Finsternis

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von Hauptgefreite Mindorah Giandorrrh (FROG)
Online seit 14. 10. 2004
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Mindorah kämpft um das Vertrauen eines Jungen und gegen ihre eigene Depression...

Dafür vergebene Note: 13

~~~

Tränen - lau
Auf meiner Wange
Wie Tau
Auf der Blüte einer Rose

In meinem Nacken,
Des Todes knochige Hand
Durch meine Finger
Rieselt der Sanduhr meines Lebens
Letzter Sand

Das letzte Sandkorn
Fällt
Ins Leere

Todesengel
Nehme mich auf
Beende
Des Lebens
Qualvollen Lauf

~~~





Schlaftrunken setzte Nils seinen Fuß auf die nächste Treppenstufe. Der weiche Samt, mit dem die Stufen ausgelegt waren, schmeichelte seinen nackten Zehen und trocknete den dünnen Schweißfilm, der an seiner Fußsohle haftete. Die ebenfalls verschwitzte Hand, die er fahrig am dunklen Holzgeländer entlang rutschen ließ, erzeugte ein quietschendes Geräusch, das in der morgendlichen Stille ungewöhnlich laut klang. Durch die großen, verstaubten Fenster im Bibliothekssaal am Ende der Treppe drang fahles Licht und malte Flecken auf den flauschigen, schwarzen Teppich. Von verschwommenen Erinnerungen der wirren Träume der Nacht benebelt, wankte der Junge Stufe um Stufe nach unten und betrat schließlich den von den Sonnenstrahlen angewärmten Stoff. Staub tanzte in den nach den Bögen des Fensters geformten Lichtsäulen. Die unzähligen Bücher, die sich Rücken an Rücken in hölzerne Regale drückten, füllten den Raum mit einer Atmosphäre, wie nur Bücher es zu vollbringen mochten. Schicksale und Geschichten schienen die Zwänge der Worte verlassen und sich vom Papier lösen zu wollen. Die Gedanken und Gefühle der Schriftsteller schienen wie der Staub in der Luft zu hängen. Und inmitten dieser Eindrücke schritt Nils die hohen Regale entlang zu der Lesenische, in der er seinen Onkel vermutete. Schritt um Schritt näherte er sich dem Ende der Buchreihe, die es zu umrunden galt. Ein Buchrücken nach dem anderen verschwand aus seinem Blickfeld und wurde für sein momentanes Bedürfnis unwichtig. Einen Augenblick, eine kurze Distanz musste er noch zurücklegen. Dann schließlich wandte er seinen Kopf, sodass seine Augen den Körper erfassen konnten, der schlaff und leblos in dem Sessel aus rissigem schwarzen Leder hing.
***

