Stille Nacht, tödliche Nacht (Der Weihnachtsras 3)

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von Agent Rascaal Ohnedurst (IA)
Online seit 06. 12. 2003
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Die Weihnachtsraswoche hat begonnen!

Dafür vergebene Note: 15

Prolog
Mondlicht bahnte sich mühsam einen Weg durch die verschiedenen Schmutz- und Staubschichten, welche die Luft über der Stadt dominierten und fiel seidenweich auf die unförmige Gestalt, die auf einem der höchsten Dächer saß und mit der hypnotischen Gleichmäßigkeit eines Pendels den Oberkörper vor und wieder zurückschwingen ließ. Ihre Arme waren eng um den Leib geschlungen und krallengleiche Fingernägel bohrten sich in gieriger Verzweiflung in den Stoff des Mantels, als würde der Frost versuchen, der Kreatur den letzten Funken Körperwärme zu entreißen, obwohl diese doch schon vor über hundert Jahren verloschen war. Mit dem Gesicht nach oben, die geröteten Augen weit aufgerissen, die Lippen in stummer Artikulation bewegend, hielt die Gestalt ein stummes Zwiegespräch mit dem Mond. Tausende ungesagte Worte formten hundert stumme Sätze, deren lautloser Reim ihrem Zorn nie würde gerecht werden können.
Gänzlich in rot gekleidet, die gräulich-weissen Haare verfilzt, wankte sie wie ein Baum, der von einem durchziehenden Sturm hin- und hergeworfen wurde, kochte vor Wut und verzehrte sich vor unsäglicher Mordlust... über ihre Existenz, ihre von lausigen knappen sieben Tagen der Freiheit mal abgesehenen grausame Gefangenschaft in dem Käfig ohne Gitter... und über die hinter ihr liegende Woche.


Tag 1:

Die Verwandlung


"...und so wird der Gefreite aufgrund der gegen ihn vorgebrachten Anschuldigungen bis zum Abschluss der Ermittlungen vom Dienst suspendiert. Gezeichnet, Agent Rascaal Ohnedurst"
In gleichmäßig geschwungenen Bögen kratzte die Schreibfeder über das Dienstpapier mit dem Emblem der Stadtwache von Ankh-Morpork in der rechten, oberen Ecke und hinterließ ein weiches Schriftbild, wie es eigentlich mehr zu einer Frau der gehobenen Gesellschaftsschicht passen wollte, als zu dem altgedienten Hauptmann und momentan einzigen Agenten der Abteilung Intörnal Affairs. Der Vampir saß hoch aufgerichtet auf dem Balken seines Büros im ersten Stock des Wachhauses am Pseudopolisplatz und erledigte die Art von Wachearbeit, die ihm am meisten verhasst war: Den lästigen Schreibkram während einer Ermittlung. Schon seit drei Stunden hockte er dort oben in immer wieder wechselnden Körperhaltungen, mit den Ohren der Stille in seinem Büro und dem dadurch verhältnismäßig lauten Kratzen der Feder in seiner Hand lauschend, während sich seine Gedanken darauf konzentrierten, die bisherigen Vernehmungen zu Papier zu bringen.
Aus purem Frust über diese mehr als stupide Arbeit hatte er vor einer halben Stunde sogar versucht, kopfüber vom Balken seine Abschriften zu machen, doch musste er diesen Plan ganz schnell wieder aufgeben, nachdem die Tinte an der Schreibfeder, immer brav den Gesetzen der hiesigen Schwerkraft folgend, ständig auf den unter ihm stehenden Schreibtisch getropft war. Nicht, dass es dem Hauptmann irgendwie leid um das Möbel getan hätte. Die einzigen Einrichtungsgegenstände in dem Büro, denen er Sympathie entgegenbrachte, war der Paravent, der seinen Bereich von seiner Mitbewohnerin Olt Knurblichs mitsamt ihres Wohnfasses trennte und der mannshohe, momentan verhangene Spiegel, den er an der Wand hinter der Tür hatte anbringen lassen. Natürlich sah er nichts darin, sobald er davor stand, doch gerade das erinnerte ihn immer wieder daran, was er war.
Weniger Wertschätzung galt seinem Schreibtisch, und wenn es nach ihm ginge, wäre das Ding schon längst einem Unfall in Verbindung mit Feuer oder grober, brutaler Gewalt durch einen bevorzugterweise sehr klobigen und scharfen Gegenstand zum Opfer gefallen. Leider ging es aber nicht nach ihm, auch wenn einige Leute in der Wache dieses vielfach dachten, denn es war Rince, der ihm trotz seines immer wiederkehrenden Protestes befohlen hatte, einen Schreibtisch im Büro aufzustellen und ihn auch gefälligst dort zu belassen. Die Tatsache, dass er nicht in das I.A.-Büro in die Kröselstrasse hatte umziehen müssen, wäre schon entgegenkommen genug gewesen, betonte Rince immer wieder und hatte dem Vampir irgendwann schließlich auch befohlen, den Protest in dieser Sache zu unterlassen.
