da seid Ihr mir zweifellos überlegen. Meine Methoden sind wohl offener, als es eine Stadt wie diese vertragen würde."
Ophelia konnte nicht anders. Sie musste plötzlich über die Absurdität der ganzen Situation lachen. Offenere Methoden als die ihren? Das hätte nicht schwer sein sollen und doch...
Sie senkte schnell den Blick und biss sich auf die Lippen, was sich aber als unnötig herausstellte. Die Herren beachteten sie nicht weiter.
Timotheus legte beide Hände hinter dem Rücken zusammen und dachte einen Moment nach.
"Ich möchte Dich um einen Gefallen bitten... Freund Ettark."
Er blickte beinahe verschlagen auf und Ettarks Augenbrauen wanderten leicht nach oben. Er wartete schweigend ab, um was es sich dabei handeln mochte. Doch Timotheus kam nicht sofort zum Punkt. Es gefiel ihm anscheinend, seinen Wunsch unverbindlich und hypothetisch vorzutragen.
"Wir sind eine kleine Familie. Und wie es in Familien üblich ist, oder sein sollte, ist jeder von uns von Bedeutung. Jeder hat seinen Platz. Es gibt in einer gut funktionierenden Familie jemanden, der sich um die Seinen sorgt und ein schützendes Auge auf alle hat. Der sagt, was zu tun ist. Und dem es wichtig ist, dass es allen gut geht."
Er deutete einen leichten Diener an und Ettarks verhaltenes Grinsen deutete darauf hin, dass er bereits ahnte, worauf sein Gastgeber hinaus wollte.
"Dann gibt es diejenigen, denen wir vertrauen, weil sie sich nicht scheuen, zum Wohle der Familie kräftig mit anzupacken."
Timotheus deutete auf Alec. Dann wandte er sich mit einem warmen Lächeln ihr zu.
"Es gibt in einer Familie auch die kostbaren Menschen, denen wir Einsicht verdanken, weil sie Prüfungen auf sich genommen und diese mit Würde überstanden haben. Vorbilder!"
Er trat näher und nahm schützend ihre Hand in die seine.
Sie dachte augenblicklich daran, wie anders sein Verhalten ihr gegenüber wäre, wenn er von ihrem Paktierertum mit der Vampirin wüsste, von ihrer Verbindung zu Racul, von den Wochen, die sie vergleichsweise angenehm inmitten des Ascherclans gelebt hatte oder von dem andauernden Sehnen ihres Herzens nach Parsival - dem Klischee eines offen zu den Traditionen stehenden Vampirs.
'Er würde meine Hand nicht halten, sondern sie eher abhacken. Oder dies Casi machen lassen.'
Ophelia wich den Blicken aus, die sie auf sich ruhen spürte und sah stattdessen, wie sie hoffte, demütig zu Boden. Doch abgesehen davon, dass er noch immer ihre Hand hielt, hatte der Hausherr seine Aufmerksamkeit längst wieder dem Gefangenen zugewandt.
"Zu welcher Kategorie würdest Du dich zählen? Wie möchtest Du ein Teil solch einer Familie sein?"
Sie hob zaghaft ihren Blick und beobachtete Ettark.
"In den letzten zwanzig Jahren bestand meine Familie hauptsächlich aus zwei Typen von Menschen: jenen, die Vampire töten und jene, welche bei dem Versuch umkommen."
Ettarks Blick traf den ihren und sie spürte, wie ihre Knie nachzugeben drohten.
'Ist er hier, um mich zu verraten?'
Er blickte bei seinen weiteren Worten wieder Van Barrik an, was ihr zumindest die Möglichkeit einräumte, sich zu fassen.
"Wenn Sie mir diese Auswahl geben... Prüfungen hatte ich vermutlich für zwei, drei Leben genügend. Aber ob es mir an Würde für ein Vorbild reicht? Vermutlich nicht. Die Rolle des Anführers hat mir auch nie sonderlich zugesagt. Es reicht mir, Verantwortung für mich selber zu tragen." Der Bergiger schwieg kurz und schloss dann: "Ich mag es zwar nicht sonderlich gewohnt sein, Befehlen zu gehorchen. Aber der exekutive Arm scheint mir in diesem Gefüge das Passendste für mich zu sein."
Timotheus nickte bestätigend und es schien ihr, als wenn damit unausgesprochen ein Pakt zwischen ihnen besiegelt worden wäre.
'Er wird es schaffen. Timotheus wird ihn aus der Zelle lassen und sie werden auf irgendeine Art zu einer Einigung finden.'
Der Gedanke hätte sie aufatmen lassen sollen, doch mit einem Male bereitete er ihr Bauchschmerzen.
Auch Alec schien nicht glücklich über das, was sich abzeichnete, doch er schwieg.
Van Barrik ließ den Gefangenen nicht aus den Augen. Er sagte gedehnt:
"Nun ist es leider so, dass Vertrauen gut ist... Kontrolle aber besser. Daran ändern auch verwandtschaftliche Bande nichts."
Ettark nickte langsam und ließ seine Fingerknöchel knacken, als wenn ihn ein unbändiger Tatendrang überkommen würde.
Ihr Begleiter sah sich mit einem Gewissen Bedauern in dem großzügigen Kellerraum um.
"Unser Kennenlernen war nicht optimal. Ich hoffe, dass Du dies nicht nachträgst?"
Der große Mann hinter den Gitterstäben grummelte etwas leise und in unfreundlichem Ton, was sie nicht verstand, doch Timotheus antwortete gelassen darauf.
"Die Diener meines guten Freundes waren nervös, übereifrig... auf das Wohl der Familie bedacht."
Der Informantenkontakter raffte leicht die Schultern und schüttelte den Kopf.
"Missverständnisse passieren. Vermutlich hätte ich es geschickter angehen sollen."
Timotheus betrachtete ihn nachdenklich und nickte schließlich.
"Alec... öffne seine Unterbringung und lass ihn frei."
Alec kniff die Augen zusammen, gab sich dann aber einen Ruck und stapfte sichtlich wütend zur Tür des Käfigs, welche er mit rasselndem Schlüsselbund aufsperrte. Er trat misstrauisch zurück und hielt die Gittertür abwartend auf.
Ophelia richtete sich auf. Sie beobachtete, wie Ettark die Schultern kreisen ließ, bevor er aufrechten Schrittes den Käfig verließ. Als er selbstbewusst wie eh und je die Schwelle zur Freiheit überschritt, spürte sie, wie eine Gänsehaut in Windeseile ihren Körper überzog.
Timotheus schmunzelte sie plötzlich an.
"Ist es so recht, meine Liebe? Deine Sorge war umsonst, wie es scheint."
Sie war völlig verunsichert und kaum noch im Stande, ihre Rolle aufrecht zu erhalten. Was sollte sie denken? Was empfinden?
'Theridae hat vor allem Blutvergießen vermeiden wollen. Der Mann ist soeben Teil des Unternehmens geworden und er ist ihr nicht gefährlich, sie kann also gelassen auf seine Freilassung reagieren...'
"Ja... es scheint so."
Sie lächelte den älteren Herrn kurz an, bevor sie unwillkürlich wieder zu Ettark sah, außerstande, sich auch nur zu rühren.
Timotheus wechselte zum Geschäftlichen.
"Schön, schön! Herr von Bergigen, mein Interesse hast Du geweckt. Mein Vertrauen verdient sich hingegen nicht ganz so leicht. Ich werde Dir eine Aufgabe geben, die es Dir erleichtern sollte. Doch sei gewarnt! Diese Aufgabe ist zwar geeignet, mein Vertrauen zu erlangen. Sie ist jedoch nicht geeignet, große Töne zu spucken... für die mir dein Naturell gar zu empfänglich scheint. Sollte es sich, aus welchem Grunde auch immer, herumsprechen, dass Du dich ihrer angenommen hast, so würde ich jeglichen Zusammenhang leugnen. Und Du würdest Dich über einen freundschaftlichen Besuch deiner neuen Verwandtschaft wundern dürfen. Wenn auch nur kurz."
Der Kontakter seufzte vernehmlich, wirkte aber keinesfalls überrascht.
"So wie auch ich jegliche Zusammenarbeit mit Dir leugnen würde, falls mich jemand fragen sollte."
Timotheus' Augen blitzten auf.
"Welche Zusammenarbeit?"
Ettarks Lächeln vertiefte sich, wohingegen Alec mit seinen Vorurteilen nicht länger hinter dem Berg halten konnte.
"Ist das dein Ernst, Chef? Dieses... Bürschchen?"
Er guckte Ettark herausfordernd an und reckte dabei das Kinn.
Ettark baute sich zu seiner vollen Größe auf, womit er mit Alec auf Augenhöhe war.
"Das 'Bürschchen' können wir gerne da besprechen, wo etwas mehr Platz ist.", knurrte er.
Timotheus ignorierte das Imponiergehabe der beiden schlichtweg und schloss seine Aussage mit der trockenen Anweisung:
"Bringe mir die Reste eines ausgelöschten Vampirs!"
Ophelia schnappte erschrocken nach Luft.
Ettark zuckte nicht mal mit der Wimper bei dieser Forderung, sondern löste sich lediglich äußerst widerwillig aus der drohenden Haltung Alec gegenüber. Noch im Umwenden fragte er seinen neuen Auftraggeber fast lapidar:
"Was hättest du denn gerne? Zähne, Asche, Muß? Und soll er endgültig tot sein oder hättest Du gerne... einen gefüllteren Keller?"
Alec lief zornesrot an, riss sich aber nach einem strengen Blick seitens des Chefs zusammen. Dieser bedachte Ettark mit einem unnachgiebigen, stahlgrauen Blick.
"Sehe ich wie der Halter einer exotischen Menagerie aus, Bergiger?"
Ettark grinste.
"Wie erwartet. Nun denn… Asche? Dann werde ich dir sobald wie möglich ein Glas voll wunderschöner Asche bringen, wenn es recht ist?"
"Meine Männer verstehen sich gut darauf, Kaminkehricht von echtem Egel zu unterscheiden. Und ich werde in den Registern nachprüfen lassen, welchen Namen es zu streichen gilt."
Der heimliche Wächter atmete einmal tief durch, als wenn er gedanklich bereits eine erste Planung in Angriff nahm. Eine Sache fiel ihm ein, die er offensichtlich sicherheitshalber nochmals vorbringen wollte, auch wenn Timotheus sie bereits einmal ignoriert hatte. Er versuchte es mit anderen Worten als beim ersten Anlauf.
"Düfte ich um einen Gegengefallen bitten? Die Herberge, in der ich momentan untergekommen bin, ist zwar recht ansehnlich aber so wie es aussieht, hat der Herbergsvater weniger Bedenken damit, aus seinem Haus einen Zoo zu machen. Der Gedanke, nur eine dünne Ziegelmauer von einem räudigen Köter entfernt zu schlafen, behagt mir nicht sonderlich."
Der Mann für die Sicherheit konnte sich kaum noch zurückhalten, so sehr ließ ihn seine Empörung aufschnellen.
"Du aufdringlicher kleiner..."
Der Hausherr hielt ihn sofort an der kurzen Leine.
"Alec! Nicht!"
Dieser verstummte zwar, warf Ettark nun aber vernichtende Blicke zu.
Timotheus sah zum Bergiger.
"Mein lieber Freund... ich bedauere, von deiner Misere zu hören. Aber es ist eben auch nicht mehr als dies: die deine! Erfülle deine Aufgabe und wir werden weiter sehen."
Alec grinste höhnisch und entspannte sich sichtlich, ebenso wie es Ophelia heimlich tat.
'Was für eine schreckliche Vorstellung, ihn tagtäglich um mich zu haben, im Unklaren, ob er nicht schon ein Messer für mich reserviert! Diese zusätzliche Belastung hätte ich kaum überstanden, wo es so schon schwer genug ist, die Rolle aufrechtzuerhalten.'
Ettark kniff die Lippen zusammen. Doch es schien alles bedacht und nach einem bedeutungsvollen Moment des allseitigen Schweigens sagte er, mit leicht ironischem Unterton:
"Zeigt mir doch bitte den Ausgang. Bei meinem Weg hierher war ich wohl... abwesend."
"Alec, bitte geleite den Herrn zum Hinterausgang!"
"Komm mit!"
Alec deutete ihm, voran zu gehen.
Ettark warf ihr noch einen Blick zu, dann waren er und sein missgestimmter Begleiter bereits fort.
Sie sah ihm nach, wobei sie inwendig unter Schock stand.
'Sie haben sich eben auf einen Mord geeinigt! Auf einen beiläufigen, willkürlichen, sinnlosen Mord an einem bisher unbekannten Unschuldigen. Wie Kinder, die sich zu einer Mutprobe verabreden und dabei lediglich planen, einer elterlichen Schelte zu entkommen. Er hat nicht einmal nennenswert reagiert, sondern bloß zu den Details nachgefragt. Wie viele Personen hat er bereits umgebracht, dass ihm das so leicht über die Lippen kommt? Wird er es ernsthaft in Erwägung ziehen, diese Probe zu bestehen? Oder nutzt er das gegebene Versprechen nur, um von hier zu verschwinden und nie wiederzukommen? Oh, ich darf nicht ernsthaft daran glauben, dass ein Kollege zu so etwas imstande sein könnte! Ich irre mich, ganz sicher...'
Timotheus wandte sich ihr zu.
"Eine überraschende Wende... wer hätte das gedacht? Wollen wir? Ich denke, es wird bald für den Nachmittagstee eingedeckt werden."
Ophelia nickte und ließ sich in die oberen Räume geleiten. Timotheus nutzte den Weg dazu, Casi in Kentniss zu setzen und ihn auf die Fährte des verabschiedeten Gastes anzusetzen.
"Alec nimmt den langen Weg durch das Haus, Du kannst sie also noch einholen. Passe sie am Hinterausgang ab und lasse ihn dann nicht aus den Augen! Ich will wissen mit wem er sich trifft und wo er sein Unterkommen hat. Er wird keinesfalls wortbrüchig werden - nicht mir gegenüber!"

~~~ Der Dunkle Sekretär ~~~


Das leise Geräusch gleichmäßig gesetzter Schritte passierte die Räumlichkeiten, in denen er sich bewegungslos aufhielt.
'Ein Bediensteter, weiblich, gesund.'
Die Schritte entfernten sich, bis sie sich auf den mit Teppichen belegten Marmorstufen im vorderen Bereich des Hauses verloren.
Der Dunkle Sekretär holte langsam wieder Luft und setzte schweigend seine gründliche Durchsuchung des Zimmers fort. Dabei fuhr er mit den behandschuhten Händen zielstrebig zwischen die Sitzpolsterauflagen und ließ schnell die Nahtkanten an seinen Fingerspitzen entlanggleiten.
'Nichts!'
Er richtete sich mit gerunzelter Stirn auf und ließ seinen aufmerksamen Blick durchs Zimmer huschen.
'Es muss hier sein...'
Die edle Einrichtung war mit dem üblichen Pomp dieser Gesellschaftsschicht zusammengestellt worden, so dass sie mit unzähligen Versteckmöglichkeiten aufwarten konnte. Filigrane Sitzmöbel, zerbrechlich wirkende Tischchen und Kommoden standen willkürlich im Raum verteilt herum. Auf diesen drängten sich Kästchen, Blumenvasen und anderer Tand. Gerahmte Bilder an den Wänden, Tische mit offensichtlichen und weniger offensichtlichen Fächern hinter ihren mit Blattgold belegten Intarsien, meterweise verschwenderisch drappierte Stoffbahnen und mit kostbaren Teppichen verdeckte Dielen. Aber alles dies hatte er bereits kontrolliert und weder in den verstaubten Geheimfächern, noch in den beiden unverschlossenen Safes hinter den hässlichen Landschaftsgemälden war irgendetwas von Wert hinterlegt gewesen. Wenn man von der Stulle absah, die irgendwann einmal ein Bediensteter in seiner Hast dort versteckt und vergessen haben mochte.
Rach Flanellfuß griff nach der Taschenuhr in seiner Weste und ließ den matten Deckel aus dunklem Metall aufschnappen.
'Hmmm... wenn sie sich an ihre Routine halten, werden die beiden in etwa zehn Minuten aus der Oper zurückkommen.'
Er kalkulierte den Zeitaufwand, gab sich einen Ruck und begann dann damit, ausgesprochen vorsichtig die am besten zugänglichen Stellen der Wände abzuklopfen. Sein Gehör war dabei darauf konzentriert, jedes noch so kleine Geräusch außerhalb der Zimmer aufzuschnappen und die Beschaffenheit der Wand auszuloten. Seine Gedanken jedoch weilten bei einem anderen Problem.
'Das gefällt mir gar nicht. Wäre sie mit der richtigen Ausbildung für diesen Einsatz geschult worden, dann könnte ich mich vielleicht noch mit dem Gedanken arrangieren. Aber so... Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Stadtwache mit den benötigten Ressourcen und Lehrkräften ausgestattet ist.'
Sein mit weichem Leder überzogener Fingerknöchel schlug erneut mit dezenter Vehemenz zu und plötzlich klang das Pochen etwas heller.
Rach betrachtete kurz die Struktur der mit Brennersamt tapezierten Wandfläche. Dann legte er seine Fingerspitzen an einer kaum sichtbaren Schnittkante an, neigte seinen Oberkörper beiseite und löste den Druckmechanismus aus. Der Hohlraum dahinter öffnete sich mit einem leisen Klicken, feuerte aber keinen Bolzen oder Ähnliches ab. Keine besondere Sicherung. Ein kurzer Blick bestätigte die Vermutung: Auch diese Nische war leer.
Er schloss die Klappe wieder und fuhr mit seiner Suche fort.
'Zumindest hatte ich mit meiner ersten Vermutung Recht. Sie arbeitet gewissermaßen wirklich für Havelock.'
Seine Suche führte ihn derweil ins Bad der Ehefrau zurück, welchem er gleich zu Beginn - erfolglos - seine besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte.
Rach unterdrückte ein Seufzen und beeilte sich stattdessen, auch hier die Wandkacheln mit dezentem Abklopfen zu kontrollieren. Der beinahe vollständige Mangel an Licht in diesem innenliegenden Raum, erschwerte es, keines der winzigen Glasfläschchen und der Porzellantiegelchen umzustoßen.
'Ihre Akte ist ziemlich umfangreich. Sie war sogar bereits unmittelbar im Palast tätig. Selbstverständlich hat Havelock meine Beschreibung Ophelias gleich zuordnen und die Nieselhoff ausschließen können.'
Er balancierte geräuschlos über den hohen, schmalen Rand der großen Metallwanne in der Mitte des Raumes, um mit gestreckten Armen die Decke über seinem Kopf abzutasten.
'Diese Sache mit ihrem Arm... Mich wundert, dass sie damit noch immer verdeckt agiert. Bei den Infragestellern scheint es ja als Bonus durchzugehen. Aber sonst ist das ein unkalkulierbar hohes Risiko. Der Zufall kann ihr mit jedem verstreichenden Tag gefährlicher werd...'
Rach hielt reglos in der Bewegung inne, gerade als er einen Fuß bereits wieder dem Boden entgegenstreckte.
Die leisen Schritte auf dem Flur wandten sich eindeutig dem Vorzimmer zu und schon öffnete sich dort mit sachtem Luftzug die Tür zu den Räumen ihrer Ladyschaft. Eines der Dienstmädchen war zurückgekommen. Und sie steuerte zielstrebig dem Bad entgegen.
Der ehemalige Assassine entschied innerhalb weniger Sekunden seine weitere Vorgehensweise. Mit drei langen Schritten war er von der Wanne herunter gesprungen, hatte den dunklen Raum durchquert und sich mit den Füßen voran schon zur Hälfte durch die Wäscheluke geschwungen. Er stemmte die Schuhsohlen mit aller Kraft in die Seiten des steil abwärts führenden Metallschachtes, passte seinen Körper der vorgegebenen Krümmung an, den Rücken fest an die obere Hälfte der engen Kastenverkleidung gepresst. Seine Finger zogen den Lukendeckel exakt in der Sekunde mit einer bewusst langsamen Bewegung zu, als das Dienstmädchen das Bad betrat.
Sie entzündete offenbar die Lampen, denn die geschlossene Klappe zeichnete sich mit einem Mal als matt glühendes Viereck drahtfeiner Lichtlinien in der vor ihm liegenden Finsternis ab. Ärgerlicherweise würde er warten müssen, bis sie wieder fort wäre, was wiederum drastisch die Zeit verkürzen würde, die ihm noch bliebe, um seinen Auftrag zu erfüllen. Ein Teil seiner Aufmerksamkeit zählte bereits die Minuten herunter, die ihm vermutlich noch bleiben würden, wenn er dem fliegenden Wechsel von Bediensteten und Hausherren ausweichen und nicht die ganze Nacht in dieser Kleiderrutsche verbringen wollte. Doch auch dieser Anteil seiner Persönlichkeit war nicht gänzlich bei der Sache.
Erfahrungsgemäß kam es bei der Auswahl der als interessant angesehenen Daten stark darauf an, welcher seiner Kollegen mit der Zusammenstellung selbiger beauftragt worden war. Die leicht einzusehenden Informationen innerhalb des Palastes hatten zwar ein vielschichtiges Bild zum Werdegang der Wächterin ergeben. Sie hatten ihm aber keinen vollständigen Überblick zu ihrem aktuellen Einsatz ermöglicht. Etwas, was ihm keine Ruhe gelassen hatte - bis er sich in der vorangegangenen Nacht persönlich Zugang zu den wacheinternen Personalakten verschafft hatte.
'Als wenn diese Organisation nicht schon gefahrvoll genug gewesen wäre. Nein, obendrein scheint eine Unstimmigkeit mit ihrem Vorgesetzten die Situation zu erschweren.'
Er erinnerte sich an die wütend an den Rand einer Seite gekritzelte Notiz in der Handschrift des Kommandeurs.
Hinter der Wäscheluke bereitete das Dienstmädchen offenbar in geschäftigem Hin und Her die letzten Handgriffe für das Eintreffen ihrer Herrin vor. Der Duft heißen Eisens und das Klappern eines zuschnappenden Metallmechanismusses kündeten davon, dass sie die Bettpfanne vorbereitet hatte. Ihre Schritte entfernten sich zur zweiten Tür des kleinen Bades, doch da sie die Lampen entzündet ließ, würde sie gleich zurückkehren. Er musste also noch verharren.
Eine überstehende Schweißnaht drückte ihm unangenehm in die Schultern.
Rach stutzte.
'Eine Schweißnaht? In einem genieteten Schacht?'
Er ließ sich ganz langsam ein Stück weiter in den Schacht gleiten, darauf bedacht, dass seine Sohlen kein verräterisches Quietschen von sich gaben. Dann tastete er mit einer Hand vorsichtig über die verbundenen Metallplatten oberhalb seines Kopfes. Unter anderen Umständen wäre ihm ein bewundernder Pfiff entfleucht, so aber breitete sich nur ein ausgesprochen zufriedenes Grinsen auf seinem Gesicht aus, als er die Kanten der Metallplatte abtastete - welche rundum einige Millimeter vom übrigen Untergrund abstand.
'Magnete! Eine ausgezeichnete Idee. Die Dame ist einfallsreich, wenn es um die Erpressung ihres Gatten geht. Nun denn...'
Er lauschte noch einmal in den Nebenraum, dann legte er eine Hand unter die Platte, um sie zur Not aufzufangen, während er mit der anderen die zu ihm zeigende Kante abhebelte. Die Platte löste sich von der Decke und fiel schwer in seine Hände. Im matten Lichtschimmer der Klappenkanten konnten seine allmählich an die Dunkelheit gewöhnten Augen eine Art festgeklebten, sehr flachen Umschlag erkennen.
'Wunderbar! Das erleichtert meine Arbeit doch ungemein. Dann steht einem pünktlichen Feierabend ja nichts mehr im Wege.'
Es folgten routinierte Handgriffe, mit denen der Dunkle Sekretär in den Eingeweiden des hochherrschaftlichen Hauses bewies, dass er solcherlei Aufgaben häufiger ausführte. Der Umschlag wurde geöffnet, gewisse kompromitierende Ikonographien wechselten in eine sehr schmale Pappröhre und diese verschwand in seiner Kleidung.
Als sich den hastigen Schritten in den halb über ihm liegenden Räumen auch noch Stimmen hinzugesellten, setzte er die magnetische Platte wieder an deren ursprünglichen Platz an und entschied sich sodann schweren Herzens für die Alternativroute. Fast lautlos fiel er dem Keller entgegen, bis er sich wieder mit der bewährten Schuhsohlenmethode abfing, um kurz zu lauschen, ob die Waschküche passierbar wäre. Auf dem Weg zum Dienstbotenausgang hinauf schlich er sich von Schatten zu Schatten, schüttelte seine Manschetten zurecht und strich sich im Vorbeigehen mit einer achtlos liegengelassenen Kleiderbürste die hellen Wäscheflusen vom dunklen Anzug.
'Ich denke, ich werde mir die Residenz dieses Van Barrik mal etwas genauer anschauen. Zumindest von außen. Vorerst.'

~~~ Der Beigeschmack des Verrats ~~~


Ihr Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand blätterten abwechselnd durch die Seiten des dünnen Heftes. Ab und an schlug sie eine gewisse Anzahl an Seiten auf einmal um und überflog den Inhalt der Eintragungen. Doch auch diese Kladde enthielt keine der gesuchten Informationen. Die Enttäuschung war nicht allzu groß, da sie zwischenzeitlich bereits einige der essentiellen Informationen andernorts gefunden und hier, in diesem Zimmer, nicht wirklich mit welchen gerechnet hatte. Die Gelegenheit war nur zu günstig gewesen und hatte genutzt werden müssen. Der Sorgfalt willen.
Ophelia legte das Heft exakt so zurück, wie sie es vorgefunden hatte, den Papierschnitt parallel zur Tischkante ausgerichtet. Sie legte das herunter gefallene Blütenblatt wieder auf der rechten oberen Ecke ab.
Sie strich sich mit dem Handrücken müde über die Augen.
'Wie lange bin ich bereits in Timotheus' Haus? Tatsächlich schon an die drei Wochen? Ich verliere das Zeitempfinden...'
Sie ließ die Fingerspitzen an ihrer Schläfe kreisen. Ihre Kiefermuskeln kämpften dagegen an, dass sie sie bewusst zu lockern versuchte. Sie legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch. Ihre Schultern sackten leicht herab, auch wenn die Abwärtstendenz deutlich durch das Korsett aufgehalten wurde.
'Vielleicht gibt es keine weiteren Aufzeichnungen der HIRN-Tätigkeiten? Vielleicht habe ich bereits alles aufgespürt, was es an Beweisen jemals in diesem Haus zu finden geben wird? Immerhin... die Mitgliederliste in dem Sekretär im Salon, das Kassenjournal mit der Liste der heimlichen Sponsoren in seinem Arbeitszimmer, das große "Buch der Jagderfolge" unten in der Vitrine des Übungssaals und das Album der Veteranen... Ich weiß nicht einmal, wonach ich noch suche! Wenn es nicht mehr gibt... dann wäre jeder weitere Tag gefährlich.'
Es fiel ihr schwer, zu schlucken. Sie wollte nichts falsch machen, jetzt, wo sie bereits so weit gekommen war. Dennoch...
'Woher soll ich wissen, wann ich den Einsatz beenden muss?'
Die Stille, die sie umschloss, gab ihr keine Antwort auf diese Frage. Das Gefühl einer nebulösen Gefahr bedrückte sie einmal mehr. Dabei ahnte sie, dass dieses Gefühl nicht von Ungefähr kommen und die dazugehörige Gefahr aus einer bestimmten Richtung rühren mochte.
'Casi hat ihn wegen dieses üblen Zwischenfalls mit dem Betrunkenen aus den Augen verloren. Und er ist seit vorgestern nicht wieder aufgetaucht.'
Sie setzte sich bei dem Gedanken an ihren zwielichtigen Kollegen unwillkürlich auf einen der nahe stehenden Stühle. Ihre Überlegungen verliefen in diesen typisch unkoordinierten und widersprüchlichen Bahnen, wenn es um ihn ging. Einerseits hoffte sie inständig, dass er seine Verletzungen in Ruhe an einem geschützten Ort auskurieren konnte. Andererseits fürchtete sie seine allzu schnelle Genesung, wenn diese zur Folge haben konnte, dass er wieder ihren Weg kreuzen würde.
Sie stützte sich mit dem Ellenbogen auf dem Beistelltischchen ab.
'Sei wenigstens ehrlich zu Dir selbst. Du fürchtest ihn. Du schließt es längst nicht mehr aus, dass er seiner Herkunft entsprechend handeln und zurückkehren wird. Du hälst ihn für einen Mann, der töten kann. Und wird. Er ist ein Jäger! Einer von jenen, die Du bei ihren Übungen im Keller vor wenigen Tagen noch so bereitwillig bewundert hast...'
Ihr drehte sich fast der Magen um, bei diesem Eingeständnis. Die letzte Wahrheit hingegen, die Angst, die sie persönlich betraf, diese zu formulieren brachte sie nicht übers Herz.
'Du hast ihn verraten! Und das hat er Dir niemals verziehen, das weißt Du. Falls er also wieder hierher kommt und Timotheus' Vertrauen ebenso erringt, wie Du selber es getan hast... falls er dann einen günstigen Moment abpasst...'
Ophelia hielt den Gedanken nicht länger aus und sprang nervös auf. Sie blickte sich kurz um, ob sie auch nichts verändert hatte, was ihre Anwesenheit verraten könnte und verließ den Raum, als wenn sich unter den kostbaren Knüpfteppichen jeden Moment die Pforten zu den Kerkerdimensionen auftun würden.

~~~ Lichtgestalt ~~~


Die Tatsache, dass seit dem Untertauchen des seltsamen Jägers bereits der dritte Tag angebrochen war, ohne dass dieser sich wieder gemeldet hätte, störte Timotheus Van Barrik ungemein. Er war es zwar gewohnt, dass man ihn beim ersten Zusammentreffen unterschätzte. Er war es aber nicht gewohnt, dass Casi versagte oder dass jemand eine Verpflichtung ihm gegenüber einging und dann einfach so davon kam, ohne dass ihm die Möglichkeit gegeben war, freundlichst nachzufragen, wie es um dessen Schuld stünde. Casi hatte angebrachte Reue über seine Saumseeligkeit gezeigt, was aber selbstredend nichts an der Tatsache änderte, dass er sich in Zukunft überflügeln würde müssen, um neuerlich in Timotheus' vertrauensvoller Gunst aufzusteigen. Erst einmal würde Casi sich eine Zeit lang damit beschäftigen, über seinen Fehler nachzudenken. Unten, beim Küchentrakt. Beim Bewachen des Dienstboteneingangs.
Timotheus' Ärger verflog etwas. Das Frühstück lag erst eine Stunde zurück und im Grunde fühlte er sich wohl in seiner Haut. Der strahlende Morgen tat sein Übriges dazu.
'Das untote Gezücht wird sich bei so wundervollem Wetter heute in seine Erdlöcher verkriechen. Sie werden sich selbst in den Schatten noch vor Schmerzen winden. Sehr gut!'
Er betrat seine Bibliothek, in Gedanken bereits damit beschäftigt, eine der ephebischen Abhandlungen über Sprache und Argumentation für das Ausarbeiten einer neuen Rede herauszusuchen, als er dicht bei der Tür stehen blieb. Gebannt von dem angenehmen Anblick, der sich ihm bot.
Sein reizender Hausgast hatte auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes den Erker in Beschlag genommen. Sie saß dort in der sonnengefluteten Fensternische, den Rücken gegen den Rahmen gelehnt, die Beine auf dem großzügigen Polster der Fensterbank untergeschlagen, so dass ihr weiter Rock sie wie ein großzügiger See aus Helligkeit umgab. Auf ihrem Schoß schlummerte Schmetterwurm, zusammengerollt wie eine Katze. Seine milchigen Drachenschuppen reflektierten matt das Sonnenlicht, ebenso wie die unzähligen Diamantsplitter, mit denen ihr strahlend weißes Kleid bestickt worden war. Theridae blickte gedankenverloren aus dem Fenster und all die flimmernden Reflektionen aus flüchtigen Prismenfarben irrlichterten in ihrem schwarzem Haar und versanken in den Tiefen ihrer nebelgrauen Augen, die so unendlich weit in die Ferne blickten.
'Selbst ein Künstler mit Staffelei hätte die Bildkomposition nicht gelungener inszenieren können.'
Er trat möglichst unauffällig näher und freute sich dabei über den hochflorigen Teppich, der jedes Geräusch schluckte.
Ihr Blick senkte sich und erst dachte er, sie würde den schlafenden Drachen betrachten. Dann aber sah er, dass ihre rechte Hand geöffnet in der Kuhle zwischen ihr und dem Haustier auflag und sie in dieser etwas hielt. Der Gegenstand war nicht ganz handtellergroß und auch er fing silbern blinkend das allgegenwärtige Licht ein. Eine Taschenuhr.
Timotheus betrachtete seinen Gast genauer.
'Sie wirkt traurig. Vermutlich einer dieser Momente, in denen wir von unserer Vergangenheit eingeholt werden. Diese verfluchte Brut!'
Die Bibliothek lag friedlich und vertraut hinter ihm, als er an sie herantrat. Er bemühte sich darum, mit freundlicher, leiser Stimme zu sprechen, um sie nicht ungebührlich aufzuschrecken.
"Woran denkst Du?"