Gelangweilt starrte Mindorah Giandorrrh aus dem Fenster des Taubenschlags. Die Augen schirmte sie mit einer ihrer bleichen Hände ab, sodass der grelle Sonnenschein, der so gar nicht zu ihrer melancholischen Stimmung passen wollte, sie nicht blendete. Provokant krochen die Sonnenstrahlen über ihren ganzen Körper, wärmten und erhellten ihn, was hinsichtlich der kalten Leere, die sie erfüllte, paradox erschien. Ihre Gedanken wandelten jedoch in Schatten, weshalb, vermochte sie selbst nicht so recht zu sagen. Als sie sich schließlich abwenden wollte, um sich auch körperlich in dunklere Gefilde zu begeben, vernahm sie ein rasch lauter werdendes Geräusch. Irritiert suchte sie mit ihren Augen den Himmel ab, woraufhin sie auch sofort eine wild auf sie zu flatternde Taube entdeckte. Träge trat Mindy einen Schritt zur Seite, um dem Vogel eine freie Flugbahn zu gewähren. Kurz darauf wurde das Licht der Sonne verdunkelt, als die Taube durch die kleine Luke schoss. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihr, das Tempo zu drosseln und ihre Krallen um die Landestange zu schließen. Fast erwartete man ein durchdringendes Quietschen von Bremsen, das jedoch ausblieb. Stattdessen entleerte sich der Vogel mit einem atemlosen Krächzen und richtete schließlich seine schwarzen Perlaugen auf Mindorah. Die Kommunikations-Expertin hatte die metallene Kapsel schon zwischen dem zerzausten Gefieder geortet und machte sich nun zielstrebig daran, das Behältnis von dem Vogelbein zu lösen. Nicht ohne eine gewisse Neugier schraubte sie die Kapsel, die im Sonnenlicht grell aufblitzte, auf und zog mit den Fingerspitzen einen zusammengerollten Zettel hervor. Mit einem leisen Rascheln faltete sie das Papier auseinander und strich es glatt. Sie musste die Augen zusammenkneifen, um die kleinstmöglichst hingeschmierten Buchstaben entziffern zu können. Angestrengt legte sie den Kopf erst auf eine, dann auf die andere Seite und probierte variabel einige Distanzen von den Pupillen zur Schrift aus. Endlich kam sie zu dem Schluss, dass sie die Worte Bregs in die Mondteichstr. 12 erkennen konnte. Sie seufzte. Die schwarzen Haare hingen strähnig in ihr bleiches Gesicht, ebenso wie die trüben Gedanken über ihrer Stimmung hingen. Ohne einen konkreten Grund zu kennen, erschien ihr die Welt oberflächlich und leer. Wie eine gefühllose Hülle schlich sie durch das Leben, geführt von den unsichtbaren Fäden des Alltags, in die sie eingebunden war. Ohne jede Kraft auszubrechen und ohne jeden Sinn, der als Hoffnungsschimmer zu sehen wäre. Verschwommen trieben ihre Gedanken durch die innere Leere, plätscherten dahin wie eine melancholische Melodie aus stummen Klängen. Jäh zuckte sie zusammen. Ihre Hände fuhren ruckartig durch ihre Haare und sie schüttelte energisch den Kopf. Ebenso schloss sie ihre Augen, presste die Lider fest aufeinander. Verzweifelt machte sie den Versuch, die Dunkelheit abzuschütteln. Augenblicklich löste sie die verkrampften Bewegungen und schritt etwas wackelig zur Tür des Taubenschlags. Fest entschlossen, ihrer depressiven Laune den Riegel vorzuschieben und stattdessen die naive Freude hinein zu zerren, stapfte sie die einbruchgefährdete Treppe hinab und schlug den Weg zu Araghast Breguyars Büro ein. In den Gängen erntete sie einige verwunderte Blicke; der Kampf der Gefühle unter ihrer körperlichen Hülle war ihr wohl anzusehen. Als sie schließlich vor der hölzernen Zimmertür des Püschologen stand, war sie unsicher, zu welchem Zweck sie sich an selbiger Stelle befand. Ohne jegliches Erstaunen hätte sie eingewilligt, wenn Bregs sie auf die sprichwörtliche Couch gebeten hätte. Auffallend heftig klopfte sie gegen das gemaserte Holz. Gleich darauf ertönte die Aufforderung einzutreten, in Gestalt eines knappen "Herein" 's, das dumpf durch die Tür klang. Mindorah tat wie ihr geheißen, drückte die Klinke hinab und trat durch die Öffnung in den Raum. Araghast saß hinter seinem Schreibtisch und ließ die Pupille des Auges, welches nicht von einer Klappe bedeckt war, über die Seite eines Buches wandern, das vor ihm lag. Erst nachdem sie einige Male von rechts nach links spaziert war, sah er auf und bedachte die Hauptgefreite mit einem aufgeschlossenen, neugierigen Blick.
"Was gibt's?", erkundigte er sich.
"Du wirst gebraucht", antwortete Mindorah und streckte dem Püschologen die Nachricht entgegen.
Bregs legte den Kopf schief und schwieg. Lediglich seine Mundwinkel verzogen sich zu einem verschmitzten Lächeln.
Peinlich berührt wurde Mindy der drei-Arm lange Abstand zu Araghast bewusst, welchen sie nun eilig verkürzte, um den Zettel vor dem Feldwebel auf das aufgeschlagene Buch zu legen. Der überflog die Buchstaben, erhob sich von seinem Platz und ließ das Papier achtlos in seine Hosentasche fallen.
"Dann werde ich dem Ruf mal folgen", teilte er Mindorah seinen Beschluss mit und schritt zur Tür.
Die Kommunikations-Expertin nickte unsicher und passierte mit Bregs die Türschwelle. Der Püschologe schlug in schlurfendem Gang den Weg zum Ausgang ein. Trotzig lenkte Mindorah ihre Schritte ihm nach, ohne konkretes Ziel, aber in der Hoffnung den Sieg im Kampf gegen die schlechte Laune davon zu tragen. Mühsam zwang sie ihre Mundwinkel nach oben, während sie Araghast durch die Gänge der Wache und schließlich durch die großen Flügeltüren nach draußen auf die belebte Straße folgte.
Die Stirn des Püschologen kräuselte sich kurz, als er leise "Mondteichstraße" vor sich hin murmelte, bevor er sich einer Gasse zuwandte und das Tempo seiner Schritte wieder aufnahm. Mindorah drängte weiter hinter ihm her, schlängelte sich zwischen den skurrilsten Gestalten hindurch und wich einigen Eselskarren aus. Irgendwann blieb der Feldwebel stehen und wandte sich um. Erstaunt und etwas verwirrt musterte er Mindy. Verdutzt öffnete er den Mund, schloss ihn jedoch gleich darauf wieder ohne ein Wort von sich gegeben zu haben. Die Hauptgefreite blickte ihn nur ausdruckslos an. In ihren tiefgrünen Augen schien sich Melancholie zu verbergen, jedoch fühlte der Püschologe sich nicht zuständig. Er zuckte die Schultern und drehte sich wieder dem Lauf der Straße zu, um seinen Gang fortzusetzen. Ebenso setzte sich auch Mindy wieder in Bewegung. So ließen sie Pflasterstein um Pflasterstein hinter sich, als seltsames Gespann, die magere Gestalt Araghasts, dessen langer schwarzer Zopf beim Gehen leicht hin und her schwang und Mindorah, den Blick abwesend auf die schmutzige Straße gerichtet. Das ebenfalls schwarze Haar wogte in den Luftzügen, die regelmäßig durch die Häuserreihen zogen. Beide trugen sie die schwarz-grüne Kleidung der FROGs. Auf der Brust prangte das Abzeichen, von dem ein Abbild des Moporkschen Krustenbrecherfrosches hervor starrte.
Schließlich erreichten sie ein großes Gebäude in der Straße, die an der Ecke durch ein brüchiges Schild mit der Aufschrift "Mondteichstraße" gekennzeichnet war. Neben dem hohen zweitürigen Eingang war die Ziffer 12 aus Messing angebracht. Vor dem Haus, das wegen seiner türmchengleichen Anbauten eher einer Villa glich, parkte ein Eselskarren, der das Wappen der Wache an seiner Seite trug. Ein eiserner Zaun mit verzierten Spitzen am oberen Ende grenzte den Garten von der Straße ab. In der Mitte des Zaunes befand sich ein geschwungenes Tor, durch welches Araghast und Mindorah nun eintraten. Ein hell gekachelter Weg führte durch den verwilderten Garten. Die Sträucher und Pflanzen schienen früher einmal in streng gehaltenen Formen gewachsen zu sein, hatten sich inzwischen jedoch längst verselbstständigt und rankten über Weg und Haus. Der Eindruck, vor einer Villa zu stehen, verflüchtigte sich mit der Annäherung. Die glamourösen Verzierungen zeigten Risse auf. Der Putz blätterte von den Wänden und das Holz der Eingangstür wirkte morsch. Der Zahn der Zeit hatte seinen Teil der Pracht abgenagt. [1]
Araghast stieß den rechten Flügel des wuchtigen Eingangs auf und betrat die kalten Kacheln eines Foyers. Sein Schritt hallte laut in dem Raum nach, was dazu führte, dass ein Stockwerk höher die Tür der Bibliothek aufgerissen wurde.
"Hallo", schallte die bekannte Stimme Rogi Feinstichs durch das Haus und kurz darauf kam auch ihre uniformierte Gestalt auf der breiten Treppe zum Vorschein, welche sich vor Araghast ausbreitete.
Inzwischen hatte sich auch Mindorah vom Anblick des Gebäudes losgerissen und trat hinter dem Püschologen in die Eingangshalle. Verdutzt wiederholte Rogi ihre Begrüßung und fügte noch hinzu: "Waf machft du denn hier?"
Statt einer Antwort zuckte die Hauptgefreite nur stumm mit den Schultern. Besser hätte sie es mit Worten auch kaum erklären können.
"Wie auch immer, Araghaft, da oben galoppiert ein fiemlich aufgelöfter Mann durch die Bibliothek", erwiderte der Lance-Korporal und unterstrich die Bemerkung mit einer Geste in Richtung Decke.
Der Püschologe nickte pflichtbewusst und machte sich mit Mindorah im Schlepptau an den Aufstieg.
Kurz darauf stellten sie fest, dass Rogi keineswegs übertrieben hatte. Ein hochgewachsener Mann preschte durch den Raum, sodass seine lichten grauen Haare kaum hinterher kamen. Seine Hände schlug er immer wieder vors Gesicht und sein Jammern diente als Geräuschkulisse für die arbeitenden Wächter. Kolumbini beendete seine Versuche, den Mann zur Ruhe zu bringen, sofort, als er den Püschologen erblickte und rollte entnervt mit den Augen.
"Ich übergebe gerne", raunte er Araghast zu, bevor er in dienstlichem Tonfall anfing, zu berichten: "Dieser Mann, ein gewisser", der Ermittler blätterte eilig in einem zerfledderten Notizblock, bis er auf einer eng beschriebenen Seite stoppte und weitersprach "Friedrich von Thaler, stürzte sich heute Vormittag durch die Eingangstür der Wache und redete in einer unsagbaren Geschwindigkeit auf uns ein, 'es sei eine Katastrophe, unverantwortlich, ein furchtbares Unglück, wie könne das geschehen' und so weiter. Auffallend häufig erwähnte er seinen Sohn und dass man ihm das doch nicht zumuten könne. Angesichts der Aufregung des Mannes haben wir eilig eine kleine Truppe zusammengestellt und sind Herrn von Thaler zu diesem Haus gefolgt, wo wir dann", Kolumbini deutete hinter sich zu einer Nische, die hinter einem langen Regal verborgen war, " dort eine Leiche vorfanden. Es handelt sich seiner Aussage nach um seinen Bruder. Handelt sich wohl um Selbstmord, die Pulsschlagadern sind durchtrennt. Dann ist da noch Friedrich von Thalers Sohn, der sich seit unserer Ankunft nicht vom Fleck bewegt hat, die ganze Zeit sitzt er an ein Regal gelehnt und starrt vor sich hin... Und nun walte deines Amtes und sorge dafür, dass der gute Herr von Thaler unsere Ermittlungen nicht weiter unnötig erschwert, indem er wie ein Wirbelwind durch den Raum fegt und uns mit seinem nervtötenden Gejammer in den Ohren liegt!"
Der Ermittler legte seine Hand auf Bregs' Schulter und gab ihm einen leichten Schubs in Richtung des aufgewühlten Mannes, der weiterhin starren Schrittes durch die Bibliothek hetzte.
"Ich werde sehen, was sich machen lässt", erwiderte Araghast und überquerte zielstrebig den schwarzen Teppich.
"Guten Tag", sagte er in leisem, ruhigem Tonfall. Er hob die Hand und ließ sie auf dem Rücken seines Gegenübers ruhen. Gedämpft sprach er weiter, wobei sein Augenmerk mehr bei der beruhigenden Wirkung seiner Worte lag, als bei deren Inhalt.
Mindorah stand währenddessen unsicher im Zimmer und lauschte auf die Gespräche, die an ihre Ohren getragen wurden. Sie wendete ihre Konzentration von dem Püschologen ab und ließ ihren Blick durch den Saal schweifen. Die Seitenwände waren mit hohen Regalen gepflastert, in denen ein Buchrücken dem nächsten folgte. Ebenso hielt es sich mit den Regalen, die in den Raum hineinragten und unkoordiniert angeordnet waren, sodass Mindorah sich fühlte, wie vor dem breiten Mittelgang zwischen zwei Labyrinthen aus Holz und raschelndem Papier. Durch die großen Fenster in der Frontwand, die mit vielen Bögen ausgestattet waren und an Kirchenfenster erinnerten, fiel Sonnenlicht auf den mit schwarzem Teppich ausgelegtem Boden. An den rauen Wandstücken dazwischen hingen altertümliche Gemälde mit prunkvollen goldenen Rahmen. In auffallendem Rotstich waren die Oberkörper von hochnäsig blickenden Personen dargestellt, allesamt mit einem kleinen Messingschild am unteren Bildrand gekennzeichnet. Hinter der Hauptgefreiten breitete sich das voluminöse Treppenhaus aus, welches wahlweise zum Foyer im Erdgeschoss oder weiter nach oben führte. Schließlich war rechts zwischen den Regalen eine große Flügeltür erkennbar.
Friedrich von Thaler hatte sich inzwischen unter Araghasts Obhut etwas beruhigt. Gerade ließ er sich an Mindorah vorbei zur Treppe führen und ließ sich mit dem Püschologen auf einer der Stufen nieder. Kolumbini indessen war wieder hinter einer Regalreihe verschwunden, aus der leises Stimmengemurmel hervordrang. Langsam schritt Mindy darauf zu, der süßliche Geruch von Blut stieg ihr in die Nase und sie machte sich auf den Anblick einer Leiche gefasst. Ihre Füße trugen sie weiter an den Büchern entlang. Vielleicht konnte ihr die Nähe des Todes den Sinn für das Leben wiederbringen, dachte sie ohne viel Hoffnung. Die gesprochenen Worte wurden deutlicher und sie vermochte Rogi Feinstich darin zu erkennen, die mit von Ekel erzitterter Stimme von sich gab: "Langfam beginnt ef hier fu ftinken, wir hätten vielleicht auch gleich ein paar mehr Leute anfordern follen, damit die Leiche inf Wachhauf befördert wird und in die Pathologie, fallf daf nötig ift."
Als nächstes löste sich der Tonfall des Spurensicherers aus der Geräuschkulisse: "Auf keinen Fall wird der Tote bewegt, bevor ich mit meiner Arbeit fertig bin!"
"Ift ja schon gut", murmelte Rogi und entfernte sich ein paar Schritte, wodurch sie am Regal vorbei in Mindorahs Blickfeld geriet. Eine Taube saß auf ihrer Schulter und zupfte in ihrem zerzausten Haar herum. Als sie die Kommunikations-Expertin bemerkte, drehte sie leise gurrend den Kopf und richtete die glänzenden schwarzen Augen auf sie. Ein winziges Lächeln umzuckte Mindorahs Mundwinkel und sie kraulte das Tier flüchtig am Genick. Kurz darauf schweiften ihre Augen weiter und sie erblickte den leblosen Körper. Er lag schlaff in einem zerfurchten Ledersessel zwischen zwei Regalreihen. In einigem Abstand untersuchte Charlie Holm einen erloschenen Kerzenstummel nach Fingerabdrücken.
Der Kopf der Leiche war schräg zur Seite gekippt und ruhte nun auf der Rückenlehne des großen Sessels. Graue Haare bedeckten den Schädel, in denen an einigen Stellen noch eine Spur schwarz aufblitzte. Die Augen des kantigen Gesichts waren geschlossen und die fleckige dünne Haut spannte über den Augäpfeln. Eine eckige Brille war auf die unterste Spitze der Nase gerutscht. Der Ausdruck im Gesicht schien leer und Mindorah konnte keinerlei Aussage darin ablesen. Ob der Tod den Ausdruck der Gesichtszüge mit fort nahm, wenn er einen holte?
Mindy ließ ihre Pupillen weiter nach unten wandern, über das schicke dunkelblaue Gewand bis zu dessen Ärmeln, deren untere Enden vom Blut fast schwarz gefärbt waren. Die Arme schlackerten rechts und links über die Lehne und die blutüberströmten Hände hingen schlaff hinab. In jeder Falte in den Händen und Fingern hatte sich die rote Flüssigkeit gesammelt. Der Teppich unter dem Sessel war getränkt und glänzte feucht. Die nackten Füße des Toten ruhten in seinem Blut. Unter der rechten Hand lag ein wertvoll erscheinender Dolch im nassen Stoff des Teppichs, ein Rinnsal Blut führte über die blanke silberne Schneide und den mit dunklem Leder eingebundenen Griff.
Mindorah überkam ein Gefühl der Übelkeit, dieser Anblick hatte nichts der erhabenen Melancholie von Todesgedanken, weckte allerdings auch alles andere als die Lebensfreude in ihr, allenfalls ein Brechreiz wurde aus seinem Schlummer getrieben. Die Hauptgefreite wandte sich ab. Mühsam unterdrückte sie den Drang, sich zu übergeben. Obgleich sie nun schon mehrere Leichen zu Gesicht bekommen hatte, war das Schwindelgefühl nicht minder stark. Leicht schwankend entfernte sie sich einige Schritte von der Blutlache, in deren Mitte der Sessel thronte.
"Allef in Ordnung?", erkundigte sich Rogi mitfühlend.
Mindy machte eine fahrige Bewegung des Nickens und presste ein "Geht schon" zwischen ihren fahlen Lippen hervor. So schnell es ihr möglich erschien torkelte sie mit unsicheren Schritten weiter durch eine Gasse der Bibliothek und besann sich auf eine ruhige, tiefe Atmung. Der eindringliche Geruch des Toten, der sich nicht aus ihren Nasenflügeln lösen wollte, löste Ekel in ihr aus. Ganz mit sich selbst beschäftigt wäre sie so beinahe über die schmalen Unterschenkel eines Jungen gestolpert, der stumm an einem Regal lehnte. Verdutzt blieb die Wächterin stehen. Kolumbini saß in der Hocke neben dem Kind und blickte zu Mindorah auf. Seufzend erhob er sich und sagte: "Wenn du auf Konversation aus bist - keine Chance, der Junge gibt keinen Ton von sich..."
Die Hauptgefreite antwortete nicht, woraufhin der Ermittler ein weiteres Mal seufzte, sich an ihr vorbeidrückte und in Richtung der Leiche davon stapfte.
Mindy hingegen war fasziniert. Die Augen des Jungen waren tiefblau und starr nach vorn gerichtet. Sie versuchte, seinen Blick zu erhaschen, doch es gelang ihr nicht. Trotzdem entdeckte sie in den Tiefen seiner Iris die Schatten der Rastlosigkeit, der Melancholie. Ein Schauer überkam sie, als ihr klar wurde, dass sie den Spiegel ihrer eigenen Gefühle in den Augen erkannte. Fassungslos ließ sie sich neben den Jungen fallen und suchte mit ihren Schulterblättern die Reihen der Bücher nach Mulden ab, in die sie selbige betten konnte. Als sie eine annehmbare Position gefunden hatte, wandte sie ihren Kopf zur Seite und musterte den Burschen. Aufgrund der Tiefgründigkeit seines Blickes war das Alter schwer zu schätzen, ihre Vermutung fiel jedoch auf ungefähr sechzehn. Dunkelblonde Haare zierten seine Kopfhaut. Sie wirkten zerrauft und standen wild und ungeordnet in alle Richtungen ab. Die Augen wurden von schmalen Augenbrauen gesäumt. Seine Haut war hell und weich, lediglich die Nase stieß klein und knochig daraus hervor. Die Lippen hielt er schmal aufeinander gepresst. Die schlaksigen Arme hatte er verschränkt, nur die obersten Glieder seiner langen Finger lugten unter seinen Oberarmen hervor. Er trug ein edles, schwarzes Hemd und eine verschlissene Hose aus festem, grauem Stoff. Mindorahs Blick schnellte zurück zu seinem Gesicht und blieb an seinen ausdrucksstarken Augen hängen. Sie schienen in die Ferne zu blicken, in ewige Finsternis, die für Hoffnung keinen Platz ließ. Mindy war wie gefesselt von dem Anblick der traurigen Augen. Voller Furcht und doch mit einer außergewöhnlichen Faszination wartete sie gebannt auf den Moment, wenn er seinen Blick auf sie richten und ihn mit ihr teilen würde. Einige Male war sie versucht, etwas zu sagen, doch nie traute sich tatsächlich ein Laut aus ihrem Mund. So saßen die beiden stumm nebeneinander, umhüllt von der starren Stille, die die Worte der anderen Personen im Raum nicht zu durchdringen vermochten. Und als der Moment tatsächlich kam, dass er sich zu ihr wandte und sein durchdringender Blick ihr galt, war sie so perplex, dass sie erst einige Sekunden später den Nachhall seiner Worte in ihren Ohrmuscheln wahrnahm.
"Wer bist du?", hatte er mit voller dunkler Stimme gefragt.
"Mindorah", antwortete sie endlich und ihr Name erschien ihr schrill die Atmosphäre zu durchbrechen.
"Dein Name", erwiderte der Junge, "ja, aber", langsam und deutlich sprach er weiter, jedes Wort einzeln betonend, "wer bist du?"
Unsicherheit schlich sich in Mindorahs Bewusstsein, jedoch musste sie nicht lange überlegen, ehe sie mit bebender Stimme anhob zu sprechen: "Ich bin jemand, die sich in der Melancholie deines Blickes wiedererkannt hat."
Diesmal nickte der Junge zustimmend. Den Blick ließ er forschend auf ihr ruhen. Jedoch dauerte es kaum ein paar Minuten bis Unruhe durch den Gang wallte.
"Nils", ertönte ein lauter, hektischer Ruf, "du Armer, lass uns nach Hause gehen und nicht mehr an das alles denken, ja?!"
Herr von Thaler trampelte auf sie zu, ohne Pause mit der übertriebenen Konversation fortfahrend: "Ich regele das alles mit den Herren und Damen Wächtern, du musst dich da um gar nichts kümmern! Am besten machen wir uns was schönes zu essen und schlafen uns dann erst mal richtig aus!"
Schwungvoll stoppte er vor dem Jungen, der augenscheinlich sein Sohn war. Einige Meter hinter ihm tauchte nun Araghast auf.
"In Ordnung, gehen Sie vorerst nach Hause, ich komme dann morgen wieder zu Ihnen. Falls Sie davor das Bedürfnis haben, mit mir zu reden, kommen Sie zur Wache", ließ er sich vernehmen.
"Ja ja, Hauptsache, Sie belästigen Nils nicht", winkte er ab.
Dieser war inzwischen aufgestanden und warf einen letzten Blick auf Mindorah. Danach folgte er seinem Vater, der sich schon wieder davon begeben hatte und dabei immer noch wild auf den Jungen einredete. Laut polterte er die Treppe hinunter und endlich, mit dem Zufallen des Eingangstores verklangen auch die letzten hektisch gesprochenen Worte Herrn von Thalers.
Araghast und Mindorah atmeten fast zeitgleich auf.
"Hat er mit dir gesprochen?", fragte der Püschologe dann, während er Mindy interessiert musterte.
Die Hauptgefreite nickte. "Ja, und zwar", im Stillen rechnete sie nach, "genau zehn Worte..."
"Na ja, immerhin fünf Worte pro Stunde", erwiderte Araghast grinsend und fügte gleich darauf ernst hinzu: "Wenn du Lust hast, kannst du mich morgen zum Haus der von Thalers begleiten. Ich habe mit dem Vater genug zu tun, auch wenn der an dem aktuellen Todesfall wohl weniger leidet, als an dem Selbstmord seiner Frau vor elf Jahren. Natürlich könnte ich einen anderen Püschologen dazu bitten, aber die stecken alle selbst mitten in einem Fall. Außerdem bist du nun wohl oder übel schon an der Sache beteiligt und dass der Junge überhaupt schon mal ein Wort mit dir gewechselt hat, kann nur von Vorteil sein."
Mindorah staunte. Mit solch einem Angebot hatte sie nun wirklich nicht gerechnet, allerdings konnte sie nicht leugnen, dass die Neugier sie gepackt hatte. Die Faszination war nicht gewichen, im Gegenteil, es juckte sie in den Fingern danach, die Trauer des Jungen zu ergründen. So beeilte sie sich, den Vorschlag zu bejahen, bevor der Püschologe es sich anders überlegen würde: "Ja, doch, ich komme gerne mit", haspelte sie ihm entgegen.
"Gut. Allerdings musst du mir versprechen, dass du mich bei dem kleinsten Gefühl, überfordert zu sein oder der Gefahr, dass das Kind sich oder jemand anderem etwas antut, verständigst. Ist das klar?", streng hielt er den Blickkontakt mit seinem Gegenüber.
Mindorah schluckte - worauf hatte sie sich da schon wieder eingelassen?!
Dennoch nickte sie. "Ja, natürlich, das verspreche ich", sagte sie mit belegter Stimme.
"Gut", wiederholte Araghast, "dann sehen wir uns morgen in der Wache."
"Okay, bis dann", verabschiedete sich die Hauptgefreite und salutierte unsicher. Langsamen Schrittes ging sie nochmals am Tatort vorbei, um Charlie Holm und Kolumbini ein knappes "Tschüss" zuzurufen, vermied dabei allerdings gründlich den Blick auf die Leiche, deren Geruch immer beißender wurde und erkundigte sich noch kurz nach Rogi, woraufhin sie erfuhr, dass diese sich schon auf den Rückweg zum Wachhaus gemacht hatte.
So schritt sie noch ein letztes Mal an den langen Bücherreihen entlang, ließ die Fingerspitzen sachte an den Buchrücken entlang streifen und stieg schließlich die Treppe hinab ins Foyer.
Tief in Gedanken versunken begab sie sich zur Wache. Während sie die seltsamen Ereignisse des Tages noch einmal in Gedanken durchspielte und sich immer wieder den Anblick der Augen des Jungen in Erinnerung rief, erfüllte sie ihre Pflichten als Kommunikations-Expertin, indem sie das Futter und Wasser der Tauben wechselte und sich auch in Form von Streicheleinheiten mit den Tieren beschäftigte. Die Gedanken an die merkwürdigen Erlebnisse ließen sie nicht in Ruhe, bis sie am Abend in einen unruhigen Schlaf fiel.