Jedoch die Rote-Bete Knollen, die er heute morgen auf dem Schreibtisch zwischengelagert hatte und dessen Saft zu seiner unendlichen Freude wahrscheinlich gerade fleckenhafterweise die Platte ruinierten, waren ihm nicht egal und so hatte sich Rascaal eben wieder oben auf den Balken geschwungen, obwohl er sich lieber nach unten hätte fallen lassen, um sich auf seine rot-violette Nahrung zu stürzen.
Hauptmann Ohnedursts Stirn legte sich in tiefe Denkfalten, als er die vor sich liegende Akte mit dem roten Deckel schloss, zuband und die Memos oben drauf legte. Was war nur in letzter Zeit los mit ihm? Rascaal war schon immer mit einem relativ großen Appetit gesegnet gewesen, doch in den vergangenen Tagen wurde es sogar ihm unheimlich. Es schien eine dieser seltsamen Fressattacken zu sein, wie sie bei ihm sehr selten vorkamen und die er dann nie so richtig unter Kontrolle bekommen konnte, bis.... bis... ja wenn er das nur wüsste. Irgendwann war es dann mit einem Mal vorbei mit der animalischen Gier und der Vampir fand zu seinem normalen Ernährungsrhythmus zurück.
Gleich, gleich... ruhig Blut, mein Alter.
"REGGIIIIIIIIIIIIEEE...!", rief Hauptmann Ohnedurst in das Loch in der Wand, nachdem er geschmeidig von seinem Balken gesprungen war und die Lochabdeckung angehoben hatte. "Schwing deinen verknöcherten Arsch in mein Büro!"
An sich entsprach dies ganz und gar nicht den normalen Umgangsformen des Vampirs, der großen Wert auf Höflichkeit und verdienten Respekt legte, doch die drei Rohrpostdämonen im Wachhaus am Pseudopolisplatz verdienten einen anderen Status Quo. Schließlich waren sie alle drei zwanghafte Beleidiger und genossen diesen Zustand mit sichtlicher Verzückung. Nach einer Weile war Rascaal sich der Nutzlosigkeit der Zurechtweisungen bewusst geworden und hatte angefangen, sie frei nach dem Sprichwort aus Hargas Imbiss: "So, wie du dein Essen isst, kommt es dir auch wieder hoch", ebenso zu behandeln.
Ernst richtete sich der Vampir wieder auf. Bald würde er essen können, bald. Nur noch eben die Arbeit abschließen und dann... dann. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er sagen, dass die Knollen ihn beobachteten, obwohl er sie doch schon längst von ihrem lästigen Lebensfunken erlöst hatte. Sie lockten ihn, sie riefen ihn, sie...
"Ich brauch meinen Knackarsch wenigstens nicht hinter einer Hose und einem Umhang zu verstecken, du nach Gemüse stinkender Tattergreis!", riss ihn der Dämon aus seinen Gedanken, nachdem er der wieder zugefallenen Klappe von innen einen mächtigen Tritt verpasst hatte, die sie scheppernd an die daneben liegende Wand beförderte. "Siehe und staune..."
In fließender Bewegung drehte sich Reggie um und präsentierte dem Vampir seine neueste Kleiderkreation, die aus einer extrem kurzen Hose bestand, welche mit Hosenträgern über dem nackten Oberkörper des Dämonen befestigt war und aus einem Stoff bestand, der dem Hauptmann seltsam vertraut vorkam.
"Der Stoff, der Stoff... das ist... ist... ach du heiliger Knollenwein, Reggie... ist es das, wofür ich es halte?", fragte Rascaal fassungslos und vergaß sogar für einen Moment die hinter ihm liegende Rote-Bete. Der Rohrpostdämon vor ihm war wirklich ein echtes Unikat. Da glaubte man für einen kurzen Moment, dass man schon alles gesehen und gehört hatte... und dann schaffte er es trotzdem noch immer wieder Einen zu überraschen.
Ein triumphierendes Grinsen umspielte Reggies Lippen und zeigte seine vom Rauchen der Wurstpellenzigaretten vergilbten Zähne.
"Sag mir, wofür du es hältst, alte Dörrpflaume, und ich sag dir, ob du ausnahmsweise Recht hast."
"Mistundverdammt, dann ist es also wahr? Es sind die Vorhänge aus Rince Büro?", kam es dem Vampir über die blutleeren Lippen.
Als Antwort wackelte der Dämon so stolz mit seinem Hintern, wie man es eben mit einem Körperteil nur machen konnte, welches dafür nicht unbedingt dafür gedacht war, und nickte grinsend.