Theridae sah nicht zu ihm auf und sie schrak auch nicht zusammen. Sie schien zu sehr in ihren Überlegungen gefangen. Ihre schlanken Finger schlossen sich etwas um die Uhr und sie flüsterte mit ebenso sanfter Stimme: "Ich frage mich immerzu, was ich anders hätte machen können. Ich hätte sie aufhalten müssen..."
Er hatte es gewusst!
Mit ehrlichem Bedauern schüttelte er den Kopf.
"Das konntest Du nicht. Diese Bastarde sind außer Kontrolle geratene Mörder, zu nichts anderem zu gebrauchen aber ausgesprochen effizient, wenn sie sich ein Opfer auserkoren haben. Du hättest auch unter anderen Umständen nichts ausrichten können. Drei von ihnen gegen zwei wehrlose Reisende am Ende ihrer Kräfte? Nein... mache Dir bitte keine Vorwürfe deswegen, Theri."
Sie hob in einer sehr langsamen Bewegung den Kopf, um ihn direkt anzusehen, und er konnte den gleichen Terror in ihren Augen wahrnehmen, den er selber in den Nächten verspürte, in denen ihm die Ungeheuerlichkeit dessen voll bewusst wurde, dass sie alle inmitten von Raubtieren lebten, die sich im schlimmsten Fall sogar als Dunst getarnt durchs Schlüsselloch einschleichen konnten!
Es war ihm ein tiefes Bedürfnis, sie etwas aufzumuntern.
"Ich weiß, Du leidest noch immer unter deinem Verlust. Nichts, was ich Dir hier biete, kann ihn wieder zurückbringen. Aber ich kann Dir eines versprechen: Wir nehmen das nicht wehrlos hin! Wir sind in den letzten Jahren so Viele geworden und jeder Einzelne hat triftige Gründe dafür, ebenso vehement um unser Geburtsrecht zu kämpfen. Wenn Blut fließen soll, dann das ihre - und davon reichlich. Wir werden diese unnatürlichen Kreaturen jagen und ausrotten, allesamt!"
Ihr Blick haftete an ihm und schien in Hilflosigkeit zu ertrinken. Aber auch dieses Gefühl war ihm nur allzu vertraut.
"Theri, verzage nicht! Ich weiß, die Aufgabe klingt gewaltig aber wir sind nicht allein. Wir haben Brüder und Schwestern überall, weit über die Grenzen Ankh-Morporks hinaus. Klatsch, Omnien, Überwald... wir haben so viele Kontakte geknüpft, dass es einem Fischernetz gleicht, welches wir nur noch einzuholen brauchen. Und hier, in dieser Stadt, in diesem Haus... in meiner Hand... laufen die Fäden zusammen."
Ihre Hand schloss sich krampfhaft um die schlichte Taschenuhr und sie blickte kurz auf diese hinab, als wenn sie einen Moment bräuchte, um sich zu sammeln, ob seiner bedeutungsvollen Aussage.
Er lächelte aufmunternd.
"Wir haben bereits so viel erreicht. Vertraue mir! Bald werden wir auch in Ankh-Morpork deutlicher zu Tage treten und denen neue Hoffnung geben, die sie so dringend benötigen. Wir werden denen Führung anbieten, die ziellos vor sich hin stolpern, inmitten dieser Pestilenz. Und ich bin sicher, dass wir dann auch den Mördern deines Mannes auf die Spur kommen werden. Wer weiß? Vielleicht wirst Du dann auch an dieser Frontlinie stehen wollen, nicht nur in den Salons, um den begüterteren Herrschaften die Dringlichkeit der Situation zu verdeutlichen? Du trägst alles was dazu von Nöten ist in Dir. Mut, Entschlossenheit. Und Du bist mit dem Pflock gewappnet. Spätestens wenn Du ihnen wieder gegenüber stehst, dieses Mal jedoch unter umgekehrten Vorzeichen, wenn sie Dir zu Füßen krauchen und um ihre schmarotzende Existenz betteln, wenn alle ihre Jämmerlichkeit und Falschheit offenkundig wird... dann wirst Du klar sehen! Dann wird es keine Zweifel mehr geben, keine anerzogene Zurückhaltung, keine kleinliche Angst mehr vor der Vergeltung der Stadtwache oder verblendeter Gutmenschen. Du erinnerst Dich, wie unser enthusiastischer Gast in der Zelle es vor einigen Tagen so treffend formulierte? Es geht um sie oder uns! Und Du hast deine Position bereits bezogen, nicht wahr?"
Er konnte deutlich sehen, wie nahe sie daran war, seine emotionalen Worte an sich heran zu lassen.
'Es ist eben doch nicht alles nur eine Frage der Finanzen, nicht wahr? Das Leben hier ist angenehm und sicher. Aber darum geht es nicht und nun endlich wird das auch Dir bewusst. Willst Du mehr als nur eine Gallionsfigur sein? Komm schon! Trau Dich!'
Sie atmete tief durch, trotzdem war das Zittern in ihrer Stimme nicht zu überhören.
"Ich..."
Sie wich seinem Blick aus und sah stattdessen aus dem Fenster und in das blendend grelle Licht des frühen Morgens.
"Ich will leben."
"Richtig so! Das ist dein gutes Recht, lass es Dir nicht streitig machen, von Niemandem!"
"Und ich... ich will meine eigenen Entscheidungen treffen, mich nicht von Vampiren herumschubsen lassen."
"Dass die Blutsauger es überhaupt immer wieder wagen, aufzubegehren!"
"Ich habe manchmal das Gefühl, als wenn sie mich von allen Seiten umringen. Als wenn ich keinen Fluchtweg mehr habe, um ihrem Einfluss zu entkommen und als wenn mein ganzes Leben schon schicksalhaft vor mir läge, stets mit einem von ihnen in meiner Nähe und dem nächsten schon auf der Lauer!"
Timotheus setzte sich ihr gegenüber auf den schmalen Platz, der noch im Erkerfenster verblieben war.
Schmetterwurm blinzelte träge und blickte fragend zu ihr auf. Er legte das Köpfchen erst schief, bevor er es anhob und sie leicht mit den Nüstern in den Bauch stupste.
Theridae legte die Uhr sorgsam in ihrem Schoß ab und begann den kleinen Albinodrachen über den Kopf zu streichen und hinter seinen Flügelansätzen zu kraulen, bis er leise schnurrte und auch sie sich wieder etwas zu fassen schien.
Offenbar war dies der Zeitpunkt, an dem sie ihm ihr Herz öffnen und ihr beiderseitiges Arrangement einen weiteren Schritt in Richtung echte Zusammenarbeit gehen würde.
Er wartete geduldig. Sein Blick ruhte dabei wohlwollend auf ihrer strahlenden Erscheinung. Wie sie dort in unschuldiger Eintracht mit seinem Haustier saß und sich vertrauensvoll seiner Obhut unterstellte... Er musste sich bewusst daran erinnern, dass dies ein Bild war, welches er selber geschaffen hatte und dass diese Frau einen Willen aus Stahl hatte, verborgen hinter ihren langen Wimpern. Was natürlich genau der Grund dafür gewesen war, sie zu sich zu holen. Es gab zu viele unnütze Mitläufer, die sich aus einer radikalen Sache lediglich persönlichen Profit erhofften. Echte Mitstreiter waren rar gesät und es lohnte sich, diesen entgegen zu kommen. Theridae hielt zwar nicht unbedingt viel von der Bewegung. Aber sie hatte bereits zwei Mal einen Vampirangriff überlebt und war entschlossener denn je, ihren Freiraum zu verteidigen. Sie war eben grundsätzlich zu einer Kooperation bereit und nun schien die Gelegenheit günstig, sie noch mehr einzubeziehen. Auch, wenn er dafür vielleicht einen weiteren Kompromiss würde bieten müssen. Sie war so stolz! Er würde sich davor hüten müssen, sie zu gängeln. Diese Frau funktionierte sehr viel effektiver, indem man ihr Optionen bot.
Auch er richtete seinen Blick aus dem Fenster und in den strahlend blauen Himmel.
"Theri, Du bist hier in Sicherheit vor ihnen. Das weißt Du, nicht wahr?"
Sie nickte dankbar.
"Gut", fuhr er fort. "Du bist zu nichts gezwungen. Lass Dir Zeit! Und wenn Du weißt, was Du willst, dann zögere nicht, deswegen zu mir zu kommen. Ich sage das nicht gern, weil es einer Dame meiner Meinung nach nicht gut zu Gesicht steht und mein erster Drang natürlich eher dahin tendiert, Dich soweit dies überhaupt möglich ist, aus der Gefahrenzone zu halten und zu schützen..." Endlich sah er sie direkt an und es war ihm eine Freude zu sehen, wie seine folgenden Worte sie überraschten. "Aber falls es das sein sollte, was Du dir dann wünschst, trotz deiner ehrenvoll erworbenen Verwundung... dann würde ich sogar die Möglichkeiten dafür schaffen, Dir eine fundierte Ausbildung zur Jägerin zukommen zu lassen." Ihre erstaunt geweiteten Augen ließen ihn schmunzeln. "Wenn wir ehrlich sind, kommt es in den seltensten Fällen bei der Jagd auf Kraft an. Es geht um den Überraschungsmoment. Wenn es erst einmal zu dem Teil mit der Kraft kommt, ist zuvor bereits etwas entscheidend schief gelaufen. Und es braucht nicht unbedingt einen Pflock, auch wenn er traditioneller ist. Die Vorarbeit lässt sich ebenso gut mit einer dieser modernen kleinen Handarmbrüste erledigen. Für die es inzwischen sogar Spannhaken zum Befestigen an den Beinkleidern gibt, damit unsere Jäger zwei zugleich abfeuern und jeweils sofort wieder einhändig nachladen können."
Er betrachtete sie eine Zeit lang.
"Die Idee gefällt Dir?"
"Es... es hört sich gut an, sich noch besser verteidigen zu können."
Er deutete freundlich auf die, in ihre Rockbahnen gebettete, Uhr.
"Eine schöne Uhr. Die deine?"
Sie zuckte leicht zusammen, wie es beim Berühren eines wunden Punktes zu erwarten gewesen war. Sie nahm die Uhr schnell auf und hob die feingliedrige Kette, an der sie sie befestigt hatte, über ihren Kopf. Sie schob die Uhr hinter ihren engen Blusenkragen und ließ sie dann unter den Stoff gleiten.
"Gewissermaßen. Es ist... die meines verstorbenen Mannes."
"Du hälst sein Andenken hoch. Er wäre gewiss stolz auf Dich, wenn er Dich jetzt sehen könnte."
Sie wich seinem Blick mit einem traurigen Lächeln aus.
"Das hoffe ich."

~~~ Sein Refugium ~~~


Sie hatte davor zurückgeschreckt diese Räume zu durchsuchen, da sie für einen Aufenthalt hier im Fall der Fälle keine plausible Ausrede würde liefern können. Man verirrte sich nicht in die Räume des Hausherrn und schon gar nicht in dessen Schlafgemach!
Inzwischen hatte aber so etwas wie stumme Verzweiflung von ihr Besitz ergriffen. Die Frage, ob sie den Einsatz als beendet ansehen, so viele Unterlagen wie möglich als Beweismittel entwenden und sich aus dem Staub machen oder ob sie noch bleiben und nach der einen, entscheidenden Information suchen sollte, die sie womöglich bisher übersehen hatte, legte ihre Nerven blank. Gab es noch etwas zu finden? Und falls ja, wo sollte sie dann danach suchen? Van Barriks private Zimmer waren die einzigen in Frage kommenden Räume im gesamten dreistöckigen Stadtanwesen, denen sie sich bisher noch nicht zugewandt hatte. Doch wenn sie eine endgültige Entscheidung über den Abschluss ihrer Mission treffen wollte, so wurde ihr klar, dann durfte sie dieser finalen Aufgabe nicht länger ausweichen. Wenn sie hier nichts fände, dann würde sie davon ausgehen, dass es auch nichts weiter zu finden gäbe. Und wenn sie doch auf etwas stieße... dann umso besser.
Die Unruhe, die sie seit ihrem Gespräch in der Bibliothek am Morgen antrieb, kribbelte in Armen und Beinen. Sie fühlte sich unzufrieden, wie zerrissen. Timotheus' Worte waren ihr schockierend nahe gegangen und sie war sich dessen bewusst, dass sie in der realen Gefahr stand, sich in einer merkwürdigen Mischung echter und falscher Gefühle zu verfangen. Timotheus akzeptierte ihre Trauer, auch wenn er dabei von falschen Voraussetzungen ausging, wen diese betraf. Er verdiente ihre Dankbarkeit für das allumfassende Gefühl der Sicherheit in seinem Haus. Vor allem aber hatte er ihr die Augen dafür geöffnet, wie sehr sie sich inzwischen von Vampiren in unsichtbare Bande hatte legen lassen! Wievielen von diesen manipulativen Schatten war sie bereits ausgeliefert gewesen! Und sie kam nicht von ihnen los - im Gegenteil! Was würde geschehen, wenn der Einsatz vorüber und sie wieder sie selbst wäre? Im Idealfall würde sie der HIRN einen empfindlichen Schlag versetzt und damit die einzige effektive Bastion gegen die Untoten, von der sie derzeit wusste, zunichte gemacht haben. Sie würde erschreckend fügsam in ihr altes Leben zurückkehren, zu all den Vampiren, die so selbstverständlich auf ihre Dienste zählten. Vielleicht hatte Ettark damit Recht, wenn er sie mit seinem Auftauchen davor warnte, gegen die HIRN vorzugehen? Wäre es klüger, einen Bruch mit ihrem vorigen Leben zu wagen, einen Schritt zurückzutreten und zu versuchen, die Verbindlichkeiten abzuschütteln, die sich zwischen den verschiedenen Vampiren in dieser Stadt und ihr spannten? Vielleicht war dies ihre letzte Chance dazu? Wer, außer Timotheus und seinen begabten Freunden, könnte schon damit rechnen, den Versuch sich auf ihre Seite zu schlagen, ja, sich als lebende Schutzschilde bei solch einem Vorhaben vor sie zu stellen, zu überleben?
'Timotheus bietet mir so viel mehr. Er akzeptiert mich so, wie ich bin. In seiner Gegenwart muss ich mich nicht krampfhaft darum bemühen, meine Gedanken abzuschirmen, ohne dass ich wüsste, wie ich das machen sollte. Er schätzt meine Gegenwart und die Gespräche mit mir und er sieht nicht auf meine Ansichten herab, obwohl er so viel älter ist als ich und gewiss auf mehr Lebenserfahrung zurückblicken kann. Er weiß, dass ich unabhängig bin und unterstützt das.'
Ihre eigenen, leisen Gedanken relativierten diese trotzigen Aussagen.
'Würde er deine Anwesenheit hier ebenso schätzen, wenn Du nicht so unglaublich praktisch für ihn wärst? Er unterstützt deine Unabhängigkeitsbestrebungen vor allem in die Richtung, die ihm zu Pass kommt. Er blendet Dich mit seinem freundlichen Verständnis und seinen guten Manieren, während er deine Befugnisse in seinem Haus gleichzeitig mit lockerer Hand einschränkt, ohne dass es Dich großartig zu stören scheint. Denn das mit dem Ausbildungsangebot sind bisher leere Worte, im Gegensatz zu seiner vorherigen Weigerung, Dich am Training der Jäger teilnehmen zu lassen. Oder ist Dir das gar nicht aufgefallen? Kann es sein, dass ihn gar nicht so viel von Parsival unterscheidet? Auf den Du wohlgemerkt nicht gut zu sprechen bist... Und er akzeptiert Dich nicht so, wie Du "bist". Er kennt "dich" gar nicht. Vergiss nicht, was Dich ausmacht... Ophelia!'
Ihre Hand verharrte kurz über der Türklinke, dann jedoch griff sie zögerlich zu und betrat die Gemächer des Hausherrn.
'Nicht zu viel nachdenken... Diese eine Durchsuchung noch, dann treffe ich eine Entscheidung. Das hier muss ich mit der angebrachten Sorgfalt hinter mich bringen. Danach sehe ich weiter.'
Sie schloss die Tür wieder hinter sich und sah sich im Zimmer um. Schwere, dunkle Möbel und die auffällige Abwesenheit dekorativer Elemente schufen einen extremen Kontrast zu den übrigen Räumen des Hauses. Wo sonst Licht und leichte Stoffe alles mit einer freundlichen Atmosphäre fluteten, fühlte sie sich in Timotheus' Arbeitszimmer wie auf dem Präsentierteller. Kurz ging ihr der Gedanke durch den Kopf, ob es in den Wänden verborgene Gucklöcher geben mochte. Doch warum sollte dies ausgerechnet hier der Fall sein, wenn sie im Rest des Anwesens nirgendwo auf diese Eigenart eher antiker Häuser gestoßen war?
'Unwahrscheinlich', beschied sie für sich und machte sich zielstrebig an die Arbeit.
Die Tür zu Timotheus' Schlafgemach war angelehnt, doch wenn überhaupt noch etwas zur Organisation zu finden sein würde, dann sicherlich eher in dessen Schreibtisch oder im hohen Standregal rechts von diesem.
Ihr flüchtiger Blick streifte die breiten Lederrücken mit ihren Goldprägungen und fiel auch auf den vergleichsweise schmalen Band der Abhandlung Van Dunkelsinns. Ihre Gedanken drohten, zu Ettark abzuschweifen und sich zu fragen, wo er sich derzeit aufhielte, doch sie riss sich sofort wieder zusammen und untersuchte stattdessen die Schublade des schweren Arbeitsschreibtisches. Sie zog probeweise an ihr, obgleich das Schloss an der Vorderseite erahnen ließ, dass sie vermutlich gleich eine der Haarnadeln zweckentfremden würde müssen. Zu ihrer großen Verwunderung hingegen öffnete sich das Fach problemlos. Und zu ihrem noch größeren Erstaunen lag der letzte benötigte Beweis für ihre Ermittlung obenauf in diesem vor ihr. Sie wusste es sofort, ohne den geringsten Zweifel und dieses Wissen traf sie unvorbereitet. Sie musste sich setzen und starrte eine Zeitlang auf das schmale, schmucklose Heft mit der schwungvollen Beschriftung in Timotheus' unverkennbarer Handschrift: Fehlschläge stand dort.
Ophelia griff zaghaft nach dem Heft und legte es vor sich auf die Schreibunterlage. Dann schlug sie es auf und begann zu lesen. Die Aufzeichnungen, die Timotheus fein säuberlich zu Papier gebracht hatte, bestanden aus einer fortlaufenden, vierspaltigen Tabelle. Die erste Spalte war überschrieben mit dem Wort 'Datum', die zweite mit 'Ort', die dritte mit 'Zielperson' und die letzte mit den Worten 'Grund des Misserfolgs/Resultat'. Die Eintragungen waren chronologisch vorgenommen worden und begannen bereits vor über zehn Jahren. Die meisten Namen, die in der dritten Spalte aufgelistet wurden, waren ihr unbekannt. Doch als sie zu den letzten beschrifteten Seiten weiterblätterte, änderte sich dies schlagartig. Die zweite Spalte gab nun vermehrt darüber Auskunft, dass sich die Vorfälle in Ankh-Morpork ereignet hatten und immer mehr der Namen ließen eine Glocke in ihr klingen: Parvati, Schatten-Schiller, die tragische Geschichte der Familie Zuckerschütte, der Ellermann- und der Palomini-Fall... Die meisten dieser Fallakten hatte sie erst vor wenigen Wochen bei ihrer umfangreichen Recherche zu den HIRN-Aktivitäten im Archiv zur Hand genommen. Die Namen waren ihr ebenso vertraut, wie die dazugehörigen, trockenen Fakten. Nur dass die blutigen Tatort-Ikonografien, die den Akten beigelegt worden waren, nun durch das Warum ergänzt wurden.
Ihre Erinnerung zeigte ihr die leicht verwackelten Leichen dreier Kinder auf einem Küchenboden und blendete die fast sterile Notiz der Akte dazu ein, dass die gesamte Familie "mit einem sehr scharfen Gegenstand mit vermutlich versilberter Beschichtung (siehe Untersuchung der Abstriche 2A, 2B, 2C, 2D, 2E von den Wundrändern an den jeweiligen Schnittkanten der Halsabschlüsse)" geköpft worden war. Die Eintragung zu den Zuckerschüttes in der letzten Spalte des vor ihr liegenden Heftes erläuterte: "Fehlinformation des Nachbarn; Jagdaktivitäten der Kinder stellten sich im Nachgang als Fangenspiel heraus, der gemeldete Verzehr blutigen Rohfleisches wurde bei späterer Nachfrage relativiert (vermutlich Marmeladenbrote auf die Hand) und mit einer Sehschwäche erklärt; Klärung durch Bela/Nachbar M. abschl. befragt und durch bevorzugte Methode von Anwärterliste gestrichen".
Ihre Hand begann zu zittern.
'Sie sind einem Irrtum zum Opfer gefallen. Wie schrecklich!'
Das verschwommene Bild der Kinderleichen schien vor ihrem inneren Auge nachzuschärfen und Übelkeit ballte sich in ihrem Magen zusammen.
'Nein... es wäre ganz genauso grausam gewesen, wenn die Aussage des Nachbarn korrekt und diese Morde kein "Fehlschlag" im Sinne der HIRN gewesen wären. Dann hätten sie trotzdem noch eine Familie ermordet. Fünf Leben.'
Ihr Blick fiel grimmig auf den Nachsatz der Notiz.
'Wurde der Denunziant aus dem Weg geräumt?'
Es war beschämend, dass sie bei diesem Gedanken so etwas wie Zufriedenheit empfand.
'Um Annoias Willen! Er war ebenfalls ein Mensch! Wer bist Du, dass Du dir neuerdings herausnimmst, über Leben und Tod zu urteilen? Dafür gibt es nicht umsonst den Patrizier oder die Gilde. Es beginnt bereits, auf Dich abzufärben. Du bist zu lange hier...'
Sie schloss das dünne Heft und legte es in das Fach zurück, ehe sie dieses mit einem angeekelten Ruck zuschob.
'Vor einigen Minuten noch hast Du ernsthaft darüber nachgedacht, zu hart über ihn und seine Organisation geurteilt zu haben! Nun, eines steht wohl fest... dieses Büchlein wird der Dreh- und Angelpunkt werden, um die HIRN zu vernichten. Es würde niemals reichen, ihnen einfach nur die finanziellen Mittel oder ihre Kommunikationsstrukturen zu blockieren. Solange sie weiter rekrutieren, sind sie nicht zu unterschätzen. Ich muss ihren Ruf boykottieren. Das Abschlachten Unbeteiligter und der vorsätzlich herbeigeführte Tod von Personen aus den eigenen Kreisen, die sich gerühmt hätten, als Informanten zu dienen... das wird sich schneller als ein Lauffeuer herumsprechen! Selbst hartgesottenere Geldgeber werden einen Rückzieher machen, wenn sie davon erfahren.'
Sie musste an all die wohlwollend lächelnden Gesichter denken, die sich ihr auf dem Empfang in Von Hopfenhauffs Salon so sensationslüstern zugewandt hatten.
'Ich beende den Einsatz morgen Vormittag. Ich habe alles gefunden, was nötig sein wird. Ich werde meine übliche Runde durchs Haus machen und dann so tun, als wenn ich ganz normal mit der Kutsche ausfahren wolle. Am Sinnvollsten wird es sein, wenn ich die Beweise als Paket an meine angebliche Verwandschaft in Omnien tarne und in einem Fach auf der Post hinterlege, dann die Rolle aufgebe, die Beweise abhole und sie dann direkt zur Wache bringe und Breguyar Bericht erstatte. Das bedeutet, dass ich nur noch den Abend und die Nacht durchstehen muss. Das ist zu schaffen.'
Sie sah sich sicherheitshalber nochmals im Raum um. Dann verließ sie ihn ebenso leise und unbemerkt, wie sie ihn betreten hatte.

~~~ Feuer und Wasser ~~~


Die Sonne vor den hohen Fenstern war längst dem Dunkel der Nacht gewichen und innerhalb ihres Schlafgemachs verbreitete ein Kaminfeuer knisternd seine behagliche Wärme. Sie warf einen letzten prüfenden Blick in den Standspiegel, während das Mädchen geschäftig an ihr herumzupfte, die Haarnadeln noch einmal fester steckte und die Juwelenkette um ihren Hals um Millimeter ausrichtete.
Ihr empfindungsloser Arm hing unnatürlich steif an ihrer Seite herab und sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass er eigentlich durch das Geschirr gehalten werden müsste. Die tiefsitzenden Armschlaufen des Abendkleides ließen Schultern und Hals frei. Ophelia seufzte bei dem zur Schau gestellten Anblick des vernarbten Gewebes. Es hatte einen guten Grund, warum sie normalerweise hochgeschlossene Blusen mit Stehkrägen bevorzugte und ihre Kollegen beispielsweise es gar nicht anders von ihr kannten.
'Es liegt mir einfach nicht, sie so zu präsentieren. Auch wenn es nichts ist, dessen ich mich schämen müsste.'
Sie runzelte die Stirn, besann sich aber schnell eines Besseren, als sie den Blick der jungen Ankleidehilfe im Spiegel auffing.
"Vielen Dank, so wird es gehen. Das Entkleiden bekomme ich auch alleine hin. Du brauchst also nicht auf mich zu warten."

Schon als sie sich der großen Freitreppe im hinteren Bereich des Hauses näherte, ahnte sie anhand des Geräuschpegels, was sie erwarten würde. Das laute Lachen rauher Männerstimmen wurde gewürzt mit dem leisen Klingen anstoßender Kristallgläser und den gemurmelten Nachfragen der Butler, die kleine Häppchen auf silbernen Tabletts herumreichten. Es würde wieder eine jener Nächte in Timotheus' Haus werden, welche er stolz als "Plausch mit den Jungs" bezeichnete.
Sie erreichte den Treppenabsatz und blickte von dort in die Halle hinab, welche sich mit großen Glastüren, über eine säulenumstandene Terasse, in den Garten hinaus öffnete.
'Wie ich es mir gedacht habe. Keine Geldgeber unter den Gästen und auch keine weiblichen Begleiter. Der heutige Abend ist den Durchreisenden vorbehalten.'
Sie atmete tief durch und vergewisserte sich, dass ihre Gesprächspartner vorerst den typisch abweisenden Gesichtsausdruck der Omnianerin zu sehen bekommen würden, ehe Theridae im Laufe des Abends etwas lockerer werden durfte. Dann machte sie sich auf in den Pulk der Jäger. Sie hatte die Treppe noch nicht einmal zur Hälfte hinter sich gelassen, als Timotheus ihr entgegen kam und ihr galant den Arm zum Geleit bot. Sie nahm an und kaum kamen sie am Fuß der Treppe an, begann er damit, sie den heutigen Gästen vorzustellen. Ein großer, elegant gekleideter Mann mit Augenklappe fiel ihr sofort auf und wirklich führte Timotheus sie relativ zügig zu ihm, was den Schluss nahelegte, dass dieser Gast eine gewisse Vorzugsbehandlung zu genießen schien. Sein formvollendeter Diener konnte den Eindruck gelassener Wachsamkeit nicht schmälern.
"Theridae, darf ich Dich mit dem berühmten Fedder Van Hälschen bekannt machen? Er ist heute erst aus Überwald zurückgekehrt. Herr Van Hälschen, Theridae Ligand, unsere zauberhafte Botin der Selbstbestimmung."
Sie nickten einander höflich zu und etwas an dem Blick des Jägers irritierte sie augenblicklich und ließ sie vorsichtiger werden. Er hatte etwas Vertrautes an sich. Was völlig ausgeschlossen war. Solch einen Mann hätte sie nicht vergessen.
"Es freut mich, Herr, dass Du es ermöglichen konntest, den Abend mit uns zu verbringen. Ich hoffe, die Reise war nicht zu unangenehm?"
Ihr Gegenüber lächelte schief, was ihm einen charmanten Ausdruck verlieh. Er erwiderte:
"Mich freut es noch viel mehr, dass ich den Weg hierher gefunden habe. Nach all den Ereignissen im Schloss der Vetinari, war das kaum zu erhoffen gewesen. Dementsprechend erfreulich war jeder einzelne Meter der Rückreise für mich - ungeachtet der Witterung."
"Ayami Vetinari? Du kommst vom Schloss der Vampirkönigin?"
Die Frage rutschte ihr heraus, bevor sie sie aufhalten konnte. Erst, als sie Van Hälschens deutliche Aufmerksamkeit auf sich gerichtet und Timotheus' Blick von der Seite spürte, ging ihr auf, dass Theridae dieser mächtigen Frau niemals begegnet war und es folglich auch nicht verwunderlich finden konnte, dass ein Jäger ausgerechnet jetzt von deren Ländereien einkehrte, wo sie selber sich in der Stadt aufhielt. Wusste ihre heimliche Verbündete davon? Ein Zufall? Wie auch immer, sie musste Arglosigkeit vortäuschen.
Der Jäger blickte wohlwollend aber nunmehr unverrückbar auf sie hinab.
"Ich sehe, Du bist gut informiert. Ja, von eben jenem."
Sie lächelte leicht abschätzig.
"Gut informiert? So weit würde ich nicht unbedingt gehen. Sie zählt nur zu den wenigen Regentinnen, die nicht schon in der ersten Dekade nach ihrer Krönung gestürzt wurden und deren Namen ich mir daher merken konnte. Sie soll recht einflussreich sein und nicht nur dem Namen nach herrschen?" Sie bedachte sein gesamtes Auftreten mit bedeutungsvollem Blick. "Oder hat sich das nun geändert?"
Timotheus und Fedder warfen sich einen ironischen Blick stummer Übereinstimmung zu, ehe ihr Begleiter erklärte:
"Die Vetinari wird sich wohl oder übel auch noch etwas länger auf ihrem Thron halten können. Van Hälschen hat sich, nach den Erfahrungen mit ihr, eben dafür ausgesprochen, in unseren Büchern eine auf sie bezogene Warnung für seine Kollegen zu vermerken. Wir mögen zwar philosophisch nicht immer einer Meinung sein, einen gut gemeinten Hinweis jedoch werde ich immer noch zu schätzen wissen. Und selbst, wenn Dir nach den elf Jahren in ihrer Gefangenschaft nunmehr danach sein sollte, die Jagd aufzugeben, Fedder, wärst Du mir natürlich immer noch sehr willkommen."
Der Jäger deutete ein dankendes Nicken an, wobei sein aufmerksamer Blick aber doch wieder zu ihr wanderte.
"So mächtig?", antwortete sie überrascht und zog in ehrlichem Erstaunen beide Brauen in die Höhe. Sie versuchte, das Bild der im Baumschatten auf sie wartenden schlanken Frau zu verdrängen. Und deren Stimme aus ihren Erinnerungen. 'Du könntest schon...'
Die Mundwinkel des Jägers verzogen sich zu einem humorlosen Grinsen.
"Sie hat außerordentliche Kräfte. Sowohl auf körperlicher, als auch auf geistiger Ebene. Während meiner Gefangennahme befand sie es nicht einmal für nötig, mich dafür zu berühren. Sie scheint über die unterschiedlichsten Disziplinen der Spezies frei verfügen zu können. Fliegen, Gegenstände oder Personen schweben lassen oder sie durch leichte Berührung im freien Fall aufzuhalten, sich zu Nebel verflüchtigen oder in einen Fledermausschwarm aufsplitten, Gedankenkontrolle und Gedankenlesen... Was an sich schon ungewöhnlich ist, da die meisten Vampire eine dieser Fähigkeiten präferieren, während sie in anderen scheitern. Ihr Hausstand ist auf sie eingeschworen. Und als wäre das nicht genug, verfügt sie über eine unglaublich hohe Sonnenstrahlungsresistenz. Ich habe niemals zuvor erlebt, wie ein Ziel aus reiner Willenskraft der Verbrennung im Sonnenlicht widerstand, wohlgemerkt ohne irgendeinen Schutz der Haut! Oder sich auch nur annähernd so schnell wie sie wieder regenerieren konnte."
Ophelias Neugier war geweckt. Und da ihr Fauxpass übersehen worden war, gestattete sie sich diese natürliche Regung.
"Das klingt unheimlich. Dann bin ich umso erleichterter, dass sie Dir nichts anhaben und Du ihr wieder entkommen konntest, Herr Van Hälschen."
"Es hat lange genug gedauert, ehe mir die Flucht gelungen ist. Es brauchte erst einen Moment ihrer Unaufmerksamkeit."
'Ah, das erklärt, warum er ausgerechnet jetzt flüchten konnte, wenn sie nicht anwesend ist...'
"Und was das Anhaben betrifft...", er tippte sich bedeutungsschwer mit dem Zeigefinger gegen die Augenklappe. "Einen gewissen Preis habe ich trotz allem zahlen müssen."
Und sie stand tief in der Schuld dieser Frau, die dem Jäger vor ihr so übel mitgespielt hatte. Andererseits hatte er sich den Zorn seines Opfers ganz sicher nicht ohne Grund zugezogen.
"Das tut mir leid für Dich, Herr."
Sein Blick wanderte kurz ihren Hals hinab. Als er wieder aufsah, lag fast etwas Verschwörerisches in dem Ausdruck auf seinem Gesicht.
"Das muss es nicht. Wie ich sehe, bewegen wir uns in einer ähnlichen Liga. Wie kam es dazu... wenn ich fragen darf?"