***


Erleichtert schloss Nils die Tür zu seinem Zimmer. Die schrille, aufgeregte Stimme seines Vaters klang noch dumpf in seinen Ohren nach und er schüttelte den Kopf, um selbst den Nachhall endgültig zu vertreiben. Sein Schädel brummte und die Müdigkeit legte sich wie ein Schleier über die finstere Klarheit seiner Gedanken. Ohne Eile zog er Streichhölzer aus seiner Hosentasche. Mit einem Zischen flammte eines auf. Bedächtig entzündete er drei hohe, weinrote Kerzen auf einem dreiarmigen Leuchter, dessen gold-glänzendes Metall von Wachstropfen übersäht war. Nach und nach füllte sich der kleine Raum mit flackerndem Licht. Der Junge setzte sich an einen dunklen Holzschreibtisch in einer Ecke des Zimmers und zog eine schwarz eingeschlagene Kladde zwischen zwei zerfledderten Gedichtbänden aus einem Bücherstapel hervor. Andächtig strich er über den dunklen Stoff. Dann hob er den Buchdeckel und blätterte langsam Seite für Seite um, bis er bei einem unbeschriebenen Blatt angelangt war. Er nahm die Schreibfeder auf, die am Rand der offensichtlich vielbenutzten Tischplatte lag und tauchte sie in ein beflecktes Tintenfass. Seine Hand mit dem Federkiel ruhte kurze Zeit in der Luft, bevor er sie auf das Blatt senkte. Leise kratzte die Feder auf dem rauen Papier, als er in feinsäuberlicher Schrift Zeile für Zeile aus seinen Gedanken in die Kladde übertrug...

Eingehüllt
In
Schwarze Schatten
Der Vergangenheit

Umzingelt
Von
Dunklen Scharen
Meiner Gedanken

Spürbar
Die
Kalte Nähe
Des Todes



***

Langsam schlich sich der Schlaf aus Mindorahs Bewusstsein und ließ einen Nebel aus Erinnerungsfetzen ihrer wirren Träume zurück. Unwillig wälzte sie sich zur anderen Seite und schlug die Augen einen Spalt breit auf. Durch den Schleier ihrer Wimpern musterte sie die fleckige weiße Wand neben ihrem Bett. Ein ausgiebiges Gähnen drang aus ihrer Kehle. Missmutig schlug sie die Decke zurück und schwang ihre Beine durch die stickige Luft aus dem Bett. Durch die vom Schmutz trüben Fensterscheiben schien helles Sonnenlicht und außer dem üblichen Lärm der Leute, die sich schon früh morgens durch die Straßen Ankh-Morporks schoben, fand auch leises Vogelgezwitscher den Weg zu Mindys Gehör. Die Laune der Wächterin wusste noch nicht so recht, in welche Richtung sie schwanken sollte, so entschied sie sich vorerst für unschlüssige Leere. Die Eindrücklichkeit der gestrigen Erlebnisse war verblasst und so kamen Mindorah Zweifel, ob die Zusage zur Aushilfs-Püschologin nicht zu voreilig gewesen war. Seufzend richtete sie sich auf und tapste mit aufgrund der Müdigkeit, die es sich in ihren Gliedern zu bequem gemacht hatte um so schnell schon zu verschwinden, unsicheren, schwankenden Schritten zu dem chaotischen Haufen von Klamotten vor ihrem Schrank. Mutwillig missachtete sie die Spiegelscherbe neben ihrem klapprigen Bett - den Fehler, nach dem Aufstehen einen Blick hinein zu werfen, hatte sie schon zu oft begangen und nicht selten hatte er ihrer Laune einen deutlichen Schwenk nach unten gegeben. Träge wühlte sie in den Kleidern und fischte schließlich Unterwäsche, eine verwaschene schwarze Hose, an deren Nähten sich schon einige Fäden gelöst hatten und deren Hosenbeine mehrere kleine Löcher zierten und eine dunkelgrüne Bluse, auf die mit fahrigen Stichen ihr Rangabzeichen und das FROG-Symbol genäht waren, heraus. Schläfrig hüllte sie sich in die Klamotten. Anschließend pflückte sie ein grobes Seil aus der Unordnung auf dem mit unzähligen Macken versehenen Holzboden und zog es locker als Gürtel durch die Schlaufen an ihrer Hose. Während sie mit den Händen durch ihre zerzausten Haare fuhr, fiel ihr Blick auf das lange Schwert, das an einer Wand des kleinen Raumes lehnte und aus dem Chaos der herumliegenden Dinge herausragte[2]. Unschlüssig blickte sie es an und kaute auf der Unterlippe. Sie bezweifelte, es heute zu brauchen, so entschloss sie sich kurzerhand dagegen, es mitzunehmen. Was ihr angesichts des Gewichts und dem Verlust an Beweglichkeit, der mit der Mitnahme des Schwertes einhin kam, auch nicht unrecht war. "Ich muss mir endlich mal einen Dolch zulegen", murmelte sie und spekulierte, ob ihr heute Abend noch Zeit dafür bleiben würde.
Ein erneutes Gähnen lenkte sie von ihren Überlegungen ab. Widerwillig trottete sie zur Tür, schlüpfte in ein Paar Sandalen mit breiten Riemen und öffnete die Tür. Geblendet blinzelte sie in die Sonne und verharrte einen Moment, bevor sie den Weg zur Arbeit antrat.

Mit dem Ellbogen drückte Mindorah die Eingangstür der Wache auf, während sie gierig in ein belegtes Brot biss, das sie unterwegs erstanden hatte. Zielstrebig, wenn auch etwas unsicher ob der neuen Erfahrungen, die sie heute wohl oder übel erlangen würde, schritt sie durch die Gänge zu Araghast Breguyars Büro. Vor der Tür angekommen, die mit Bregs' Namensschild gekennzeichnet war, schluckte sie den letzten Bissen des Brotes herunter, dessen Belag sie weder genau definieren konnte noch wollte. Hastig, bevor die Unsicherheit sie zu einem Rückzieher bewegen konnte, klopfte sie an das Holz.
"Herein", hörte sie das Brummen des Püschologen aus dem Zimmer.
Als sie eintrat, bot sich ihr ein ähnlicher Anblick wie am Tag zuvor - Araghast war über ein geöffnetes Buch gebeugt, das ihn über die Maßen zu fesseln schien. Seine rechte Hand klammerte an der Ecke der nächsten Seite und wartete gierig darauf, umblättern zu dürfen. Mindorahs Anwesenheit ließ ihn jedoch den Blick erheben, auch wenn es wirkte, als koste es ihn schwere körperliche Anstrengung, sich von den Zeilen loszureißen. Höflich wartete die Hauptgefreite bis die Augen des Mannes die ihrigen aufgesucht hatten, bis sie salutierte und Bregs freundlich begrüßte: "Gut'n Morg'n"
"Morgen", antwortete der Püschologe lächelnd, "sollen wir gleich aufbrechen oder willst du erst die Berichte von Kolumbini und Charlie Holm lesen?" Er deutete auf ein paar Blätter, die mit zwei Büroklammern unsauber in zwei Bündel getrennt waren. Hoffnungsvoll schielte Araghast dabei auf sein Buch.
Mindorah überflog das engbeschriebene Papier der Berichte kurz, jedoch verlockte sie der amtlich gehaltene Ton wenig zum aufmerksamen Lesen.
"Ach, lass uns lieber sofort losgehen", bat sie und legte die Schriften zurück auf einen Aktenstapel, der sich auf dem Schreibtisch des Püschologen befand.
"Einverstanden", entschied Araghast und schlug heftig sein Buch zu, "dann erzähle ich dir auf dem Weg die bisherigen Erkenntnisse."