"Hast du mit diesen abartigen Wurstpellenzigaretten jetzt auch noch dein letztes bisschen Verstand verraucht, Reggie?", fragte Rascaal und bemühte sich mehr oder weniger erfolgreich um einen ungläubigen Gesichtsausdruck, obwohl es ihn innerlich vor Lachen fast zerriss. "Die Vorhänge hat der Chef erst vorgestern von seiner Frau bekommen... und du schneidest ihm einfach Löcher rein?"
Beleidigt warf ihm der Rohrpostdämon einen pikierten Blick zu.
"Ach, Vorhänge... Gardinen... Rosinen... alles Schnickschnack...", gab Reggie trotzig zurück und schaute selbstverliebt über seine muskelbepackte, nahezu unverhüllte Brust an sich hinunter zu dem mit purpurnen Rösschen durchzogenen dunkelblauen Stoff seines Beinkleides. "Es ist doch wirklich pure Verschwendung, so eine schmucke Handarbeit an eine Stange zu hängen und vor einem schlecht geputzten Fenster verrotten zu lassen, oder? Da ist er an meinem Alabasterkörper doch viel besser aufgehoben. Glaub mir: Wenn der Stoff reden könnte, dann würde mir jede Rose einzeln zustimmen, mein Alter."
"Du hast sie endlich zu einem Stelldichein herumgekriegt, nicht wahr?", schoss der Vampir mit seiner Vermutung ins Blaue und konnte das schmierige Grinsen inzwischen nicht mehr unterdrücken, obwohl er nicht den geringsten Schimmer hatte, was er an der Vorstellung einer Verabredung mit diesem kleinen Dämon lustig finden sollte. In den letzten Tagen entwickelte er eine seltsame Art von Humor. "Hab ich Recht?"
Unsicherheit zeigt sich auf Reggies Gesichtszügen.
"Ich hab was? Ein Stell-dich-rein?", hakte er nach "Hör auf zu schwafeln, du Stinker, und rede vernünftig mit mir..."
"Ein Stelldich-EIN, Reggie, ein Tete-a-Tete, ein Rendezvous... ein D-Ä-I-T!"
Ungerührt stand der mit Würstchenfett eingeschmierte Dämon auf dem Büroboden vor Hauptmann Ohnedurst und verschränkte verständnislos die Arme vor der Brust. Der Vampir verdreht kindisch kichernd die Augen.
"Eine Ver-ab-re-dung, mein ignoranter Freund!"
"Ach sooooo, na sag das doch gleich. Immer dasselbe mit euch aufgetakelten Offizierstucken. Reden gestelzt daher, als würden sie nach Fremdworten bezahlt werden.", spottete Reggie, fügte gleich darauf aber stolz dazu "Ja, das lecker Schnuggelchen hat endlich einer echten Verabredung zugestimmt. Ich frage mich sowieso, wie sie mir so lange widerstehen konnte, schließlich sind das Schneckchen und ich füreinander bestimmt."
"So, so, und was, wenn man den zu klein geratenen Gott der Liebe fragen darf, hast du Schönes für den heutigen Abend geplant?", sagte Rascaal und schaute vorsichtshalber an die vom Schmutz der Jahre vergilbte Decke seines Büro, da der Drang, sich bei dem Anblick des Dämonen in seiner Gardinenhose wiehernd vor Lachen auf dem Boden zu wälzen langsam übermächtig wurde. Wieso fiel es ihm so schwer, sich unter Kontrolle zu halten?
"Morgen, Knollenlutscher, morgen... heute, nun ja... trage ich die Hose ein, da sie an gewissen Stellen etwas eng ist...aber morgen, ja morgen... nenene, meine Alter, denk dir eine eigene Masche für die Bräute aus."
Der Vampir wagte erst gar nicht daran zu denken, an welchen Stellen Reggie die Hose wohl drücken könnte.
"Was wolltest du eigentlich von mir, Hauptmännchen? Doch bestimmt nicht mit mir über meine zukünftigen Eroberungen plaudern, oder?"
"Was? Ich? Ääääh... nein, natürlich nicht.", schreckte Hauptmann Ohnedurst in die Realität zurück, nachdem seine Gedanken wieder zu den köstlich erdig duftenden Knollen abgeglitten waren und ihn in eine Halbtrance versetzt hatten. Unmerklich schüttelte er den Kopf und versuchte zum Tagesgeschäft zurückzukehren "Die Memos müssen raus und das Ganze wie immer möglichst gestern. Alle Abteilungsleiter bekommen eines, die Abschriften an die Stellvertreter und Reggie: Ich hab' extra noch mal die Namen der Stellvertreter auf jedes Exemplar geschrieben, also drück die Dinger nicht wieder einem x-beliebigen Gefreiten in die Hände, nur damit du den Kram los wirst, verstanden?"