Timotheus legte aufmunternd seine Rechte über ihre Hand in seiner Armbeuge und nickte ihr freundlich zu.
Für eine Sekunde fühlte sie sich angewidert von seinem bevormundenden Auftreten und diesen kleinen Gesten, deren Wahrheitsgehalt sie bezweifelte. Doch diese Gedanken hielt sie an der kurzen Leine und gestattete ihnen nicht, sich in ihren Augen zu zeigen.
"Mein Souvenir zur Einreise. Eine Gruppe Jungvampire, die sich langweilte. Dank einer Karawane mit Begleitschutz habe ich überlebt. Meinen Mann hingegen haben sie ermordet."
Sein Blick verdunkelte sich.
"Ich verstehe. Mein Beileid!"
"Danke!"
"Dann erklärt sich daraus dein Interesse daran, Timotheus und seine Sache zu unterstützen?"
Sie tat überrascht.
"Es gibt viele Gründe dafür, ihn zu unterstützen. Der Wunsch nach Gerechtigkeit ist einer davon, natürlich. Ein anderer wäre, dass er mir seine Hilfe zuerst in einer für mich schweren Zeit angeboten hat und ich jetzt dankbar dafür bin, mich in meiner bescheidenen Weise dafür revangieren zu dürfen. Warum diese Frage?"
"Frau Ligand, ich wollte Dir nicht zu nahe treten. Mich interessiert generell, welche Gründe zu welchen Handlungen motivieren. Und solange ich keine Gedanken lesen, sondern sie nur verschanzen kann, werde ich mich wohl mit ausgesprochenen Fragen behelfen müssen."
Das Interesse des Jägers wurde ihr unheimlich. Etwas an ihm drängte sie zum Rückzug. Er wirkte auf sie, als wenn er sie durchschauen könnte. Doch mit Timotheus an ihrer Seite konnte sie ihn nicht einfach so stehen lassen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als das Gespräch unverfänglich am Laufen zu halten, möglichst mit Themen, die seine Konzentration von ihrer Person ablenkten.
"Du kannst deine Gedanken vor ihresgleichen verbergen, Herr? Wie funktioniert das?"
Timotheus lachte leise an ihrer Seite.
"Ich hätte mir denken können, dass Dich das interessiert, Theri. Nun denn, Fedder, weihe uns ein!"
Der Jäger schmunzelte.
"Im Grunde könnte das Jeder mit etwas Übung. Es ist keine besondere Gabe, sondern ein reiner Erfahrungswert, quasi eine antrainierte Gewohnheit, die einem gegen die Blutsauger zu Gute kommt. Es läuft darauf hinaus, dass man sie mental mit tausenderlei unnützem Schnickschnack konfrontiert, während sie versuchen, in einem zu lesen. Wenn man diese Technik gekonnt einsetzt, habe ich schon Vampire gesehen, die dabei in die Knie gegangen sind."
Sein Grinsen sprach davon, dass mindestens einer dieser Unterlegenen vor ihm persönlich gekniet hatte - wenn auch vermutlich nicht lange.
Ophelia war fasziniert.
'Die Gedanken bewusst bündeln und...' Sie dachte unwillkürlich an den Kommandeur, wie er zu Beginn der Zwischenfälle die Schmerzen der ungewollten Kommunikation ertragen musste. 'Habe ich damals unbewusst eine Art Kampfstil gegen ihn angewandt, der unter Jägern üblich ist? Könnte Van Hälschen mehr darüber wissen, wie ich meine geistigen Schwierigkeiten in den Griff bekomme?'
"Na, Fedder, wieder im Lande?"
Ihre Blicke wandten sich synchron dem Neuankömmling ihrer Runde zu und Ophelia musste spontan ein Lächeln unterdrücken. Morris Drachenauge hatte sich, in seiner unnachahmlich etiketteresistenten Art, zu ihnen gesellt. Sie mochte den dürren Vampirjäger schon seitdem sie ihm zum ersten Mal vorgestellt worden war. Erst recht, da ihn weder seine Kollegen, noch seine Opfer ernst nahmen. Morris stand in dem Ruf, bereits sage und schreibe zwanzig Vampirjagden überlebt zu haben! Was man allerdings dazu wissen sollte war, dass er nur bei zweien dieser zwanzig Gelegenheiten auch einen 'Erfolg' verbuchen hatte können. Und selbst bei diesen beiden Malen handelte es sich mehr oder weniger um Versehen. Das erste Opfer war seiner Existenz überdrüssig gewesen und wäre auch ohne seine freundliche Ansprache von selbst ins Licht gegangen. Der zweite Vampir war ihm wortwörtlich in den Pflock gerannt, als er Morris aussagen wollte. Morris' Philosophie im Kampf gegen die Vampire brachte diese zum Lachen, etwas das nur wenigen Menschen überhaupt gelang und was eben deswegen auch der Grund dafür war, dass er noch immer lebte.
Der einäugige Jäger wandte sich seinem schlacksigen Kollegen mit einem kaum höhrbaren Seufzer zu, rang sich ein mildes Lächeln ab und nickte ihm zu.
"Offensichtlich. Und selber? Wie lief es in letzter Zeit bei Dir?"
Morris strahlte mit seinen hellblauen Augen in die Runde.
"Sehr gut! Ich überlege derzeit, ob ich den Aschers einen Besuch abstatte. Was meint Ihr? Macht das jetzt Sinn, nach den neuesten Entwicklungen?"
Ophelia hatte Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, als ein weiteres Mal an diesem Abend ein für sie bedeutungsvoller Name fiel. Sie zog ihre Hand sanft aus der Berührung des Hausherrn, als wenn sie sich eine unsichtbare Haarsträhne aus den Augen streichen wolle. Andererseits hatte sie bereits in den vorangegangenen Nächten die Erfahrung gemacht, dass die Abende, an denen Timotheus die anwesenden Jäger der Stadt lud, etwas von einem riesigen Kaffeekräzchen an sich hatten. Berühmte Namen fanden in schneller Folge Erwähnung, Klatsch und Tratsch wurden ausgetauscht, als wenn es sich bei den Gästen nicht um hartgesottene Männer, sondern um gelangweilte Debütantinnen handelte. Die Gesellschaft der Jäger war, schon aus rein beruflichen Gründen, gut informiert wenn es um die Vampire in und um Ankh-Morpork ging. Sie waren über so manches Ereignis auf dem Laufenden, bevor die Presse davon Wind bekam. So auch in diesem Fall, wie es schien.
Fedder sah zwischen Morris und Timotheus hin und her.
"Habe ich etwas versäumt?"
Der Hausherr antwortete ihm im sachlichen Tonfall.
"Mag sein. Es gab Gerüchte, an denen etwas Wahres dran sein könnte. Offenbar hat sich Parsival Ascher vor einigen Tagen aus dem Familiengeschäft zurückgezogen."
Fedder zog eine Braue erstaunt in die Höhe.
"Wer macht denn dann jetzt in dem Clan den Vorsitz? Sagt mir nicht, die Alte?"
Morris nickte mit strahlendem Grinsen.
"Ja, sie hat ihn selber einge-aschert, thihihihi..."
Er kicherte über seinen Wortwitz, während es Ophelia fast den Magen umdrehte bei dieser schockierenden Neuigkeit. Sie erinnerte sich an die sadistische Vampirin, Katharina, die sich in den Adelsstand erhoben und mit despotischem Selbstverständnis innerhalb des eigenen Clans gemordet hatte, wenn auch durch jemand Dritten. Und welche damit, dank ihres Einflusses auf Parsival, letzten Endes sogar durchgekommen war! Diese herrische Mörderin sollte nun die Geschicke des Clans lenken, sich um das Antiquariat kümmern (an dem Parsivals Herz hing), sich um die Familienmitglieder und deren Blutspender sorgen?
Die Gesichter der Menschen in diesem Haus tauchten ihr vor Augen auf: Maria, das Kind mit seiner musikalischen Mutter, die schmale Achatenerin... Und was hatten die Gerüchte wirklich zu bedeuten? Konnte Katharina Parsival auf dem Gewissen haben? Es hatte zumindest finanzielle Abhängigkeiten gegeben.
Ophelia traute sich nicht, dem Verlangen ihres Herzens nachzuspüren, um dieser Aussage auf den Grund zu gehen. Ebenso wenig, wie sie sich zutraute, auch nur einem der Herren Fragen zu dem Thema zu stellen, ohne sich irgendwie zu verraten.
'Aber, wenn ich darüber nachdenke... ich habe mich erstaunlich lange nicht mehr nach ihm gesehnt. Könnte es wirklich sein, dass der Fluch gelöst wurde? Könnte es sein, dass...'
Ein unangenehmes Prickeln im Genick ließ sie sich umwenden und nach dem Ursprung des Gefühls Ausschau halten.
Dort, auf direktem Wege zu ihrer Gruppe und mit Alec dicht an seine Fersen geheftet, betrat Ettark den Saal. Er durchquerte ihn und ließ mit selbstbewusstem Auftreten die Grüppchen links und rechts von sich stehen. Der glatzköpfige SEALS sah sie durchdringend an und sie fühlte sich von seinem Blick regelrecht an Ort und Stelle gebannt.
'Er ist doch wiedergekommen...'
Und er trug etwas bei sich.
Morris kicherte wieder sein jungenhaftes Lachen.
"...und warum auch nicht? Wer würde es sich nicht wünschen, den ganzen Tag über in der Sonne am Strand rumzuliegen! Er bräuchte sich nicht mal über Sand zwischen den Zehen beschweren..."
Sie löste ihre Aufmerksamkeit aus derjenigen Ettarks und zwang sich, so zu tun, als wenn sie sich über den makaberen Witz des Jägers amüsieren würde. Sie konnte aber nicht verhindern, dass ihre Gedanken zu rotieren begannen.
'Was hat er da bei sich? Nicht wirklich das, was ich befürchte, oder? Warum ist er überhaupt hier? Das kann doch nichts mehr mit mir zu tun haben? Bei Annoia! Was soll ich jetzt tun?'
Timotheus bemerkte, dass Alec und der Bergiger sich ihnen näherten. Er straffte die Schultern und sah ihnen erwartungsvoll entgegen.
"Herr von Bergigen, wie schön, dass Du es zu unserem kleinen Umtrunk geschafft hast. Darf ich Dir die Kollegen vorstellen? Dieser Herr ist Morris Drachenauge und dies hier ist der berühmte Fedder Van Hälschen. Sie kennen einander noch nicht?", fragte er lauernd, wurde jedoch von Morris unterbrochen.
"Von Bergigen? Etwa ein Nachkomme des großen Hasko Von Bergigen? Oh, ich habe ja so viel über ihn gelesen!"
Ettark grinste bei der enthusiastischen Begrüßung des Jägers sichtlich stolz, wandte sich aber dann unumwunden dem Gastgeber zu.
"Ich habe da etwas...", sagte er und zog mit großer Geste ein wachsversiegeltes Glas aus der ausgebeulten Tasche seines Mantels.
Ophelia starrte entsetzt erst auf den unverkennbaren Inhalt, dann, als das Glas dem prüfenden Blick Van Hälschens übergeben wurde, auf den Mann ihr gegenüber, den sie bisher für einen vielleicht rauhbeinigen aber doch redlichen Kollegen gehalten hatte.
Ettark ignorierte sie schlichtweg, als wenn sie nicht existieren würde. Stattdessen reichte er Timotheus ein kleines Papiertütchen. Aus welchem jener einige frische Vampirzähne auf seine geöffnete Handfläche schüttete.
"Falls Sie noch Zweifel gehabt haben. Ich dachte mir, vielleicht wollen Sie sich oder Ihrer Begleitung ja auch etwas Schmuck herstellen lassen?"
Ophelia spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Welch ein bösartiger Seitenhieb des Kollegen!
'Ich würde mir ganz sicher nichts sehnlicher wünschen, als Vampirzähne an meinem Hals!' Sie musste mit aller Macht dem Drang widerstehen, sich schützend an die Kehle zu greifen. Und dann fiel es ihr schwer, den Gedanken zu verdrängen, der unablässig an ihren Sinn zu pochen begann. 'Er ist ein Mörder!'
Van Barrik blickte zu Van Hälschen und als dieser nickte, wandte er sich lächelnd an Ettark.
"Nun, dann darf ich Dich wohl hiermit in unserer Familie willkommen heißen."
Er nahm Van Hälschen das Glas wieder aus der Hand und reichte es einem Diener, der hinter ihm erschienen war. Die Zähne ließ er vorsichtig in das Tütchen gleiten und steckte dieses, sorgfältig gefaltet, in seine Hosentasche. Weiterhin fast seelig lächelnd blickte er Ettark an.
"Damit biete ich Dir natürlich auch ein Zimmer in meinem Hause an. Zumindest solange, bis Du selber ein sauberes Quartier gefunden hast, Herr von Bergigen. Oder bis Du unsere schöne Stadt wieder verlassen möchtest."
Ettark neigte dankend den Kopf.
Die Verdeckte Ermittlerin trat mit eisiger Entschlossenheit und einem gleichzeitig fast schüchternen Lächeln auf den Kollegen zu.
"Du möchtest Dich sicher frisch machen, Herr Von Bergigen, nicht wahr? Wenn Du mir folgen würdest, dann zeige ich Dir die Gästezimmer." Mit einem gönnerhaften Nicken entließ Timotheus sie aus dem Gespräch und sie beeilte sich, den plausibelsten Grund für ihren Vorstoß einzuflechten. Die Männer hier wussten inzwischen ohnehin von ihrem fast sprichwörtlichen Wissensdurst, wenn es um blumige Erzählungen ging. "Vielleicht könntest Du mir dann etwas über die Jagd erzählen? Ich liebe Geschichten."
Es war nicht zu übersehen, wie sehr ihn ihr Vorschlag aus dem Konzept brachte.
'Es bleibt mir nichts anderes übrig. Meine Ermittlung hat Vorrang vor allen eventuellen Ängsten, die mich von einem Gespräch unter vier Augen mit ihm abschrecken mögen. Wir müssen klare Fronten schaffen! Ich muss wissen, warum er hier ist. Will er mich aufhalten? Gibt es eine Chance, ihn von der Dringlichkeit meines Einsatzes zu überzeugen? Er darf mir nicht noch mehr in die Quere kommen. Ich werde ihn irgendwie dazu bringen müssen, das einzusehen.'

Sie führte ihn die große Freitreppe hinauf in den ersten Stock und dort durch einen weiteren, von Gemälden gesäumten Gang. Dabei spürte sie seinen stechenden Blick im bloßgelegten Genick und das Schweigen zwischen ihnen lastete schwer auf ihr. Plötzlich schloss er zu ihr auf, packte sie grob am Arm und stieß sie mit dem Rücken gegen eine der Wände.
"Ich glaube, wir sollten uns unterhalten, Fräulein 'Ligand'!"
Sie versuchte, ihn von sich zu stoßen und zischte:
"Nicht hier!"
Ettark sah sie merkwürdig an, doch sie erwiderte seinen Blick nur wütend und versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen. Er trat einen halben Schritt zurück und machte einen spöttischen Diener, hielt sie aber weiterhin am Arm gefasst.
Sie sah mit Schrecken den Gang auf und ab, jederzeit darauf gefasst, einen alarmierten Bediensteten zu entdecken.
'Warum macht er es mir so schwer?'
Sie fuhr ihn in scharfem Flüsterton an.
"Was soll das? Lass mich gefälligst los! Oder hast Du Angst, ich könnte Dir davonrennen?"
Ettark lockerte den Griff lediglich etwas. Anstatt sie loszulassen legte er ihre Hand, fest gegriffen, in seine Armbeuge, neigte sich etwas zu ihr herab und flüsterte: "Du hast es erfasst."
Ophelia fröstelte. Seine Hand um ihr Gelenk fühlte sich unverrückbar und unheilvoll an. Wie ein böses Omen.
"Warum sollte mir daran gelegen sein, zu flüchten? Ich wohne hier schließlich." Mit bitterem Blick fügte sie hinzu. "Und ich habe viel Mühe und Zeit in diese Tatsache investiert!"
Sie steuerte den Aufenthaltsraum am Ende des Flures an. Ettark gab ihr kaum Spielraum und sie konnte sehen, dass es ihn unterschwellig nervös machte, nicht zu wissen, in welche Gefilde sie ihn dirrigierte.
"Wohin willst du?"
Sie ließ ihn schlichtweg im Unklaren, bis sie gemeinsam den gemütlichen Eckraum mit Blick auf den Garten betraten. Lediglich zwei heruntergedimmte Öllampen spendeten etwas Licht.
Kaum hatte er den Raum mit einem schnellen Blick auf Fluchtmöglichkeiten hin untersucht, ließ er sie endlich los. Jedoch nicht, ohne sich wie einer dieser hormongesteuerten Reinschmeißer mit verschränkten Armen vor der einzigen Tür zu postieren. Sein Misstrauen war unübersehbar. Ebenso wie die unterschwellige Agression, die in jedem seiner Atemzüge mitschwang.
Sie ging einige schnelle Schritte in den Raum, um möglichst viel Abstand zwischen sie beide zu bringen.
Der Informantenkontakter überraschte sie, indem er nicht nur das Wort ergriff, sondern vielmehr eine Rechtfertigung von ihr einforderte.
"Was zum Teufel hast du vor?"
Seine Dreistigkeit verschlug ihr fast die Sprache.
'Er platzt hier herein wie ein betrunkener Pfau und traut sich dann noch, mich derart zur Rede stellen zu wollen?'
Sie tat sich keinen Zwang mehr an, sondern sprach hier, in der Abgeschiedenheit des unbeachteten Aufenthaltsraumes, wieder in normaler Lautstärke.
"Das Gleiche könnte ich Dich fragen! Du gefährdest meinen Einsatz! Was tust Du hier?"
Der Kontakter klang mehr als nur voreingenommen.
"Einsatz?" Seine Mimik ließ den Schluss zu, dass er ihr inzwischen soweit misstraute, dass es fraglich war, ob er überhaupt noch eine Kollegin in ihr sah. "So wie ich das sehe, habe ich hier das Vorrecht auf Antworten." Er zog in einer eindeutig drohenden Geste sein Schwert einige Finger breit aus dessen Scheide. "Also?"
Ophelia blickte erst auf die halb gezogene Klinge, dann zu ihm.
"Du weißt, dass ich hier ermittle."
Diese Auskunft genügte ihm nicht. Offenbar beabsichtigte er, ihr unlautere Beweggründe zu unterstellen. Wenn nicht sogar... Verrat.
"Spuck's aus, was hast du vor?"
Sie spürte Verzweiflung in sich aufsteigen. Wenn er ihr nicht mal das geringste Bisschen Vertrauen entgegenbrachte, wie sollte sich die Situation dann retten lassen?
"Ich habe Dir doch von der HIRN erzählt. Als der Werwolf-Clan gewarnt werden musste. Also was erwartest Du jetzt von mir? Du solltest nicht hier sein! Es ist so schon schwer genug, Timotheus Vertrauen zu erhalten..."
"Du willst mir doch nicht wirklich verklickern, dass die Leitung dich in dem Zustand auf einen solchen Einsatz geschickt hat."
Sie runzelte die Stirn.
"In was für einem Zustand?"
Seine Geste schloss ihr Gesamtbild ein, sein folgender Blick richtete sich aber vor allem kritisch auf die entstellte Halspartie mit den Narben des Vampirangriffs.
"Ich glaube eher, du nimmst das da etwas zu persönlich."
Ophelia zuckte zusammen. Sie fühlte sich schutzlos und wie bloßgestellt vor ihm und sie hätte in diesem Moment sonstwas für die lächerliche Möglichkeit gegeben, sich ein Tuch über die nackte Haut legen zu können.
'Er sieht die Narben und denkt, er könne dadurch auf mein Inneres Rückschlüsse ziehen. Reduziert er mich auf diese Äußerlichkeit, auf ein vergangenes Ereignis?'
Sie senkte den Blick, denn sie ahnte, was er als nächstes andeuten würde. Sie ahnte es mit der gleichen instinktiven Sicherheit, wie man zuvor von dem Donner weiß, der einem Blitz folgen wird. Dieses Wissen machte es aber nicht leichter.
"Und 'ne Ratte kann ich hier wirklich nicht gebrauchen!"
Die Spitze saß! Er sah in ihr eine Überläuferin und er war sich dessen so gewiss, dass er nicht davor zurückschreckte, es ihr vorzuwerfen. Und das nach allem, was sie durchgemacht und auf sich genommen hatte!
'Du kennst mich nicht, oh nein, wirklich nicht!'
Sie sah wieder zu ihm auf und schüttelte langsam den Kopf, er jedoch schien jetzt erst in Fahrt zu kommen.
"Ich weiß ja, dass du es mit... Verrat nicht so ganz eng siehst... aber das hier hab ich selbst von dir nicht erwartet."
Seine Falschanklage tat weh und für den Moment trat das, was Wichtiger hätte sein müssen, in den Hintergrund. Das Bedürfnis, sich zu verteidigen, ihn zu verletzen, wurde übermächtig. Ein Gedanke schob sich deutlich in den Vordergrund.
'Nicht ich war es, die mit einem eingeäscherten Vampirleichnam als Alibi hier aufgetaucht ist, als wenn diese Überreste bedeutungslos gewesen wären...'
Schmerz und Abscheu hielten sich die Waage, als sie ihm seine Tat vorwarf.
"Und das von einem Mörder!"
Ettark zog die Augenbrauen in die Höhe.
"Mörder?"
'So wenig bedeutet ihm also das Leben anderer? Er hat die Leiche, mit der er aufgekreuzt ist, bereits vergessen.'
Sie antwortete mit beißendem Sarkasmus in der Stimme, indem sie seine Aussage vor Timotheus wiederholte.
"Vielleicht ein Schmuckstück für die Begleiterin?"
Ettark lachte leise auf.
Seine Gefühlskälte schockierte sie, doch vielleicht hätte sie nichts anderes erwarten dürfen.
Der große Mann blickte sie amüsiert durch den Raum hinweg an.
"Das war schon tot."
Wollte er sie absichtlich provozieren? Oder war er noch abgeklärter als die meisten der Jäger, die sich derzeit in der Halle aufhielten?
"Oh bitte! Das ist ja wohl der älteste Spruch überhaupt, um Mord an ihnen zu rechtfertigen!"
Ettark schüttelte grinsend den Kopf.
"Nein, ich meine... endgültig tot."
"Ich verstehe nicht..."
"Ich bin Wächter, verdammt noch mal, ich bring doch keinen um!"
Ophelia lachte spöttisch und blickte bedeutungsvoll auf das Schwert an seiner Seite.
"Ausnahmen bestätigen dann vermutlich die Regel?"
Er schob das Schwert langsam zurück in dessen abgewetzte Scheide und musterte sie dabei.
"Ich habe bis jetzt noch keine Ausnahmen machen müssen."
Ophelia musterte ihn ebenfalls und versuchte den Wahrheitsgehalt seiner Aussage abzuschätzen. Sie kam zu dem Schluss, dass er sie vorsätzlich belog. Er verhielt sich zu kaltblütig, als dass der Tote der erste hätte gewesen sein können. Und dann gab es da ja noch seine ominöse Vergangenheit als Angehöriger einer sagenumwobenen Adelsfamilie, deren oberstes Ziel die Jagd gewesen war. Das konnte nicht spurlos an ihm vorüber gegangen sein. Nicht, wenn sein prahlerisches Auftreten dazu Rückschlüsse ermöglichte.
Sie entschied, ihn nicht weiter zu reizen und diese Frage unangetastet im Raum stehen zu lassen. Es gab Wichtigeres.
"Du kannst hier nicht bleiben."
Ettark lachte auf und seine Reaktion machte sie wütend, so dass sie sofort nachsetzte.
"Das hier ist kein Theaterstück, bei dem ich Publikum gebrauchen könnte."
Seine lockere Haltung vor der Tür sprach deutlich von Selbstbewusstsein. Er war mit sich und seinem Urteil über sie im Reinen.
"Nein, das glaube ich gerne. Verrat ist sicher schwer, wenn jemand anderer einem mit in die Karten schaut, nicht wahr?" Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich und seine Stimme nahm einen skeptischen Klang an. "Selbst du kannst doch nicht wirklich glauben, dass ich dabei zugucke? Ich werde HIRN ausschalten und du wirst verschwinden. Sonst bringe ich dich höchstpersönlich zurück zur Wache!"
Sie presste die Lippen fester zusammen und schüttelte einmal mehr den Kopf.
"Es hat mich zu viel gekostet, es bis hierher zu schaffen. Und da Breguyar von meinem Einsatz weiß, glaube ich Dir nicht, dass er Dich auch noch geschickt hat."
Ettark runzelte die Stirn und sie fuhr fort:
"Da stellt sich doch die Frage, wer von uns beiden eher als Verräter in Frage kommt. Vielleicht hast Du etwas zu persönlich genommen?"
Er schien immer wieder über den Gedanken zu stolpern, dass ihr körperliches Manko für diesen Einsatz kein Hinderungsgrund dargestellt haben sollte.
"Der alte Pirat hat dich so in eine verdeckte Ermittlung geschickt?"
Ophelia zögerte kurz, hob dann aber das Kinn.
'Eine Halbwahrheit sollte ihm gegenüber genügen.'
"Er weiß von meinem Einsatz. Er hat mich fortgeschickt. Ich werde mich also auch weiterhin um diesen Einsatzort kümmern. Und Du wirst gehen!"
Ettarks Brauen zogen sich missbilligend zusammen und er murmelte unheilvoll:
"Ich glaube, du missverstehst die Situation..." Er packte den Schwertgriff wieder fester, diesmal jedoch, ohne es zu ziehen. "Ich werde diesen... Verein mit Stumpf und Stiel vernichten... und du solltest mir dabei besser nicht in die Quere kommen!"
In seinen Worten schwang ein lautloses "sonst" mit und sie begann daran zu glauben, dass er es ernst meinen könnte. Doch das änderte nichts. Es gab immer Schwierigkeiten in einer Verdeckten Ermittlung und sie wäre längst keine so ausgezeichnete Anderkaffer-Wächterin gewesen, wenn sie sich jedes Mal abschrecken lassen hätte. Nun war es eben ein Kollege, der ihr in den Rücken fiel. Sei es drum! Ihr Platz war hier und ihre Aufgabe noch nicht ganz beendet.
"Du hast nicht das Vorzugsrecht darauf gepachtet, diese Organisation dem Erdboden gleich zu machen. Und Du machst es Dir zu leicht, wenn Du denkst, deine bloße Anwesenheit würde dazu ausreichen. Denkst Du etwa, ich hätte die Zeit über, in der ich hier bereits ermittelte, nichts getan?"
Ettark zupfte sich mit der freien Hand am Bart und schien angestrengt nachzudenken. Spöttisch erwiderte er:
"Oh, ich bin mir sicher, du hast 'so Einiges' getan."
Ophelia strich sich in einer frustrierten Geste mit der Hand über die Stirn. Sie ahnte, welche Schlüpfrigkeiten er damit andeuten wollte, konnte es aber kaum fassen, dass er sich zu solchen Vermutungen herab ließ.
"Was willst Du mir damit sagen?"
Ettark schüttelte den Kopf und kratzte sich durch den Bart am Kinn.
Sie beließ es bei seiner Unverfrorenheit. Die Dringlichkeit ihrer beider Situation zwang sie allmählich zur Eile. Dass sie bisher von eifrigen Bediensteten übersehen worden waren, hatte nicht viel zu bedeuten.
"Ich habe eigene Pläne und sie stehen bereits kurz vor dem Abschluss."
"Oh, willst du Barrik zu Tode quatschen?"
Ophelia trat einen wütenden Schritt auf ihn zu.
"Findest Du das alles komisch?"
Seine Augen blitzten im Halbdunkel auf.
"Siehst du mich lachen?" Seine Stimme wurde etwas lauter. "Aber ich traue dir nicht."
Sie musste sich einen sarkastischen Kommentar dazu verbieten.
'Das wäre mir gar nicht aufgefallen, wenn er es nicht gesagt hätte. Und, na sowas! Dieses Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit! Nun gut. Er wird nicht zur Vernunft kommen und ich bin bereits viel zu lange vom Empfang fort. Wenn er sich weigert, meinen Einsatzort zu verlassen, werden wir einander eben aus dem Wege gehen müssen.'
"Ich sehe, es hat keinen Sinn, ein vernünftiges Gespräch zu erwarten."
Ophelia ging in der Absicht auf die Zimmertür zu, an ihm vorbei den Raum zu verlassen. Doch der Bergiger sah das Gespräch noch längst nicht als beendet an.
"Wenn du nicht wie ein Paket vor der Wache landen willst, solltet du es besser versuchen."
Als sie in seine Reichweite geriet, stieß er sie zurück in den Raum.
Vielleicht hatte er es billigend in Kauf genommen, vielleicht war es auch nur die ungünstige Kombination der Umstände, die zum Tragen kam. Jedenfalls hatte Ophelia nicht damit gerechnet, dass er nochmals handgreiflich werden könnte. Sie stolperte überrascht rückwärts. Der kurze Schleppensaum des viel zu engen Kleides behinderte sie dabei erheblich und sie geriet ins Stolpern. Der Aufprall am Boden ließ sich nur ungenügend mit der verbliebenen Hand abfangen. Sie blickte erschrocken vom Boden aus zu ihm auf.
Ettark presste die Lippen zusammen, blieb aber vor der Tür stehen.
Ophelia war sprachlos und einen langen Moment sahen sie einander nur an, beide darauf bedacht, ihre Sicht des Gegenübers der aktuellen Situation anzupassen.
Ettark blickte mit beinahe bitterem Vorwurf in den Augen auf sie herab.
"Du arbeitest also weiterhin in Treue für die Wache?"
Zum ersten Mal, seit sie den Raum betreten hatten, schlich sich die Möglichkeit in ihre Gedanken, dass diese Konfrontation keineswegs so harmlos enden musste, wie sie es bisher automatisch angenommen hatte.
'Du bist so naiv, Ophelia, wirklich! Du bist einerseits davon überzeugt, dass er kaltblütig mordet, wenn es seinen Plänen zu Pass kommt. Du weißt von seinem Hass auf dich. Und dir ist mehr als nur bewusst, dass du plötzlich in seine direkte Schusslinie geraten bist. Er steht dir gegenüber, droht dir. Und doch hast Du irgendwo in deinem törichten Herzen noch darauf vertraut, dass er dir nichts tun würde? Dass er immer auch ein Kollege sein würde, gleichgültig was sonst zwischen euch stünde? Vergiss diese Zutraulichkeit! Er wird keine Rücksicht nehmen, also nimm auch Du keine.'
Sie richtete sich wieder auf, blieb aber noch halb in der Hocke und mit der Hand am Boden abgestützt, um den harmlosen Eindruck ihrer Gestalt unter seiner Augenhöhe zu unterstreichen. Sie behielt ihn im Blick und versuchte, ihn mit Worten von den Bewegungen ihrer Hand abzulenken.
"So also sieht ein Profi bei der Arbeit aus..."
Ettark rieb sich die Stirn, was seine bisher konzentrierte Aufmerksamkeit kurz brach - zum für sie optimalen Zeitpunkt! Mit einer natürlich anmutenden Handbewegung tastete sie vorsichtig nach ihrem Fußknöchel, als wenn sie sich diesen im Fall gezerrt hätte. Gleichzeitig sprach sie weiter auf ihn ein.
"Ich habe mir nie etwas zu Schulden kommen lassen."
Er legte den Kopf leicht schief und zog seine Augenbrauen hoch, was entweder Überraschung oder Skepsis bedeuten mochte. Sie ignorierte die Interpretationsmöglichkeiten, völlig darauf bedacht, den Dolch unbemerkt vom Schienbein zu schnallen, um ihn hinter ihrem Unterarm angelegt vor seinem Blick zu verbergen.
"Alles, was ich jemals getan habe, war meiner Aufgabe und meinem Gewissen geschuldet. Ich kann mir diese Reaktion also nur aus einer... persönlichen Aversion heraus erklären."
Ettark wischte ihren Einwand mit der Hand aus der Luft und sie konnte nicht verhindern, dass sie bei dieser plötzlichen Bewegung zusammenzuckte. Er schien in seinen Überlegungen zu einem Schluss gekommen zu sein.
"Hör zu! Ich habe hier Etwas zu erledigen. Ich kann es mir nicht leisten, dich rauszuzerren und damit meine Tarnung zu gefährden. Komm mir also nicht in die Quere und versuche möglichst, dein Mundwerk unter Kontrolle zu halten. Wenn du dich wirklich noch als Wächterin siehst, sollte dir das nicht so schwer fallen. Vielleicht kannst du mir ja sogar behilflich sein."
Hätte er nicht in der Minute zuvor das letzte Bisschen Vertrauen verspielt gehabt, wäre sie versucht gewesen, auf seinen Vorschlag einzugehen. So aber war der Augenblick vertan und ihre Erwiderung direkter, als sie es sonst gewesen wäre.
"Hier 'Etwas zu erledigen'? Was nicht zufällig etwas mit dem Nebenerwerb als ruhmreicher Vampirjäger zu tun hat?"
Ettark schüttelte den Kopf.
"Du glaubst wirklich, ich habe innerhalb von drei Tagen einen über hundert Jahre alten Vampir gejagd und getötet, ohne die geringsten Blessuren davonzutragen?"