Langsam schlurften sie nebeneinander her durch die hellen Straßen. Das Sonnenlicht tanzte auf den Körpern der FROGs und Mindorah stellte erfreut fest, dass ihre Stimmung den Strahlen heute freundlicher gegenüber stand. Zwischen den Pflastersteinen wagte sich hier und da ein Grashalm hervor, auch wenn sie aufgrund des großen Verkehrs wenig Überlebenschancen genossen. Blauer Himmel erstreckte sich über der wirren Stadt. Jegliche Wolken waren geflohen. Massen von Lebewesen drängten durch die Gassen und redeten wild durcheinander. Das Klappern von Eselshufen auf Stein, das Klatschen nackter Füße auf der Straße, lautes Gekreisch übermütiger Kinder, Hilfeschreie bedrohter Leute und aufdringliche Rufe von diversen Händlern bildeten den Geräuschteppich, über den die Worte Araghasts tollten, welche gerade seinen Mund verließen: "Also, Nils, der Junge mit dem du dich so lang unterhalten ...äh... geschwiegen hast", ein Grinsen huschte über die Lippen des Püschologen, "ist der Sohn von Friedrich und Julia von Thaler. Die Mutter des Kindes beging vor elf Jahren Selbstmord. Sofern Kolumbini und ich die besorgten Wortfetzen richtig deuteten, entdeckte Nils damals die Leiche. Kein Wunder also, dass er apathisch und depressiv wirkt. Der aktuelle Selbstmord betrifft den Bruder Friedrichs. Der Mann trug den Namen Heinrich von Thaler und besaß ein ziemliches Vermögen. Da wir bis jetzt keinen Abschiedsbrief oder Testament gefunden haben, ist aufgrund Mangels anderer Verwandten wahrscheinlich Friedrich mit seinem Sohn Alleinerbe. Deshalb schließen wir einen Mord nicht völlig aus, auch weil wir bisher kein Motiv für den Selbstmord kennen. Trotzdem gehen wir vorläufig von einem Selbstmord aus. Charlie hat den Dolch als vermeintliche Tatwaffe sichergestellt, Fingerabdrücke wurden jedoch durch das viele Blut unkenntlich gemacht."
Araghast machte eine kurze Pause, in der er Mindorahs nachdenkliche Gesichtszüge betrachtete. "Nils verbrachte drei Tage bei seinem Onkel", fuhr er dann fort, "gestern sollte Friedrich ihn wieder abholen. Als er allerdings beim Haus ankam fand er die Leiche seines Bruders vor und Nils, wie er regungslos an einem Regal lehnte und in die Luft starrte. Er eilte dann wohl recht bald verzweifelt zum Wachhaus... den Rest kennst du ja."
Erneut verstummte der Püschologe. Er wandte seinen Kopf zu Mindorah und sah sie mit strengem Auge an. Mindy hielt dem Blick stand, der Bericht hatte ihre Neugier wieder geweckt und der tiefe Spiegel ihrer Augen zeigte neben der schlummernden Melancholie lebhaftes Interesse.
"Du erinnerst dich an dein gestriges Versprechen?", setzte er schließlich wieder an. "Bei jedem Wort, jeder Geste, jeder Mimik, die auch nur die leiseste Besorgnis in dir weckt - sei es ein Hinweis auf eine Mordtat seines Vaters, sei es der Verdacht auf Selbstmord oder die Möglichkeit, dass der Junge Gewalt auf jemand anderen anwenden könnte - du sagst mir sofort Bescheid!"
Das war kein Befehl mehr, das war eine Feststellung, an der sich nicht rütteln ließ. Dementsprechend erwartete Araghast auch keine Antwort, sondern lediglich das Befolgen seiner Worte. Der Püschologe verlangsamte seine Schritte und musterte Mindorah ein letztes Mal eingehend, bevor er stehen blieb und aufblickte.
"Ich glaube, wir sind da", meinte er und zog einen Zettel aus der Hosentasche, mit dem er die Adresse verglich.
Die beiden FROGs standen vor einem schmalen Reihenhaus, dessen Fassade wohl vor langer Zeit einmal in leuchtendem Rot angestrichen gewesen war. Inzwischen erstrahlte sie nur noch in blassem Orange, von dem einige Stellen abgebröckelt waren und das blanke Mauerwerk bloßlegten. Neben der haselnussbraunen Tür gab ein Fenster den Blick auf einen Raum frei, welcher mit einem voluminösen exotisch erscheinendem Sofa, einem kleineren, allerdings ebenso ausländisch wirkendem Sessel und allerlei bunten Wandbehängen mit verschlungenen, verwirrenden Motiven ausgestattet war. Die Fenster des zweiten Stockes waren dagegen alle mit dunklem Stoff verhängt. Neben der Tür war abgesehen von der Hausnummer ein rechteckiges Holzschild angebracht, auf dem fein säuberlich eingraviert geschrieben stand: "Friedrich, Julia und Nils von Thaler" Einige Kratzer zogen sich über das Holz und neben dem Frauennamen war ungelenk ein Kreuz eingeritzt worden. Unterhalb der Platte ließ ein Rechteck weniger verblasster Farbe auf die Überbleibsel eines zweiten Schildes schließen.
Bregs stieg die zwei fleckigen Steinstufen zur Tür hinauf, an der ein eiserner Ring zum Klopfen befestigt war. Die Scharniere kreischten und ächzten, als der Feldwebel den schweren Ring an den Eingang schlug. Kurze Zeit später öffnete Friedrich von Thaler ihnen die Tür und ließ sie herein. Sie betraten einen stickigen engen Flur, der mit staubigen flauschigen Teppichen ausgelegt war und an dessen Wände klatschianische Tücher und Federn hingen. Von dem Gang zweigten zwei Türen und eine schmale Wendeltreppe aus dunklem Holz ab.
"Guten Tag, Herr und Frau Wächter! Nett, dass Sie sich herbemüht haben, aber ich glaube nicht, dass wir Ihre Hilfe jetzt noch benötigen", erklärte der Mann.
"Nun, ich würde mich allerdings gerne noch etwas mit Ihnen unterhalten", lächelte Araghast freundlich, "und meine Kollegin hier, Hauptgefreite Giandorrrh, wird sich derweil um Ihren Sohn kümmern."
"Nils hat schon genug um die Ohren, er soll damit nicht belastet werden", widersprach Herr von Thaler aufbrausend.
"Fräulein Giandorrrh ist Meisterin auf püschischem Gebiet", beruhigte Bregs ihn ohne mit der Wimper zu zucken, "Sie brauchen sich also keinerlei Sorgen zu machen."
Zweifelnd deutete Friedrich zur Treppe. "Er ist oben in seinem Zimmer, aber lassen Sie ihn mit dem polizeilichen Kram in Ruhe, er hat schon so viel durchgemacht, der Arme!"
Mit einem Seufzen ließ er sich von dem Püschologen durch eine der Türen begleiten.
Schleifend fiel die Tür zu und Mindorah fand sich allein in dem Flur wieder.
Wieso hab ich die dumme Angewohnheit, mir unnötig viel Verantwortung aufzuhalsen?, dachte sie seufzend und starrte ratlos in die Finsternis oberhalb der letzten Treppenstufen.
Eine mentale Barriere aus Unsicherheit und Furcht baute sich vor ihr auf, jedoch strebten die metaphorischen Finger der Faszination durch die Mauer hindurch und ließen Mindorah dennoch langsam die Treppe hinauf steigen. Während ihre Füße aus reiner Gewohnheit den Weg über die knarrende Treppe fanden, von deren Stufen bei jedem Schritt die Staubflocken aufwehten, erlebte Mindy ein Wechselbad der Gefühle. Unsicherheit und Neugier, Faszination, Spannung und Angst, Entschlossenheit und Furcht vor Überforderung tummelten sich rege in ihrem Bewusstsein und ließen sie nicht zur Ruhe kommen, wie steif sie auch wirken mochte, als sie die Treppe hinauf schritt.
Schwüle Dunkelheit umfing sie, als sie schließlich den Treppenabsatz erreichte. Die warme Luft staute sich in dem kleinen, fensterlosen Gang. Zwischen all der Wirren in ihrem Gehirn, fasste Mindorah den Entschluss, nicht lange zu überlegen, bevor sie Nils' Zimmer betrat. Andernfalls würde sie aufgeben.
Durch diesen Beschluss gestärkt, klopfte sie forsch an die erstbeste Zimmertür - ein schlichtes Stück Holz, geschmückt mit allerlei Flecken und Schrammen.
Es folgte ein kurzer Moment der Stille, bevor die Tür von innen geöffnet wurde. Das Holz schwang gemächlich zur Seite und gab Nils' Gesicht frei. Der Blick des Jungen nahm Mindy sofort wieder gefangen. Er schien in keiner Weise überrascht zu sein, jedenfalls ließ er sich keine Verwunderung anmerken. Mit wachen, durchdringenden Augen sah er die Wächterin direkt an.
"Hallo", würgte Mindorah mit trockenem Mund hervor, erhielt jedoch keine Antwort.
Nils schien gesellschaftliche Regeln und gemeingültige Floskeln nicht zu beachten, was Mindorahs Sympathie ihm gegenüber nur steigerte.
Der Junge trat ein wenig zur Seite und erlaubte der Hauptgefreiten somit, einzutreten. Langsamen Schrittes übertrat sie die Schwelle des Raumes.
Das Zimmer war dunkel. Das einzige Fenster war mit dünnem schwarzen Leinenstoff verhängt. Dennoch war der Raum mit Lichtpunkten gesprenkelt, die von den unzähligen Löchern des Stoffes herrührten. Unter dem Fenster befand sich ein Schreibtisch aus dunklem Holz, auf dem sich zerfledderte Bücher, Blöcke und lose Blätter ausbreiteten. Dazwischen ein Glas schwarze Tinte, eine Schreibfeder und ein dreiarmiger Kerzenleuchter. Die kahlen Wände zeigten Risse im Putz, wirkten grau und farblos. Und mitten in dieser trostlosen Kulisse stand Nils, aufrecht und blickte Mindorah an, mit Augen, deren unglaubliche Kunst, einen zu fesseln ihr inzwischen bekannt war und doch fremd und unbegreiflich.