Mit diesen Worten beugte sich der Vampir vor und drückte dem alles andere als begeisterten Dämonen den Stapel Papiere in die Hand.
"Na klasse, genau das, was ich jetzt noch brauche: Arbeit. Als wenn ich nicht schon genug zu tun hätte. Die Post von letzter Woche muss noch verteilt werden, ich muss den anderen beiden Fettrutschern noch Anweisungen wegen der Post von vorletzter Woche geben, die Rohre müssen noch nachgefettet werden und...", maulte Reggie und griff sich zwickend in den Schritt. "... mein Prachtstück muss ich wohl doch noch mal ändern vor morgen."
Ohne auf eine weitere Bemerkung des Hauptmanns zu warten, drehte sich der Dämon mit einer geschmeidigen Bewegung um und verschwand in dem Loch in der Wand, die Memos zerknitternd in die eingefettete Röhre hinter sich herziehend.
Als wäre die Dramatik persönlich ein unsichtbares Zeichen gebend im Raum präsent, klopfte es in diesem Moment alles andere als zaghaft an die Bürotür des I.A. Büros und bevor der Vampir auch nur daran denken konnte, ‚Herein' zu rufen, flog sie auch schon auf.
Zu ihren vollen 27 cm aufgerichtet, stand breitbeinig Venezia Knurblich im Türrahmen, Oberleutnant ihres Zeichens, sowie derzeitige Chefin der Abteilung F.R.O.G. und stemmte die Arme in die Hüften. Es gab nur wenige Wächter, die es wagten, das I.A. Büro ungefragt, unbefohlen und vor allen Dingen ohne auf ein ‚Herein' zu warten zu betreten, doch Oberleutnant Knurblich war mehr als nur Rascaals Kollegin und scherte sich herzlich wenig um die Tatsache, dass ihr Freund Agent der Intörnal Affairs war. Außerdem war sie schließlich Mitbewohnerin dieses schmucklosen Raumes, hatte zwar mit Rascaal strenge Regeln für die Benutzung ausgearbeitet, falls er gerade ein Verhör führte, doch da für heute Abend keines angesetzt war, musste sie keine Rücksicht nehmen.
"Wie lange gedenken mich der Herr Agent eigentlich noch warten zu lassen, bevor er meint, sich die Ehre zu geben und dem einfachen Offiziersvolk beim Kartenspielen zuzugesellen, damit unsereins den Herrn Agenten nach Strich und Faden ausnehmen kann?", schnaubte die Wergnomin erbost.
"Dir auch einen wunderschönen Abend, Veni. Du hast deinen Holden nur knapp verpasst!", ignorierte Rascaal den Vorwurf und drehte sich grinsend zu ihr um, die scharfen Vampirzähne präsentierend.
"Meinen Ho... ja, das hätte er wohl gerne, aber soweit kommt es noch, dass ich mich mit dem Schmierklops einlasse. Eher esse ich eine deiner Knollen!"
Ein scharfes, unangenehmes Ziehen der Gier durchfuhr Hauptmann Ohnedursts Körper, als Venezia die Rote-Bete erwähnte, doch nach einer kurzen Schrecksekunde hatte er sich wieder unter Kontrolle.
"Das lässt sich einrichten, meine Liebe!", parierte der Vampir und versuchte seinem kurzzeitig versteinertem Grinsen wieder etwas Tiefe zu geben. Außerdem wusste er es besser. Er hatte die Blicke gesehen, die Oberleutnant Knurblich dem Dämon manchmal heimlich zuwarf und irgendeinen Grund musste es ja haben, dass sogar ihr F.R.O.G. Kampfanzug ein Dekolletee aufzuweisen hatte. Doch das würde die Wergnomin natürlich niemals zugeben.
Mit dem einsetzenden Lächeln verflog auch Venezias gespielte Empörung.
"Na nun mach doch, ich steh mir schon seit 30 Minuten die Beine unten in den Bauch. Man kann es mit der Arbeit auch übertreiben, weißt du?", lamentierte sie. "Beeil dich, Humph hat bestimmt schon die Karten gezinkt."
"Na dann geh doch vor... ich bin in spätestens 10 Minuten bei euch!"
"Ach was, ich lass so einen alten Vampir wie dich doch nicht alleine über die Strasse gehen... Nein, nein, ich warte."
"Der alte Vampir stopft dich gleich in das eingefettete Loch in der Wand, wenn du nicht sofort verschwindest, Oberleutnant Knurblich!", herrschte Rascaal die Gnomin halb im Spaß, halb im Ernst an. In den letzten Tagen hatten seine Freunde seltsamerweise den unbeherrschbaren Drang an den Tag gelegt, sich fast pausenlos um ihn zu kümmern und zu umsorgen, als wüssten sie, dass es ihm momentan nicht so besonders ging... oberflächlich zumindest. Ein Verhalten, welches er zwar zu schätzen wusste, welches ihm aber fürchterlich auf den Weckdämon ging. "Entschuldige... ich bin etwas... abgespannt. Geh nur vor. Ich bin wirklich gleich da."