Sie stand vollends wieder auf, wobei sie die Kraft dazu ausschließlich aus den Beinen nahm, um ihre Hand mit dem Dolch unauffällig an ihrer Seite hängen lassen zu können und diese dann, kaum dass sie stand, leicht hinter dem Sitzmöbel aufgestützt zu verstecken, welches neben ihr stand.
'Zumindest bin ich ihm nicht gänzlich schutzlos ausgeliefert. Wenn er dort bleibt, braucht er niemals von der Waffe zu erfahren. Wenn nicht...'
Sie blickte ihm nun deutlich gelassener entgegen, während er ihr klar zu machen versuchte, wie falsch sie läge.
"Menschen, die das versuchen, enden meistens wie dein Freund Van Hälschen."
Sie hatte in den letzten Tagen zu viele anders lautende Geschichten gehört, die auch von glücklichen Zufällen und dem legendären Überraschungsmoment predigten, den es zu erreichen galt. Dazu der Einwand der Königin, der ihr - wie ein hoffnungsvolles Mantra - nicht mehr aus dem Sinn ging. Gleichgültig was er behauptete: Es gab Ausnahmen!
"Es ist nicht unmöglich."
"Sicher nicht... mit der richtigen Ausrüstung und ein paar kräftigen Freunden."
Er schüttelte den Kopf und fragte sich offenbar, warum er sich überhaupt die Mühe machte, sie darin aufzuklären.
Eine missgelaunte Stimme füllte plötzlich ihren Kopf und Raculs Präsenz übergoss ihre Sinne wie Eiswasser.
'Das ist der geistige Krüppel, der während der Belagerung so viele Schwierigkeiten verursacht hatte, richtig?'
Ophelia sank der Mut. Wie sollte sie sich so konzentrieren? Und das musste sie doch! Schon verlor sie den Blickkontakt zu dem aufgebrachten Kollegen und bemühte sich darum, Raculs Anwesenheit einzuordnen.
'Zumindest ist er der, den Du meinst. Warum mischst Du dich ein? Ich kann gerade wirklich keine Ablenkung brauchen.'
'Deine Manieren lassen von Mal zu Mal mehr zu wünschen übrig, Mädchen. Ich war es einfach leid, mit den Bildern aus deinem Kopf konfrontiert zu werden. Es fällt mir leichter, mit dieser Schwemme umzugehen, wenn ich die Eindrücke aus erster Hand empfange. Also sei so lieb und lass mich deinen Körper mitnutzen, solange, bis die Übertragungsrate sich wieder zurückfährt. Ich werde mich auch nicht weiter einmischen. Aber so wie bisher, ist es einfach gar zu unangenehm.'
Ettarks Stimme erreichte zwar ihre Ohren, die Bedeutung seiner Worte hingegen blieb teilweise auf der Strecke.
"...mich vor dir rechtfertigen... Du hast meinen Vorschlag gehört. Entweder, du stimmst zu. Oder Breguyar wird sich morgen über ein kleines Geschenk freuen..."
Ophelia blickte ihn nur flüchtig an, während sie Racul möglichst höflich zurechtwies.
'Das tut mir außerordentlich leid für Dich aber das gibt Dir trotz alledem nicht das Recht, Dich solcherart aufzudrängen. Nein, ich muss mit aller Vehemenz protestieren. Bitte ziehe Dich unverzüglich wieder zurück!'
Ettarks Stimme klang unnatürlich laut, da er plötzlich nur ein einziges Wort flüsterte.
"Schade..."
Sie sah instinktiv zu ihm auf. Und erschrak.
Seine Haltung hatte sich geändert, sein Blick lag emotionslos auf ihr und in seiner Hand hielt er auf einmal einen Gegenstand, den sie als Schlagwaffe einordnete.
"Was..."
Sie wich zurück.
"Das wagst Du nicht!"
Ettark ging langsam auf sie zu, immer darauf achtend, zwischen ihr und der Tür zu bleiben.
"Welche Wahl lässt du mir?"
Racul vergaß prompt seinen Vorsatz der Zurückhaltung und begann, sich aufzuregen.
'Das ist so typisch für die Bergiger! Marcus hat mir davon berichtet, wie verblendet und unsportlich diese dreckige Sippe damals vorgegangen ist. Schleimige Kakerlaken, die sich durch die Hausritzen einschleichen und einen im Schlaf richten, ohne irgendeinen Gedanken an Chancengleichheit oder Traditionen zu verschwenden. Moderne Hohlköpfe ohne Verstand! Hauptsache sie bekommen, was sie wollen. Oh, wie es mir in den Fingern juckt, einige meiner Freunde an diesem kleinen Wicht zu rächen. Wenn Du mir deinen Körper nur einen Moment als Wirt zugestehen würdest, so wie auf der Stadtmauer, Du erinnerst dich? Eine Sekunde der Nostalgie, mehr bräuchte ich nicht. Deine Ermittlung ist ohnehin so gut wie abgeschlossen, wir könnten die Unterlagen sofort im Anschluss...'
Ophelia löste sich mit einem Schritt zurück von dem Möbel neben ihr und hielt den Dolch nun offen zwischen sich und Ettark. Sie ließ ihn nicht mehr aus den Augen und ging konzentriert in eine klassische Abwehrhaltung, während sie zugleich krampfhaft darum kämpfte, ihre Gedanken beisammen zu halten und Raculs Rachsucht außen vor zu lassen.
Ettark betrachtete die kurze Klinge scheinbar neugierig und ließ seine eigene Waffe um deren Achse kreisen.
'Er hat seine Maske fallen lassen und spielt mit offenen Karten. Er wird mich aus dem Weg räumen...'
"Wie willst Du mein Verschwinden erklären?"
"Ich werde mir schon was einfallen lassen."
Sie wich einen weiteren Schritt zurück.
"Warte! Tu das nicht..."
Sie blickte sich hastig nach Alternativen um und der Vampir in ihrem Sinn strafte sie mit kalter Verachtung dafür, dass sie sein 'Hilfsangebot' ausschlug.
'Wenn Du mich machen ließest, müsstest Du dich nicht vor ihm fürchten. Und überhaupt! Denke nicht, dass ich Dich seiner Willkür überlasse! Wenn ich der Meinung bin, dass Du dieses Spiel zu weit getrieben hast, dann greife ich ein, ob es Dir passt oder nicht. Du weißt, dass ich es nicht zulassen werde, dass er Dich ernsthaft beschädigt. Ich brauche Dich lebendig.'
Ettark zog sich mit einer gefährlich langsamen Bewegung den Mantel aus und die Art, wie er ihn in seine Rechte nahm, ließ sie Ungutes ahnen. Sie bekam es mit der Angst zu tun. Dennoch widersprach sie Racul mit aller Macht.
'Du wirst dich nicht einmischen! Ich will das nicht! Wer weiß, was Du ihm antun würdest. Und dies ist mein Körper, mein Geist. Halte Dich zurück!'
'Oh, tu nicht so unbedarft! Du weißt ganz genau, was ich ihm antun würde. Das Eine oder das Andere.'
Ophelia musste schwer schlucken und griff den Dolch fester.
Ettark schüttelte beinahe traurig den Kopf. Seine überlegten und zielsicheren Bewegungen ließen keinen Raum für Zweifel an seinen Plänen.
Sie suchte verzweifelt nach Alternativen und wagte einen letzten Anlauf, den Kollegen mit Worten zu überzeugen.
"Haben wir nicht das gleiche Ziel?"
Seine Stimme klang nun absolut ruhig, wenn auch bedauernd.
"Das würde ich gerne glauben..."
Ophelia wollte einen weiteren Schritt zurückweichen, hatte aber plötzlich die Wand im Rücken. Sie erstarrte. Ettark hingegen ging gemessenen Schrittes weiter auf sie zu, wodurch er sie dazu zwang, seitlich auszuweichen und sie langsam in die Zimmerecke drängte.
Er schwenkte lässig seinen Mantel und es war ihr bewusst, dass sein studierender Blick darauf abzielte, ihre wahrscheinlichsten Reaktionen abzuschätzen. Sie achtete automatisch mehr auf das Spiel seiner Arm- und Beinmuskeln und auf die Bewegungen seiner Pupillen. Sie flüsterte entsetzt:
"Das kannst Du nicht wirklich wollen..."
"Wollen? Nein, natürlich will ich das nicht. Aber du zwingst mich ja leider dazu."
Ettark war inzwischen vollkommen ruhig und der Vampir hinter ihren Augen rechnete ihm diese überlegte Jagdleidenschaft widerwillig an.
'Zumindest weiß er, was er tut. Es würde mich nicht wundern, wenn Du mit deiner Vermutung Recht hättest, dass Du nicht seine erste Zielperson bist. Umso folgerichtiger wäre es, wenn Du mich diese Sache klären lassen würdest. Nicht nur als Ausgleich einer Erbschuld.'
Und im selben Moment gelangte sie in der Ecke an.
Ettark schwang den Mantel probeweise, doch sie wartete mit ihrer Reaktion ab. Sein richtiger Angriff erfolgte dennoch unerwartet und schnell. Der Mantel beschrieb ohne jegliche Vorwarnung einen kurzen Bogen über den Dolch. Sie riss den Arm zwar augenblicklich zurück, doch Ettark war der Schwungrichtung mit einem schnellen Schritt auf sie zu gefolgt, wickelte aus der selben Bewegung heraus bereits den Mantel um die Klinge und riss Arm und Dolch derart unnütz gefesselt über ihren Kopf in die Höhe. Sie versuchte, die Hand zurückzuziehen, stieß aber auf erbarmungslosen Widerstand. Ihr entsetzter, leiser Ausruf ging in dem dumpfen Gerangel fast unter, mit dem er sie zwischen sich und der Wand einklemmte. Sie versuchte, zur Seite auszuweichen und zerrte dabei weiter an ihrem Arm in seinem Griff. Doch gegen reine Körperkraft war sie noch nie angekommen. Seine Knie drückten sich schmerzhaft durch die langen Rockbahnen ihres Kleides und sein ungerührter Blick schwebte keine Handbreit vor ihrem Gesicht. Sie konnte seinen Atem auf ihrer Haut spüren, seinen ruhigen Pulsschlag an ihrem Handgelenk. Sie begann zu zittern und schämte sich abgrundtief für diese nur zu deutliche Reaktion auf seine bedrohliche Nähe. Ein letztes Mal versuchte sie, sich aus seinem Griff zu winden. Doch da holte er bereits mit der Waffe aus, um ihr den Schädel einzuschlagen.
'Wer hätte gedacht, dass ich eines Tages von einem Kollegen getötet werden würde? Zumindest ist er vermutlich gut in sowas. Es wird schnell vorbei sein.'
'Ophelia, wenn Du nicht sofort Vernunft annimmst, dann...'
Sie schloss ängstlich die Augen und wandte den Kopf ab.
'Ich bin selber Schuld. So viele Falscheinschätzungen, so viele Fehler... damit dürfte mein Soll Rogi gegenüber beglichen sein. Wer weiß, wie alles gekommen wäre, wenn ich damals mehr Verständnis für ihn gezeigt hätte, anstatt ihn anzuzeigen? So viel Hass! Ich hätte es nicht tun sollen. Ich hätte... ich möchte nicht so gehen, ohne diese Sache richtig gestellt zu haben. Vielleicht bleibt mir diese eine Sekunde noch...'
'Ophelia!'
"Es tut mir so leid!"
Sein Griff um ihr Handgelenk über ihrer beider Köpfe versteifte sich. Sein Atem streifte ihren Hals und hielt dann inne.
'Er hat mir wenigstens dieses eine Mal zugehört. Gut. Dann bin ich jetzt bereit.'
Sie wartete auf den unvermeidlichen Schlag und atmete ein letztes Mal ein.
Seine Stimme klang so nahe, so leise. Und absolut verwirrt.
"Leid?"
Sie wagte es nicht, die Augen zu öffnen. Sie nickte stattdessen nur ruckartig und flüsterte:
"Ja, es tut mir leid. Ich bin keine Verräterin. Ich... es..."
Ausgerechnet jetzt mussten ihr die Worte fehlen, um sich ihm verständlich zu machen. Sprach man nicht gemeinhin immer von so klugen letzten Sätzen? Aber vermutlich waren diese zumeist nicht an den eigenen Henker gerichtet.
Sie spürte, wie er seine Haltung etwas veränderte. Er ließ ihr eine letzte Schonfrist, um seine Frage zu beantworten. Der restliche Widerstand wich aus ihrem verkrampften Körper und sie ließ es geschehen und sich von ihm festhalten.
Raculs Präsenz flimmerte noch immer am Rande ihrer Wahrnehmung, doch überraschenderweise schien er nun schweigend auf etwas zu warten.
Ophelia blinzelte vorsichtig. Ettark starrte sie unverwandt an. Sie ließ mutlos den Kopf hängen und wisperte:
"Ich hätte damals nicht zu IA gehen sollen."
In seinen Augen blitzten zu gleichen Teilen Misstrauen und Verwirrung auf.
Ophelia bat ihn mit dem Blick stumm um Verzeihung.
"Ich meinte es nicht böse..."
Sie wich seinem Blick wieder aus.
Raculs Stimme schnurrte fast zufrieden.
'Ein raffinierter Schachzug. Zumindest wäre er es gewesen, wenn Du es nicht ernst meinen würdest. Wir können ihn immer noch überrumpeln. Seine Vorsicht lässt nach...'
Sie ignorierte ihn bestmöglich, denn das zwischen Ettark und ihr war längst entschieden.
"Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, wäre ich nicht zu ihm gegangen. Aber vermutlich wird das nun nichts mehr ändern, nicht wahr?" Sie schloss die Augen und lächelte ergeben. "Weißt Du, was das Ironische daran ist? Wenn Du mich umbringst, wirst Du damit nur für einen Ausgleich zwischen Haben und Soll sorgen. Immerhin warst Du es damals, der mir gewissermaßen das Leben gerettet hat."
Seine Stimme klang rauh von der Kränkung, dass sie sein erzwungenes Urteil, seine gerechte Intervention, verbal auf die gleiche Stufe mit einem Mord stellte.
"Umbringen?"
Unpassende Gefühle stiegen in ihr auf, als sie sich an die Vergangenheit erinnerte, an den Zufall, der ihrer beider Lebensläufe sich zum ersten Mal kreuzen ließ: Dankbarkeit und Zuneigung.
"Erinnerst Du dich daran überhaupt noch? Hättest Du die Klackernachricht nicht so vehement und völlig abseits aller Bürokratie mitten in der Nacht an Romulus weitergegeben, dann..."
Ettark zog wortlos ihren Arm zu sich herab. Er hielt den eingewickelten Dolch fest, während er ihre Hand aus dem Stoff gleiten ließ. Dann warf er den Mantel inklusive Waffe hinter sich und trat einige Schritte von ihr fort.
'Ganz beachtlich! Deine rührseelige Geschichte hat ihn vertrieben.'
Ettark sah sie fassungslos an und erst jetzt dämmerte es ihr, dass eine gewisse Diskrepanz zwischen seinen Reaktionen und ihren Interpretationen derselben bestehen mochte.
"Glaubst du wirklich, ich würde einfach so jemanden umbringen?"
Sie presste sich die freigelassene Hand an die Brust und blickte ihn verunsichert an.
Die unhörbare dritte Stimme im Bunde kommentierte seine Verwirrung genüsslich.
'Oh ja, das hat sie geglaubt. Du würdest Dich wundern, wie oft dieses zarte Geschöpf inzwischen Bekanntschaft mit Mördern und ihren Drohungen gemacht hat. Da gewöhnt man sich das schon mal an, dass man auch solches Ungeziefer wie dich ernster nimmt, als es ihm gebühren würde.'
Ettark schüttelte, völlig aus dem Konzept gebracht, den Kopf. In seiner Aufregung erhob er die Stimme so sehr, dass er beinahe schon schrie.
"Ich bin Wächter, verdammt noch mal! Ich werde dich doch nicht töten!"
"Du... hast gesagt, ich wäre Dir im Wege, ich müsse "verschwinden"... Du würdest mich als Paket verschnürt... aus dem Wege räumen..."
"Und dich als Leiche vor das Wachhaus legen?"
Ettark betrachtete sie wie vor den Kopf geschlagen.
Ophelia stand hilflos im Raum. Sie ging schnell um die Chaiselonge und setzte sich kraftlos. Sie sah mit großen Augen zu ihm auf.
"Es ist zumindest nicht ungewöhnlich, dass ich mit dieser Möglichkeit konfrontiert werde..."
Sie schaute schuldbewusst auf ihre Hand hinab - die noch immer bebte.
Ettark stand bewegungslos im Raum und betrachtete sie. Endlich schob er seine Waffe zurück in deren Befestigung am Unterarm. Er ging zu seinem Mantel, ohne sie dabei jedoch aus den Augen zu lassen. Als er den Dolch aus dem Mantel wickelte, wurden in diesem geschlitzte Löcher sichtbar. Sein Gesichtsausdruck kündete von so viel Bedauern, dass sie ihm unwillkürlich ihre Hilfe dabei anbieten wollte, die Schäden zu beheben, doch er ignorierte ihr halbherziges Angebot und sie verstummte. Nach einem peinlichen Moment des Schweigens lachte sie leise, wenn auch nicht wirklich humorvoll.
"Das nennt man dann wohl eine Aussprache."
Er warf ihr einen noch immer misstrauischen Blick zu, wandte sich dann aber ihrem Dolch zu. Das Betrachten der ausgezeichneten Waffe schien für ihn etwas Tröstliches zu haben und sein aufgewühltes Gemüt zu beruhigen.
"Eine gute Klinge... Zwergenarbeit wenn ich mich nicht täusche?"
Ophelia nickte. Sie dachte an den wütenden Zwerg zurück, den sie der Rolle entsprechend bestohlen hatte.
"Dieser Dolch war sein Meisterstück."
Ettark fuhr mit dem Daumen vorsichtig über die Klinge und nickte zufrieden. Er wirkte beinahe verträumt und überprüfte auch die andere Seite der Schneide, den Schwerpunkt und das Griffgefüge der eleganten Waffe. Schließlich blickte er auf.
"Du bist also wirklich anderkaffer hier?"
Sie nickte.
"Ja, das bin ich. Und Du?"
Er antwortete lapidar.
"Auch... glaub ich..."
Ophelia sah ihn fragend an. Er schien nicht mehr so ganz bei der Sache zu sein, jetzt, nachdem sie zu einem Waffenstillstand gefunden hatten. Sie holte tief Luft.
"Das, was ich eben gesagt habe... das war kein Ablenkungsmanöver. Nur, falls Du das vielleicht gedacht haben solltest. Ich... ich meinte das ernst. Es tut mir wirklich leid."
Ettark winkte beinahe müde ab.
"Eigentlich wollte ich gar nicht hierher. Das sollte 'ne einfache Informationsbeschaffung werden. Ich such doch nur dieses blöde Arschloch..." Nun war es an ihm zu verstummen und sich genau zu überlegen, wie viel er ihr anvertrauen wollte. Was sich erwartungsgemäß als nicht viel herausstellte. "Aber jetzt bin ich hier und ich werde nicht zulassen, dass diese... Organisation so weiter macht!"
Ophelia wandte vorsichtig ein:
"Du suchst jemanden Bestimmtes? Vielleicht kann ich Dir helfen? Es wäre... sinnvoller, wenn wir... zusammenarbeiten würden."
Ettarks Blick war undeffinierbar, dann schüttelte er langsam seinen Kopf.
Racul kommentierte dieses Verhalten gewohnt sarkastisch.
'Vielleicht solltest Du dir deinen Dolch etwas schneller zurückgeben lassen. Er wirkt nicht sehr überzeugend.'
Ophelia fühlte Frustration in sich aufsteigen. Sollte ihre Diskussion von vorne beginnen?
"Ich kann hier nicht weg. Wirklich nicht! Das schulde ich Rogi...", sie beeilte sich, zu ergänzen: "Aber... solche Empfänge wie heute veranstaltet Timotheus regelmäßig. Wenn Du eine Person suchst, die ihn aufsucht, dann stehen die Chancen nicht schlecht, dass ich sie vielleicht schon gesehen habe und Näheres zu ihr weiß."
Seine Antwort klang erschöpft.
"Um die Schweinehunde auffliegen zu lassen... sicherlich... aber um 'ihn' zu finden? Ich weiß ja nicht mal, wie er aussieht oder heißt!"
Ettark lachte trocken auf und sie blickte ihn überrascht an.
"Wie willst Du ihn dann finden?"
"Ich kenne seine Waffen. Und ich bin mir sicher, dass dein Timotheus Leute wie ihn anzieht, wie das Licht die Motten."
Der skandalöse Vorwurf, der in seinem Tonfall mitschwang, bedurfte einer deutlichen Gegendarstellung.
"Er ist nicht 'mein' Timotheus." Zumindest das hatte sie klarstellen müssen. "Und mit 'Leuten wie ihn' meinst Du Jäger?"
Auch ihm schien es wichtig, etwas zu korrigieren. "Mörder!", blaffte er. "Mörder mit einem Fabel dafür, Andersartige umzubringen... Werwölfe, Vampire... Das sind keine Jäger. Jäger haben einen Ehrenkodex!"
"Bitte entschuldige meine Verwirrung aber deine Abstammung ist mehr, als nur eine Rolle, wenn ich das richtig verstanden habe?"
Ettark schnaufte verächtlich.
"Meine Abstammung... meine Abstammung habe ich vor über zehn Jahren hinter mir gelassen. Und kein Bergiger hätte jemals Unschuldige abgeschlachtet. Keiner hätte Sprenngstoff benutzt, um ganze Familien auszurotten!" Er schüttelte wieder den Kopf. "Ausserdem bin ich jetzt Wächter!"
Ophelia nickte wissend und endlich stellte sich das leise Gefühl ein, vielleicht doch eine gemeinsame Ebene finden zu können.
"Das sind wir beide."
Er klang sehr entschlossen, als er sie davon in Kenntnis setzte, wie er weiter verfahren wolle.
"Ich werde diese Schweinehunde fertig machen und anschließend dem Patrizier überlassen. Der kümmert sich sicher gerne um sie." Seine Stimme wurde leiser aber nicht leise genug, um das, was ihn so schonungslos antrieb, vor ihren Ohren zu verbergen. "Was allerdings Miriels Mörder angeht..."
Sie horchte auf.
"Miriels Mörder? Sprichst Du von deiner damaligen Kollegin?"
Ettark biss die Zähne zusammen, als er merkte, dass er zu laut gedacht hatte.
"Vielleicht solltest du mir jetzt mein Zimmer zeigen", versuchte er sie von dem aufgeschnappten Informationsfetzen abzulenken. "Sonst vermisst uns Barrik noch."
Ophelia schrak auf.
"Oh ja, Du hast Recht." Sie stand schnell auf... und zögerte. Sie blickte zu dem Dolch in seiner Hand und streckte ihm ihre offen hin.
"Den bräuchte ich wieder."
Er wirbelte den Dolch in seiner Hand herum und reichte ihn ihr mit dem Griff zu vorderst. Sie nahm ihr Eigentum vorsichtig entgegen, hob den Rocksaum an und klemmte ihn mit dem Ellenbogen fest, um sich zu der so freigelegten Dolchscheide an ihrem Bein vorbeugen zu können und dort den Dolch neben dem ebenfalls angegürteten Pflock zu befestigen.
Sie ließ den Rocksaum an Ort und Stelle fallen und strich sich das Kleid im Aufrichten wieder glatt. Sie konterte Ettarks Blick fast herausfordernd.
"Nun gut. Ich sollte Dir lieber wirklich dein Zimmer zeigen. Und Du solltest mir die Geschichte erzählen, die zu dem toten Vampir gehören soll. Dann bleibst Du vorerst?"
Ettark öffnete die Tür und blickt sich vorsichtig auf dem Flur davor um, bevor er zurück trat, um ihr den Vortritt zu überlassen. Er grinste zur Antwort überheblich.
"Was glaubst du?"
Ophelia seufzte leise. Sie entschied sich und legte ihre Handfläche gegen die Tür, um diese doch noch einmal vor ihm zu schließen.
"Dann muss ich Dir etwas sagen. Meine Planung sieht vor, dass ich meinen Einsatz hier morgen Vormittag beende. Ich habe alle nötigen Beweise gefunden. Was bedeutet, dass ich das Haus zu einem günstigen Zeitpunkt heimlich verlassen muss."
Ettark verzog den Mund.
"Dann hoffen wir mal, dass ich die gesuchte Person bis dahin identifiziert habe. Aber mehr als drei Tage hätten wir so oder so nicht."
Er grinste hinterhältig und Ophelia merkte auf.
"Warum drei Tage?"
"Ich habe verläßliche Informationen, dass dann hier ein ziemliches Feuerwerk losbrechen wird, wenn ich es nicht verhindere." Sein Grinsen wurde dreckiger und sie spürte eine Gänsehaut an ihrem Arm emporkrauchen.
"Feuerwerk?"
"Du erinnerst dich an die Anschlagpläne auf den Clan?"
Sie nickte. Selbstverständlich. Wie hätte sie diese auch vergessen sollen?
"Warum? Was haben die mit unserer Zeitplanung zu tun?"
"Diese Pläne könnten sich demnächst zu einem echten Boomerang für Barrik und sein Gesocks wandeln. Die Frage ist nur, ob ich es diesmal auch rechtzeitig schaffe, das zu verhindern."
Er schien sich ehrlich auf das Kommende zu freuen.
Ophelia suchte nach dem fehlenden Puzzleteil in seinen Informationen, damit diese Sinn ergeben würden.
"Ich habe in den Zeitungen keinen Hinweis darauf finden können, dass ihr Plan gelungen wäre, weswegen ich davon ausgegangen bin, dass Du die FROG rechtzeitig warnen konntest. Aber was hat ein Feuerw... nein! Nicht wirklich, oder? Sie hatten Sprengstoff dafür eingeplant gehabt?"
Ettark grinste nun offen.
"Und Du bist... wie konntest Du dich dort dazwischen klinken?" Und dann rutschten all die vielen Teile wie von selbst an ihre Plätze und sie konnte das Gesamtbild erkennen. "Lass mich raten: Breguyar weiß nichts davon, dass Du hier ermittelst, richtig? Du arbeitest auf eigene Faust, um Miriels Mörder zu finden? Ohne zu wissen, wen Du suchst?"
Seine gute Laune schien sich mit einem Schlag zu verflüchtigen und ohne ein weiteres Wort wandte er sich von ihr ab und öffnete erneut die Tür. Dieses Mal jedoch trat er sofort hinaus.
Ophelia lächelte hinter seinem Rücken.
"Ettark?"
Der Angesprochene drehte sich mit ernstem Blick zu ihr um.
Die Ermittlerin sah ihn mit einem kleinen Lächeln an, ohne das darin verborgene Mitgefühl oder das mutwillige Funkeln ganz verbergen zu können.
"Weißt Du... die Chancen stehen vielleicht gar nicht so schlecht, die Person zu finden." Sie überwand ihr Zögern und erklärte ihm: "Ich arbeite im Grunde ebenfalls auf eigene Faust. Und ich habe mein Ziel gefunden, obwohl ich erst genauso im Dunkeln tappte wie Du."
Sie schloss schnell die Tür hinter sich und eilte an ihm vorbei.
Ettark folgte ihr schweigend.
Stattdessen öffnete sie eine der Türen nur wenige Meter zuvor und deutete ihm mit einem Knicks an, dass dies für die Dauer seines Aufenthalts sein Zimmer wäre. Sie wurde wieder ernster, während sie ihn dabei beobachtete, wie er sich kurz umsah, seinen zerschlitzten Mantel mitsamt der Waffe auf dem Bett ablegte und sich schnell an der kleinen Waschkommode mit kaltem Wasser das Gesicht wusch. Schließlich gestand sie ihm leise:
"Ich mache das, um Rogi zu rächen... und Du hattest damit Recht, dass Breguyar alles andere als erfreut darüber war. In Anbetracht 'meines Zustandes'!"
Ettark musterte sie aufmerksam. Ein unerwarteter Ausdruck legte sich über seine Züge, beinahe als wenn er lächeln würde.
Sie seufzt leise.
"Und wenn wir schon mal dabei sind... um des Vertrauens Willen... Ich habe ihn vor vollendete Tatsachen gestellt. Er weiß zwar von dem, was ich hier tue. Aber er hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass ich seinetwegen dieses Mal im Einsatz verrecken könne, falls etwas schief ginge."
Ettark blickte sie weiter an, griff dabei aber nach dem bereit liegenden Handtuch und trocknete sich gründlich ab. "Nun, dann ist es wohl an uns, das zu verhindern." Er grinste.
Sie fühlte fast körperlich, wie eine zentnerschwere Last von ihrem Herzen fiel.
'Vielleicht... vielleicht können wir doch zusammenarbeiten?'
Die leise Stimme in ihrem Sinn seufzte ergeben.
'Du willst ausgerechnet mit einer Made wie ihm zusammenarbeiten? Deine Ansprüche an deine Mitarbeiter sind deutlich zu niedrig angesetzt. Wenn mich jemand bedrohen würde, dann könnte er sich sicher sein, dass er niemals wieder eine zweite Gelegenheit dazu eingeräumt bekommen würde. Du hingegen... was für ein elendes Schauspiel! Zumindest hat der Übertragungsdruck etwas nachgelassen. Ich werde meine kostbare Energie dann wohl lieber wieder darauf vergeuden, als einziger von uns beiden zumindest an meiner Seite der Gedankenbarriere gegen deren Löcher anzugehen.'
Ophelia atmete erleichtert auf.
Der Kontakter sagte mit grimmigem Blick:
"Ich schulde HIRN schon zwei Leben. Das reicht." Dann hellte sich sein Gesicht jedoch wieder auf. "Es wird Zeit, die Schulden zurückzuzahlen."
Ettark strich sich sein Hemd glatt und entschied, dass er damit wieder salontauglich sei. Er trat vom Bett weg... nur um mit gerunzelter Stirn in der Bewegung innezuhalten und sich doch noch einmal umzudrehen. Schnell griff er nach dem abgelegten Mantel und wühlte sich durch dessen Innentaschen. Deren Inhalt wechselte kurzerhand in seine Hosentaschen.
Ein flacher Gegenstand aus angelaufenem Metall glomm dabei in seiner Hand auf: seine Wachemarke!
Ophelia hielt geschockt den Atem an.
'Das ist selbstmörderisch! Wie kann er etwas so Verräterisches bei sich tragen? Wenn Alec sie gefunden hätte... und jetzt will er sie inmitten eine Horde von mordlüsternden Jägern in der Hosentasche mit sich herumtragen?'
Sie räusperte sich, um den Kloß im Hals zu vertreiben.
Er strich sich noch einmal die Kleidung glatt und trat dann auf sie zu. Äußerst galant bot er ihr mit einem draufgängerischen Schmunzeln den Arm.
Ophelia schaute überrascht zu ihm auf.
Spott funkelte in seinen Augen.
"Ich bin ein edler Sproß aus herrschaftlichem Hause, schon vergessen?"
Sie errötete ertappt. Dann hakte sie sich vorsichtig bei ihm unter.
'Wie anders sich die gleiche Berührung plötzlich anfühlt!'
"Und welche Geschichte hast Du mir nun erzählt?"
Er setzte sein arrogantes Lächeln auf, als sie sich dem Weg zurück zum Festsaal zuwandten.
"Irgendwas Heldenhaftes und Ruhmreiches vermutlich."

~~~ Wie es die Götter vorherbestimmt haben ~~~


Als sie sich der großen Freitreppe näherten und das muntere Stimmengewirr lauter wurde, atmete sie tief ein. Sie sammelte sich und ließ Theridaes strenge Mimik über ihren eigenen Zügen aufscheinen. Für einen Moment meinte sie, Ettarks amüsierten Blick von der Seite zu spüren. Doch sie konzentrierte sich stattdessen auf den Anblick, der sich eine Etage tiefer bot. Ohne ihn anzusehen murmelte sie:
"Es wird uns niemand vermisst haben. Hannibank erzählt seine unerschöpflichen Überwald-Anekdoten und sie sind schon zu den härteren Drinks übergegangen. Wir können uns unauffällig dazu gesellen."
Der Informantenkontakter gab einen abgrundtiefen Seufzer von sich, ehe er sich widerwillig in Bewegung setzte. Er geleitete sie zu der größten Gruppe, in deren Zentrum das Abziehbild eines klischeebehafteten Jägers mit großen Gesten erzählte.
"...Und wohlgemerkt! Hätte ich damals nicht so unglaublich schnell reagiert, stände ich jetzt als toter Mann vor euch!"[1]
Ettark neben ihr schnaubte verächtlich.
Sie standen in der letzten Reihe des Zuschauerpulks, so dass ihr Blick von diversen Rücken blockiert wurde.
In normalen Häusern wurden Waffen - so diese überhaupt gestattet waren - normalerweise an der Tür beim Butler abgegeben, der sie für die Dauer des Aufenhaltes im dafür vorgesehenen Waffenschrank wegsperrte. Nicht so in Timotheus' Haushalt. Seine Gäste gehörten zumeist zu der Sorte Mensch, die es sich wortwörtlich nicht nehmen ließen, zu jeder Zeit auf die eine oder andere kleine Untoten-Invasion vorbereitet zu sein. So war es kein Wunder, dass anstelle von Manschettenknöpfen oder Krawattennadeln die metallenen Scharniere und Beschläge unterschiedlichster Waffen aufblinkten, wahlweise über bloßen Schnürhemden und gegürteten Lederwamsen getragen oder unter aufgeknöpften Jacketts. Sie hatte sich in den letzten Tagen erstaunlich schnell an diese Eigenheit seines Hausstandes gewöhnt. Nun jedoch fragte sie sich unwillkürlich, nach welcher Art von Waffe ihr Kollege Ausschau hielt.