***


Ein Stockwerk tiefer ließ sich Araghast gerade in einen Korbsessel neben einem großen Holztisch sinken.
"Wollen Sie was trinken?", erkundigte von Thaler sich, während er den Püschologen mit einer Miene anblickte, von der abzulesen war, dass der Mann nicht so recht wusste, was er von Bregs halten sollte.
"Nein danke", erwiderte der Feldwebel freundlich und betrachtete den Raum, der eine Art Mischung zwischen Küche und Esszimmer darstellte und entschieden anders eingerichtet war als der Flur. Schlichtes, helles Holz überwog beim Mobiliar und auch sonst überzeugte die schnörkellose Einfachheit des Raumes. Doch obwohl das Zimmer hell erleuchtet war, Staub vollführte einen heiteren Tanz in den breiten, warmen Lichtkegeln, die das Sonnenlicht durch die Fenster warf; die Einrichtung hell und klar war, sank die Atmosphäre des Raumes strikt in die entgegengesetzte Richtung. Die Stimmung vollbrachte es, trübe Düsternis über den Raum zu legen, gedankenschwere Schatten schluckten das freundliche Tageslicht.
Friedrich folgte den Blicken des Püschologen zum schlichten Mobiliar. "Der Flur ist noch ein Überbleibsel meiner Zeit als Hypnotiseur", erklärte er mit wackliger Stimme. Als er Araghasts verwunderten Gesichtsausdruck bemerkte, setzte er sich seufzend ihm gegenüber.
"Und Nils ist sicher in guten Händen?", erkundigte er sich ein letztes Mal, bevor er, bestärkt von einem sanften Nicken Bregs', begann zu erzählen: "Als junger Mann machte ich Karriere, müssen Sie wissen. Meine Künste der Hypnose wurden verehrt und erbettelt. Über die Stadtgrenzen hinaus war ich berühmt, obgleich ich nie etwas dergleichen gelernt hatte. Durch Zufall bin ich in dieses Metier gerutscht, ein Freund meines Bruders verdingte sich als Wahrsager und Hypnotiseur und suchte eine Aushilfe. Doch es zeigte sich, dass die Kunden begeistert von meiner Arbeit waren, bald geriet ich statt seiner ins Rampenlicht." Hatten anfangs die Worte nur zögerlich von Thalers Mund verlassen, so sprudelten sie nun nur so daraus hervor. Er geriet ins Schwärmen, alte Begeisterung schien aufzublühen, während er mit strahlenden Augen fortfuhr: "So kam es, dass ich mir einen eigenen Platz für meine Arbeit suchen musste, da ebendieser Freund meines Bruders mich verständlicher maßen nicht weiter beherbergen wollte. Da meine Kundenschar ebenso schnell wuchs, wie mein Ruf, wurde ich bald recht vermögend und die Wohnungssuche stellte für mich kein Problem dar. Ich kaufte dieses Haus und schmückte den Flur und ein Zimmer meinem Beruf angemessen, sodass ich vorne meine Kunden empfangen konnte, während ich im restlichen Haus meinem normalen Leben nachgehen konnte. Dieses Leben änderte sich jedoch bald entscheidend..." Er stockte, ein Leuchten erglomm in seinen Pupillen, welches den wässrigen, müden Augen ein völlig anderes Licht gab. Ein weicher Klang mischte sich in seine Stimme, als sein Mund die weiteren Worte formte, die schon längst nicht mehr dem Püschologen galten, sondern viel mehr das Abspulen längst verdrängter, verstaubter und vergessen geglaubter Erinnerungen darstellte. "..an dem Tag, als sich Julia in mein Leben einmischte und alle Prioritäten, die ich mir bis dahin gestellt hatte, von Grund auf änderte. Wie eine engelhafte Vision aus einer hypnotischen Trance, schön wie das Mondlicht, stand sie vor mir und lächelte ihr bezauberndes Lächeln. Diesem Lächeln bin ich erlegen, mein Herz flocht seine Stränge zu ihr und fesselte mein Leben an sie. Ich war abhängig von ihr und diese Abhängigkeit gründete tiefer als jede Alkoholsucht. Die Abhängigkeit brachte mir kein Leid, nein, so surreal mir ihre Erscheinung anmutete, so erfrischend wirklich war ihre Freude! Ihre Kunst, Fröhlichkeit in ihre Umgebung zu streuen, war größer als mein Talent zur Hypnose je hätte sein können. Ich verringerte meinen Kundenstamm und erlebte gemeinsam mit Julia jeden Tag aufs Neue eine Liebe, die an Intensität alle meine bisherigen Erfahrungen übertraf. Das änderte sich auch nicht, als Nils geboren wurde. Die Jahre waren beflügelt, eingebettet in entfesselte Liebe, umspielt vom Meer des Glückes, nur durchzogen von einer feinen Linie süßen Schmerzes der Angst vor dem Ende", der Mann stockte, "Und es kam. Ich fiel von abgrundtiefer Liebe in den Abgrund der Verzweiflung..." Das Leuchten seiner Augen erstarb. Seine Lippen erbebten. Bitterkeit erfüllte seine Stimme. "...als sie..." Augenblicklich verfiel von Thaler wieder in die jämmerliche Gestalt zurück, die er Zeit seiner Erzählung verlassen hatte. Die Pupillen blickten trüb, strähniges Haar fiel über das von Falten gezeichnete Gesicht, das nicht wirkte, als spräche es dem Leben mehr als die bloße Existenz zu. "...mich verließ", stieß er hervor, kraftlos, kaum hörbar.

***

Nils saß im Schneidersitz am Bettende und blickte die Wächterin mit aufmerksamen, ernsten Augen an. Mindy hingegen hatte steif an der Bettkante Platz genommen. Sie war angespannt und unsicher, was sie tun sollte; wie sie reagieren sollte - was Bregs von ihr erwartete. Der Junge jedoch schwieg geduldig und bald färbte seine Ruhe auf Mindorah ab. Während sie in seinen Augen versank, driftete sie wieder in die Melancholie ab. Und mit den Gedanken und Erinnerungen, die sie verschwommen durchflossen, liefen ihr Worte von den Lippen.
"Früher, als ich noch klein war, fühlte ich mich allein. Meine Eltern waren übermäßig besorgt um mich und hielten mich in unserem eigenen Haus wie eine Gefangene. Doch ich fühlte mich alles andere als geborgen - mein Vater hielt mir von klein auf vor, ich solle so bald wie möglich einen Millionär heiraten und meine Mutter", Mindorah lachte kurz auf, ein schrilles, hysterisches Lachen, "hatte ihm nicht nur ihr Herz, sondern auch ihre eigene Meinung verschrieben. Wie ein Schatten folgte sie meinem Vater und nickte stumm und gehorsam zu jeder seiner Äußerungen. Wie ein Spiegel der Gesellschaft, die Einzelnen treten ihre Individualität mit Füßen und folgen heuchelnd der Masse, formbar wie es grade passt." Ihre Stimme triefte vor bitterem Zynismus. Als sie jedoch ihren Blick zurück zu Nils lenkte, verfloss ihre Wut in wiederkehrender Schwermut. "Später entkam ich den Krallen meiner Eltern, meine Einsamkeit jedoch blieb. Immer noch bin ich gefangen, in den Regeln des Alltags. Immer noch bin ich allein, wenn auch inmitten von Leuten..." Sie stockte; unterbrach mutwillig den Gedankenfluss. Irgendwas lief hier falsch! Sie sollte doch dem Jungen helfen und nicht umgekehrt. Sie sah Nils an, der sie aus dem Schatten der Zimmerecke heraus anblickte. Die Düsternis des Raumes machte keineswegs Halt bei seiner Gestalt. Auch auf seinem Gesicht spiegelte sich die Finsternis. Unendliche Schwärze in seinen Pupillen, tief, sodass man darin abzustürzen drohte.
Mindorah erzitterte.
***

Araghast reichte von Thaler ein Glas Wasser, an dem er vorsichtig nippte. Der Püschologe blieb neben dem Mann stehen und ließ die Hand beruhigend auf seiner Schulter ruhen. Ohne einen Anstoß sprach Friedrich von Thaler weiter. Seine Stimme klang müde; monoton. "Seitdem ging es abwärts - Ich verlor meine Kunden und musste meinen Beruf schließlich ganz aufgeben. Nils zog sich zunehmend zurück und litt unter schweren Alpträumen, vielleicht bis heute. Ich weiß es nicht, er schweigt so viel... Und ich - ich versuche, meiner Traurigkeit und Verzweiflung Herr zu werden." Seine Stimme versiegte. Reglos starrte er in sein Wasserglas.
Minuten verstrichen bis er aufblickte. "Das reicht jetzt aber, mein armer Sohn musste genug ertragen. Schon wieder mussten seine Augen als erstes das Leid erblicken. Das Kind braucht Ruhe, gehen Sie!"
Die Worte klangen kraftlos. Der nötige Elan fehlte, um ihnen Ausdruck zu verleihen. Die Furchen auf der Stirn des Mannes waren Falten der Ohnmacht und Trauer, nicht des Zornes. Dennoch nickte Bregs. "Wenn Sie das wünschen, gehen wir für heute. Morgen früh kommen wir wieder. Falls Sie zwischenzeitlich das Bedürfnis haben - zögern Sie nicht, sich bei mir beziehungsweise bei der Wache zu melden."
Von Thaler erhob sich von seinem Stuhl und führte den Püschologen matten Schrittes zur Tür.
"Und gönnen Sie sich auch etwas Ruhe", fügte Araghast mit einem eindringlichen Blick auf von Thaler noch hinzu.
Das ging allerdings unter in dessen heiseren Ruf: "Nils, schick die Frau runter, die Wächter gehen jetzt..."

***

Still schritten Araghast und Mindorah nebeneinander her. In Gedanken versunken starrten sie auf die Pflastersteine.
"Kamst du klar?", fragte Bregs schließlich mit einem Seitenblick auf seine Kollegin.
Mindy nickte flüchtig. Der Püschologe runzelte die Stirn und musterte sie.
"Kamst du klar?", wiederholte er eine Spur schärfer.
Mindy sah auf und nickte erneut, ernst diesmal, mit Nachdruck. "Ja", antwortete sie.
Sicherer, als sie tatsächlich war...

***

Schweigend saß Nils auf seinem Bett.
Die Ahnungen ließen ihn nicht los. Wie grelle Blitze zuckten Bilder einer verschwommenen Erinnerung durch den Lauf seiner Gedanken. Dumpf schlichen sie sich in jede seiner Überlegungen.

***

Ächzend schlüpfte Mindorah aus ihren Sandalen und taumelte zum Bett, wo sie sich hemmungslos fallen ließ. Schwerfällig wanderten ihre Augen über die gräuliche Zimmerdecke. Obwohl sie nun endlich zu Hause war und ihr Körper bequem in der durchgehangenen Matratze ruhte, wollte sich keine Entspannung einstellen. Fahrig kaute die Hauptgefreite auf ihrer Unterlippe herum. Nach ihrem überzeugten 'Ja' hatte sich Bregs zufrieden gegeben und den Blick seinerseits wieder auf die Straße gelenkt. Sie selbst allerdings war alles andere als zufrieden. Ein ungutes Gefühl nistete seit dem Mittag in ihrer Magengegend und schien nicht bereit, sich allzu schnell wieder zu entfernen. Ein breiter Strom Gedanken walzte durch ihren Kopf und erstickte jede aufkommende Ruhe schon im Keim. Nils ging es dreckig. Mächtig dreckig. Das stand in seinen Augen, in großen, deutlichen Lettern.
...aber hatte sie nicht zu viel in die dunkle, melancholische Atmosphäre interpretiert? Hatte ihr Gehirn ihr das Verschwimmen der Schatten in seine Gestalt nicht nur vorgegaukelt?
Bestimmt!, startete sie einen erneuten Angriff, sich zu beruhigen, Er ist so jung. So viel Leid kann er nicht erlebt haben, dass sein Blick so finster ist; der verschwommene Spiegel seines Selbst in seinen Augen tatsächlich so schwarz...
Der Angriff misslang. Die Welt war finster; war irre und grausam.
Vor allem aber, war sie willkürlich.
Mindorah schloss die Augen. Verschloss sie mutwillig. Und ihre Gedanken gewährten ihr einen unruhigen Schlaf...

***

Nils Gedanken verloren sich in Schemen. Wahnvorstellungen. Traum. Wirklichkeit. Strudel der Erinnerungen. Ein Sog, der im Bewusstsein begann...und im Schlaf endete
...
Alles ist in Bewegung. Ich schwanke. Die Regalreihen ragen drohend in den Himmel.
'Seine Schuld', hallt es von allen Wänden. 'Seine Schuld', immer wieder, immer lauter. Meine Haltung - anklagend. Das Messer in meiner Hand - verlockend. Es blitzt verführerisch. Blitzt wie die Angst in seinen Augen. 'Seine Schuld' flüstert der lodernde Hass in mir. Verschwommene Bilder. Und immer wieder Hass -klar, scharf. Wie das Messer. 'Seine Schuld, seine Schuld'. Hass. 'Seine Schuld'. Schwärze. Nur noch ein kleiner Spalt. Meine Mutter. Unglaube in ihrem Blick, Verzweiflung. 'Seine Schuld'. Blut fließt über ihr Gesicht. Umrahmt ihre Augen, ihre weichen Lippen. 'Seine Schuld'. Blut quillt aus dem kleinen Spalt in die Dunkelheit. Es dreht sich. 'Seine Schuld', rote, verflossene Buchstaben.
Sein Gesicht, eine Fratze. Verzogen, voll Angst. 'Seine Schuld'. Panik in seinen Augen.
Schwärze. Hass. Finsternis.
Meine Schuld.