Eine Andeutung von Sorge, aber auch Misstrauen schlich sich in die Gesichtszüge der Wächterin, verschwand aber so schnell, wie es gekommen war. Dann nickte Venezia wortlos und verschwand, ohne die Bürotür zu schließen.

In der Sekunde, in der er hörte, wie seine Kollegin und Freundin das untere Ende der knarzenden Treppe in das Erdgeschoss des Wachhauses erreicht hatte, gab er der unerklärlichen Gier nach, trat zwei Schritte vor, warf die Tür ins Schloss und stürzte dann mit der Schnelligkeit eines Blinzelns zum Schreibtisch um ein lautstark schmatzendes Massaker unter den dort liegenden Knollen anzurichten.

***


Der Eimer war eine feste Institution.
Kein Wächter, weder untot, noch lebendig, weder stofflich, noch körperlos konnte sich an eine Zeit erinnern, in der die Kneipe nicht das Zentrum des außerdienstlichen Lebens der Beschützer von Recht und Ordnung gewesen war, was auch immer Recht und Ordnung in Ankh-Morpork heißen mochte. Natürlich zog es den Einen oder Anderen je nach Neigung oder Art der Existenz auch des öfteren in die Bahre oder die Geflickte Trommel. Doch sobald es etwas Größeres wie eine Beförderung (gelegentlich), eine Auszeichnung (recht selten) oder eine Gehaltserhöhung (bisher noch nie) zu feiern gab, oder ein Wächter Trost oder Verständnis für seine dienstlichen Probleme suchte, zog es einen Jeden marionettengleich zu Herrn Käse, dem Besitzer des Etablissements.
Während der Eimer in früheren Jahren ausschließlich von Wächtern besucht wurde und jeder Zivilist, der sich dorthin verirrte, den Eindruck gewann, im Empfangsraum des Wachhauses am Pseudopolisplatz zu stehen, nur, dass hier am Tresen eben Biere ausgeschenkt, statt Formulare ausgefüllt wurden, schien das Gasthaus in letzter Zeit auch für den Durchschnittsbürger eine gewisse Attraktivität gewonnen zu haben.
Wie diese Entwicklung gekommen war, wusste keiner. Die Einen sagten, dass das Verhältnis zwischen Stadtwache und Bürgern sich aufgrund der vergangenen Erfolge gebessert hatte und die Wächter jetzt respektiert und geachtet würden. Es sei keine Schande mehr, mit einem Wächter am Tresen gesehen zu werden, hieß es. Böse Wächterzungen behaupteten einfach, die Zivilbevölkerung versuche auf diese Art, die letzte Zuflucht der Stadtwache durch ihre dauernde Präsenz zu untergraben und sie so um den Verstand zu bringen.

Mit größter Vorsicht setzte die Mumie wacklig einen bandagierten Fuß vor den Anderen. Sie verabscheute den Winter zutiefst. Nicht der langen Nächte wegen. Auch das herannahende Schneevaterfest interessierte sie nicht im geringsten.
Es war die Kälte. Mit der Kälte kam das Eis und mit dem Eis die ständige Ungewissheit, ob sie sich auf den mit Stoffbahnen umwickelten Füssen würde aufrecht halten können, wenn sie sich auf dem überfrorenen Kopfsteinpflaster der Strassen fortbewegte. Die Mumie konnte es sich nicht leisten, dauernd auszurutschen und sich den kostbaren Bandagenstoff, ihre Berufs- und Freizeitkleidung, mit dem Dreck und den scharfen Kanten an den Steinen der Wege zu ruinierten. Schließlich war sie Schaufenstermodell im führenden, von der Gilde lizenzierten Einbalsamierungsgeschäft der Stadt bei Herrn Alonsius Mullbinde. Da konnte man sich keine herunterhängenden Fetzen leisten, ohne seinen Ruf einzubüssen.
Der Grund für seine regelmäßigen Besuche im Eimer war recht simpel: Das Gasthaus lag schlicht und ergreifend viel näher an seinem Arbeitsplatz, dem Schaufenster des Ladens, dessen Räumlichkeiten ihm auch als Wohnung dienten und da die Mumie schon vor Jahren ein im wahrsten Sinne des Wortes brenzliges Abenteuer (MM9) mit einigen Wächtern erlebt hatte, war es also nur logisch, ab und zu alte Bekanntschaften zu pflegen.
Behutsam an der Hauswand eines Fachgeschäftes für Diebesbedarf um die nächste Ecke biegend, kam das Gasthaus in Sicht, leicht zu erkennen an dem leuchtend vergoldetem Blecheimer, welcher an einem Haken cirka einen Meter über der Eingangstür hing und einer Vielzahl der hiesigen Tauben als Toilette diente, weswegen Herr Käse ihn einmal jährlich leeren musste.