In eben diesem Moment stockte Ettark in seinen Bewegungen. Seine Haltung wurde reglos. Sie konnte spüren, wie diese unnatürliche Ruhe wieder von ihm Besitz ergriff, diese spannungsgeladene Gelassenheit, die sie eben erst fürchtengelernt hatte. Sie sah unbehaglich zu ihm auf, doch sein Blick galt gar nicht dem Kreis der Zuhörer.
Ein bärtiger Mann mit sonnengebräunter Haut passierte kaum fünf Meter von ihnen entfernt die Gruppe. Sein langer Staubmantel wirkte fleckig und streifte beim weiten Ausschreiten das Parkett. Er trug einen breitkrempigen Schlapphut, ein gebauschtes Halstuch und zweckmäßige, hohe Schaftstiefel. Unter dem geöffneten Mantel trug er quer über seine Brust gespannt einen breiten Patronengurt. Von den dort aufgereihten Bolzen waren oberhalb Befiederungen und unterhalb metallene Spitzen zu erkennen, welche ungewöhnlich lang und im Licht der Kerzen matt wirkten - eindeutig Spezialanfertigungen! Der Mann zog in großer Geste seinen Hut und hielt lächelnd auf Timotheus zu, welcher ihn schon von Weitem mit einem zufrieden erhobenen Glas begrüßte.
Ophelia sah kurz zu den dunklen Schemen, die an der Eingangstür des Saales auf Bela trafen. Offenbar hatte der Fremde einige grobschlächtige Begleiter mitgebracht, denen der Zugang zum Spielplatz verwehrt wurde. Das Ganze ging erstaunlich zurückhaltend von Statten.
Ettark wollte dem Mann instinktiv folgen und sie hatte Mühe, ihre schmale Hand an seinem Arm fest genug um diesen zu schließen.
Der Kollege schien fast vergessen zu haben, wo er sich befand. Ihr fiel erst jetzt auf, dass sie für angeblich Fremde verräterisch dicht beieinander standen. Und seinem Gesichtsausdruck war deutlich anzusehen, dass er sie mit vertrautem Selbstverständnis anfahren wollte. Jeder zufällige Beobachter musste davon ausgehen, dass sie sich an diesem Abend nicht zum ersten Mal begegnet waren.
Sie trat möglichst gelassen einen kleinen Schritt von ihm weg, lächelte unverbindlich und fragte flüsternd:
"Ist er das?"
Ettark verstand. Mit einem hektischen Blick in die Runde zwang er sich zu einem ebenso falschen Lächeln, was bei ihm allerdings mehr in einem Zähnefletschen resultierte. Sein Blick wanderte ungeduldig zu den beiden Männern die, in ein Gespräch vertieft, zu den Buffettischen schlenderten. Der Bärtige sprach ohne Unterlass, während Timotheus nachdenklich das Angebot studierte und ab und an zustimmend nickte.
Schließlich rang der Informantenkontakter sich doch noch widerwillig flüsternd und mit den Zähnen knirschend zu einer Antwort durch.
"Da kannst Du Gift drauf nehmen. Diese Drecksbolzen sind Spezialanfertigungen und hundertprozentig unverwechselbar. Der Wichser gehört mir!"
Sie wandte sich derjenigen Tischephallanx zu, die auf der anderen Seite des Saales aufgebaut worden war, und zog ihn möglichst unauffällig mit sich.
"Was soll das, verdammt? Ich muss genau in die..."
"Nein, musst Du nicht. Du musst tief durchatmen und wieder zu Sinnen kommen!"
"Was gibt es denn da zu..."
"Schschhhhh! Du wirst lauter. Nicht!" Sie dirigierte ihn mit der untergehakten Hand bis dicht vor den Tisch und tat dann leicht vorgebeugt so, als wenn sie sich nicht zwischen dem Champagner oder dem Weißwein entscheiden könne. Sie warf ihm einen kurzen Blick von der Seite zu. "Du denkst noch an das große Ganze? Daran, an welchem Ziel ich hier arbeite?"
Der Bergiger knurrte leise und griff mit schwungvollem Frust nach einem leeren Becherchen aus dünnwandigem Metall.
Einer der bereitstehenden Bediensteten beeilte sich, es ihm wunschgemäß zu füllen - und nachdem Ettark den Inhalt in einem Zug gekippt hatte, es ebenso akkurat wieder nachzufüllen. Erst als sich der Lakai wieder an die Seite der langen Tafel zurückgezogen hatte, brummte Ettark düster:
"Keine Sorge, Ligand, Du wirst es schon nicht dazu kommen lassen, dass ich das vergessen könnte."
Seine Augen wanderten allerdings immer wieder zu den beiden Sprechenden.
Ophelia seufzte leise, ehe auch sie einen vorsichtigen Blick riskierte.
Die zwei Männer waren inzwischen gänzlich in ihr Gespräch vertieft. Der Fremde redete immer weiter auf Timotheus ein, wobei er sehr selbstzufrieden wirkte. Ihr entging nicht, dass er sich in unregelmäßigen Abständen hektisch umsah. Seine spontanen Kontrollblicke huschten so oberflächlich über die Gesichter der Umstehenden, dass er vermutlich nicht einmal bemerkt hätte, wenn jemand in aller Seelenruhe mit einer gespannten Armbrust auf ihn gezielt hätte. Er überantwortete seine Ängste offenbar schon seit Längerem den bezahlten Begleitern und fühlte sich aus reiner Gewohnheit unwohl, wenn diese ihn nicht wie sonst umringten.
"Ich habe ihn noch nie hier gesehen. Es scheint, als wenn sie sich gut kennen..." Eine Information tauchte ungefragt in ihrem Sinn auf und sie blickte Ettark überrascht an. Sie flüsterte, selbst für ihn kaum höhrbar. "Moment! Miriel war doch aber... warum sollte sie von einem Jäger umgebracht worden..."
Ettark schwieg, als wenn er sie nicht gehöhrt hätte. Doch seine Augen wurden schmaler und seine Wangenmuskeln mahlten unter der Haut. Bevor sie weiter nachfragen konnte, schüttelte er ihre Hand von seinem Arm ab, stellte das Becherchen mit Nachdruck ab und ließ sie mit einem angedeuteten Diener am Tisch stehen. Laut sagte er:
"Bitte entschuldige! Aber die Gelegenheit, Kollegen zu treffen und mich umzuhören, was es Neues gibt, die bietet sich nicht so oft. Vielleicht ergibt sich im Laufe des Abends noch eine Gelegenheit, unser Gespräch fortzusetzen. Es war mir auf jeden Fall eine Ehre, dich kennenzulernen."
Sie warf ihm einen warnenden Blick zu.
"Herr von Bergigen, die Ehre war ganz auf meiner Seite. Der Abend verspricht, nicht allzu aufregend zu werden. Ich bin also davon überzeugt, dass wir unser Gespräch wieder aufgreifen können werden."
Er verzog seine Mundwinkel zu diesem typisch arroganten Grinsen, was ihr allmählich auf die Nerven zu gehen begann. Dann schlenderte er, die Hände locker hinter dem Rücken zusammengelegt, zu den anderen Tischen hinüber, als wenn er dort die Auswahl prüfen wolle.
'Er hat garantiert nicht einmal einen Plan. Er scheint nie irgendwas über den nächsten Schritt hinaus zu planen.' Sie wandte sich den Getränken hinter ihr zu und griff nach einem der Champagnergläser. 'Es ist bestimmt schon nach zwei Uhr in der Frühe. Normalerweise würde ich mich in den nächsten Minuten allmählich zurückziehen. Aber solange er hier derart orientierungslos herumstreunt, bleibe ich zur Sicherheit wohl lieber in Reichweite. Nun denn... das wird eine lange Nacht werden. Dann sollte ich sie auch bestmöglich nutzen.'
Ophelia steuerte eine Gruppe an und die hartgesottenen Männer dort richteten schnell ihre Krägen und Waffen.
"Meine Herren, ich sehe, Ihr seid auch heute Abend wieder dazugestoßen. Gibt es denn Erfreuliches zu berichten? Ich kann es gar nicht abwarten, von Euren Heldentaten zu hören!"
Die Männer warfen sich in die Brust und es war klar ersichtlich, dass seit der letzten Zusammenkunft dieser Art unendlich viel Glorreiches geschehen sein musste und sie sich kaum einigen können würden, wer ihr zuerst von seinen Abenteuern berichten dürfte.
Die Verdeckte Ermittlerin gestattete ihrer Rolle ein belustigtes Lachen und ermunterte die Herren damit noch. Während diese sich gegenseitig mit den scheußlichsten Anekdoten zu übertrumpfen begannen, bei denen sie das Lächeln nur mit Mühe aufrecht erhalten konnte, behielt sie jedoch vor allem den Kollegen im Blick.
Und ihre Befürchtungen bewahrheiteten sich.
'Er verhält sich nicht unauffällig genug hierfür. Wenn er so weiter macht, werden Timotheus und der Fremde ihn bemerken. Oder Alec wird eingreifen.' Ihr Blick huschte in größeren Abständen immer wieder zu diesem an der Tür des Saales und sie konnte regelrecht beobachten, wie die feinen Instinkte des Sicherheitsmannes sich allmählich auf den Bergiger einschossen. 'Oh, Ettark... Dies ist keines deiner Wirtshäuser, in denen die Zielpersonen durch den Alkoholausschank unvorsichtig werden. Diese Männer vertragen ebenso viel wie Du und sie wissen, woran man jemanden erkennt, der ihnen ausweicht und eigene Ziele verfolgt.' Der Kontakter hielt sich stets in der Nähe der Diskuttierenden auf. Und er nutzte keine der Gelegenheiten, mit den anderen Jägern ins Gespräch zu kommen. 'Der Buffettisch wird nicht ewig als Ausrede herhalten können. Du darfst ihnen nicht hinterherlaufen. Du müsstest dich selber interessant genug geben, damit sie im Gegenteil zu Dir kommen...'
Timotheus sprach nun seinerseits auf den Fremden ein, während dieser länger als bisher schwieg und nur zuhörte. Der Hausherr deutete im Gespräch mit einer Hand zu der Treppe hinauf und machte einige Schritte in diese Richtung, doch obgleich der Fremde ihm folgte, schüttelte dieser leicht den Kopf und deutete argumentierend mit seinem ausladenden Hut zum ebenerdigen Zugang der Halle.
Und Ettark folgte ihnen dichtauf. Dass er dabei in eine andere Richtung blickte, änderte nichts an dem Gesamteindruck.
Ophelia blickte den Jäger, der ihr soeben enthusiastisch von einem unappetitlichen Experiment berichtete, betroffen an, bevor sie schnell nach Alecs Reaktion Ausschau hielt. Und wirklich hatte der Leibwächter sich mit gerunzelter Stirn vom Türrahmen abgestoßen. Sie passte schnell eine Pause in den Schilderungen des Erzählers ab und hielt sich dann die Hand mit dem Glas vor den Magen.
"Oh! Oh, das ist mir jetzt doch zu... bitte entschuldige, Walter, aber irgendwie..."
Die anderen Herren im Kreis warfen Walter tödliche Blicke zu, als sie sich mit verkrampftem Lächeln entschuldigte. "Es tut mir leid, dass ich heute so empfindlich bin. Aber irgendwie... ich glaube, ich möchte auf andere Gedanken kommen. Bitte nimm das nicht persönlich! Ich muss einmal durchatmen. Da passt es ganz gut, dass mir etwas einfällt, was ich Herrn von Bergigen vorhin noch hätte fragen sollen. Ihr entschuldigt mich doch hoffentlich, meine Herren?"
Sie taten es, wenn auch ungern.
Und die Wächterin machte sich gemessenen Schrittes auf den Weg durch den Saal, darauf bedacht, vor Alec bei ihm anzukommen. Sie erreichte Ettark keine Sekunde zu früh und bemerkte aus dem Augenwinkel, wie der misstrauische Sicherheitsbeauftragte sich wieder zurückzog.
"Herr von Bergigen, mir ist eine Frage zu deiner beeindruckenden Erzählung eingefallen, die mir gar keine Ruhe mehr lässt. Ich hoffe, ich bin nicht zu aufdringlich, wenn ich nochmal nachfrage?"
"Na sowas, die Frau Ligand wieder. Aber nicht doch, meine Werteste, immer raus mit den Fragen!"
Wenn er gekonnt hätte, wie er wollte... das feurige Glitzern in seinen Augen kündete von einer Menge unschöner Dinge mit denen er sie gerade jetzt gerne bekanntgemacht hätte. Als Ausgleich für ihre Intervention.
"Ähm... das ist überaus großzügig. Mich beschäftigt die Frage... also, welche Waffe bevorzugst Du bei der Jagd?"
Ihre Hoffnung erfüllte sich, denn er wirkte irritiert genug, um den Hausherrn kurzzeitig zu vergessen und sich gänzlich auf sie zu konzentrieren. Das würde Alec erst einmal wieder beruhigen.
Seine Augen verengten sich misstrauisch.
'Nicht schon wieder! Er muss doch nicht jedes Mal an meinen Motiven zweifeln, wenn ich mit ihm interagiere, nur weil er den Zusammenhang nicht überblickt!'
"Meine Lieblingswaffe? Auf der Jagd?"
Sie nickte scheinbar arglos.
"Ja, die Frage habe ich auch vielen deiner Kollegen schon gestellt und ganz unterschiedliche Antworten bekommen. Ich finde das ungemein spannend."
Ettark beugte sich blitzschnell zu ihr hinab, was sie fast dazu verleitet hätte, zurückzuzucken. Er zischte ihr ins Ohr:
"Sag mal hast Du einen an der Klatsche? Willst Du mich verarschen?"
Sie beeilte sich, mit albernem Kichern zu Boden zu blicken. Um das Erröten brauchte sie sich nicht zu bemühen.
Der Bergiger riss sich sichtlich zusammen und für einen Moment ertappte sie sich bei dem Gedanken, wie oft er das während seines Aufenthaltes in Timotheus' Haus noch hinbekommen würde, ehe er alles verderben würde. Er setzte einen betont arroganten Blick auf. Dann, nach einigen Sekunden Bedenkzeit, klopfte er auf den Schaft an seiner Seite.
"Mein Schwert hat mich noch nie im Stich gelassen. Außerdem halte ich es für feige, irgendwelche Apparate oder sonstigen technischen Scheiß für die Jagd zu benutzen. Wenn ich kämpfe, dann so wie es die Götter vorherbestimmt haben: blanke Klinge gegen Zähne und Krallen!"
Sie spürte, wie ihr die Gänsehaut an den Armen emporkroch. Irgendwie hatte seine Antwort ihr die Sprache verschlagen.
Er grinste hämisch. Sein Blick wanderte wieder zu den Tischen in seinem Rücken hinüber. Und irrte dort umher. Er runzelte die Stirn.
Auch Ophelia hielt nach Timotheus und dessen unbekanntem Gast Ausschau.
Ettarks Augen suchten in plötzlicher Hast erst die Seiten des Raumes ab und dann die mittig verteilten Grüppchen.
Sie blickte instinktiv zu den geschlossenen Türen in Richtung des vorderen Trakts. Die wartenden Männer waren ebenso verschwunden, wie der Fremde. Timotheus hingegen schlenderte, mit Alec an seiner Seite, soeben zu einer anderen Ansammlung Geladener.
Ettarks Aufmerksamkeit richtete sich wie die blaue Stichflamme einer unkontrollierten Drachenreaktion auf sie und es kostete sie tatsächlich Nerven, dem standzuhalten. Er sprach so leise, dass ihn ganz sicher niemand außer ihr hören konnte und er schaffte es dabei sogar, so etwas wie ein gefrorenes Lächeln auf seine Züge zu bannen. Doch seine Stimme war messerscharf.
"Vielen Dank, Madame! Ich beginne zu bedauern, Dich dumm… Madame nicht nachhaltiger schlafen geschickt zu haben, als sich mir die Gelegenheit dazu bot. Vielleicht gestattest Du mir wenigstens den klitzekleinen Freiraum, mein eigenes Zimmer ohne deine dreimal verfluchte Gegenwart aufzusuchen und die Türen zu verbarrikadieren? Denn der Abend ist ja wohl gelaufen! Und ich rate Dir, mir lieber nicht zu folgen!"
"Ich..."
Er ließ sie einfach stehen.
Sie sah ihm enttäuscht nach und dachte den Gedanken still für sich zu Ende.
'...wollte nur Alec von deiner Spur abbringen...' Sie seufzte lautlos. 'Prima! Das wird er mir noch längere Zeit vorhalten. Und zu allem Überfluss kann ich den Empfang nicht sofort nach ihm verlassen. Ich werde noch etwas bleiben und die Prahlereien ertragen müssen.'
Sie ließ sich präventiv ein neues Glas mit der perlenden Funkelflüssigkeit reichen.

~~~ Der ungeduldige Prinz ~~~


Theridae hielt nichts von Langschläfern. Etwas, was ihre Rolle mit Ophelia gemeinsam hatte. Dem zum Trotze war es ihr an diesem Morgen unsagbar schwer gefallen, nach nur wenigen Stunden Schlaf rechtzeitig genug aufzustehen, um sich von Jennie der vollen Prozedur des Waschens, Ankleidens und Frisierens unterziehen zu lassen. Die warme Schokolade, an der sie derweil nippen durfte, machte es zwar erträglicher, sie ertappte sich jedoch immer wieder dabei, wie ihr die Augen zufielen. Inzwischen ging es einigermaßen. Auf dem Weg in den Frühstückssalon gestand sie sich ein, dass sie wenigstens das Glück hatte, Alkohol gut zu vertragen. Es hätte sonst alles viel schlimmer sein können.
'Obwohl...' Sie musste daran denken, dass Ettark als unberechenbare Variable dazugekommen war und sie ihm vermutlich gleich wieder begegnen würde.
Der Butler hielt ihr die Tür auf, geleitete sie zum Tisch und schob ihr den Stuhl heran, als sie sich setzte.
"Guten Morgen, Timotheus! Guten Morgen, Herr von Bergigen!"
"Guten Morgen, meine Liebe!"
"Frau Ligand..."
Timotheus setzte sich wieder, nachdem er der Höflichkeit halber bei ihrem Eintreten aufgestanden war. Er breitete seine Serviette über dem Schoß aus und wartete darauf, dass auch Ettark sich wieder niedergelassen hätte, ehe er den unterbrochenen Gesprächsfaden aufnahm.
Der Kollege warf ihr nur einen kühlen Blick über die reich gedeckte Tafel zu, bevor er sie weitestgehend ignorierte. Seine Aufmerksamkeit bündelte sich auf ihren Gastgeber.
"Also wäre eine dementsprechende Liste praktisch. Falls es keine solche Liste gibt, wären schon die Namen der Gäste der gestrigen Party hilfreich."
'Er hat keine Zeit vergeudet. Dumm nur, dass Timotheus es gar nicht leiden kann, wenn man ihn drängt.'
Ophelia nahm sich einen gerösteten Toast aus dem Metallgestell und etwas Marmelade. Neben ihr wurde der Tee eingeschenkt.
Timotheus rührte gelassen in seiner Kaffeetasse, streifte den Löffel über deren Rand und legte ihn auf dem Unterteller ab. Er griff locker nach der Tasse, ließ sie aber noch stehen, während er sich etwas zurücklehnte und den Bergiger musterte.
"Natürlich arbeiten wir mithilfe gewisser Strukturen. Und es ehrt Dich, junger Mann, dass Du dich mehr einbringen möchtest, als Dir das bisher möglich ist."
"Aber?"
Ophelia hob die eigene Tasse und beobachtete die beiden so unterschiedlichen Männer schweigend.
"Ja, es gibt ein Aber. Ich habe in den letzten Jahren erfahren müssen, dass gerade viele der enthusiastischen Neuen nicht die nötige Umsicht dafür hatten, mit solchen Informationen umzugehen. Das sollen keine Bedenken gegen Dich im Speziellen sein. Es handelt sich lediglich um einen Erfahrungswert, aus welchem ich mir ein Grundprinzip abgeleitet habe. Deinem Auftauchen gestern lag der Zufall zugrunde, ansonsten hättest Du zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht einmal den Zugang zu den dort Anwesenden erfahren. Ich bitte Dich also um Geduld. Und um Verständnis. Wenn Du etwas länger dabei bist, werden sich Dir neue Möglichkeiten eröffnen, da bin ich mir in deinem Fall ganz sicher."
Ettark runzelte die Stirn und blickte finster auf seine Tasse hinab.
Sie nahm einen Schluck von dem aromatischen Tee.
'Er könnte niemals über längere Zeit anderkaffer in einen Haushalt eingeschleust werden. Es ist bestimmt sehr anstrengend für Rea als Vorgesetzte mit ihm zusammenzuarbeiten. Sie kann sich vermutlich nicht darauf verlassen, dass er ihre Anweisungen getreulich umsetzt. Nein, wirklich! Ich würde nicht mit ihr tauschen wollen.'
Man hätte vieles über Timotheus Van Barrik behaupten können aber seinen Pflichten als Gastgeber kam er in vorbildlicher Weise nach. Ettarks unzufriedenes Brüten rückte in den Hintergrund, als Timotheus sich ihr freundlich zuwandte.
"Theri, wie sehen deine heutigen Pläne aus? Benötigst Du etwas?"
Sie tat nachdenklich.
"Ich wollte ins Zentrum, vielleicht zum Hier-Gibts-Alles-Platz, ein paar Besorgungen machen. Dann zur Post, ein Paket an meine Familie aufgeben. Ich hab mich lange nicht gemeldet und... naja... vielleicht, wenn ich ihnen Gewürze und Tabak und solche Dinge schicke..." Sie blickte schnell betrübt in die Tasse, ehe sie weitersprach. "Ins Café wollte ich auch noch. Wenn das in Ordnung geht, würde ich mir die Kutsche ausleihen. Ich brauche sie auch nicht lange. Ich kann sie dann zurückschicken. Gerade im Café werde ich bestimmt etwas länger bleiben."
Innerlich schlug ihr das Herz sozusagen bis zum Halse, doch sie wusste, dass man ihr nach außen hin nichts von der Aufregung ansehen würde.
Ettark sah zu ihr auf und sie erwiderte seinen Blick ungerührt.
Timotheus nickte.
"Eine schöne Idee. Du kannst die Kutsche gerne nehmen. Sobald die Mahlzeit vorbei ist, lasse ich im Stall Bescheidsagen, dass sie... ", er sah sie fragend an, "...gegen frühem Nachmittag?" Sie nickte dankbar. "Gut, dass sie die Pferde anspannen, sobald Du soweit bist." Er wandte sich Ettark zu. "In meinem Haus steht Gästen ein besonders ausgestatteter Trainingsraum zur Verfügung. Falls Du ihn nutzen möchtest, kannst Du einen meiner Mitarbeiter ansprechen, beispielsweise Alec, den Du ja bereits kennst. Er wird Dich dann dorthin führen."
Ettarks Interesse war geweckt. Die beiden unterhielten sich einige Minuten darüber und schnell war klar, dass er es kaum erwarten konnte, die Kellerhalle zu sehen. Timotheus fühlte sich geschmeichelt und griff nach der kleinen Handglocke neben seinem Teller. Der Butler trat herzu und kurz darauf verließ der Bergiger den Frühstücktisch.
Sie seufzte tonlos und nahm sich ein zweites Toast.
"Was bewegt Dich, Theri? Warum der Seufzer?"
Sie sah zu ihm auf und überlegte was sie darauf erwidern könnte, um das Gespräch in eine für sie günstige Richtung zu lenken.
"Ach, ich dachte nur gerade, dass Herr von Bergigen kein sehr geduldiger Mensch zu sein scheint. Ich meine... selbst ich, die ich aus der Provinz komme, weiß, dass man die Tafel nicht einfach so verlässt, solange sie noch nicht aufgehoben wurde. Schon gar nicht, weil man sich mit Sandsäcken herumschlagen will. Dabei ist er ja wohl so etwas wie ein Prinz, auch wenn es sein Reich und seine Linie jetzt nicht mehr gibt? Merkwürdige Vorstellung übrigens bei ihm. Irgenwie habe ich mir Prinzen immer anders vorgestellt. Weniger düster, mehr... naja... zugänglicher."
Van Barrik lachte leise.
"Männer wie er brauchen Bewegung, sonst tun sie ihrer Umwelt nicht besonders gut."
"Ja, vermutlich stimmt das. Männer wie er..." Sie nippte an dem Tee und fragte mit allergrößtem Selbstverständnis: "Dieser Mann, mit dem Du dich gestern so intensiv unterhalten hast... der mit dem ganzen Gefolge... ist der auch jemand Besonderes? Ich hatte ihn bisher noch nicht gesehen."
"Jemand Besonderes? Wie man es nimmt. Er hat Einfluss. Es schadet nicht, Kontakte zu haben, die bei Transporten über Wasser greifen. KeKil Schott Waldiger ist Zahlmeister an Bord der 'Unermüdlich'. Er dient dort unter Kapitän Hori Sironbloer. Er hat ein Gespür für Transaktionen, bei denen ihm häufig außergewöhnliche Artefakte... in die Hände fallen. Er kann sicherstellen, dass in einigen Gegenden zu bestimmten Zeiten keine Angriffe auf Schiffe stattfinden. Beispielsweise auf Schiffe, die Dinge für mich transportieren. Er hat sich, wenn es um das große Ganze ging, auch schon dafür eingesetzt, solche Dinge direkt für mich zu verschiffen. Ein Mann mit Auge für das Wesentliche. Geschickt an den Waffen. Und Jemand, der an seine guten Freunde denkt."
Timotheus' Lächeln ließ sie frösteln. In ihrem Hinterkopf tauchte der Begriff 'Pirat' auf, gemeinsam mit den alles andere als verklärten Bildern aus dem entsprechenden Artikel des Almanachs. Die so genannte 'Seeräuberromantik' existierte für sie seit dem Tage nicht mehr, als sie mit gerade einmal sieben Jahren auf dem Schreibstisch ihres Vaters dessen Notizen und die colorierten Zeichnungen eines Gerichtsschreibers gesehen hatte, der nicht schreiben, dafür aber umso lebhafter skizzieren konnte.
'Warum überrascht Dich das noch? Du hast die Bücher gesehen, die er führt. Er hat keinerlei Skrupel...'
Sie beeilte sich, möglichst neutral zu nicken.
"Das erklärt den Eindruck, den er bei mir hinterlassen hat. Immerhin scheint er wenigstens zu wissen, was er will. Hast Du eigentlich gestern noch mit Walter gesprochen?"
Er ging sofort auf den Themenwechsel ein und sie begann sich etwas zu entpannen.
"Nein, warum? Hatte er nach mir gefragt?
"Ich glaube er wollte es. Aber dann hat er es sich wohl doch nochmal überlegt. Vermutlich ging es nur wieder um die leidige Geschichte von letzter Woche..."
Das Gespräch dümpelte unverfänglicheren Themen entgegen, bis er sich von seinem Platz erhob.
Kurz darauf eilte sie in Richtung ihrer Räume, um alles soweit vorzubereiten, dass dies ihre letzten Stunden in Van Barriks Haus werden würden. Ihr Abschied, oder besser gesagt ihr Verschwinden, würde perfekt vonstatten gehen müssen, absolut unauffällig und überraschend. So klammheimlich wie das Verblassen des Tageslichts gegen Abend. Damit niemand ihren Weg zurückverfolgen könnte.
'Wenigstens habe ich für Ettark einen Namen erfahren können. Aber das Wichtigste jetzt... die Beweise sichern!'

~~~ Kuckuck ~~~


Der Butler des Riesenkastens hatte ihn so richtig mies von oben runter begafft. Eigentlich war er immer noch so dermaßen überdreht von der ganzen Scheiße, die eben gelaufen war, dass er am liebsten Jedem davon erzählt hätte, wie er mit seinen eigenen Händen... aber ne. Nich so! Wenn der dachte, der wär was Besseres, dann bitte! Konnte er sich sein Getue sonstwohin stecken und vor Neugier platzen.
Steffen konnts eigentlich sowieso egal sein.
Immerhin wollte er den Van Barrik damit beeindrucken, nich dessen Schuhputzer!
Isjaauchegal sah sich aufmerksam um, während er in einen großen Raum geführt wurde, in dem er warten sollte.
'Man, man, man... richtich protzich... So mit fetten Stoffgardinen mit Gebamsel dran und Blumen überall... ob die bei dem Tapetenmuster echt Gold an die Wände geschmiert ham?'
Der Butler sah ihn immer noch so eklig an.
"Ich werde Dich dann jetzt seiner Herrschaft melden, Herr Isjaauchegal. Es könnte einen Moment dauern, ehe seine Herrschaft umdisponieren kann. Bitte gedulde Dich derweil!"
'Bla, bla, bla... Du mir auch... troll Dich, Alter!' Er grinste höhnisch.
"Geht klar! Mach Dir nich ins Hemd, ich werd schon keinen der schniecken Aschenbecher mitgehn lassen. Bin ja schließlich einer von Euch, ne? Da will ich ihn ganz bestimmt nich verärgern."
Der Bedienstete drehte sich kommentarlos um.
Als er schon zur Tür raus war, merkte Steffen, wie aufgeregt er wirklich noch war und konnte sich nicht länger bremsen. Er stieß die Tür auf und rief hinterher: "Im Ernst! Wär schon prima, wenn er sich die Zeit nehmen würd. Hab extra den ganzen Weg von den Ebenen hierher gemacht und es is so richtich wichtich, dass er mir zuhört, verstehste? Nich nur wegen mir. Auch wegen ihn! Das wird ihn intressiern, was ich ihn zu sagen hab, kannste sicher sein!"
Der Butler machte sich nicht einmal die Mühe, sich umzudrehen.
Dafür blickte ihm aber ein großer, sehr kräftig gebauter Mann auf dessen Weg den Korridor entlang neugierig entgegen. Der Kerl hatte wohl gerade eine Trainingseinheit oder sowas absolviert. Sein Hemd hing locker im Hosenbund, die Verschlüsse der Ärmel und des Ausschnitts waren geöffnet und über seine Schultern hatte er sich ein weißes Handtuch gelegt, mit dessen einem Ende er sich soeben geistesabwesend über die verschwitzte Glatze strich.
'Kuhler Tühp! Das is bestimmt einer seiner Leibwächter. Von denen hab ich schon gehört. Knallharte Burschen. Der lässt sich garantiert nich nen Appel für nen Ei vormachn.'
Der kleine Gauner bemühte sich um eine lässige Haltung und tippte sich salutierend an die Schläfe.
"Is mir ne Ehre, Meister."
Der Mann blickte kurz hinter ihn, in das leere Zimmer. Er schien mit sich zu ringen, ob er auf das Angebot eingehen und das Gespräch mit dem Unbekannten aufgreifen oder kommentarlos seiner Wege ziehen sollte. Er entschied sich für Ersteres.
"Warts' de auf'n Cheff?"
Steffen hibbelte aufgeregt von einem Bein auf das andere, denn hier war die Gelegenheit schlechthin, mit seiner Tat vor einem aus dem inneren Zirkel zu protzen, vor einem, der das gebührend bewundern würde.
"Ja, Mann. Ich hab ihm was Abgefahrnes zu erzähln, da wird er Bauklötze staunen." Der Mann beobachtete ihn etwas zu aufmerksam für seinen Geschmack. Aber, klar, das musste hier schon so sein. War schließlich kein Kindergarten, der Verein. Da musste er sich selber halt auch mal zusammenreißen. Mit stolzgeschwellter Brust holte er tief Luft... und platzte dann doch damit heraus. "Krass Mann! Ich hab grad einen zu Pulver gemacht!"
Die Reaktion seines Gegenübers fiel absolut enttäuschend aus.
"Un' dafür komms'e hierher? Nur, um dem Boss sowat ufzutischen?"
Steffen stopfte sich die Hände verunsichert in die Hosentaschen und runzelte die Stirn.
"Äh... ne. Nich nur."
'Scheiße, was is das denn für einer? Der is so abgebrüht... den intressiert das nich die Bohne, dass ich mir für die Sache fast den Arsch hab aufreißen lassn, von dem Saftschlürfer...'
"Dat würd' ich dir auch net geraten haben, Pursche, der Chef sieht es garnit gerne, wenn man seine kostbare Zeit verschwendet!", sagte der athletische Kerl. "Un' ich auch net!" Der Leibwächter betrachtete ihn prüfend von Kopf bis Fuß und Steffen merkte, wie der Zorn in ihm aufstieg. So ein Blick... da folgte bei ihm regelrecht eine allergische Reaktion.
"Ey, Du brauchst gar nich so zu guckn, als wenn ich nix wert wär oder so, nur weil ich nich in sonem Schickimicki-Schuhkarton lebe! Ich steh für die gleichen Sachen ein, wie dein Boss, klar?""
Sein Gegenüber betrachtete ihn mit einem deutlich überheblichen Blick.
"Ich bin mir nich so sicher, ob er das auch so sehen würde. Zwischen Dir kleinem Fisch und ihm liegen Welten!"
"Dann sollte der sich verdammt nochma nen paar Brücken oder sowas besorgn, ehrlich ma! Ich werd dem nich den Laufburschn machn. Und beeiln sollte der sich auch, denn ich glaub ja nich, dass er nen Kuckuck in sein Nest brauchn kann."