***


Gehetzt schlug er die Augen auf. Schweiß brannte auf seiner Haut. Brannte heiß wie die qualvolle Erkenntnis. Meine Schuld.

***

Schmutzige Sonnenstrahlen drangen durch die Fensterscheibe bis zu Mindorah durch. So lange streiften sie über das blasse Gesicht, tanzten über den schlanken Körper und schlichen zwischen die freiliegenden Zehen - die dünne Decke schob sich zerknüllt und wulstig quer über das Bett -, bis Mindy erwachte und müde in das Licht blinzelte. Ihre Wimpern waren verklebt, ihr Rachen so trocken, dass das Schlucken schmerzte. Fahrig strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht und quälte sich aus dem Bett. Als sie mit bloßen Füßen über die sonnenbesprenkelten Holzdielen zu einem Bottich Wasser stapfte, fühlte sie sich erschöpfter als am Abend zuvor. Bei dem Zuber angekommen, tauchte sie die Hände in das Nass und benetzte ihr Gesicht mit dem Wasser. Gierig trank sie. Als Mindorah wieder aufblickte, blendete sie die Sonne. Das Licht brach sich in den Wassertropfen, die wie Kristalle am Kinn der Hauptgefreiten hingen, und hüpfte über die Holzbohlen. Mit einer einzigen Handbewegung wischte !
sie sich die Tropfen vom Kinn und schleuderte sie verärgert von sich. Seufzend rettete sie ihre Pupillen vor den grellen Strahlen, versteckte ihren Blick. Erneut schien die Sonne sie provozieren zu wollen. Neckend kitzelten sie die Strahlen am Haaransatz und die Wärme kroch verspielt über ihren Körper. -
Ihre Laune war beschissen.



***


Er lächelte. Der Schreck war ruhiger Gelassenheit gewichen. Endlich - die Gewissheit. Erleichterung durchströmte ihn. Er wusste, was zu tun war. Es würde die Dinge wieder ins Lot bringen.

***


Als Mindorah diesen Morgen ihren Dienst antrat, lenkte sie ihre Schritte zuallererst zum Taubenschlag. Die Tiere begrüßten sie mit wildem Geflatter, sofort fühlte sie sich von einem Schwarm der Vögel besetzt. Mindorah rang sich ein Lächeln ab. Das Sonnenlicht legte ihr Gesicht als verzerrte Groteske dar - melancholische Augen, die in tiefem Grün aus der bleichen Haut stachen und ein Mund, dessen Winkel widersinnig nach oben gerafft waren, umrahmt von tiefschwarzem Haar, das wie zackige, schattenhafte Konturen in das Bild ragte.
Die tollpatschige Naivität der Tauben, die ihre Köpfe in vollem Ernst und Stolz in die Höhe reckten, zwang Mindy immer zu einem Lächeln, wie unpassend es auch sein mochte.
Unkonzentriert erneuerte die Kommunikations-Expertin das Wasser, das in Porzellanschüsseln gleichmäßig im Raum verteilt für die Vögel bereit stand. Die Tiere selbst schienen hingegen alles zu versuchen, um ihr die Arbeit zu erschweren. In unregelmäßigen Bahnen kreisten sie um die Wächterin, tapsten Slalom um ihre Füße und zupften penetrant an der abgenutzten Hose herum. Erst als sie den von Taubendreck ohnehin gemusterten Holzboden auch noch mit einer Handvoll Körnerfutter sprenkelte, ließen die Vögel insoweit von ihr ab, dass es ihr problemlos möglich war, einige Obst- und Gemüseschnitze an den angestammten Plätzen auszulegen. Schließlich ließ sie sich im Schneidersitz inmitten des stickigen Raumes fallen und musterte ihre Schützlinge. Wie meistens blieb ihr Blick bald an einer Taube hängen. Diesmal handelte es sich um ein Tier, das sie in Gedanken auf "Mona" getauft hatte. Braune Flecken unterbrachen ihr schmutzigweißes Gefieder. Ihre schwarzglänzenden Augen blitzten immer wieder kurz zu Mindorah hinüber, als wolle die Taube sich vergewissern, dass sie noch da war. Einem nervösen Zucken gleich schoss ihr Kopf immer wieder in einer abgehackten Bewegung zu einem der Körner auf den dreckigen Holzdielen, bevor es in dem gebogenen Schnabel verschwand. Während die Hauptgefreite noch die Bewegung des Lichts auf der dunkelgelben Tönung des Schnabels beobachtete, spürte sie, wie sich raue, runzlige Haut an dem kleinen Finger ihrer Hand rieb, mit der sie sich auf den Boden stützte. Überrascht wandte sie den Kopf und erblickte die blassorangefarbene Zehe ihrer Lieblingstaube Kira, die sich um ihren Finger schloss. Keck streckte der Vogel ihr ihren Schnabel entgegen, ein schwaches Glänzen in den aufgeweckten schwarzen Augen. Die Sonne malte eine Maserung in ihre pechschwarzen Federn. Erneut musste Mindorah entgegen ihrer miesen Stimmung lächeln. Vorsichtig entlastete sie die andere Hand und näherte sie der Taube, die erwartungsvoll ihren Hals reckte. Vor Behutsamkeit zitternd berührte sie die zarten Nackenfedern und vergrub ihre Fingerkuppen mit kreisenden Bewegungen in dem Flaum.
Jäh flog die Tür des Taubenschlags auf. Sofort brach wildes Chaos unter den Tieren aus. Grelles Krakeelen klang aus den aufgesperrten Schnäbeln, Dutzende Flügel flatterten hektisch und einige Federn segelten aus dem Gewühl von Vögeln herab. Auch Mindy war erschrocken zusammengefahren und starrte den Püschologen nun verständnislos an, der im Türrahmen stand und sie gereizt ebenfalls fixierte.
"Wieso kommst du nicht in mein Büro?", blaffte er, "Wir sind spät dran, ich hab' dich gesucht!"
"Für eine Kommunikations-Expertin ist ein Taubenschlag kein soo abwegiger Aufenthaltsort, oder lieg ich da falsch?", setzte sie ihm mit funkelnden Augen entgegen.
Der Tag kann eigentlich nur besser werden, bei so einer Ballung schlechter Stimmung, seufzte sie innerlich und packte vorsichtig Kira, die sich nach dem Schreck wieder neben ihr niedergelassen hatte. Vielleicht schaffte das Tier es ja, auch Nils ein Lächeln abzugewinnen.

Mindorah täuschte sich.
Es konnte immer noch schlimmer kommen.

***


Zufrieden legte er die Schreibfeder beiseite, während die Tinte lautlos in das raue Pergament sickerte. Mit ruhiger Sorgfalt strich er das Papier glatt und rückte es an seinen Platz. Die Begierde, die beim Gedanken an den letzten Schritt in ihm aufflammte, ließ ihn frösteln. Bald würde die Geschichte die Vollendung erfahren, die ihr gebührte.

***


Erneut schwiegen die beiden FROGs, als sie nebeneinanderher schritten. Diesmal jedoch schlich die Stille unangenehm um sie herum, wisperte geräuschlose Mahnungen des Ärgers. Hektisch hasteten die Kollegen zum Haus der von Thalers. Der heitere Sonnenschein wirkte falsch und das fröhliche Vogelgezwitscher schien wie ein Spottgesang.
Zweifel plagten Araghast, ob er der Hauptgefreiten zuviel zugemutet hatte; Ob er sie überschätzt hatte. Er fragte sich, ob sie mit ihren eigenen Depressionen, die sie offensichtlich manchmal befielen, nicht schwer genug zu kämpfen hatte. Der Püschologe hatte gehofft, Mindorah und der Junge könnten sich vielleicht ein Stück weit gegenseitig helfen, doch nun bekam er Bedenken.
Mindy hingegen trieb wie üblich ohnmächtig im düsteren See ihrer Gedanken. Abwesend strich sie über den Rücken der Taube, die auf ihrer Schulter saß. Der Vogel hielt den Kopf schräg zur Seite gelegt und suchte in dem leeren Blick der Wächterin nach ihrer Kommunikations-Expertin.
Die FROGs schwiegen immer noch, als sie nach vielen eiligen Schritten und noch mehr schleppenden Gedanken endlich ankamen. Der Eisenring schlug hart auf, als Bregs damit an die Tür klopfte. Friedrich von Thaler öffnete ihnen mit tiefen Ringen unter den Augen. Er wirkte zermürbt und als habe er kaum geschlafen. Ohne ein Wort ließ er die Wächter eintreten. Ein kurzer Blick streifte die Taube auf Mindys Schulter, doch es folgte keine erkennbare Reaktion.
"Nils war noch nicht unten, vielleicht schläft er noch", sagte er nur, seine Stimme klang erschöpft.
Träge stapfte Mindorah die Stufen hinauf, während sie im Hintergrund vernahm, wie Bregs schnappend einatmete und Herr von Thaler in ein Zimmer führte. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss und Mindy schleppte sich weiter. Das Geräusch ihrer Schritte hallte laut in ihrem Bewusstsein. Sie überwand die letzte Stufe und fand sich vor Nils Zimmertür wieder. Ein süßlicher Geruch löste sich scharf aus seinem Umfeld und stach in ihre Nasenflügel. Sie kannte den Geruch. Sie wollte ihn nicht kennen. Nicht erkennen.
Ohne zu klopfen drückte sie die Klinke nach unten. Die Tür schwang auf, die Scharniere quietschten aufdringlich. Ein rotes Rinnsal floss in der Ritze zweier Bodenbretter in Mindorahs Blickfeld. Ihre Augen folgten dem Blut, das lautlos über die Holzdielen sickerte. Sie wollte schreien, zusammenbrechen. Doch sie schwieg. Ruhig lenkte sie ihren Blick auf Nils. Umrahmt von der roten Kulisse seines Blutes lag er auf dem Rücken. Sein Gesicht ihr zugewandt, sein Mund zu einem unnatürlichen Lächeln verzogen. Nur die Tiefe war aus seinen Augen gewichen, Oberflächlichkeit ruhte in seiner blauen Iris. Die Gesichtszüge wirkten bitter und irr. Mindorah fühlte sich leer. Jäh durchflutete sie eine uferlose Müdigkeit. Und endlich sank sie zusammen, rutschte am Türrahmen abwärts, bis sie auf der Schwelle ruhte. Und während eine Träne langsam über die Rundung ihrer Backe glitt, lösten sich auch ihre Stimmbänder endlich aus ihrer Spannung und ein bebender Schrei verließ die Kehle der jungen Frau, die ihre Kraft nun endgültig am Ende sah...