Zu Mumies Leidwesen befand sich der Eimer allerdings auf der anderen Straßenseite, was für sie bei den gegenwärtigen Witterungsbedingungen dem berühmten Tanz auf dem Drahtseil gleichkam.
"Wäre ich doch bloß in der Wüste geblieben! Da sind die Strassen wenigstens das ganze Jahr über gestreut", fluchte sie murmelnd, schaute kurz zum sternenklaren Himmel empor, stieß sich dann so sanft wie möglich von der Hauswand ab und begann, auf dem gefrorenem Pflaster mit nach vorne ausgestreckten Armen wie auf rohen Eiern laufend die Straßenseite zu wechseln.

Es geschah auf Höhe der Straßenmitte in dem Moment, als die Mumie schon dachte, das Schlimmste wäre überstanden.
Eine morporksche Flügelnasenratte, so genannt wegen ihres außergewöhnlich guten Riechorganes dessen Nasenflügel so ausgeprägt waren, dass ein Betrachter den Eindruck gewann, sie würden die Nase mit flatternden Bewegungen jeden Augenblick vom Rest des Körpers lösen, hatte gerade die Witterung eines herrlich verfault riechenden Stückes Fleisch aufgenommen. Unglücklicherweise kreuzte sie Mumies Weg genau in dem Augenblick, da sie ihren Fuß auf einen vermeintlich sicheren Pflasterstein setzen wollte. Ein schrilles Quietschen hallte durch die Gasse, vermehrte sich an den Hauswänden zu einem ausgewachsenem Echo, durchquerte die Strasse noch einmal in die andere Richtung und verflüchtigte sich dann in die Nacht. Wäre der Mumie nicht schon vor fast 300 Jahren ihr Herz herausgeschnitten worden und jetzt in irgendeiner geheimen Kammer umschlossen von einem heiligen Gefäß eher schlecht als recht konserviert vor sich hinrottend... es wäre ihr mit Sicherheit in diesem Moment vor Schreck stehengeblieben.
"Arrrrrrrrgh...!", drang Mumies eigener Schreckensschrei dumpf durch die Binden vor ihrem Mund, als sie das warme Fellbündel unter ihrem Fuß spürte. Hastig zog sie ihn wieder zurück, taumelte, ruderte unelegant mit den Armen, setzte den Fuß dann blind auf einen anderen Stein... und rutschte aus. Durch diesen Ruck rutschte auch ihr Standbein weg und für einen Moment befand sie sich vollständig in der Luft. Bilder zogen an ihrem geistigen Augen vorbei, Bilder von zerrissenen Bandagen, abgebrochenen Gliedmassen und einem ziemlich aufgebrachten Alonsius Mullbinde.
Dann griffen wie aus dem Nichts zwei kräftige, kalte Hände zu und stoppten ihren Fall.
"Möge dein Leben lang und fruchtb... oh, hallo Ras...!", unterbrach sich Mumie hocherfreut, als sie das Gesicht ihres Bekannten sah, den sie noch aus Zeiten kannte, in denen sich der jetzige Hauptmann noch als Gefreiter seine ersten Sporen bei der Stadtwache verdient hatte.
"Was sagtest du über mein langes Leben... ?", grinste der Vampir sie freundlich an, entblößte seine Reißzähne und brachte die Mumie vorsichtig wieder in die Vertikale.
"Außerdem weißt du doch, wie es seit neusten heißt: Die Wache, dein Freund und Helfer!", intonierte er amüsiert den aktuellen Wacheslogan und spielte damit auf die momentan laufende Kampagne zur Verbesserung des Ansehens der Wache bei der Zivilbevölkerung an, welche vom Patrizier ins Leben gerufen und von Rince mit Feuereifer übernommen worden war. Selbst die Frühschicht, meistens Gefreite oder Wächter in der Ausbildung mit mehr als unausgeschlafenen Ausbildern hinter ihnen, war verpflichtet worden, mit einem stets freundlichen Lächeln hinter dem Wachetresen zu stehen und den Bürgern auf der anderen Seite desselbigen Dinge wie Es ist mir ein Vergnügen... Wird selbstverständlich sofort erledigt... Unsere besten Leute arbeiten daran oder Haben sie noch einen schönen Tag' zu sagen.
Die meisten Besucher des Wachhauses begegneten dieser überschäumenden Freundlichkeit mit großer Skepsis und selbst Amalie Willichnicht hatte Hauptmann Ohnedurst bei einer zufälligen Begegnung auf der Strasse beiseite genommen und gefragt, ob man sämtliche Wächter nicht langsam von den getrockneten Froschpillen absetzen sollte.