Der kräftige Mann sah ihn intensiv an.
"Einen Kuckuck?"
Steffen erlaubte sich ein fieses Grinsen.
'Ach, gucke! Endlich isser ganz Ohr...'
"Ja, Kuckuck, falsche Schlange, Verräter, Spion... wie auch immer man das nennen will, ne?"
Der Leibwächter zog in einer gemächlichen Bewegung sein Handtuch von den Schultern, seine gesamte Haltung wirkte deutlich aufmerksamer.
"Ziemliche Anschuldigung, Kleener. Würd' mich wundern, wenn'e scho' ma hier reing'lassn wurdest. Woher willse also solche Infos habn?"
Jetzt konnte er selber mal so fies von oben runter gucken auf den Leibwächter. Also... wenigstens in übertragenem Sinne.
"Da hat wohl einer seine Hausaufgabn nich gemacht, was? Tja, das würds de jetzt gern wissen, nich?"

~~~ Gebrandmarkt ~~~


Ophelia lauschte angestrengt nach Geräuschen auf dem Gang vor dem Büro des Buchhalters.
'Nichts... sehr gut...'
Sie öffnete die Glastür des Aktenschranks mit dem kleinen Schlüssel, den sie in dem Geheimfach des Schreibtisches im selben Raum gefunden hatte. Die Menschen waren faul. Und sie liebten das Praktische. Tatsachen, die ihre Arbeit manchmal erleichterten.
Sie nahm den flachen Ledereinband heraus und ging zum Schreibtisch zurück, um ihn dort abzulegen, als sie auf dem Gang schnelle Schritte näherkommen hörte. Ihr Blick huschte instinktiv auf der Suche nach einem zugänglichen Versteck durch den kleinen Raum und sie drehte sich schwungvoll um. Die Glaskaraffe am Rand der Schreibfläche fiel mit einem lauten Schlag zu Boden und zerbarst in unzählige Scherben. Das Wasser aus ihr ergoss sich zu ihren Füßen und spritzte quer durch den Raum.
'Oh nein! Mein Arm... ich habe nicht bemerkt wie er...'
Die Tür flog auf und sie wirbelte ertappt herum, immer noch mit der verbotenen Sponsorenauflistung in der Hand.
Ihr Kollege stand im Rahmen, zu allem bereit. Er sah zu ihrer Beute und zu dem peinlichen Desaster zu ihren Füßen. Seine Brauen schoben sich grimmig zusammen.
So unzulänglich sie sich bei seinem abwertenden Blick auch fühlte, so froh war sie doch auch, dass er es war, der sie in diesem Moment entdeckt hatte, nicht einer der anderen Hausbewohner. Selbst wenn er hier ebenso wenig zu suchen hatte, wie sie.
Sie atmete erleichtert auf.
"Bei Annoia, hast Du mich erschreckt! Warum schleichst Du mir..."
Er brachte nicht die geringste Geduld auf, sondern ranzte sie unhöflich an.
"Sei still! Wir müssen hier raus, sofort! Du bist aufgeflogen und es würde mich wundern, wenn deine Freunde uns nicht jetzt schon auf den Fersen sind!"
Aufgeflogen! Ihre größte Angst hatte sich bewahrheitet - schon wieder! Dabei war sie vorsichtig gewesen wie nie zuvor, perfekt vorbereitet, so sorgsam!
Ettark fuhr sie ungeduldig an.
"Komm in die Puschen, Weib! Gibt es irgendwo einen Ausgang, den Barriks Schießhunde nicht überwachen?"
Sie stotterte verwirrt.
"Es... einen Geheimgang... im Keller, wenn ich das richtig mitbekommen habe. Timotheus hat ihn nur ein- oder zweimal mit Gästen genutzt, die nicht gesehen werden wollten..." Sie stockte. "Moment! Bis sie nach mir suchen? Was..."
Der Kollege schnaubte abfällig, als er sich bereits in dem sicheren Wissen umwandte, dass sie ihm schon folgen würde.
"Los geht's!"
Sie vertraute sich gedanken- und willenlos Ettarks Leitung an, so sehr hatten seine Worte sie aus dem Konzept gebracht. Gemeinsam liefen sie den Flur schweigend im Laufschritt ab. Bis sie die Treppen in das Untergeschoss erreichten.
'Aufgeflogen... all die Arbeit...'
Sie wollte soeben den Fuß auf die erste Stufe setzen, als sie erstarrte. Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, blickte unsicher zurück und kaute auf der Unterlippe.
Ettark bemerkte auf dem tiefer gelegenen Absatz das Fehlen ihrer Schritte hinter sich und drehte sich missgelaunt zu ihr um.
"Was? Wir haben keine Zeit mehr! Wenn Barriks Leute auch nur halb so gut sind, wie ich vermute, sind die uns in wenigen Minuten auf den Fersen"
Ophelia blickte erst zu ihm, dann in den Gang zurück. Sie gab sich einen Ruck und rannte stattdessen ins obere Stockwerk hinauf, zu ihren Räumen, während sie mit flatterndem Herzschlag flüsterte: "Ich kann die Beweise nicht hierlassen. Ich bin so nahe dran..."
Sein leises Fluchen schwand hinter ihr. Aber er würde schon klarkommen. Um ihn brauchte sie sich sicherlich keine Sorgen zu machen.
Das enge Kleid behinderte sie mehr, als ihr recht war, auch aufgrund seiner Länge. Sie konnte nur ungenügend den Saum zum Treppensteigen anheben, wenn sie mit der gleichen Hand das Büchlein festhielt. Sie vermisste das Armgeschirr, an das sie sich für die tägliche Arbeit in der Wache gewöhnt hatte. Es wäre so viel einfacher gewesen, das Heftlein dort zwischen Körper und Bindung zu stecken.
Sie erreichte ihre Räume unbehelligt, schloss schnell die Tür hinter sich und rannte ins Schlafgemach hinüber.
Der Platz unter dem Bett war gewiss nicht sonderlich originell ausgesucht gewesen, um die Bücher und Kladden zwischenzulagern. Aber da die Dienstmädchen ihr Tagewerk erledigt gehabt hatten und sie ohnehin gleich hätte gehen wollen, war er eine Notlösung gewesen.
Sie zog den Stapel hinter der herabhängenden Tagesdecke vor und sah sich hektisch um.
'Eine Tasche, einen Koffer... irgendwas?'
Der Stapel war zu sperrig und zu schwer für sie, um ihn auf dem Arm zu transportieren. Und wie hätte sie dies einhändig bewerkstelligen sollen, ohne ständig das eine oder andere Buch doch wieder hinunter zu werfen?
Ophelia lief zu dem Schrank im Badraum und zog aus diesem ein großes Badetuch heraus. Sie eilte zurück, breitete es neben dem Bett aus und schichtete die Bücher um. Dann bemühte sie sich umständlich darum, das Tuch zu verschließen, indem sie die Zipfel miteinander zu verknoten versuchte - unter Zuhilfenahme ihrer Zähne. Ihre hektischen Bemühungen scheiterten immer wieder. Währenddessen blickte sie auf und sah Ettark mit verschränkten Armen und finsterem Blick im Türrahmen stehen.
"Lass Dir nur Zeit. Es wird sicher ein Riesenspaß, sich durch Barriks Leute durchzuschlagen, nur weil Miss Ligand nicht auf ihre Schundromane verzichten konnte!"
Als wenn ihr der Zeitfaktor nicht deutlich bewusst gewesen wäre! Allmählich fand sie sein Benehmen unerträglich.
"Das sind keine Schundromane! Und wenn Du schon mal hier bist, werter Kollege, erkläre mir doch bitteschön, warum angeblich ausgerechnet ich gesucht werden sollte? Immerhin... kaum bist Du hier aufgetaucht, fingen die Probleme überhaupt erst..."
Der Angesprochene ließ die Tür achtlos hinter sich ins Schloss fallen und stürmte quer durch den Raum auf sie zu. Er packte sie am Kragen ihrer Bluse, zerrte sie an diesem derart ungestüm in die Höhe, dass ihr die Luft wegblieb und stieß sie mit dem selben Schwung schmerzhaft gegen den verschnörkelten Bettpfosten hinter ihr.
"Warum sie nach Dir suchen? Warum..." Sein ganzes Wesen schien vor Zorn zu beben. "Vielleicht hast Du mir etwas verschwiegen?", warf er ihr fast hasserfüllt vor. "Irgendetwas, was existentiell für eine verdeckte Ermittlung sein könnte?"
Er wollte eindeutig auf etwas Bestimmtes hinaus. Aber was?
Sie rang nach Luft.
"Ich weiß nicht, wovon Du red..."
Der kantige Schmuckpfeiler kerbte sich mit einem Ruck neuerlich in ihren Rücken, als er sie mit der stoffumklammernden Faust von sich stieß, wo es doch keinen Spielraum zum Ausweichen mehr für sie gab. Ihr Hinterkopf traf auf die geschnitzten Holzkanten und der ohnehin eng anliegende Blusenkragen legte sich, als würgender Haltegriff zweckentfremdet, unbarmherzig um ihren Hals.
"Ich rede von dem Leck!", stellte er deutlich zu laut fest und schnippste ihr mit der freien Hand gegen die Stirn. "Davon, dass Du es offensichtlich nicht schaffst, deine Gedanken unter Kontrolle zu behalten!"
Das konnte er nicht meinen!
"Ich..."
Als er sie diesmal mit einem verärgerten Anspannen seiner Armmuskeln herumschubsen wollte, hätte es sie nicht gewundert, wenn sich die feinen Vorsprünge in ihrem Rücken durch den Stoff gegraben hätten. Sie verlor den Überblick darüber, an welchen Stellen ihr Körper Schmerz signalisierte und war gleichzeitig zu geschockt, um sich auch nur gedanklich zur Wehr zu setzen. In Hinblick auf seinen mörderischen Gesichtsausdruck verlor all dies ohnehin an Bedeutung.
"Wann wolltest Du mir erzählen, dass jeder verfluchte Blutsauger da draußen ungehindert lesen kann, was auch immer in diesem kleinen Kopf vor sich geht?"
Sie hörte auf zu denken.
Da waren Worte. Doch es war unmöglich, ihm zu antworten. Ein bodenloser Abgrund hatte sich unter ihr aufgetan und sie schien zu fallen, immer weiter. In die Tiefe, in den Schwindel, in die Unmöglichkeit, in seine Wut und seine Anklage. Sie wusste, dass sie in Gefahr war, offenbar sogar mehrfach zugleich. Doch diese schienen zu übermächtig, um auch nur ansatzweise real sein zu können. Sie musste träumen! Einen Alptraum zwar... aber gewiss würde sie bald wieder erwachen und dann wäre alles wieder wie zuvor.
Die stahlblauen Augen entfernten sich von ihr und sie fiel noch ein Stück weiter.
'Jeder Vampir kann...?' Der Schwindel wurde ennervierend und sie fror. 'Mein Wissen... kein Schutz mehr... meine Ermittlung... Timotheus könnte helfen? Aber der Preis!'
Woher wusste der Informantenkontakter davon? Die Konsequenzen waren unübersehbar, unberechenbar, entsetzlich!
Sie tastete zögerlich nach ihrer Stirn, wo sie noch immer die vergleichsweise leichte Berührung Ettarks zu spüren meinte, diesen einen Punkt, auf den er seinen Finger gelegt hatte, zielsicher, bedeutend, glühend wie auf eine Wunde. Sie fühlte sich gekennzeichnet für alle die es sehen konnten - gebrandmarkt.
'Das ist lächerlich.', schalt sie sich selbst. 'Was auch immer Du tust, Du wirst gefälligst nicht in Ohnmacht fallen! Gleichgültig, ob dies ein Traum ist oder nicht.'
Also tat sie es nicht, sondern verdrängte das Rauschen aus ihren Ohren und die Schwärze aus den Rändern ihres Sichtfeldes.
Ettark fuhr sie in barschem Ton an. Seine Stimme klang unwirklich, wie von Ferne.
"Steh auf! Jetzt!"
Sie folgte langsam seiner Anweisung.
Warum saß sie überhaupt auf dem Boden?
Er forderte neuerlich ihre Aufmerksamkeit ein, indem er ihr befahl, ihm zu folgen.
Sie ging auf ihn zu. Doch das drängende Gefühl einer wichtigen Aufgabe hielt sie zurück.
"Die Bücher! Ich muss sie mitnehmen..."
Sie blickte sich betäubt nach ihnen um, fand sie und ging wieder in die Knie, um das Bündel zu schnüren. Diesmal gelang ihr Vorhaben und noch während sie den kantigen Beutel am Knoten gepackt über ihre linke Schulter schwang, kehrte das Gefühl für die Realität allmählich wieder zurück.
Sie liefen den Weg schweigend ab, wobei er das Tempo vorgab.
Ophelia fühlte sich völlig verunsichert. Das Scheitern ihrer Tarnung wäre für sich genommen bereits beängstigend genug gewesen, die vorgeworfene Ungeheuerlichkeit allerdings, inmitten einer Gesellschaft telepatisch Begabter gedanklich entblößt dazustehen... Ohne Ettarks Kommandos, so gestand sie sich ein, hätte sie sich noch immer nicht vom Fleck bewegt gehabt, sondern sich vielmehr schreckensstarr in eine Ecke des Zimmers gekauert.
Im Untergeschoss angekommen blickte er sich zu ihr um und einen Moment lang sah er dabei so aus, als wenn er ihr den improvisierten Tragebeutel am liebsten aus der Hand geschlagen hätte, um sie effektiv zu größerer Eile anzutreiben.
Sie klammerte sich an ihren Widerwillen ob seines ungebührlichen Betragens. Gleichgültig, wie er sie vorgefunden hatte und unter Berücksichtigung seiner gewissermaßen... hilfreichen Tendenzen - dieses wiederholte Herumgeschubse würde niemals zu rechtfertigen sein! Und einen Sinn für die Wichtigkeit ihrer Aufgabe hatte er auch nicht entwickelt.
Ophelia blickte ihm trotzig entgegen und schloss ihre dünnen Finger fester um den verschlungenen Knoten ihrer Last.
'Nicht über diese Katastrophe nachdenken. Jetzt gilt es, das hier durchzustehen. Ich werde nicht umsonst in diesen Einsatz gegangen sein. Ich werde überleben und ich werde die Beweise rausbringen! Und weder er, noch Timotheus oder sämtliche gedankenlesenden Vampire Ankh-Morporks werden mich davon abhalten.'
Ettark fragte knapp:
"Wo lang?"
"Trainingssaal."
Sie betraten diesen und schlossen die Türen hinter sich.
'Ein letztes Buch fehlt noch...'
Ophelia ging zielstrebig zur großen Vitrine an der Fußseite des Raumes. Sie ließ den Handtuchbeutel von ihrer Schulter gleiten.
"Wo ist der Ausgang?"
Sie deutete auf die Kletterwand mit dem Überkopf-Parcour und schob die Glasplatte über dem aufgeschlagenen Prachtband beiseite.
"Er müsste dahinter liegen."
"Müsste? Du bist Dir nicht sicher?"
Sie wich seinem fordernden Blick aus. Derzeit stand ihr der Sinn nicht nach vielen Worten.
"Ich war nicht dabei. Ich habe sie kommen gesehen, ich habe sie gehen sehen. Und danach habe ich den Saal auf Verdächtiges untersucht."
Ettark trat an ihre Seite und schloss das schwere Buch, dem der größte Teil ihrer Aufmerksamkeit gegolten hatte, mit einer entschlossenen Bewegung.
Sie sah zu ihm auf und er blickte sie eindringlich an.
"Hör mir jetzt genau zu!", sagte er dann mit möglichst ruhiger Stimme. "Ich sehe ja, dass Dir diese Bücher wichtig sind aber hier geht es um unsere Leben und ich habe schon zwei Kollegen im Dienst verloren. Du wirst nicht die Nummer drei sein! Also sag mir... bitte... wie wir hier raus kommen!"
Sie stieß seinen Arm ungeduldig beiseite und bemühte sich dann umständlich, das Buch aus dem Schaukasten herauszuheben.
"Du verstehst einfach nicht! Es geht hier um viel mehr, als nur um uns! Kümmere Du dich um die Tür, ich kümmere mich um den Rest. Die abgesetzten Seitenleisten neben der Kletterwand sind meiner Meinung nach wahrscheinlich Riegel. Ich hatte nicht genug Kraft, um sie zu betätigen aber Du..."
Sie konnte die Kante des dicken Ledereinbands geradeso mit einer Hand umfassen, musste dann aber sämtliche Muskeln anspannen, um ihn auch in die Höhe zu stemmen und zu ihrem Beutel zu tragen. Sie ließ ihn mehr fallen, als dass sie ihn abgelegt hätte. Dann versuchte sie mit fliegenden Fingern, den inzwischen festgezurrten Knoten zu lösen.
Sie hatte mit Widerworten gerechnet, mit Flüchen und eventuell sogar damit, dass er sie neuerlich Herumstoßen würde, um sie von der Richtigkeit seines Standpunktes zu überzeugen. Doch Ettark hatte offenbar beschlossen, dass ihnen für eine Diskussion auf seine Art zu wenig Zeit blieb. Er wandte sich lediglich mit abgrundtiefem Seufzer der Suche nach dem verborgenen Fluchtweg zu. Kurz darauf verriet ein hohes Schaben, dass er fündig geworden sein und die breiten Metallleisten aus ihren Einrastungen gelöst haben musste. Er brummte zufrieden und sie beeilte sich umso mehr, den vermalledeiten Knoten zu lockern.
Ein lautes Knacken war zu hören, als sich die Geheimtür öffnete.
"Was zur..."
Sie sah auf.
Ettark drehte sich zu ihr um und hinter ihm konnte sie sehen, wie der untere Teil der Wand sich um eine innere Achse gedreht und so einen Tunnel freigegeben hatte. Einen sehr kurzen Tunnel. Hinter der beiseite geklappten Kletterwand befand sich eine weitere, wesentlich stabiler anmutende Tür.
Nun wurde er zynisch.
"Da kommen wir nicht so schnell vorbei... das Fräulein hat nicht zufällig an den Schlüssel hierfür gedacht?"
Eine vertraute Stimme erklang süffisant von der Tür des Saales her.
"Selbst wenn sie daran gedacht hätte... den Schlüssel habe ich. Nettes Pärchen gebt Ihr ab... schon genug von der Gastfreundschaft des Chefs? Das wird ihn aber enttäuschen. Wo Ihr euch doch anscheinend solche Mühe gegeben habt, um überhaupt reinzukommen!" Alec stand in der Tür, zwischen seinen Fingern baumelte verspielt eine lange Kette, an deren Ende ein bronzener Schlüssel hing. Er bedachte Ophelia mit einem Blick absoluter Herablassung.
"Mich würde ja interessieren, wie Du den Vorfall auf der Blumenschau an unseren Nachforschungen vorbei arrangieren konntest. Vielleicht lässt Van Barrik mir, wenn ich mit deinem Freund hier fertig bin, etwas Zeit mit Dir allein, um das herauszufinden? Aber vermutlich läuft es darauf hinaus, dass Du eine von diesen Vampirschlampen bist und Dich ihnen verkauft hast? Schon dumm, dass jetzt keiner von denen hier ist, um es auszubaden, hm?"
Er wandte sich angeekelt von ihr ab und konzentrierte sich gänzlich auf Ettark.
"Nun zu Dir! Wusste ich's doch, dass mit Dir was nicht stimmt, Du arroganter kleiner Arsch. Ich denke, unter diesen Vorzeichen wird mir der Chef freie Hand gewähren."
Er kam langsam durch die Halle und auf sie beide zu.
Ophelias Blick flog zu Ettark. Dieser ließ seinen Mantel elegant von den Schultern und zu Boden gleiten, während er sich Alec mit zufriedenem Lächeln näherte. Er schien diese Konfrontation regelrecht herbeigesehnt zu haben.
Die beiden Kontrahenten konzentrierten sich nur noch aufeinander. Ophelia wurde klar, dass sie in diesem Moment ebenso gut unsichtbar hätte sein können. Schnell nutzte sie die Gelegenheit, um sich hinter Alec wieder dem Handtuchbeutel zuzuwenden. Doch so sehr sie sich auch bemühte, das Gewicht der Bücher hatte den Knoten unlösbar zusammengezogen. Ihre Frustration steigerte sich. Sie blickte auf und sah, wie die beiden Kämpfer sich umkreisten.
'Ich weiß wirklich nicht, ob er es mit Alec aufnehmen kann, gleichgültig wie selbstsicher er tut. Alec habe ich schon trainieren gesehen. Aber ihn...'
Wie auf ein geheimes Kommando hin, ging Van Barriks Sicherheitsmann in derselben Sekunde auf ihren Kollegen los. Es folgte Schlag auf Schlag und sie hielt, erschrocken über die Wucht der Treffer, die Luft an. Ettark konnte die Hiebe zwar blocken, doch er kam selber nicht zum Zuge. Er wich zurück.
Sie blickte zur offen stehenden Saaltür. Solange sich ihre Flucht noch nicht herumgesprochen hätte, würde sich bei dem Klang von Kampfgeräuschen hier unten niemand etwas denken.
Alec keuchte schmerzerfüllt auf und als sie wieder zurück sah, hüpfte er einbeinig aus Ettarks Reichweite. Er rieb sich knurrend den Fuß.
"Na warte, Arschloch!"
Die Distanz zwischen ihnen verringerte sich wieder, diesmal jedoch viel zu schnell. Erst recht, da Ettarks Bewegungen fast schon gelassen anmuteten.
Ophelia wollte bereits entsetzt aufspringen, als der SEALS in letzter Sekunde auswich. Ein sattes Klatschen erklang und fast zeitgleich setzte der Kollege zu einem Beinkick an. Trotz eingeschränkter Sicht entging Alec dem heftigsten Teil der Attacke um Haaresbreite und der große Wächter rammte ihn stattdessen nur noch mit dem Gewicht seines in Schwung befindlichen Körpers. Der Sicherheitsmann stürzte, fing sich aber mit gekonntem Abrollen wieder auf. Eine Sekunde lang standen die Männer sich reglos gegenüber. Alec wischte sich mit einem Ärmel die Spucke aus dem Gesicht. Seine Stimme bebte vor Zorn:
"Du abartiger Bastard! Dafür brech' ich Dir sämtliche Knochen!"
Der glatzköpfige Informantenkontakter grinste nur noch fieser und lockte ihn mit provokantem Winken näher.
'Hat er die Lage im Griff?' Dann aber erinnerte Ophelia sich an die Szenerie nur wenige Tage zuvor. 'Auch da wirkte er so dermaßen souverän. Und da stand es schlecht um ihn. Immerhin befand er sich als Gefangener hinter Gittern! Und...', mit heißem Schrecken bildete sich ein bestimmtes Bild vor ihrem inneren Auge, wie er, nur kurz, als er sich unbeobachtet geglaubt hatte, in eine Schutzhaltung verfallen war. 'Er war ernsthaft verletzt. Das wird in der kurzen Zeit noch nicht verheilt sein. Und wenn ich schon daran denke... dann Alec erst recht!'
Die beiden gingen wieder aufeinander los, wobei dieses Mal Ettark einen gewissen Vorteil zu haben schien, als er seinen Gegner mit diversen Tritten zu traktieren begann. Ein besonders tief gesetzter Treffer mit seinem Fussrist verfehlte nur knapp Alecs 'Kronjuwelen'. Sie musste beschämt an Araghasts Übungsanweisungen in dessen Trainingseinheiten denken. Das war immer so eine Sache gewesen, mit der sie sich schwer tat. Der SEALS hingegen schien keine solche Hemmungen zu kennen.
Der Abstand zwischen den Männern sprang wieder auseinander und plötzlich zückte der Sicherheitsmann sein Klappmesser.
"Jetzt reicht's mir, genug gespielt!"
Ihr Kollege griff im Reflex nach seinen eigenen Waffen... und ins Leere. Seine Blicke flogen verunsichert durch den Raum.
Alec bewies, über welch nachtragendes Naturell er verfügte, als er sarkastisch fragte:
"Da ist das Taschenmesser plötzlich nicht mehr so klein?" Er grinste bösartig. "Mal sehen, wie leicht der Nachkomme einer Legende stirbt!"
Ettark wich unbewaffnet zurück.
Ophelia sah sich gehetzt um. Sie musste eingreifen! Der einzige in Frage kommende Gegenstand, den sie mit einer Hand heben können würde, war eine geschmacklose Bronzebüste, etwa so groß wie ein Wacheknüppel. Sie zögerte keine Sekunde länger, nahm sie entschlossen vom Sockel und folgte Alec in dessen Rücken. Sie passte sich seinen Bewegungen so gut an, wie es ging. Für eine Sekunde traf ihr Blick auf den Ettarks. Dessen Brauen zogen sich verwirrt zusammen und sie spürte einen Anflug von Panik bei dem Gedanken, dass Alec die richtigen Schlüsse ziehen und sich umdrehen könnte. So viel Zeit wollte sie ihm jedoch nicht lassen.
Der kleine Bronzekopf sauste auf den ungeschützten echten Hinterkopf hernieder und Alec fiel an Ort und Stelle zu Boden. Er blieb bewegungslos liegen.
Sie atmete tief ein.
Ettark stürmte herbei und funkelte sie böse an.
"Was sollte das, verdammt noch mal? Warum mischst Du dich ein?"
Er ging in die Knie und entwendete ihrem niedergeschlagenen Opfer in selbstverständlicher Geste den Schlüssel.
Ophelia beobachtete ihn verwirrt dabei, wie er mit diesem die zweite Tür öffnete.
'Aber... war das denn nicht richtig?' Allmählich gewann sie den unbestimmten Eindruck, dass es gleichgültig sein könnte, was sie tat. Womöglich würde er immer etwas daran auszusetzen finden?
Sie sah auf Alec hinab, der reglos und blass auf den Bambusmatten lag. Ein dünnes rotes Rinnsal tropfte von seinem Hinterkopf.
Ihr wurde schwindlig, als eine tiefsitzende Angst vom Magen herauf aufzusteigen begann.
'Ist er...?'
Der Informantenkontakter war derweil in Aktivität ausgebrochen. Er eilte durch den Raum, sammelte hier und da Dinge ein. Unter anderem seinen abgelegten Mantel und sein Schwert neben der Tür. Sie blendete ihn fast aus. Seine Stimme hingegen war zu laut dafür.
"Was ist? Komm in die Pötte, wir müssen los!"
Ophelia kniete nieder und legte ihre Fingerspitzen in Alecs Halsbeuge. Ihr Schwindel wurde stärker, jedoch aus unsäglicher Erleichterung heraus.
'Er lebt! Ich habe mir nichts Unwiderrufliches zu Schulden kommen lassen...'
Dicht neben ihr zischte Ettark sie plötzlich an, offensichtlich um sie zum Gehen zu veranlassen, so wie er vielleicht auch einen Vogel aufscheuchen würde.
Sie blickte unfreundlich zu ihm auf, während sie sich in dem Versuch über Alec beugte, dessen Körper anders zu positionieren.
Ettark blickte sie fassungslos an.
"Bist Du jetzt von allen guten Geistern verlassen?"
Er nahm sie entschlossen beim Arm, zog sie hoch und schob sie gleichzeitig beiseite, um genug Platz zu haben. Dann machte er sich unverzüglich selber an dem Sicherheitsmann zu schaffen. In seinem Fall mit deutlich weniger hilfsbereitem Ansinnen. Schon schlang er ein dünnes Seil kunstvoll um die Handgelenke des Niedergeschlagenen, welche er ihm hinter den Rücken gezogen und dort gekreuzt zusammengelegt hatte.
Sie wagte zaghaft aufzubegehren.
"Aber... wenn er erstickt?"
Ettark blickte nicht einmal zu ihr auf.
"Kümmer dich um deine Bücher, wenn Du sie mitnehmen willst. Ich werde hier gleich verschwinden. Mit oder ohne dich!"
Damit stopfte er dem Bewusstlosen einen dünnen Lappen in den Mund.
Seine hartherzigen Worte rückten ihre Prioritäten auf einen Schlag gerade.
Es stimmte. Sie war wegen Wichtigerem hier. Alec war am Leben und das musste ihr genügen. Im Gegensatz zu ihnen - wenn sie sich nicht eilen würden.
Ophelia lief zu den Büchern.

~~~ Die Unterstadt ~~~


Das Türschloss war so konzipiert worden, dass der Schlüssel nach dem Verriegeln der Tür ausschließlich von innen abgezogen werden konnte. Damit stellte Timotheus natürlich sicher, dass der Hüter des Hauses vor Ort wäre und dass dieser Zugang niemals versehentlich offenstehen konnte.
Sie kamen schweigend darüber überein, dass mit der Entdeckung des Sicherheitsmannes ohnehin sofort feststehen würde, in welcher Richtung sie unterwegs waren, dass es dazu nicht erst der offen stehenden Tür bedürfen würde. Sie mussten eben schnell sein.
Ettark schnappte sich einige der vielen Fackeln aus dem Schrank. Er stellte mit zufriedenem Brummen fest, dass es sich um echte und nicht etwa um Atrappen handelte. Dass die pechgetränkten Wicklungen deutlich mitgenommen aussahen, deutete darauf hin, dass sie nicht die ersten waren, die die nützlichen Übungsgeräte entnahmen, um sich mit deren Hilfe in dem finsteren Labyrinth hinter dieser Tür zu orientieren.
Ettark zündete eine an und tauchte durch die offen stehende Tür in den dunklen Gang dahinter ab.
Ophelia folgte ihm dichtauf mit dem geschulterten Beutel. Den unhandlichen Lederband trug sie behelfsmäßig zwischen ihren Körper und den Arm geklemmt. Eine alles andere als gute Lösung zwar aber Ettarks brüskes Abwenden hatte nur zu deutlich davon gesprochen, dass sie, was die Bücher betraf, nicht auf ihn zählen können würde.
Entsprechend langsam allerdings kam sie nun vorwärts und schnell hatte sich das Licht der Fackel vor ihr weit genug entfernt, dass sie auf den Unebenheiten des dunklen Ganges ins Stolpern geriet. Und dann verschwand das Licht von einer Sekunde auf die andere, als Ettark um eine Ecke bog.
Ophelia strauchelte. Sie fing sich zwar sofort wieder, doch um das Gleichgewicht zu halten, hatte sie mit dem ganzen Körper reagieren müssen und so fiel das schwere Buch mit einem lauten Rascheln und Klatschen zu Boden. Sie bückte sich umständlich und sowohl das Kleid, als auch der Beutel, der ihr kantig in die Seite schlug, erschwerten es deutlich, die Balance zu halten. Sie wollte nach dem Buch tasten, musste dafür aber den Tragebeutel abstellen. In ihrem Hals bildete sich ein Kloß.
'In Ordnung... atme tief durch! Gib es zu... Stolz bringt Dich jetzt nicht weiter. Und hast Du nicht erst vor wenigen Minuten ihm gegenüber betont, dass es hier um viel mehr geht, als nur um einzelne Personen? Das gilt ganz genauso für Dich!'
Die Wächterin richtete sich auf, überwand ein letztes Zögern und rief dann zaghaft den Gang hinauf:
"Ettark? Ich brauche Hilfe..."
Erst geschah gar nichts und sie begann bereits zu befürchten, dass er so schnell voraus gelaufen sein könnte, dass er sie nicht mehr hörte. Oder, dass er sich bewusst gegen eine Rückkehr entscheiden würde. Dann aber füllte seine fluchende Stimme die beengte Welt der Gänge und Tunnel aus.
Das Licht kam zurück und kaum, dass sie seinen Umriss im Fackelschein erkennen konnte, fuhr er sie an.
"Was?!"
Das in die Höhe gehaltene Feuer irrlichterte in seinen Augen. So bedrohlich starrte der große Kollege auf sie hinab, dass sie beinahe vor ihm zurückgewichen wäre.
"Bitte… könntest Du die Bücher tragen?"
Erst sah er sie nur fassungslos an. Dann drückte er ihr die Fackel in die Hand, griff kopfschüttelnd nach dem Beutel und wuchtete sich diesen über die Schulter. Für ihn war es ein Leichtes, das aufgeblätterte Buch am Boden zuzuschlagen und es sich zusätzlich unter den Arm zu klemmen, ehe er eine der anderen Fackeln aus seinem Gürtel hervorzog und diese an ihrer entzündete. Die Wicklung fing mit einem leisen Fauchen Feuer und loderte hell auf.
Er warf ihr einen seiner typischen Blicke zu.
Sie schluckte den Dank, der ihr auf der Zunge gelegen hatte, hinunter.
Er drehte sich kommentarlos um und sie folgte ihm schweigend.
Immer häufiger passierten sie abzweigende Tunnel und die grob behauenen Wände entpuppten sich bei genauerem Hinsehen als altes Mauerwerk. Die blakende Fackel schwankte vor ihr her und Ettarks breiter Rücken versperrte ihr den Blick auf die unheimlich anmutenden Häuserfassaden dieser unterirdischen Variante Ankh-Morporks.
Dann weitete sich der Tunnel.
Die Unterstadt!