Ein Schwung kalten Wassers klatschte Mindorah ins Gesicht und bündelte ihr Haar zu triefenden Strähnen. Entsetzt riss sie die Augen auf. Mit dem erschütternden Bild, das sich ihr bot, schoss ihr sofort ein lähmender Gedanke durch den Kopf. Ich habe versagt! Ich hätte seinen Tod verhindern können, wenn ich nur auf meine Ahnungen gehört hätte...
"Endlich", stieß Bregs erleichtert hervor, als er Mindys offene Augen erblickte. Gestresst sprach er weiter, in hastigen Worten, die klangen wie Befehle: "Hör mir zu, Mindorah, er lebt! Du musst jetzt deine Taube unter diesem verfluchten Bett hervorholen und zu Rogi schicken, wir brauchen sie hier unbedingt als Sanitäterin!"
Leise hallten die Worte im Gehör der Wächterin nach. Als sie Araghasts Botschaft realisierte, entfaltete sich eine Vielzahl von Gefühlen in ihrem Leib. Unglaube und Erleichterung sprudelten um eine Säule des Glücks. Es ist noch nicht zu spät!
Dankbar über die zweite Chance, die das Schicksal, ein Gott oder einmal mehr die schlichte Willkürlichkeit des Lebens ihr gegeben hatte, nickte sie. Mit zittrigen Händen umgriff sie den verschrammten Türrahmen und stemmte sich daran nach oben. Sie erlaubte ihrem Blick nicht, an Nils leblos erscheinender Gestalt zu haften. Die Taube, hämmerte es dumpf in ihrem Kopf. Suchend ließ sie ihre Augen zum Bett schweifen. Dünne, verzerrte Fäden von Blut vor dem Holzgestell glänzten im Sonnenlicht - Bregs hatte die Vorhänge beiseite geschoben und das Fenster weit geöffnet, ein Windhauch streifte Mindorahs feuchte Wange. Mit bebenden Gliedern ging sie vor dem Bett in die Knie und senkte ihren Kopf zum Boden. Wieder drängte sich ihr der süßliche Geruch des Blutes auf. Angestrengt durchforsteten Mindys Pupillen den Raum unterhalb des Lattenrostes. Die Sonnenstrahlen jedoch fanden kaum Wege bis unter das Bett, nur schemenhaft gelang es ihr endlich, die Taube wahrzunehmen.
"Kira", flüsterte sie leise, ihre Stimme klang belegt und hohl.
Das Tier scharrte leise mit der Kralle über den Boden, rührte sich jedoch nicht vom Fleck.
"Kira", wisperte sie erneut, "komm her, Kira!"
Ein vorsichtiges Gurren drang unter dem Bett hervor.
Mit fahrigen, zittrigen Bewegungen glitt eine von Mindys Händen in ihre Tasche. Durchforstend schwenkten die Finger durch den Inhalt, bis sie einige kleine Körnchen zu fassen bekamen. Nervös zerrte sie ihre Hand wieder heraus und reckte sie der Taube entgegen. Währenddessen lockte sie das Tier mit ungeschickten Schnalzlauten. Und endlich wurde das kratzende Geräusch der Taubenkrallen auf dem Holz kaum merklich lauter. Vorsichtig wagte sich Kira heran. Mindorahs Körper presste sich flach auf den Boden, ihr linker Arm ragte bis zur Schmerzensgrenze gedehnt unter das Bett. Die Finger, zwischen denen inmitten von Schweißperlen das Taubenfutter klemmte, bebten vor Anspannung und ihre Schulter drückte hart gegen das Bettgestell. Ihr Kopf kantete in Schräglage zwischen dem Boden und dem sperrigen Möbelstück. Während sie mit den Augen angestrengt die Bewegungen ihrer Taube verfolgte, biss sie trotz des knapp bemessenen Spielraums ihres Unterkiefers in eifriger Nervosität auf ihrer Unterlippe herum. Triumphal bohrten sich ihre Zähne in das zerklüftete Fleisch ihrer Lippe, als sie endlich den forschenden Schnabel an ihren Fingerkuppen spürte. Angespannt hielt sie ihre Position bis sie ihre Hand vorsichtig um die Brust der Taube schließen konnte. Kira gurrte empört und schlug wild mit den Flügeln gegen das Bett, doch langsam aber sicher gelang es Mindorah, den Vogel unter dem Möbelstück hervor zu bugsieren. Schweiß glänzte auf ihrer ohnehin nassen Stirn, als sie ihre Wirbelsäule endlich entlastete, sich in eine halbwegs aufrechte Haltung begab und die Taube erleichtert an ihre Brust schmiegte. Doch mit dem dauernden Mahnmal Nils' starren Körpers im Blickfeld gönnte sie sich keine Pause. Geschäftig angelte sie in ihrer Hosentasche nach Papier und Bleistift. Ihre Schrift war wacklig als sie schließlich den Notruf an Rogi verfasste. Schlaksige, unregelmäßige Buchstaben zogen sich über den Papierschnipsel. Ihre Hände zitterten, die Handflächen waren feucht vor Schweiß. Man sollte meinen, es sei eine epochale Situation; es sollte Mindy so vorkommen, als bliebe die Zeit um sie herum stehen, es sollte ihr als Ewigkeit scheinen. Doch die Zeit lief. Die gehetzten Blicke Araghasts bewegten sich nicht in Zeitlupe, sondern in der gewohnten Geschwindigkeit und das Universum scherte sich genauso wenig um die Wächterin, wie an jedem anderen Tag. Es war auch kein Wettlauf mit der Zeit, den Mindorah vollzog, als sie um die Rettung Nils' Leben kämpfte. Die Zeit hatte besseres zu tun, als sich mit Menschen in Schnelligkeit zu messen. Sie besaß ohnehin die größere Ausdauer.
Keine Ewigkeit, aber doch immerhin einige Sekunden dauerte es, bis Mindy auch noch eine Nachrichtenkapsel aus dem Chaos ihres Tascheninhalts befreit hatte und noch einige Sekunden mehr, bis sie den Zettel mit bebenden Fingerspitzen in die Kapsel gezwängt hatte. Die Taube Kira hob irritiert ihre Flügel an. Aus verwirrten Augen verfolgte sie die fahrigen Bewegungen der Kommunikations-Expertin. Ungewohnt unachtsam befestigte diese die metallene Kapsel an ihrem Bein. Ihr unzufriedenes Gurren wurde mit nicht mehr als einem unbeholfenen Streicheln über den Kopf bedacht. Ihr Hals zuckte unmerklich. In der tiefen Schwärze ihrer Augen schien man Resignation lesen zu können. Sie verlegte die angemessenen Streicheleinheiten gedanklich auf später und begnügte sich großmütig damit, der Aufforderung des Menschen nachzukommen.
Verkrampft war Mindorah an dem schlaffen Körper von Nils vorbei gestakst. Blut klebte an ihren Stiefeln, wie das Unbehagen und der Brechreiz unter ihrer Haut.
"Flieg zum Wachhaus, meine Süße", flüsterte sie Kira schwach zu, bevor sie die Taube in beiden Händen aus dem Fenster in die laue Luft streckte. Zitternd strich sie mit den Daumen durch die Rückenfedern, dann öffnete sie ihre Finger und gab den Vogel frei. Krächzend breitete die Taube ihre Flügel aus und erhob sich schwankend von den Handflächen. Die Federn glänzten samtschwarz und die kleine Metallkapsel blitzte grell im Sonnenschein.
Erschöpft wandte Mindorah sich ab. Erst jetzt bemerkte sie Friedrich von Thaler, der zusammengesunken und unscheinbar an der Wand neben Nils kauerte. Die dunklen Schatten unter seinen Augen wirkten noch tiefer als an den vorigen Tagen. Tränen rannen über seine Wangen und sein Körper wurde erschüttert vom kaum hörbaren Schluchzen. Ungeachtet des Blutes hielt er Nils Hand in den seinen und strich in fortwährenden Bahnen darüber. Mit wässrigen Augen starrte er ins Leere. Mindorah schlug die Augen nieder. Die Trostlosigkeit engte sie ein und legte sich kalt und starr um ihren bloßen Hals. War sie sich bisher vorgekommen wie in einem Albtraum, spürte sie nun die gnadenlose Realität. Sie fühlte Panik in sich aufsteigen und der Wahnsinn drohte ihre Sinne zu vernebeln.
Ich muss hier raus!, verkündete ein imaginärer Schrei. Mit hastigen, wackeligen Schritten ließ sie die grausige Szenerie hinter sich und verließ das Zimmer. Sie fühlte sich atemlos. Keuchend umklammerte sie das Treppengeländer. Das kann doch alles nicht wahr sein!, schoss es ihr pausenlos durch den Kopf, während sie unkontrolliert die Stufen hinunter polterte.
Araghast folgte ihr eilig. Auch ihm war reichlich komisch zu Mute. Er bemühte sich, Ruhe zu bewahren - es gelang ihm nicht vollständig. Eins wusste er sicher: Dieser Tag würde auf ein ausgiebiges Besäufnis hinauslaufen.
"Warte, Mindorah", forderte er sie mit überspannten Nerven auf.
Die Wächterin, deren Hand schon auf dem Türknauf ruhte, wandte sich um. Wortlos reichte Bregs ihr einen Umschlag aus Pergament, auf dem mit fein geschwungener Feder geschrieben stand: 'An die Frau mit Namen Mindorah'
Mindy warf einen verstörten Blick zu Araghast. Erschöpft fuhr sie sich durch die von Wasser und Schweiß nassen Haare, dann drehte sie sich um und verließ das Haus.
Mit einem lauten Krachen fiel die Tür ins Schloss, dann begann Mindorah zu rennen. Wie eine Wilde stürmte sie durch schmale Gassen und breite Alleen und meisterte den Parcours aus Eselskarren, Leuten der verschiedensten Rassen, Marktständen, Häusern und Müll in einem Tempo, das an Irrsinn grenzte. Der Wind fuhr ihr durch die Haare und zerrte an den Klamotten. Dumpf trafen ihre Stiefel auf die Pflastersteine. Schweiß rann über ihr Gesicht. Jeder Muskel war gespannt, die Fülle der Gedanken in ihrem Kopf schienen ihn zu zerreißen. Doch langsam, mit jedem Schritt, schwand die Anspannung. Müdigkeit drang in ihr Bewusstsein und beschwerte ihre Glieder. Vollkommen kraftlos und bedeutend ruhiger als vor ihrem Sprint, ließ sie sich schließlich auf einen Treppenabsatz fallen. Schnaufend holte sie den Umschlag hervor, den Bregs ihr gegeben hatte. Mit gemischten Gefühlen wendete sie ihn und entnahm ihm ein eng beschriebenes Blatt Pergament. Verunsichert biss sie auf der Lippe herum, als sie den Brief entfaltete und begann zu lesen.


An die Frau, die sich in meiner Melancholie wiederfand;
Ich bin erleichtert, denn ich weiß nun endlich, was zu tun ist. Ich weiß, wie ich alles ins Reine bringe. Es wird nicht mehr lange dauern, dann ist das Theater vorbei, der letzte Vorhang wird fallen. Es ist meine Aufgabe, die Geschichte zu ihrem Ende zu bringen.
Doch um eine Geschichte zu beenden, muss sie erzählt werden. Das will ich hiermit tun.
Man kann sagen, ich hatte eine glückliche Kindheit. Unser Familienleben war harmonisch und meine Eltern führten ihre Beziehung in einer Intensität, von der die meisten Ehen wohl nicht mal mehr träumen. Mein Vater arbeitete als Hypnotiseur, hatte einen guten Ruf und verdiente somit genug Geld, um uns ein recht gutes Leben zu ermöglichen.


Mindy stockte. Hypnotiseur? Wenn Nils' Vater früher die gleichen Augen gehabt hatte wie sein Sohn, wunderte es sie kein bisschen, dass er einen guten Ruf genossen hatte.
Mit einem Schlucken senkte sie die Augen wieder auf den Brief und fuhr fort, den Worten zu folgen.