"Oh ja, mein Freund, ich weiß, wie es heißt... ich habe die Plakate auch gesehen. Ehrlich gesagt, sehe ich eines davon an jedem Tag den ganzen Tag, denn Alonsius hat so ein Ding aus Gefälligkeit unten an mein Schaufenster geklebt. Mein Schaufenster... mein Arbeitsplatz.", maulte Mumie und seltsame Geräusche drangen unter den lose gebundenen Mullbinden vor dem Mund hervor, von denen der Vampir annahm, dass es sich um einen Fluch in irgendeiner alten Wüstensprache handeln musste.
"Auf der Strasse allerdings heißt euer Slogan: Die Wache, dein Ärger mit den Säufern!"
Rascaal seufzte, als er, Mumie stützend, die letzten Schritte zur Eingangstür des Eimers zurücklegte.
Die Beförderungsfeiern der Wache im Eimer waren legendär, sowohl was Lautstärke als auch Dauer anging. An solchen Abenden mieden selbst die Zivilisten, die der Wache verbunden waren, das Gasthaus. Die Nachwirkungen konnte man am nächsten Morgen, in wenigen Fällen auch erst am darauffolgenden Mittag im Wachhaus und auf den Strassen der Stadt sehen, wenn übelgelaunte Streifengänger und Innendienstler mit mordsmäßigen Kopfschmerzen nicht selten ziemlich barsch und unfreundlich auf die Anliegen der Bürger reagierten.
Auch waren in der Vergangenheit Situationen aufgetreten, in denen höherrangige Wächter während der Dienstzeit Alkohol zu sich genommen hatten... und erwischt worden waren. Logischerweise hatte dies Vorurteile, üble Nachrede und Klischeebildung nur noch verstärkt.
"Hab' ich gehört, Mumie, hab' ich gehört.", brummte der Vampir und versetzte der Tür des Eimers mit der freien Hand einen kräftigen Hieb, der sie aufschwingen ließ. Er hatte keine Lust, heute Abend Probleme zu wälzen und sich Gedanken über zweifelhafte oder übereifrige Wächter machen zu müssen. Heute Abend wollte Hauptmann Ohnedurst seinem in den letzten Tagen seltsamerweise recht labilen Nervenkostüm Entspannung gönnen. In diesem Fall bedeutete das eine herrlich dekadente Runde Drachenpoker mit ein paar Freunden." Aber jetzt gerade könnte mir das gar nicht egaler sein!"
Dann zog der Vampir die bandagierte Gestalt endgültig von den rutschigen Pflastersteinen in die wohlig warmen und gut besuchten Räumlichkeiten des Eimers.

***


"Natürlich hab' ich recht, Humph! Was soll dieses andauernde Misstrauen bei unseren Pokerrunden?", flötete die Wergnomin und setzte ihr charmantestes Lächeln auf, welchem beim Drachenpoker allerdings immer etwas leicht raubtierhaftes anhaftete. "Du tust gerade so, als würde ich nicht ehrlich und fair spielen!"
Der Angesprochene verdrehte nur kopfschüttelnd die Augen und übersah geflissentlich das unverschämt tiefe Decolletee des ihm gegenüber auf der Platte eines wackelnden Holztischen sitzenden Oberleutnants.
"Du willst mir ernsthaft weismachen, dass die Anzahl der Karten traditionsgemäß nach der 11. Pokerrunde von 39 Karten auf 55 Karten und ein Würstchen aufgestockt wird, weil zu diesem Zeitpunkt die Anzahl der Pokerrunden durch die Anzahl der Spielkarten teilbar sein muss???"
"Können diese Augen lügen?", griente die Abteilungsleiterin der F.R.O.G. und blinzelte verführerisch.
"Lügen? Diesen Augen würde ich beim Poker nicht einmal trauen, wenn sie meine eigenen wären.", konterte der Hauptmann und Ausbildungsleiter und verzog seinen Mund zu einem dieser humorlosen Lächeln, die er normalerweise für seine Rekruten aufhob. "Wofür ist das Würstchen?"
"Für ihren Hunger, Mac!", ertönte die dunkle Stimme Hauptmann Ohnedursts hinter ihm, und im gleich Augenblick bemerkte Humph das erdige Rote-Bete Aroma, welches überfallartig seinen Geruchssinn belästigte. "Außerdem vermute ich, dass sie dann versucht, mit dem Fett kleine Markierungen an die Ränder der Karten zu schmieren, aus denen sie dann unser Blatt erkennen kann."
Vorsichtshalber durch den Mund atmend, prustete Humph schallend lachend los.
"Veni, du bist wirklich unmöglich!", kicherte er haltlos von Oberleutnant Knurblichs schamlosen Grinsen nur noch tiefer in den Lachkrampf gezogen. "Und das Schlimmste ist: Du genießt es auch noch!"