Trotz der erschütternden Ereignisse und ihrer Eile, regte sich Neugier in Ophelia. Staubige Schilder, stumpfes Fensterglas, vernagelte Türen. Schutt blockierte die Seitenstraßen, die sich schon wenige Schritte entfernt in tintenschwarzer Finsternis verloren. In dem Staub zu ihren Füßen entdeckte sie immer wieder Fußspuren, die davon kündeten, dass sie hier unten nicht so allein sein mochten, wie sie dachten. Sie sah hinter sich. Auch sie selber hinterließen eine nur zu deutliche, neue Spur. Sie mussten schneller vorwärtskommen.
'Der Weg, den wir bereits gegangen sind, kommt mir so weit vor. Aber wir laufen nicht in gerader Linie. Und sein Anwesen ist sehr groß. Ich denke, wir befinden uns immer noch darunter - und ganz sicher innerhalb seiner Reichweite.'
Der Widerhall ihrer Absätze auf dem versandeten Straßenpflaster wurde verstärkt und mehrfach zurückgeworfen. Die Klänge erreichten sie eigenartig verfremdet, als wenn da noch ein weiteres Geräusch wäre, welches sich heimlich den vorgenannten angeschlossen hätte. Sie blickte sich nervös um. Es war nicht ihr Saum, der solch einen huschenden... verschliffenen Laut verursachte. Oder eher ein scharrendes Kratzen? Und war da nicht auch etwas, wie das Schlagen von Lederlappen im Wind? Ihre Augen suchten die Dunkelheit hinter ihnen ab und unwillkürlich richteten sich ihre Nackenhärchen auf.
'Haben sie uns schon eingeholt?'
Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie sah weder männliche Schattenrisse, noch sich nähernde Lichter. Obwohl... Sie erstarrte regelrecht, als sie weit hinter ihnen etwas Helles ausmachte.
'Soll ich Ettark warnen? Aber er ist schon so weit voraus gelaufen. Ich halte ihn nur auf. Ich will ihn keinesfalls zusätzlich in Gefahr bringen. Und er hat die Beweise bei sich, er muss schneller vorwärts kommen.'
Etwas an dem hellen Bereich, der sich schnell näherte, war merkwürdig.
'Das Geräusch... es klingt viel näher, als dies dort wirkt...'
Und dann erkannte sie den Grund dafür. Der helle Fleck huschte auf Bodenhöhe über den Schutt des Straßenpflasters. Er legte dabei ein überraschendes Tempo vor, obwohl er ständig wechselte zwischen Rennen, Hüpfen und kurzen Strecken, in denen er sich mit den krallenbewährten Füßen abstieß und mit heftigen Flügelschlägen vorwärtsflatterte.
"Glimma!" Die Wächterin ging automatisch in die Hocke und der kleine Albinodrache hielt zielstrebig auf sie zu. Sie flüsterte überrascht: "Was machst Du denn hier? Bist Du uns einfach hinterhergelaufen? Die Tür stand offen, nicht wahr? Das ist nun aber dumm. Du musst doch wieder zurück."
Glimma erreichte sie mit aufgeregtem Flattern, hüpfte um sie herum und reckte sein Köpfchen zu ihr auf. Mangels freier Hand neigte sie sich ihm lächelnd entgegen und er rieb seine Stirn schnurrend an der ihren.
"Du musst wirklich wieder zurück. Ich kann Dich nicht mitnehmen... Du gehörst mir nicht. Und Du bist auch ganz sicher kein besonders preiswertes Haustier..."
Der kleine Drache quiekte leise, als wenn er sie verstehen und protestieren wollte. Er begann wieder, um sie herum zu hüpfen, so aufgeregt, dass er dabei kleine Funken und Rauchwölkchen von sich gab.
Ihr Blick suchte, das Dunkel hinter ihr zu durchdringen. Doch selbst der schwache Lichtschein des voranschreitenden SEALS drohte zu verschwinden. Sie erhob sich und flüsterte bedauernd.
"Ich kann wirklich nicht auf Dich warten, Glimma, ich muss..."
Ihr Augenmerk blieb an einer sehr charakteristischen Spur hängen, die sich an der vor ihr liegenden Hauswand entlang über den Boden zog. Schwarz vor kalkgrauem Hintergrund. Zu schwarz. Zu neu.
Ihr erster Gedanke war:
'Ist Norti hier? Gibt es einen FROG-Einsatz, in den wir gerade hineingeraten?'
Der darauf folgende Schrecken schoss ihr die nächste Ladung Adrenalin durch die Adern und dieses Mal rief sie laut und vernehmlich nach dem Kollegen, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, wie wenig erfreut er darüber sein würde, schon wieder zu ihr zurückgerufen zu werden.
Sie wartete seine Reaktion dieses Mal nicht ab, sondern folgte der dunklen Schnur. Sie hatte nicht viel Hoffnung, dass diese Lunte versehentlich hier liegen gelassen worden sein könnte. Mit hoch erhobener Fackel ging sie an der Fassade des vernagelten Geschäftes entlang. Die Zündschnur verschwand in dessen Tür.
Hinter ihr näherten sich Ettarks schwere Schritte und sie drehte sich mit ernstem Blick zu ihm um.
"Kennst Du dich mit Schwarzpulver aus? Ich bin mir nicht sicher, wie aktuell das hier ist."
Seine Augen weiteten sich entsetzt.
"Nimm das Vieh da weg!"
"Oh...".
Der kleine Sumpfdrache hüpfte zwischen ihnen beiden hin und her. Er schien keine Scheu vor Ettark zu empfinden, sondern ihm lediglich seine Aufregung zeigen zu wollen.
"Natürlich!"
Sie wollte nach Glimma greifen... und streckte stattdessen die Hand mit der Fackel vor... ehe sie diese Ettark entgegenhielt. "Dann halte Du solange die hier."
Unter seinem sengenden Blick lockte sie Glimma zu sich.
"Glimma, komm her! Komm zu mir, mein Süßer... ja, brav!"
Sie richtete sich mit dem Haustier auf dem Arm wieder auf und trat einen Schritt zurück.
Ettark nahm, mit einer Fackel in jeder Hand, Schwung und trat gegen die Tür. Sein erster Versuch schlug fehl. Der zweite hingegen ließ die Barriere aufspringen und voller Wucht gegen die Wand knallen.
Sie folgte ihm in das alte Gemäuer.
Der Raum war größer als erwartet. Ettark hob zögernd eines seiner Lichter und dessen Schein langte bis an die gegenüberliegende Wand, wo er einen großen Stapel an Fässern offenbarte. Die dunkle Schnur schlängelte sich genau auf diesen zu - und verschwand zwischen den Holzfässern.
"Ist es das, was ich vermute?", fragte sie ihn mit ängstlicher Stimme.
"Ich denke, das dürfte der Sprengstoff sein, von dem ich erzählt habe.", antwortete er zögernd.
"Ich dachte, der sollte erst in drei Tagen zum Einsatz kommen?"
"Miles ist immer gerne auf Alles vorbereitet."
Glimma schien ihre wachsende Besorgnis zu spüren und begann unruhig auf ihrem Arm herumzuzappeln. Sie konnte ihn nicht länger festhalten und er sprang flatternd zu Boden.
"Glimma!"
Ettark brüllte erschrocken auf.
"Bist Du wahnsinnig?"
Ophelia zuckte zusammen - ebenso wie Glimma. Nur dass jener vor Schreck auch Feuer spie.
Sie sahen voller Entsetzen, wie ein knisterndes Lauffeuer funkenstiebend und zischend auf den Fässerberg zuraste.
"Oh nein!"
"Scheiße! Scheiße-Scheiße-Scheiße! Renn!"
Sie warf noch einen Blick auf Glimma, der verwirrt auf das hüpfende Feuer starrte, doch da ließ der Kollege bereits eine der Fackeln fallen, packte sie bei seiner Kehrtwende am linken Arm und zerrte sie rennend aus dem Haus. Sie stolperte ihm hinterher, innerlich das zu enge Kleid verfluchend, doch auch darauf nahm er glücklicherweise keine Rücksicht. Es gelang ihr erst nach einigen Schritten, den Rocksaum zu fassen zu bekommen und ihn weit genug anzuheben, um richtig mit ihm mithalten zu können. So rannten sie die unterirdische Straße entlang.
Ophelia zählte innerlich die Sekunden.
Die Explosion überraschte sie trotzdem.
Ebenso wie Ettarks schnelle Reaktion.
Noch ehe der Donnerschlag und die Druckwelle sie gänzlich erreicht hatten, hatte er sie mit einem kräftigen Ruck vorwärts und beiseite geschleudert, hinein in einen Wanddurchbruch, der sie wie eine schützende Höhle schluckte. Sie stolperte tief in diese hinein, nicht sicher, ob es der letzte Schwung war, der sie vorwärts torkeln ließ, oder das Schwanken des Bodens. Doch sie blieb auf den Beinen. Staub und Gestein flogen am Eingang vorüber, Kies rieselte rund um sie von der Decke herab, ohne sie zu treffen. Sie drehte sich verstört um, konnte ihn im ersten Moment aber nirgendwo sehen. Staub wallte in dichter Suppe an dem Loch in der Wand vorüber.
"Ettark?"
Sie atmete etwas von dem Rauch ein und hustete. Ihr Blick irrte besorgt umher. Es würde ihm doch nichts passiert sein?
Vorsichtig stieg sie über Trümmer hinweg, nicht sicher, ob diese älteren Datums oder gerade erst neu hinzugekommen waren. Sie lief auf die leere Straße hinaus und sah sich um. Qualm versperrte die Sicht. Das Feuer wütete hinter ihr, was zumindest etwas Licht spendete. Sie sah die Verwüstung und bekam Angst um ihn.
"Ettark!"
Ein neuerlicher Hustenanfall schüttelte Ophelia und sie versuchte behelfsmäßig, den Rauch mit der Hand fortzuwedeln. Ein tiefes, dunkles Geräusch ließ die Luft um sie herum erbeben. Ein kräftiger Stoß trieb den Staub gleich einer wattigen Wand an ihr vorbei, ehe er wieder langsamer wurde und, um sich selbst verwirbelnd, stockte.
Fffffffffffup... fffffffffup... ffffffffffffup... fffupp-fupp-fuppfupfupfpfp...
Die Luft trieb schneller an ihr vorüber. Auch das Geräusch nahm an Tempo zu, bis es zu einem seichten Brummen wurde. Allmählich konnte sie besser atmen. Ihre Sicht klärte sich. Vor ihr schälte sich eine hochgewachsene Kontur aus den Rauchschwaden und sie erstarrte bei dem Gedanken, dass einer von Thimotheus' Männern die Explosion womöglich genutzt haben könnte, um nun aufzuholen. Dann aber erkannte sie die Haltung, den dramatisch wehenden Mantel, den schweren Gang. Sie holte vor Erleichterung tief Luft und ging ihm entgegen. Eigentlich drängte alles in ihr danach, sich nach seinem Befinden zu erkundigen, sich zu vergewissern, dass es ihm gut ginge. Doch jeder Schritt, der sie einander näher brachte, machte ihr auch deutlich, dass er darauf wohl kaum wahrheitsgemäß antworten würde - wenn überhaupt. Stattdessen nickte sie ihm mit einem erleichterten Lächeln zu.
'Solange er noch gehen kann...'
Der SEALS musterte sie nur für einen Sekundenbruchteil, ehe er wieder die Szenerie hinter ihr in Augenschein nahm. Ihm schien das Wissen, dass sie noch lebte, vollauf zu genügen.
Sie folgte seinem Blick und wandte sich ebenfalls den Flammen zu.
'Es wäre töricht, zu denken, Glimma könne diese Zerstörung überlebt haben. Die Funken haben ihn zu sehr fasziniert. Er war zu nahe dran…'
Ophelia musste bei diesem Gedanken schwer schlucken. Mehr noch bildete sich jedoch ein Kloß in ihrem Hals, als sie ihren Blick aufwärts wandern ließ und an die Menschen dachte, mit denen sie vor ihrer Flucht tagelang das Haus geteilt hatte. Auch wenn sie kein Experte für solche Dinge war und ihr nicht der Sinn danach stand, den Bergiger nach dessen Einschätzung zu fragen... der Sprengstoff musste derart positioniert gewesen sein, dass der bei weitem größte Schaden nach oben kanalisiert gewesen war, ansonsten hätten sie innerhalb des momentanen Radius' keine besonders große Überlebenschance haben können.
'All die Menschen dort. Jennie... Nein! Ich muss an die Bücher denk... die Bücher!'
Sie wandte sich hektisch an Ettark.
"Die Bücher! Du hattest sie nicht dabei, als Du zurückkamst. Wo hast Du sie gelassen?"
Er sah sie beinahe resigniert an, in einer Mischung aus Unglauben und Mitleid, als wenn er sich nun sicher wäre, dass sie nicht ganz richtig im Kopf sein könne. Kommentarlos ging er einige Schritte beiseite und hob den kostbaren Beutel demonstrativ aus dem Schutt. Dann machte er kehrt, offenbar in der unverrückbaren Überzeugung, dass sie - wenn schon nicht ihm, dann doch den Büchern - folgen würde. Womit er nicht Unrecht hatte.
Der Wind blies ihnen inzwischen kräftig entgegen und kurz darauf tauchte vor ihnen die Ursache von Geräusch und Luftzug auf: Ein riesiger Ventilator trieb den Rauch fort!
Offenbar hatte die Detonation unterirdische Arbeiter aufgeschreckt, die nun für die dringend benötigte Frischluftzufuhr in ihrem Arbeitsbereich sorgten. Während hinter ihnen bereits das Brennmaterial knapp wurde und so die Feuer in sich zusammensackten, flammten ringsum Öllampen auf. Der Ventilator drehte sich schnell und gleichmäßig, das Licht flimmerte vor ihnen. Ettark und Ophelia liefen Seite an Seite auf das Licht zu. Und tatsächlich tauchten wie aus dem Nichts heraus Zwerge auf und begannen, dem Brand und seinen Folgen entgegenzuwirken. Sie wuselten herum, scheppernd mit ihren Werkzeuggürteln.
Ophelia musste an Braggasch denken. Doch die Aufmerksamkeit dieser Zwerge haftete keinesfalls schüchtern auf ihr. Misstrauische Blicke und die Vehemenz, mit der ihnen stumm der Weg zum Ausgang gedeutet wurde, bewiesen, dass sich deren Verständnis und deren Geduld in Grenzen halten würde, insofern sie beide auf die Idee kommen sollten, vom Wege abzuweichen.
Sie wich den Blicken aus und sah auf ihre Füße hinab, als sie Ettark zu der hölzernen Kabine hinter dem großen Frischluftventilator folgte. Das halbhohe Rollgitter wurde scheppernd zugezogen und der Bretterverschlag schlingerte einige Handbreit über dem Boden. Dabei wurde sie sich wieder ihres Äußeren bewusst: Unzählige Diamantsplitter glitzerten auf den noch immer strahlend weißen Bahnen ihres Kleides. Wenn es nicht schon dessen Schnitt gewesen wäre, der in einer dreckigen Höhle völlig deplaziert wirken musste, so waren die Edelsteine in ihrer Kleidung mit ziemlicher Sicherheit ein guter Grund dafür, sie so anzustarren.
Die Aufzugskabine setzte sich langsam in Bewegung und trug sie aufwärts, der Oberfläche entgegen.
Eine tiefe Stimme brummelte aus dem Trichter über ihren Köpfen, unterbrochen von klimpernder Musik und abgelöst von immer neuen, ebenso tiefen Stimmen.
"Nur diese Woche bei Ibo: Kaufen Sie einen Hammer und bekommen sie einen Sack Kohle UMSONST dazu!" - "Saitenflußer Rattenwürste leckerleckerleckerlecker... Nur Saitenflußer Rattenwürste mit dem Besstem der Ratte!" - "Heute bei Theoretiker! 20 Prozent auf alles! Außer Rattengulasch."
Ophelia zog beide Brauen in die Höhe und blickte verunsichert zu dem reglos neben ihr stehenden Kollegen hinüber. Nur um festzustellen, dass dieser sie ebenso ansah.
Die Stimme räusperte sich und dieses Mal konnten sie erahnen, dass es sich bei dem Sprecher um ein- und dieselbe Person handeln musste, die über ihren Köpfen auf dem Bretterdach saß. Die Musik setzte mit misstönendem Scheppern wieder ein und Ophelia vermutete ein Xylophon auf der Kabine. Sie wollte gerade Luft holen und zu einem Kommentar ansetzen, als die tiefe Stimme sie unterbrach.
"Klappe! Ich mach hier auch nur meinen Dschob!"
Sie schloss den Mund wieder. Die Stimme über ihnen meckerte in gedämpfter Lautstärke vor sich hin.
"Pilotprojekt zur Arbeitsvermittlung... Arschgeigen... ich bin Schauspieler, kein verdammter Tondämon! Noch zwei Tage Glod... nur noch zwei Tage!"
Der Fahrgastkorb hielt wackelnd und schwankend und sie fanden sich in einem schummrigen, kleinen Raum mit zwei schwerbewaffneten Zwergen wieder.
Sie sah schnell zu Ettark hinüber, doch der Informantenkontakter schien unbesorgt. Er wollte nach dem Gitter greifen, um die niedrige Tür beiseite zu schieben, als sich eine kleine Klappe in der Decke öffnete und eine behaarte Hand mit einem Zettel zwischen ihnen hineinreichte.
"Das hier muss ich austeilen. Bitte tragt Eure ehrliche Meinung über die Aufzugswerbung ein und bewertet den Dienst."
Ophelia nahm den Fragebogen entgegen und überflog ihn mit ungläubigem Blick.
Die finster dreinblickenden Zwerge kannten das Prozedere zwar offensichtlich, waren es nun aber leid, deswegen ignoriert zu werden. Einer der Türsteher deutete mit seiner Streitaxt auf den geschulterten Beutel und grollte tief und laut:
"Edelsteine und Altmetall werden konfisziert und verlassen nicht unerlaubt unseren Bereich. Was ist da drin?"
Ettark ließ ihr nicht mal genug Zeit, um über eine Erwiderung nachzudenken. Er antwortete ohne zu zögern und gelangweilt.
"Alte Bücher. Nichts, was für die Tiefener von Wert wäre."
Der Zwerg ließ desinteressiert die Hand mit der Axt sinken. Er warf ihr hingegen einen taxierenden Blick zu - der vor allem ihrem Kleid galt. Sein Zögern verflog und er wies ihnen stattdessen kurzangebunden den Weg zur Tür.
Helles Sonnenlicht schlug ihnen entgegen und eine ausgesprochen kühle Frühlingbrise ließ sie aufatmen.
"Das Unten ist nichts für Menschen. Verschwindet!"
Die unauffällige Schuppentür schloss sich mit festem Schlag hinter ihnen und sie standen inmitten des üblichen, mittäglichen Gewimmels auf einer Straße. Die Explosion schien hier, nur wenige Meter vom Epizentrum der Erschütterungen entfernt, schon niemandem mehr Kopfzerbrechen zu bereiten. War derweil auf der anderen Flussseite die Alchemistengilde in die Luft geflogen, so dass ihre Erlebnisse bereits als veraltet galten? Oder lag es am allgegenwärtigen Rumoren der eisenbeschlagenen Kutschen- und Karrenräder, dass das Beben der Erde unter den eiligen Schuhsohlen unbemerkt geblieben war? Die Menschen in dieser Straße jedenfalls liefen ignorant an ihnen vorbei und lediglich ein Dieb blieb kurz mit begehrlichem Blick vor Ophelia stehen, ehe er Aufwand, Ergebnis und zu erfüllende Quote mit bedauerndem Kopfschütteln in ein Verhältnis zueinander zu setzen schien und sich zum Weitergehen entschied.
Ettark neben ihr atmete tief durch und straffte die Schultern.
"Das wäre geschafft... auf zur Wache!" Er blickte sie kritisch an. "Du bist zu auffällig."
Ophelia konnte nicht verhindern, dass sie errötete. Sie wich seinem Blick aus und murmelte nur leise:
"Du hast natürlich Recht. Nur werden wir in dieser Gegend wohl kaum auf die Schnelle ein Geschäft finden, in welchem sie gebrauchte Kleidung..."
Der Bücherbeutel fiel schwer auf das Pflaster, der einzelne Lederband landete obenauf.
Sie blickte verunsichert zum Kollegen.
Der glatzköpfige Hühne zog seinen angekokelten Mantel aus, trat hinter sie und hielt ihn ihr zum Hineinschlüpfen auf.
Sie zögerte.
Der SEALS schlug den langen Mantel leicht aus. Er hielt ihn noch etwas näher und brummelte:
"Na los doch! Du fällst auf wie ein bunter Hund. Und es wäre etwas zu ironisch für meinen Geschmack, wenn ich Dir nur dafür ein paar Mal das Leben gerettet hätte, damit Du auf dem Weg zum Pseudopolisplatz in dem dünnen Fummel erfrierst."
Tatsächlich war sie nicht einmal dem Wetter entsprechend gekleidet. Sie nahm sein Angebot dankbar an. Auch wenn sie ihm widersprechen musste.
"Von ein paar Mal kann gar nicht die Rede s..."
"Liegt Dir immer noch etwas an den Büchern?"
Sie stutzte, ehe sie seinen dramatisch in Richtung des nahe liegenden Sees gerichteten Blick sah. Sie schluckte die Erwiderung hinunter und seufzte stattdessen nur leise.
Ettark nahm die Bücher grinsend auf.
"Na geht doch!"

Tief in ihrem Inneren wusste Ophelia im gleichen Moment, dass nach diesem Einsatz nichts mehr so wie zuvor sein würde. Die Beweise würden gesichtet und viele der Informationen an die Presse gegeben werden, um den Geldfluss der HIRN zu untergraben. Das Terrornetzwerk würde seine Fürsprecher einbüßen.
Und dann gab es natürlich auch noch die andere Seite dieses Unternehmens, die persönlichen Konsequenzen. Ihr mentales Problem konnte nicht unbeachtet bleiben, nun da Ettark davon wusste. Und niemals würde sie sich die Blöße geben, ihn deswegen um sein Schweigen zu bitten. Zumal sie wirklich keine Geheimnisse mehr vor Araghast haben wollte, jetzt, da sie Rogi gerächt haben würde. Wenn diese Sache ans Tageslicht kommen sollte, so würde sie es eben. Sie würde einen Weg finden, damit umzugehen. Wenn es soweit wäre. Sie brauchte keine hellseherischen Fähigkeiten ihr Eigen zu nennen, um zu erahnen, dass sie hier und heute ihre letzte Verdeckte Ermittlung beenden würde. Das Risiko, wiedererkannt zu werden, war inzwischen einfach zu hoch. Ganz zu schweigen von der Unmöglichkeit, unter gewissen Umständen Geheimes für sich zu behalten.
Sie fröstelte.
Ettarks Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
"Wir müssen die Chaoten von FROG informieren... und vielleicht SUSI. Sollen die sich darum kümmern, dass aufgeräumt wird und keiner von den Pissern entkommt!"
Seine Worte unterstrichen nur, wie unterschiedlich sie beide doch waren. Ein Gedanke, der sie daran erinnerte, welches Anliegen ihn anfänglich in diese Sache hineingezogen hatte.
"Ich möchte Dir noch etwas sagen, ehe wir im Wachhaus ankommen und das Geschehen zu Protokoll bringen müssen. Ich habe Timotheus dein Anliegen heute früh nochmals vorgetragen. Mit anderen Worten natürlich. Ich konnte Informationen zu dem von Dir gesuchten Mann herausfinden."
Er starrte sie nahezu emotionslos an und so sprach sie einfach weiter.
"Sein Name lautet KeKil Schott Waldiger und er ist..."
Für einen Sekundenbruchteil meinte sie, so etwas wie Jubel in seinen Augen aufleuchten zu sehen. Dann jedoch verschwand der Ausdruck von einem Moment zum nächsten und er unterbrach sie schroff.
"...und er ist Zeugwart unter Käptn' Sironbloer auf der Unermüdlich. Ich weiß."
"Oh... gut."
Sie senkte den Blick und zog den Mantel enger um sich.
"Können wir dann endlich mal los?"
Die Stimme des Bergigers klang wieder ruppig wie eh' und je, als er sie zur Eile antrieb und resigniert dachte sie:
'Zumindest weißt Du prinzipiell, woran Du bei ihm bist.'

~~~ Pseudopolisplatz, Raum 201 ~~~


Die letzten Tage waren turbulent gewesen und auch wenn ein Vampir keinen Schlaf im eigentlichen Sinne benötigte, so fühlte Valdimier doch so etwas wie Erschöpfung. Er schloss seine beiden Schätzchen, die Zwillingswaffen, im Büroschrank ein, nahm die Armeni-Brille zur Hand und korrigierte ein letztes Mal den Sitz seines weiten, schwarzen Umhangs, eher er auf den Flur hinaus trat.
'Lilith wird froh sein, wenn ich endlich wieder daheim bin. Diese Zwei-Tages-Bereitschaften machen sie immer nervös.'
Er zog die Tür zu seinem Büro zu und runzelte bei dem Gedanken an die vorangegangene Nacht die Stirn.
'Es ist eine Schande! Unsere Arrestzellen hochgehen zu lassen und dann auch noch ungeschoren damit davon zu kommen! Die Verbrecher Ankh-Morporks werden sich die Lästermäuler über uns zerreißen. Sachbeschädigung wäre ja schon schlimm genug gewesen, mit diesem riesigen Loch in der Außenmauer. Aber dass es auch noch eine gezielte Befreiungsaktion war und sie diesen weißhaarigen Alten mitgenommen haben, den wir kurz zuvor aus den Trümmern gefischt hatten, diesen Spezizisten... unmöglich!'
Das einzig Positive, was ihm zu der ganzen Sache einfiel, war der Blick des Kommandeurs, als dieser davon erfuhr.
Valdimier musste unwillkürlich grinsen, als er mit diesem Bild vor Augen den Gang hinunter ging und auf die Korridorecke zusteuerte, an der das Büro eben jenes Vorgesetzten lag.
Eine Stimme erklang in seinem Kopf und er blieb wie angewurzelt stehen.
'…und wenn ich einfach bei ihm anklopfe und ihn um eine Aussprache bitte? Ich weiß natürlich, dass er mir absichtlich aus dem Wege geht, seit dem letzten Vorfall. Dass er ausschließlich einen schriftlichen Bericht angefordert hatte, sogar mit Rohrpost, macht das noch deutlicher. Aber er ist doch auch Püschologe und da dürfte er doch eigentlich nicht… Valdimier?'
Er blinzelte verwirrt.
'Ophelia?'
Er hörte hinter der Gangkurve ein hastiges Rascheln, ihr Herzschlag beschleunigte sich drastisch und dann fiel leise eine Tür ins Schloss. Was jedoch nichts daran änderte, dass er ihre Gedanken noch immer inmitten der seinen wahrnahm.
'Vielleicht, wenn ich mich hier verstecke… oh, bitte! Es soll aufhören! Bitte-bitte-bitte!'
Seine Vampirsinne orteten sie fast beiläufig und es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass sie den instinktiven Fehler der meisten Opfer begangen und sich in einen einsamen, kleinen, dunklen Raum geflüchtet hatte, mit nur einem möglichen Fluchtweg, in welchem sie ihm den direkten Zugriff erleichterte.
'Ausgerechnet den Sitzungsraum für die Püschologen!'
Sie schrak merklich zusammen und er konnte innerlich beobachten, wie sie sich wirkungslos darum bemühte, ihre Gedanken vor ihm abzuschirmen. Im gleichen Moment, in dem sie ihr Scheitern durch seine Gedanken betrachtet realisierte, begann sie sich überschwänglich zu entschuldigen.
'Es tut mir so leid! Bitte entschuldige! Ich mache das nicht absichtlich. Es passiert einfach. Und es wird immer schlimmer. Erst ist es nur in Extremsituationen passiert oder wie bei Araghast, wenn ich versehentlich Blickkontakt mit ihm hatte aber jetzt passiert es sogar schon durch Mauerwerk hindurch und auf größere Entfernungen und…'
Er gab sich einen Ruck, bog endlich um die Korridorecke und trat vor die unscheinbare Tür.
'Darf ich eintreten?'
Sie hielt die Luft an, bevor sie zaghaft antwortete:
'Wenn Du möchtest…'
Er trat schweigend ein und schloss die Tür wieder hinter sich.
Die stellvertretende Abteilungsleiterin von RUM saß ungewöhnlich blass auf der wurmstichigen Püschologencouch und sah mit weit geöffneten Augen zu ihm auf. Mit einem kleinen Bereich seiner Aufmerksamkeit realisierte er, dass sie ihr Haar plötzlich kurz und schwarz gefärbt trug. Viel auffälliger jedoch war: Der Vergleich mit einem in die Ecke gedrängten Reh lag nahe. Ebenso wie die eine oder andere Erinnerung aus seiner Jugend.
Sie las diese wortlosen Gedanken anscheinend ebenso leicht, wie seine zuvor ausformulierten, denn sie zuckte leicht zusammen und ihre Pupillen weiteten sich unwillkürlich.
Er musste bewusst durchatmen und zwang sich, einen Moment an die wundervolle Frau daheim zu denken, die auf ihn warten und solcherlei Eskapaden nicht tolerieren würde.
'Nein, keine Angst! Ich würde es nicht ernsthaft in Erwägung ziehen.'
Dem bewusst gesendeten Gedanken folgten andere, instinktivere auf dem Fuße, doch er ignorierte diese so gut wie möglich. So, wie er es immer tat, seit er das freie Landleben seiner Herkunft gegen das vorsichtigere in der Stadt eingetauscht hatte. So war es besser. Ansonsten würde es seinen Kollegen vermutlich deutlich schwerer fallen, ihm zu vertrauen, wenn sie wüssten, wie schmal der Grat war, an dem er sich tagtäglich entlang bew…
Ihre Blicke trafen sich im Zwielicht und zumindest einer Person gegenüber war sein Geheimnis soeben aufgeflogen.
Ophelia Ziegenberger wich seinem Blick aus - doch auch dieses Mal konnte keiner von ihnen beiden verhindern, dass die Gedanken zwischen ihnen unzensiert wechselten.
'Es tut mir leid, es tut mir wirklich so leid. Ich werde niemandem etwas davon erzählen…'
'…solange Du es dazu aussprechen müsstest?'
Sie schloss die Augen und dieses Mal lösten sich die Worte als verzweifeltes Flüstern von ihren Lippen.
"Ich weiß nicht, wie ich es aufhalten soll…"
Der Vampir setzte sich lautlos auf den Hocker ihr gegenüber und schlug dazu in routinierter Geste den Umhang beiseite.
"Das hat mit der Nacht begonnen, in der Du Rogis Leiche gefunden hast, oder? Vor etwa anderthalb Monaten? Damals habe ich Dich das erste Mal in meinen Gedanken gehört."
Sie nickte stumm, antwortete jedoch auch ungewollt gedanklich:
'Ja, damals hat es angefangen. Als es sich anfühlte, als wenn ich den Boden unter den Füßen verlöre.'
"Hmmm… und Du hast keinerlei Kontrolle darüber?"
Sie schüttelte den Kopf und wisperte:
"Nein, es entzieht sich mir völlig." Lautlos und unfreiwillig fügte sie hinzu: 'Sogar so weit, dass ich meine Verdeckte Ermittlung verraten und alles in Gefahr gebracht habe… wenn Ettark nicht gewesen wäre... und er weiß nun auch davon!'
Valdimier konnte nicht verhindern, dass sie seine Schlussfolgerung ebenso schnell in ihm las, wie diese ihm in den Sinn kam.
'Dann wird sie unweigerlich zur Belastung für die Wache werden. Ich würde sie keinesfalls in meinem Einsatztiehm haben wollen, wenn es ernst wird. Die Gefahr wäre zu groß, dass sie beispielsweise unsere Deckung auffliegen ließe. Und sie ist Stellvertretende Abteilungsleitung bei RUM. Weiß Romulus schon davon? In der Position hat sie Zugriff auf wichtige Ermittlungsergebnisse. Soweit ich weiß, müsste sie sogar die Standorte der Untoten Briefkästen verwalten… was das alles nach sich ziehen könnte, wenn diese Informationen in die falschen Hände ger…'
Ihre Schultern waren herabgesackt. Sie teilte seine Einschätzung mit großem Kummer und begann, wie zur unfreiwilligen Bestätigung seiner größten Befürchtungen damit, automatisch an die vielen Plätze der Stadt zu denken, auf denen die anonymen Kontakte der Wache Nachrichten hinterlegen konnten.
'Deosil-Tor, dritte Steinreihe von links. Auf der Schlechten Brücke, Briefkasten des ersten Hauses auf der linken Seite von den Schatten aus gesehen. Auf der Rückseite des Tempels der Geringen Götter, in der niedrigen Mauer zum Friedhof, mittig rechts, die kleine Kerzennische. Bei den Perlendocks, der neue Ersatz an der...'
'Genug!'
Ihre Aufzählung geriet ins Stocken. Er war versucht, mit seinen eigenen mentalen Einflussmöglichkeiten noch effektiver dagegen zu halten, um ihr diese Peinlichkeit zu ersparen, doch allein seine Überlegung dazu, lenkte sie mit einem leichten Panikanflug ausreichend ab. Sie presste die Lippen aufeinander. Und wandte überrascht den Kopf zur Tür.
'Mina?'