Wenn man allerdings meine Kindheit glücklich nennt, dann endete sie in meinem fünften Lebensjahr. In unserem Wohn- und Esszimmer befindet sich ein geräumiger Schrank. Ich benutzte ihn früher oft als 'Höhle', ich verkroch mich darin und ersann Abenteuergeschichten mit mir in der Hauptrolle. Doch stattdessen wurde mir die Rolle in einem Drama zugewiesen. Eines Abends kam mein Onkel Heinrich zu Besuch. Er war Witwer, seine Frau, eine reiche Gräfin, war schon sechs Jahre nach der Eheschließung verstorben und seitdem lebte er allein mit dem geerbten Vermögen seiner Gattin. An jenem Abend also führte meine Mutter ihn zu Tisch; ich saß bewegungslos im Schrank, lauschte den gesprochenen Worten und erspähte durch einen Spalt einen kleinen Teil des Geschehens. Es folgten einige Belanglosigkeiten, sie wechselten einige heitere Worte, bis Heinrich einen ernsten Ton anschlug und gleichsam die Räder des Schicksals ankurbelte.
'Julia', intonierte er, 'ich fühle mich meinem Bruder gegenüber loyal, jedoch kann ich dir nicht länger verschweigen, was er für Unrecht treibt.'
Tatsächlich klang es wie in einem schlechten Schauspiel. Noch lachte meine Mutter und bat, er solle das scherzen lassen.
'Ich scherze nicht', sprach er, 'so Leid es mir tut.'
Nun regte sich Besorgnis in der Stimme meiner Mutter.
'Es bricht mir das Herz, es dir berichten zu müssen; Scham muss ich empfinden für meinen eigenen Bruder', noch immer wirkte es, als gäbe Heinrich einen gelernten Text wider, doch meine Mutter schien es nicht zu bemerken. Eine Pause entstand, in der nur Atemgeräusche den Raum füllten, ich selbst verkniff es mir regungslos, längst erfasst von der unheilvollen Atmosphäre. Dann fielen die schicksalsschweren Worte: 'Friedrich betrügt dich, Julia, er hat geendet, dich zu lieben...'
Ich hörte, wie meine Mutter scharf nach Luft schnappte. Es gab nur eines, was ihre Lebensfreude übertraf - ihre Liebe zu meinem Vater. Die Worte meines Onkels ließen ihre Existenz mit einem Schlag erlöschen. Über den Wahrheitsgehalt der Worte nachzudenken, fehlte ihr nun die Kraft. Ein Teufelskreis. Bitteres Schluchzen drang in mein Versteck, das mir jetzt vorkam wie ein Gefängnis. Ich begriff Heinrichs Sätze nicht, doch ich spürte, welch finstere Bedeutung sie bei meiner Mutter einnahmen. Ich wollte hinausstürmen und sie trösten; ich wollte die Augen schließen, nichts mehr sehen, nichts mehr hören müssen - ich tat keines von beidem. Ich ruhte starr hinter den Schranktüren und harrte dem Kommenden.
'Es tut mir Leid', versicherte mein Onkel mit zitternder Stimme; ich weiß nicht, ob er von der angeblichen Tat meines Vaters sprach oder von seiner eigenen Lüge. Ich sah, wie er seine Hand nach Julia ausstreckte, die Finger bebten vor Begierde.
'Geh bitte', bat meine Mutter mit erstickter Stimme.
Die Bewegung in Heinrichs Hand erstarb, er kam der Aufforderung nach, seine Schritte verklangen. Meine Mutter taumelte, sie griff etwas vom Tisch. Jämmerliche Klagelaute drangen aus ihrer Kehle und schmerzten in meinen jungen Ohren. Der Gegenstand glitt aus ihren Händen, schlug dumpf auf dem Boden auf. Blitzend warf er die letzten Sonnenstrahlen zurück, die durch das Fenster in den Raum schienen. Ich erkannte es als die Klinge eines Messers. Noch begriff meine naive Seele nichts. Doch dann drehte sich die Silhouette meiner Mutter um, wandte sich mir zu. Durch den Spalt erblickte ich ihre Augen, gezeichnet von unendlicher Verzweiflung. Tränen benetzten ihre samtenen Wangen. Sie sank zusammen. Blut floss über ihre Hände und in ihren Schoß. Ich wollte schreien, doch der Ruf versiegte, noch bevor er geformt wurde; nur ein kaum hörbares Krächzen rann durch meine kindlichen Lippen. Der Oberkörper meiner Mutter krümmte sich zur Seite, ihre einst stolze Gestalt fiel in sich zusammen.
Stunden saß ich in meinem Versteck. Ich wagte nicht, mich zu rühren. Meine Augen starr auf den grausigen Anblick gerichtet, ohne Kraft, sie abzuwenden. Tränen rannen über mein Gesicht, tropften auf meine Hände, auf meine Kleidung und auf den Boden des Schrankes. Bibbernd in den feuchten Klamotten verharrte ich in dem Möbelstück. Und Minute um Minute brannte sich der Anblick deutlicher in mein Gedächtnis, hinterließ blutrot flammende Spuren und verfolgte mich fortan in Gedanken und Träumen.
Nach Stunden schließlich schritt mein Vater in die Szenerie. Er hörte mein Schluchzen und befreite mich aus meinem Versteck. Er vermutete, ich hätte meine Mutter entdeckt, als sie den Selbstmord schon begangen hatte und hätte mich daraufhin in den Schrank geflüchtet. Damit bot er mir eine Theorie, mit der ich ihm die Schuld, die ich mir selbst gab, nicht eingestehen musste. Ich schwieg und er sprach nie andere Möglichkeiten an.
Später wälzte ich die Schuldgefühle auf meinen Onkel um. Ich begann zu begreifen, dass er meine Mutter schon lange geliebt hatte. Eifersucht treibt einem zu vielem. Ich jedoch entwickelte Hass. Jedes Mal, wenn ich Heinrich zu Gesicht bekam wuchs der Hass und jedes Mal fraß ich ihn in mich hinein und setzte einen weiteren Stein auf meine Mauer der Schweigsamkeit. Jedes Mal des Wiedersehens - über Jahre. Bis zum Abend vor drei Tagen. Ich war bei meinem Onkel zu Besuch und hinter genannter massiven Barriere stauten sich der Hass und die Finsternis der Depression. Heinrich hat eine Hausbar, bei der ich mich großzügig bediente. Dementsprechend schemenhaft sind meine Erinnerungen. Durch den Alkohol schwoll mein Aggressionspotential an. Meine Gedanken waren getränkt von altem und neuem Hass und plötzlich schwenkten meine Augen auf die Klinge eines Messers. Wie automatisch griff ich danach und lenkte meine Schritte zu dem Lesesessel meines Onkels. Verschwommene Bilder zeigen mir sein angstvolles Gesicht, als ich ihn damit konfrontierte, dass ich von seinem Gespräch mit meiner Mutter wusste.
'Es ist deine Schuld, dass sie tot ist', schrie ich ihn an.
Dann setzt meine Erinnerung aus. Die entsetzten Augen meines Onkels schweben wie ein Gericht durch mein Bewusstsein und ich weiß nun, dass ich ihn umgebracht habe. Vielleicht gab es eine Zeit, als ich Alternativen hatte, doch an jenem Abend hatte ich keine andere Wahl. Ich musste es tun, so wie es jetzt meine Bestimmung ist, endgültig den Schlussstrich zu ziehen.
Meine Geschichte ist nun erzählt - ich bin erleichtert, dass sie endlich endet.

Nils


Mindorah schluckte. Fassungslos starrte sie auf das Blatt Papier.
Lange saß sie auf dem kleinen Treppenabsatz. Schweigend umklammerten ihre Finger das raue Pergament während sie sich voller Zweifel den Kopf zermarterte.
Bis sie sich schließlich heimwärts schleppte. Hin und wieder schüttelte sie erschüttert den Kopf. Und immer noch hielt sie verkrampft den Brief in ihren blassen Händen.

***


Mindorah Giandorrrh kaute nervös auf ihrer Lippe. Sie stand unscheinbar im Schatten eines großen Hauseingangs. Die junge Frau wirkte zierlich und hilflos wie sie die breiten Türen anblickte, unschlüssig, das Haus zu betreten. Über ihr an der Wand war ein Holzschild angebracht, dass das hohe Gebäude als püschatrische Klinik für Jugendliche auswies. Schon der Weg hier her hatte sie große Überwindung gekostet. Offiziell war der Fall abgeschlossen, der ausführliche Bericht war zu den Akten gelegt worden. Die Aussagen aus dem Brief wurden soweit möglich geprüft - in der Hausbar von Heinrich von Thaler fand man Nils Fingerabdrücke und Friedrich hatte seinen Part in der Geschichte bestätigt. Ob der Verdacht, den Nils in seinem Brief geäußert hatte und der ihn selbst als Mörder verurteilte, der Wahrheit entsprach, wusste man nicht und würde man nie klären können. Der Wache genügten die Tatbestände, um die Akte zu schließen.
Für Mindorah jedoch war der Fall noch nicht beendet. Obwohl zwischenzeitlich fast zwei Wochen verstrichen waren, kreisten ihre Gedanken fast ausschließlich um Nils, seinen Brief und die Tragödie seiner Familie und seines Lebens. Sie war zu dem Beschluss gekommen, noch einmal mit ihm reden zu müssen, um dem Chaos ihrer Eindrücke zu entkommen. Auf dem Weg, den sie mit zunehmend weichen Knien zurückgelegt hatte, war ihr Plan jedoch wieder ins Wanken gekommen. Sie wusste weder, wie sie das Gespräch beginnen sollte, noch worauf sie eigentlich hinaus wollte. Aber sie war zu stolz, um aufzugeben, bevor sie es versucht hatte. Energisch öffnete sie die Tür und schritt auf den Empfang zu. Eine junge Frau mit unangenehm steifem aufgesetzten Lächeln stand hinter dem Tresen und beäugte Mindorah, als sie sich näherte.
"Entschuldigung", fragte Mindy vorsichtig, zusätzlich eingeschüchtert von der sterilen Klinik - Atmosphäre, "wo finde ich Nils von Thaler?"
Die Frau rümpfte die Nase ohne von dem gekünstelten Lächeln abzusehen, was ihrem Gesicht einen grotesken Ausdruck verlieh. "Tut mir Leid", erwiderte sie hochnäsig, "momentan ist keine Besuchszeit."
Damit machte sie Anstalten, sich abzuwenden und sich mit einem Stapel Akten zu befassen.
Mindy merkte, wie die Arroganz unter der Maske geheuchelter Freundlichkeit, sie aggressiv machte. Verärgert riss sie die Dienstmarke aus der Tasche und rieb sie der Frau unter die Nase.
"Stadtwache! Sagen Sie mir sofort, wo ich ihn finden kann", forderte sie mit harscher, gepresster Stimme.
Die Empfangsdame zuckte mit einem angewiderten Ausdruck in den kleinen Augen zurück, sogar ihr Lächeln schien vor Missachtung eine Spur angekratzt zu sein.
"Treppe rauf, Zimmer neunzehn", gab sie in bissiger Höflichkeit Auskunft.
In ihrem Ärger vergaß Mindorah ihre Furcht und Unsicherheit, sodass sie forschen Schrittes die Stufen hinauf stieg. Erst als nach ihrem Klopfen ein mattes "Herein" durch die Tür mit der Nummer 19 drang, erinnerte sie sich an ihre Situation und prompt stieg das mulmige Gefühl wieder in ihr auf.
Gehemmt öffnete sie die Tür und erblickte ein kleines Zimmer, schlicht möbliert mit einem Bett und einem Schreibtisch samt Stuhl. Auf diesem Stuhl saß Nils, gerade, mit gestrecktem Rücken. Der Junge lächelte, als er die Wächterin erblickte. Das Lächeln wirkte ehrlich, aber dennoch war Mindorah unbehaglich zumute.
Nils Augen zeigten dieselbe Oberflächlichkeit, die sie an dem Tag seines Selbstmordversuches widergespiegelt hatten. Die Tiefe war mit der Rettung seines Lebens nicht zurückgekehrt.
Mindorah schloss die Tür hinter sich und trat näher.
"Wie geht es dir?", wollte sie zaghaft wissen.
"Ich habe mich gut erholt", teilte Nils ihr in munterem Tonfall mit, "ich bin dir sehr dankbar für die Rettung."
Unter den Ärmeln des langen weißen Hemdes, das der Junge zu tragen hatte, lugten Verbände aus robusten Stoffbinden hervor, die um die Gelenke der bleichen Hände gezurrt waren.
"Nichts zu danken", betete Mindy automatisch die übliche Antwort herunter.
Nachdenklich musterte sie ihr Gegenüber. Vor ihr saß ein an seiner Situation gemessen fröhlicher, gesunder Junge - aber nicht Nils.
Er hatte seine Geschichte beenden wollen - Mindorah schien, als sei es ihm gelungen. Mit der Tiefe in seinen Augen war auch seine Persönlichkeit geschwunden. Nils hatte sich sein Ende geschaffen, die Existenz dieses Jungen war allenfalls der Epilog...

Als Mindorah die Klinik wieder verließ, ging es ihr trotz dem unheimlichen Empfinden besser. Obgleich sie dennoch noch einige Zeit brauchen würde, bis sie diesen Fall auch mental als abgeschlossen betrachten können würde. Wenn eine Geschichte zu Ende ist, ist sie noch lange nicht vergessen...


[1] Ich möchte hiermit ausdrücklich darauf hinweisen, dass es sich hierbei um eine Metaffer handelt. Aufgrund einiger Klagen von einer gewissen Frau Melanie Zeit, die sich von Verleumdung heimgesucht fühlte, wird im 'Ratgeber für rechtmäßige Umgangsformen' von unklaren Formulierungen mit dem Wort "Zeit" abgeraten. (Leider ist der Ratgeber wegen Unmengen an Fußnoten und Anmerkungen dermaßen unübersichtlich, dass das Verstehen des Inhalts über wenige Worte hinaus beinahe unmöglich ist)

[2] Mindorah wunderte sich immer wieder, wie so ein großes Chaos in solch einer kleinen Wohnung überhaupt Platz finden konnte. Jedoch schien die Unordnung nicht proportional mit der verfügbaren Fläche zu sinken...

Zählt als Patch-Mission.



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