Valdimier bemerkte irritiert, dass er sich tatsächlich so sehr auf die Wächterin vor ihm konzentriert hatte, dass er die restliche Umgebung ausgeblendet hatte. Die typische Aura der untoten Kollegin eilte den Gang entlang und jene riss die Tür auf. Die schwarzhaarige Vampirin stand als dunkler Umriss im Türrahmen. Sie schien aufgebracht, sofern er das beurteilen konnte. Sie erfasste die Situation mit einem Blick. Und legte den Kopf verwirrt schräg. Offenbar hatte sie mit etwas Anderem gerechnet. Sie räusperte sich leise, überlegte kurz, sah sich schnell auf dem Gang um und entschied dann, dass sie keine formelle Einladung abwarten, sondern sich ungefragt zu ihnen dazu gesellen würde.
Die Tür schloss sich und sie waren zu dritt in dem engen Raum.
Mina von Nachtschatten blickte erst zu ihm und dann zu ihrer Vorgesetzten.
"Ophelia? Ich vermute, es ist nicht so, wie es aussieht?"
Valdimier dachte spöttisch:
'Zumindest schlägt sie nicht gleich zu, wie gewisse andere Wächter.'
Ophelia warf ihm einen tadelnden Blick zu, während sie Mina bereits zu beruhigen suchte.
"Mina, Du brauchst Dir keine Sorgen zu machen, Valdimier und ich sprachen nur gerade miteinander und da kam es zu einem... Missverständnis."
Das Gefühl der Kränkung brandete durch die gedankliche Verbindung und er hob überrascht die Brauen.
Von Nachtschatten blickte ihn an und musste blinzeln, als sie wiederum seine Emotionen auffing.
Sie blickten beide instinktiv zu der blassen Wächterin auf der Couch, welche nahe daran schien, vor Verzweiflung einen ganz und gar unpassenden Heiterkeitsausbruch zu erleben.
"Oh, wie schön! Jetzt werde ich auch noch zum ungebetenen Übermittler. Man sollte mich tief in der Erde vergraben, bevor ich einem Klacker Konkurrenz zu machen beginne."
Sie ließ ihre Stirn mit einem tiefen Stöhnen auf ihre aufgestützte Handfläche sinken.
Valdimier entschied sich zu einer bewusst verbal geführten Diskussion.
"Du benötigst Hilfe!"
Ophelia sah hoffnungsvoll zu ihm auf und gleichzeitig spiegelte sich dieses Gefühl in ihren frei fliegenden Gedanken:
'Kann es Hilfe geben? Kann es sein, dass er weiß, wie man mit solch einem Problem umzugehen hat? Ich wäre zu allem bereit! Hauptsache, es hört auf!'
Mina verschränkte die Arme vor dem Körper, während sie die geistige Verbindung mit dem starken Gefühl von Triumph speiste. Was aber nur eine Sekunde währte. Dann löste sie die trotzige Körperhaltung und ließ sich neben Ophelia nieder. Nun spürten sie alle das Bedürfnis zu helfen, wärmendes Mitgefühl.
Die beiden Frauen sahen einander an und ihm fiel auf, dass sie mit ihrer Blässe, den schlanken Shilouetten, dem offenen schwarzen Haar und den grauen Augen nunmehr wie Schwestern wirkten.
Ophelia blickte erstaunt zu ihm, als sie diesen Gedanken auffing.
Mina überwand ihre Zurückhaltung, was ihr nicht leicht zu fallen schien.
"Ich möchte mich nicht unerwünscht aufdrängen aber ich muss ihm Recht geben. Das hier ist nur ein Teil deiner neuen Fähigkeiten. Ich befürchte, Du weißt selbst jetzt noch nicht, wo die Grenzen dafür liegen, richtig? Vor einigen Wochen dachte ich noch, es würde nur uns beide betreffen. Und dass es sich womöglich von selbst wieder legt. Aber das tut es nicht. Es ist deutlich stärker geworden. Du musst etwas dagegen unternehmen! Und wenn es nur ist, Dir Hilfe zu suchen!"
Sie sprach und dachte gleichzeitig den einen Gedanken, der ihr dazu durch den Sinn schoss.
"Bei wem soll ich Hilfe suchen? Wer könnte mir damit schon weiterhelfen?"
Valdimier antwortete, ohne nachzudenken.
"Nun, wir beide sind beispielsweise zwangsläufig bereits eingeweiht in die Problematik. Und mit der geistigen Kommunikation kennen wir uns ebenfalls aus."
Minas Blick wurde von einem Gefühl milder Zurückhaltung begleitet. Er ergänzte daher:
"Und, ja. Es könnte durchaus von Vorteil bei der Problemanalyse sein, dass wir dabei unterschiedliche Schwerpunkte vertreten."
Die Vampirin lächelte Ophelia zaghaft im Halbdunkel zu.
"Selbst, wenn ich gar keinen Zugang zu deiner Art der Mitteilung hätte, würde ich Dir trotzdem helfen wollen. Wer weiß? Es gibt so viele Wege, ein Problem einzugrenzen. Uns fällt schon was ein. Ich werde unter keinen Umständen tatenlos danebenstehen!"
Ophelia blickte zwischen ihnen hin und her. Doch ihre hoffnungsvollen Gefühle verrieten sie bereits.
'Ich bin eine solche Belastung für sie, so aufdringlich. Und doch wollen sie mir helfen. Das ist zu viel des Guten. Andererseits kann ich unmöglich ablehnen. Ich möchte gerne zusagen. Ich bin es ihnen schuldig, ihnen allen, dass ich jede Hilfe annehme, die mir angeboten wird. Dass sie das wirklich machen wollen... ich kann mich glücklich schätzen!'
Valdimier lehnte sich zufrieden zurück.
"Dann ist es abgemacht. Was auch immer dabei herauskommen mag."
Er grinste schief.
Und Mina von Nachtschatten füllte den kleinen Raum mit einer emotionalen Springflut aus Erleichterung.

~~~ Luft zum Atmen ~~~


Die kleine Karte lag rauh an ihrer Handfläche an. Sie hielt sie fest, die ganze Zeit darauf bedacht, diesen kostbaren Schatz nicht versehentlich zu zerknittern. Gleichzeitig brachte sie es aber auch nicht über sich, die kurze Nachricht in der umgegürteten Tasche an ihrer Hüfte zu verstauen. Dazu musste sie viel zu oft darauf schauen, um sich glückstrahlend zu vergewissern, dass er sie tatsächlich nicht vergessen hatte. Im Gegenteil!
Ophelia hielt sich die Karte bei diesem unfassbaren Gedanken wieder vor Augen und sog die Bedeutung der wenigen Worte in sich auf, wie ein Ertrinkender die Luft, die er zum Überleben braucht.
'All die Zeit über!'
Ihre Füße trugen sie wie von selbst dem von ihm vorgeschlagenen Restaurant entgegen. Das Kleid, welches sie trug, würde sie noch am selben Abend in den RUM-Fundus zurückbringen. In ihrer Wächteruniform hätte sie keinesfalls im 'All Jolsons' auftauchen können und für den Umweg nach Hause war keine Zeit mehr verblieben. Es entsprach zwar nicht den Dienstvorschriften, Kleidung aus dem Fundus privat zu nutzen aber ihres Wissens nach würde auch keiner der Kollegen ausgerechnet jetzt auf dieses Kostüm Zugriff nehmen müssen.
Ihre Gedanken sprangen aufgeregt von einem Detail zum nächsten. Seine Handschrift gefiel ihr. Ebenso seine Ausdrucksweise.
'Was er wohl damit meint, dass wir uns damit "auf halbem Wege zwischen unseren beiden Arbeitsplätzen" treffen würden? In verlängerter Linie läge vor allem der Palast...'
Sie dachte daran, wie sie die Nachricht beim Betreten ihres Büros mitten auf der Arbeitsfläche des Schreibtisches vorgefunden hatte. Beim Betreten ihres zuvor abgeschlossen Büros wohlgemerkt!
Ophelia bog rechterhand vom Unteren Breiten Weg ab. Das 'All Jolsons' tauchte vor ihr auf und schon umfing sie der würzige Duft typisch ankh-morporkianischer Hausmannskost. Nur, dass hier mit frischen Zutaten gearbeitet wurde. Und dass die Menüs alle mindestens drei Gänge umfassten, zu denen sowohl Vorspeise, als auch Dessert gehörten.
Sie betrat das Restaurant. Ein Kellner empfing sie knapp aber höflich und sie informierte ihn darüber, dass sie erwartet würde.
"Es müsste ein Tisch auf den Namen Flanellfuß reserviert worden sein."
Der junge Mann nickte knapp und bat sie, ihm zu folgen. Sie gingen an gut besetzten Tischen mit plaudernden Gästen vorbei. Hastig schob sie die Einladungskarte in den Einschub ihrer Tasche. Sie spürte, wie ihre Nervosität sich steigerte. Ein Gedanke huschte unwillkommen durch ihren Sinn, als sie nach ihm Ausschau hielt.
'Er muss in mein Büro eingebrochen sein. Innerhalb der Wache. Und er deutet den Patrizier als Arbeitgeber an. Solche Dinge tut man nicht versehentlich. Möchte er mich vorwarnen, dass er Geheimnisse hat? Die habe ich ebenso. Wobei er offenbar gut darin ist, diese herauszufinden, immerhin hatte ich ihm nichts von der Wache gesagt. Will er mich damit vorwarnen? Andererseits... wenn es ihm um eine Bloßstellung gegangen wäre, um mir meinen Stand als Wächterin im Gegensatz zu dem seinen zu verdeutlichen, dann hätte dazu eine herablassende Notiz genügt. Will er mir also stattdessen sagen, dass er dennoch Zeit mit mir verbringen möchte?'
Und dann waren sowohl die Fragen, als auch die möglichen Antworten auf diese plötzlich egal, denn an einem der Tische erhob sich die schlanke Gestalt des Mannes, an den sie in letzter Zeit ständig hatte denken müssen. Er lächelte ihr entgegen und sie tat es ihm, ohne das geringste Zögern, gleich.
"Madame..." Ein wohliger Schauer rieselte ihren Rücken hinab, als er ihre Hand vor seine Lippen hielt und mit innigem Blick anfügte: "Ophelia!"
Seine Nähe raubte ihr fast den Atem, so dass sie in Erwiderung kaum mehr als seinen gehauchten Namen herausbrachte.
"Rach!"
Er hielt ihre Hand einen Augenblick länger, als unbedingt nötig.
"Ich habe mir Sorgen um Dich gemacht." Ehe sie auch nur auf den überraschend ernsten Unterton reagieren konnte, zwinkerte er ihr bereits wieder schelmisch zu. "Obwohl ich jederzeit auf Dich gesetzt hätte."
'Er weiß eindeutig mehr als reichlich!'
Die Wärme hinter seinen Worten tauchte ihre Welt dennoch in freundlichere Farben.
'Ich bin die ständige Vorsicht und das Misstrauen so leid.'
Sie würde dieses besondere Abenteuer unvoreingenommen auf sich zukommen lassen. Sie gestand sich ein, dass sie ihn mochte. Dass sie ihn sogar sehr gerne mochte.
'Es gibt immer Dinge, die man von seinem Gegenüber nicht weiß. Nichts davon soll mich daran hindern, ihm gegenüber auf mein Gefühl zu hören.'
Der Kellner brachte eine geöffnete Weißweinflasche und goss ihnen mit einem Selbstverständnis ein, das von klarer Anweisung kündete.
Ophelia hob amüsiert eine Braue, als sie ihr Glas entgegennahm. Sie schmunzelte Rach über den Rand hinweg zu.
"Du möchtest anstoßen? Worauf?"
Sein Blick schien nachzudunkeln und sie spürte ihren Herzschlag kräftiger werden.
"Auf uns beide..."
Ihre Wangen begannen zu glühen, doch sie hielt seinem Blick stand. Ihre Gläser stießen mit melodischem Klang aneinander.
Darauf konnte es nur eine mögliche Erwiderung geben.
"Auf uns beide! Auf die Zukunft!"

~~~ ENDE ~~~







Wen es interessiert, hier die Liste der Musikstücke, die maßgeblich zur Atmosphäre während des Schreibens dieser Single beitrugen; der Singlesoundtrack. Einfach den folgenden Bereich markieren und dadurch sichtbar machen.


- Sabrina Weckerlin "Einsames Gewand"
- David Guetta "Titanium"
- Kelly Clarkson "What doesn't kill you"
- Emely Sandé "Daddy"
- Alicia Keys "Girl on fire"
- Delain "Start Swimming"
- Steffanie Heinzmann "Diggin' in the dirt"
- Ivy Quainoo "Do you like what you see?"
- Rebecca Furgeson "Glitter and Gold"
- Carly Rae Jepsen "Call me maybe"
- Christina Aguilera "I am"
- Adele "Skyfall"
- Aura Dione "Friends"
- Glasperlenspiel "Echt"


[1] Zitat aus 'Whithout A Clue'

Mein Dank geht an Ettark, mit dem gemeinsam die Zeit der Arbeit an dem Mammut-Projekt unserer Parallelgeschichten viel zu schnell verging! Das allabendliche Sticheln und Piesacken hat mir außerordentlich Spaß gemacht und ich denke im Traum nicht daran, Dich von nun an links liegen zu lassen. ^^ Darüber hinaus habe ich, dank Dir, während des Schreibens an "Rache" gelernt, dass Dialoge-Skypen nur theoretisch eine gute Idee ist. ;-) Vielen Dank!

Zählt als Patch-Mission für den Verdeckte Ermittlerin-Patch.



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Feedback:

Von Ettark Bergig

18.5.2013

So, dann ist deine Geschichte wohl auch endlich aus der Bewertung draussen...
Also...
Es hat mir wirklich viel Spass gemacht, so mit dir zusammen zu arbeiten, die wenigen Momente, wo das nicht so war, sind nicht wirklich erwähnenswert ;-P
Und das ergebniss kann sich meiner Meinung wirklich sehen lassen.
Negative Kritik an deiner Geschichte habe ich... ausser den üblichen Verdächtigen (du schwaaaaafelst einfach zu viel, aus dem Stoff, den du da reingequetscht hast, hättest du auch 3-4 Geschichten machen können ;-) ) ... eigendlich nicht, die anwesenden Charaktere waren fast alle recht lebendig, die beschreibung des meinen hat mir sehr gut Gefallen, über den Plot darf ich eh nicht meckern, dein Stil ist überwiegend überragend... was bleibt noch...
Ich würde ja schreiben "gerne wieder", aber ehrlich gesagt, brauch ich jetzt erst mal ne längere verschnaufspause von dem Tempo, was du an den (Schreib-)Tag legst ;)

Von Rabbe Schraubenndrehr

22.5.2013

Soo... demnächst geht die Single aus der Bewertung, da muss ich also wohl noch schnell ein Feedback schreiben.. nungut. Die ominöse Geheimgruppe HIRN... ein interessantes Thema. Wir finden uns auf einem Friedhof wieder wo Rogi beerdigt wird und unsere Heldin ein unangenehmes zusammentreffen mit Ayami Vetinari hat. Ein schöner Einstieg, zumal die Beerdigung zweifellos ein interessanter Punkt in der Gesamtwachegeschichte ist.
Ophelias häusliche Probleme sind ein schöner Teil des Gesamtbildes und tragen zur charakterdarstellung positiv bei, es wird hier gut deutlich was ophelia durchmacht, ohen zu dick aufzutragen. Und dann... Dagomar. Sehr schön, wirklich. Dieser Teil hat mir wunderbar gefallen, ich finde die Interaktion zwischen den beiden sehr schön, er, der sich offensichtlich hoffnungen auf mehr als freundschaft macht, sie die ihn nur als kollegen sieht - Ich hoffe doch sehr dass man in der Zukunft noch reaktionen von ihm gegenüber rach zu sehen bekommt, das fände ich ziemlich.. lustig ^^
Die Infos über Omnien und so waren für mich recht neu, ist allerdings auch eine ewigkeit für mich her dass ich passende bücher gelesen habe.. Auf jeden fall sehr schlüssig und interessant zu lesen wie ophelia sich in ihre neue rolle einarbeiten muss. Auch alles weitere an vorbereitung - der besuch beim friseur, die jobsuche, das langsame einarbeiten in die kreise HIRNs war ein sehr guter ablauf, ich empfand es als sehr glaubhaft wie ophelia sich langsam aber stetig vorgearbeitet hat und dabei dennoch meistens ihre deckung aufrechterhalten konnte, sehr schön. Was paralell innerhalb der wache ablief fand ich einfach super lustig zu lesen. :) aber schön.. Theridae Lingand (oder so) ist ein ganz schönes biest finde ich, sie funktioniert aber gut als zweitidentität, ich hatte mich bisher nie mit dem vereckten ermittler dasein auseinander gesetzt, aber hier hat man finde ich einen wunderbaren einblick in diese spezialisierung gekriegt... ich glaube in diesem ausmaß wäre das gar nichts für rabbe ;) keine beherrschung... die hat ophelia dafür schon ziemlich gut gezeigt, bis zu dem zeitpunkt wo ettark auftaucht, zumindest. Aber vorher trifft sie ja jemand anderen... Rach. Ein interessanter Charakter und ich gebe zu dass mich deren weiteres verhältnis ziemlich interessiert. ^^ Weiß Ophelia eigentlich was er beruflich macht? Wäre ja interessant wie sie dazusteht... Aber egal, ettark taucht auf... super spannend.. ich habe mich ander stelle kaum noch eingekriegt beim lesen :D Ich finde toll wie er ihr absoult misstraut und dann regelrecht entsetzt ist dass sie ihn für einen möglichen mörder hält... Wunderbar ^^ Ihr zusammenspiel ist einfach herrlichst.
Und dann... das ende. Etwas arg einfach finde ich irgendwie, auf der anderen seite aber absolut logisch, wie sonst hätte es auch funktionieren können? Der dokumentdiebstahl war wohl die einzig sinnvolle lösung... und die vorstellung wie ettark versucht ophelia aus dem brennenden Gebäude zu bringen ist auch irgendwie lustig. Der Abschluss mit rach und ophelia im lokal war auch schön, alles in allem also eine runde geschichte... Gute Arbeit, Mäm :D Das war nun zwar wohl kein besonders aufschlußreiches feedback von mir aber.. ja.. ich habs versucht ;)

Von Remedios von Schwarzfell

17.4.2013

Uff, ich hoffe ich bring noch alles zusammen. :)
Ist schon ein Weilchen her, dass ich deine Single gelesen habe (und die spannendste Zugfahrt überhaupt hatte :)). Eigentlich wollte ich sie vor dem Bewerten nochmal lesen, aber das geht sich momentan leider nicht aus. Aber wird auch so gehen. :)
Ja, was soll man sagen? Erstmal das Positive: Wirklich sehr, sehr schön geschrieben, wunderbarer Stil, tolle Geschichte, spannend, viel Liebe zum Detail. Als eher schlampiger Schreiber finde ich es super, dass du die Geduld und die Genauigkeit hast, deine Szenen so toll auszumalen, das macht die Geschichte wunderbar dicht und man hat sofort das Gefühl, mitten im Geschehen zu sein. Ich hab mir bei einigen Stellen gedacht (zum Beispiel beim Gewitter): "Wow! Genau so muss das beschrieben sein! Das würd ich auch gern so ausdrücken können!" Du schreibst wirklich wirklich sensationell! :)
Was mir weniger gut gefallen hat war ehrlich gesagt Ophelia selbst. Ich weiß nicht, ob das nur mein Eindruck war - vielleicht sehen das alle anderen eh ganz anders - aber mir war sie eigentlich nicht soooo sympathisch. Ich hatte über weite Teile der Geschichte das Gefühl, dass sie gar keine richtigen Fehler oder Schwächen hat. Sie hat für jedes Problem eine Lösung, trickst alle aus, sei es Bregs

Von Ophelia Ziegenberger

24.05.2013 09:30

:) Vielen lieben Dank dafür, dass Ihr euch alle die Zeit genommen habt, diese wirklich lange Geschichte zu lesen!



Und euch Dreien ganz besonderen Dank dafür, dass Ihr obendrein auch noch bereit wart, mir ein ausführlicheres Feedback zu geben! :love:



@ Ettark: Jaaaa, Du hast Recht! Immer und in allem. :D :wink: ^^



@ Rabbe: Es ist zwar anscheinend verpöhnt aber ich nehme auch positive Kritik an. :scheinheilig: Ganz im Ernst... auch das was Du als deine Leseeindrücke hier zusammengefasst hast, hilft mir darin weiter, die Wirkung meines Geschreibsels besser einschätzen zu können. Zum Einen zeigt es mir, dass die Details tatsächlich so rübergekommen sind, wie ich es mir gewünscht habe. Beispielswesie eben, ob Dagomars Interesse dezent genug aufschimmert. Immerhin ist er sich, gemäß den Absprachen zwischen ihm und mir als Schreiber, dessen nicht so ganz bewusst. So wie Du es formuliert hast, scheint das aber geklappt zu haben. Auch war ich sehr verunsichert, ob der lange, lange Vorlauf der Geschichte, bis es zur "richtigen" Action kommt, für den Leser ertragbar sein würde. Mich hat an der Arbeit der Verdeckten Ermittler, auch bei meinen bisherigen Singles, immer gestört, wie leicht der Ermittler an die nötige Position im Getriebe zu gelangen scheint. Ich dachte immer, bei den ganz großen Fällen, wenn man zuvor keine Zugang zu einer Organisation hat und es um organisierte Kriminalität geht, da muss es doch schwieriger sein, viel mehr Zeit kosten. Das wollte ich eben endlich mal darstellen. Und leider ließ sich das nicht mit einem simplen "es vergingen drei Wochen harter Arbeit..." abtun. Das wäre mir nicht genug gewesen. Es hätte nicht gezeigt, wie sehr sowas auch an den Nerven zehren muss. Aber da in dem, was ich an Rückmeldungen bekommen habe, eigentlich wenn überhaupt dann nur die Gesamtlänge der Geschichte bemängelt wurde, nie die Länge dieser Anlaufphase im Vergleich zum Rest, freue ich mich riesig darüber, dass das Experiment gelungen zu sein scheint. Das Gekabbel mit Ettark als Kontrastcharakter hat wahnsinnig Spaß gemacht beim Schreiben, eben weil es so gut funktioniert. Da gebe ich Dir absolut Recht. Leider sieht Ophelia selber das anders und geht dem Schuft nun lieber soweit möglich aus dem Weg, was obendrein noch auf Gegenseitigkeit beruht, so dass es da vorerst weniger schöne Gelegenheiten geben wird, das zu vertiefen. ^^ Und zu der Beziehung zwischen Rach und Ophelia... da wird es in der nächsten Geschichte ganz viel neuen Stoff geben. Und, nein, sie "weiß" nicht, was er arbeitet. Sie vermutet da so Einiges aber sie werden sich beide hüten, ausgerechnet ihr so delikate Informationen zu überlassen. ;-)



@ Remedios: Dein Kommentar freut mich sehr. Vielen Dank für das überschwengliche Lob. :-) Ich finde es total niedlich, dass Du schreibst, ausgerechnet Ophelia selber hätte Dir als einziges an der Geschichte nicht so gut gefallen, sie sei Dir nicht so sympathisch gewesen. ^^ Das ist das für mich so Spannende an ihrer Entwicklung. Zu Beginn ihrer Wachezugehörigkeit war sie Everybodys Darling. Es gab niemanden, der sie nicht mochte. Das war nett zu schreiben aber nicht herausfordernd. Inzwischen teilt sie Meinungen wie andere Leute das Rote Meer. Das macht deutlich mehr Spaß beim Schreiben. :-D Also rein von daher ist es völlig legitim, wenn Du sie weniger magst. ;-) Dass Du ihr einen Mangel an Fehler und Schwächen zuschreibst allerdings, ist eine ganz andere Ebene der Kritik und exakt mein Problem beim Schreiben. *g* Du hast damit also nur einen Finger auf einen wunden Punkt gelegt und stehst keinesfalls allein da - im Gegenteil! Es gab inzwischen mehrere Mitschreiber, die mir das angekreidet haben, vorneweg ein sehr enthusiastisch auf diesen Punkt pochender Ettark und die etwas dezenteren Damen der Wacheleitung. :-D Du befindest dich also in erlauchter, ebenso wie erbarmungslos objektiver Gesellschaft. Ich möchte gerne kurz erklären, woraus die Problematik resultiert, um anschließend "Besserung" zu geloben. Ophelia war zu ihrer Geburtsstunde ein relativ unbeschriebenes Blatt. Die einzigen beiden Charaktermerkmale, die ich ihr bewusst und sehr ausgeprägt mit auf den Weg gab, waren deutlich präsente Selbstbeherrschung und Neugier in einem wachen Verstand. Aus meiner persönlichen Sicht betrachtet sind es immer auch diese beiden Eigenschaften gewesen, die sie tiefer in den Schlamassel ritten - und die ihr dennoch halfen, jedes Mal zu überleben und weiter zu kommen. Egal was ihr seither passiert ist, das ist so geblieben. Das ist meine Schreibkonstante bei all den Veränderungen, die sonst im rasend schnellen Tempo um sie herum geschehen. Ich verstehe natürlich, welchen Eindruck das vermittelt. Selbstbeherrschung in diesem Ausmaß muss wie Perfektionismus erscheinen und ist es ja auch bis zu einem bestimmten Punkt. Aus meiner Sicht macht es sie aber keinesfalls fehlerlos. Ich nehme an, dein Kommentar ist irgendwie unvollständig zu dem Punkt aber gerade der Hinweis darauf, als dein Beispiel, dass sie sogar Bregs' austrickst als "Lösung" eines Problems, zeigt eigentlich das Gegenteil. Aus meiner Überlegung heraus hat sie damit im Austausch für ein persönliches Anliegen (und Rache ist obendrein egoistisch und alles andere als edel!) Breguyars Vertrauen in sich zerstört, ein dermaßen gravierender Fehler, dass sie diesen noch lange bedauert! Nur als Beispiel für meinen Gedankengang dazu. *g* Das soll die Aussage, sie sei als Charakter zu stark gezeichnet, nicht relativieren! Zu meinem Versprechen, diese Kritik ernst zu nehmen und direkt anzugehen: Ettark hat mir in einem längeren Gespräch zahlreiche gute Tipps gegeben, wie Ophelia in der nächsten Geschichte was das angeht "menschlicher" werden kann, wie ich ihre Schwächen glaubwürdig hervorlocken und darstellen kann, ohne deswegen ihren Charakter zu verraten. Ich bin schon gespannt, ob der Versuch gelingen wird. :-)

Von Remedios von Schwarzfell

24.05.2013 11:44

Huhu,



ups, da ist tatsächlich was verloren gegangen. :D Ich glaub ich hab aber eh nur noch geschrieben, dass sie für meinen Geschmack immer einen Schritt zu viel voraus war und dass ihre Schwächen mMn. zum Teil gar keine richtigen Schwächen sind. Aber freut mich, dass du was damit anfangen konntest, war glaub ich meine erste Kritik :D

Von Magane

24.05.2013 19:36

Nicht everybodies Darling, ich hab Ophelia zu Beginn überhaupt nicht ausstehen können und hab Magane möglichst schnell erst in ein anderes Wachhaus und dann in eine gleichrangige Position verfrachtet, nur um sie nicht mit Ophelia aneinandergeraten zu lassen. So gesehen ist genau das was die anderen Chars von ihr entfernt das was Mag ihr näher bringt ;)



Mein Feedback:

Ich fasse mich mal kurz, dein ausschweifender Schreibstil ist auf die dauer etwas anstrengend. Zu viel von allem unterm Strich.

Was ich wirklich genossen habe war die enge Verwicklung mit Ettarks Single und die so unterschiedlichen Blickwinkel. Die neue Dimension in Ophelias Charakterentwicklung (Rach) finde ich großartig, und das liegt sicherlich nicht nur daran, dass ich Rach wirklich mag (Kompliment an Rogi ;))

Was das Zuperfekte an einem Char angeht, das wurde mir auch schon gelegentlich vorgeworfen. Ich finde deine Zerstörung der Perfektion geht ein bissel weit, die körperliche Behinderung allein hätte da schon gereicht, aber die mentale Leckage muss eingedämmt werden, im aktuellen Zustand ist der Char unhaltbar.

Den Schwimmtrick fand ich übertrieben, ich hätte das Problem vermutlich weniger James Bond-artig gelöst...

Von Ophelia Ziegenberger

24.05.2013 22:14

Auch Dir danke für deine Rückmeldung. :-) Witzig! Ich habe das überhaupt nicht bemerkt, dass Maggie ihr zu Beginn aus dem Weg gegangen ist. Sieh mal einer an! ^^ Die unterschiedlichen Blickwinkel von Ophelia und Ettark habe ich auch genossen. :-D Und die Entwicklung im Zusammenhang mit Rach ist für mich spannend und ich freu mich auch drüber. Mein ausführlicher Schreibstil könnte hier und da eine Heckenschere vertragen, da gebe ich Dir Recht - wenn es mir auch schwer fällt, einzugrenzen wo genau. Immerhin mag ich seinen Athmosphäreanteil recht gern. ;-)



Das mit der Diskussionsspanne zwischen "der Charakter ist zu perfekt" und "der Charakter ist jetzt doch etwas zu weit über die Klippe getrieben"... ich glaube, da bleibt mir nur rumprobieren. Jeder sagt was Anderes.



Die körperliche Behinderung allein sehe ich tatsächlich nicht als problematisch an. Es ist realistisch, dass man sich damit arrangieren und abfinden kann. Ich weiß das, weil ich selber in Behinderteneinrichtungen gearbeitet habe und mit denjenigen sprach, die das Mitleidgeheische nicht mehr abhaben konnten, weil es niemandem etwas bringt.



Ich habe Ophelia die Behinderung nicht deswegen angedichtet, weil ich ihr damit etwas nehmen oder etwas geben hätte wollen, sondern darum, weil der Ascher-Plot diesen besonderen Showdown verlangte und sie mir in die Quere geriet. Ich hatte beim Schreiben mit einer Ärztin in meinem Freundeskreis darüber gesprochen und ohne den Einsatz von Magie wäre, ansatzweise realistisch betrachtet, nicht einmal viel Spielraum verblieben, um sie auch nur überleben zu lassen! Da war die Folge einer Behinderung im Gegensatz dazu ein nicht nur logisches, sondern auch geringes Übel. Dass es zu keiner Folge-Operation kam war dann wiederum die logische Weiterführung ihres Charakters, ihrer Ängste.



Meiner persönlichen Meinung nach ist der rein körperliche Aspekt eben nicht viel mehr als ein "oberflächlicher Kratzer" bei einer starken Person, ein kleiner Schönheitsfehler. Natürlich wird das im Zusammenhang mit Rach noch etwas thematisiert werden - aber auch nur deswegen, weil die beiden sich körperlich etwas näher kommen und - viel wichtiger - weil jetzt erst die gefühlsmäßige Ebene Grund hat, zu greifen. Jetzt stellt sich ihr ja überhaupt erst ernsthaft die Frage, ob das Gegenüber sich mit Weniger als körperlicher Unversehrtheit zufrieden geben kann. In dieser Schwere gab es diese Überlegung während ihres Singledaseins vorher nicht. Ich meine... Narben sind auch keine echte Schwäche.



Meiner Meinung nach kann etwas zu Perfektes nur von etwas Innerem gekontert werden.

Klar ist das mit dem Leck inzwischen zu stark, um es dauerhaft zu bespielen. Es muss sich ändern. ;-)



Und dass Du ausgerechnet den James-Bond-Flair erwähnst, bringt mich zum Lachen - denn genau darauf sollte die Geschichte ursprünglich eine Hommage werden. :-D

Von Magane

24.05.2013 23:48

Erwischt, ich hab ne Schwäche für Bond ;)



Der Konkurrenzkampf, der entstanden wäre wenn sie damals bei RUM geblieben wäre, passte nicht zu dem was ich damals vorhatte, also wieso hätte ich ihn auch nur anspielen/erwähnen sollen. Hatte damals ziemlich die Nase voll von Konflikten ^^



Versteh mich nicht falsch, aber ein bisschen mehr als ein Kratzer ist der Arm schon, vom gesellschaftlichen Aspekt mal ganz abgesehn. Die Lähmung ist nicht einfach zu verstecken, damit wird sie sehr auffällig, verdeckte Ermittlungen sollten damit auf die Dauer schwierig werden. Aber bevor das zu einem Problem wird muss das andere Problem erstmal eingedämmt werden...

Von Ophelia Ziegenberger

24.05.2013 23:59

Ja, Verdeckte Ermittlungen sind damit endgültig passé. Auch da gebe ich Dir Recht. Ich sehe nur keine Charakterschwäche darin. ;-) ^^

Von Magane

25.05.2013 08:50

Bin halt ehr jemand der seinen Char Stück für Stück ändert und nicht alles gleichzeitig, bin wirklich gespannt was Ophelia macht wenn die aktuellen Probleme überstanden sind.

Von Ophelia Ziegenberger

25.05.2013 11:11

:) Ich auch!

Von Magane

25.05.2013 14:12

Komm zu SuSi, wenn bis dahin auch nur noch eine Spur Leben in der Abteilung ist ;)



Ernsthaft: Noch keine Pläne?

Von Ophelia Ziegenberger

25.05.2013 16:13

Ernsthaft! Oder das Gegenteil... Möglichkeiten; und davon viele. :-) Aber es ist grad alles in der Schwebe und ich habe mich noch nicht entschieden, in welche Richtung. ^^

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