Auf der Tischplatte sitzend, nickte die Wergnomin eifrig, biss von dem neben dem Kartenhaufen liegenden Würstchen ab und wandte sich dann dem Vampir zu.
"Wurde auch langsam Zeit, dass du auftauchst und hier die Luft verpestest, Ras!", brachte sie mehr oder weniger deutlich zwischen ihren Kaubewegungen hervor. "Wer ist dein Freund?"
"Herrschaften, das ist Mumie. Mumie, der Struwwelkopf mit den ganzen bunten Anhängern auf der Brust ist Humph MeckDwarf, unser Oberschleifer und der Rotschopf, der den Rest der Nacht versuchen wird, uns auf alle bekannten und unbekannten Weisen zu betrügen und auszunehmen, ist Venezia Knurblich, Leiterin von F.R.O.G und Schrecken aller Würstchen, die nicht schnell genug wegkriechen können.", stellte Rascaal beide Parteien einander vor.
Venezias und Humphs Blicke trafen sich kurz. Was für eine blumige und ausladende Beschreibung ihrer Personen durch den sonst so wortkargen Vampir. Die Anzeichen schienen sich jedes Jahr zu wiederholen.
"Setz dich, Mumie! Hast du auch einen Namen?", begrüßte Humph dann die bandagierte Gestalt in der Runde und gab ihr behutsam die Hand. "Venezia dort drüben weiß immer gerne, wie die Leute heißen, die sie über den Tisch zieht."
"Hör nicht auf den alten Miesmacher, Mumie, so schlimm wie mein Ruf bin ich gar nicht... ich bin wesentlich schlimmer", konterte der Oberleutnant und warf Humph einen herausfordernden Blick zu, während Mumie sich pflichtgemäß stöhnend auf einen Stuhl niederließ.
"Ich seh schon, ich bin genau am richtigen Abend und zu den richtigen Leuten gekommen.", stellte Mumie befriedigt fest und freute sich schon auf eine lange Nacht in dem lärmerfüllten, verrauchten Gasthaus. "Und einen Namen hatte ich früher schon mal, habe ihn irgendwann allerdings vergessen. Die Wüstensonne, die dauernde Hitze, die modrigen Geheimkammern... da geht schon mal die eine oder andere Information verloren. Was wird hier gespielt? Poker?"
Mumie zog zwei Streifen Stoff auf Hüfthöhe beiseite und holte einen alt und verschlissen aussehenden Beutel aus pechschwarzem Leder heraus in dem Münzen provozierend klimperten. Beim Anblick der Börse erschien ein lüsternes Lächeln auf Oberleutnant Knurblichs Gesicht.
"Ähem... Drachenpoker!", räusperte sie sich schließlich und zwang sich, ihren Blick von dem Beutel loszureißen und auf das bandagierte Gesicht des neuen Mitspielers zu richten. "Die Variante ist dir mit Sicherheit nicht geläufig, oder?"
"Oh, ich bin sehr gelehrig!"
"Vorsicht Veni!", schaltete sich Rascaal ein, der das Geplänkel bisher nur stumm, dafür aber umso amüsierter verfolgt hatte. "Mumie hat eines der best bluffenden Pokergesichter in Ankh-Morpork!"
"Woher willst du das wissen, Ras?", fragte der Ausbildungsleiter und runzelte die Stirn. "Sein Gesicht ist bandagiert!"
"Eben...!", gab der I.A. Agent zurück und zwinkerte seinem Freund zu "Braucht den Bluff zu scheuen nicht, da verhüllt sein Angesicht."
Bei dem Reim verdunkelten sich schlagartig die Mienen der beiden am Tisch sitzenden Offiziere. Inzwischen war es ziemlich deutlich.
"Und jetzt brauch' ich etwas zu trinken. Kinder hab' ich einen Durst. Meine letzte Knolle ist ja auch schon eine Ewigkeit her!"
Ohne auf einen Kommentar zu warten, drehte sich Rascaal um und stürmte mit weit ausladendem Schritt Richtung Tresen.
"Von wegen Ewigkeit... das laute Schmatzen seiner letzten Mahlzeit konnte man vorhin noch unten im Wachsaal hören." knurrte Venezia "Es ist bald wieder soweit, wenn er sich jetzt nicht einmal mehr an seine letzte Mahlzeit erinnern kann."
Hauptmann MeckDwarf nickte stumm.
"Was ist bald soweit?", fragte Mumie verwirrt und ließ den Geldbeutel scheppernd auf die Tischplatte fallen.
"Nicht so wichtig!", entschloss die Gnomin, von dem Geräusch aufgeschreckt das Thema abzuwürgen und schaltete mental auf Drachenpoker um. "Lass mich dir ein paar Regeln des Spieles erklären, Mumie. Erstens: Traue keinem außer mir...!"

Der Tresen des Eimers unterschied sich in nichts von Möbeln gleichen Zweckes, die in anderen Gasthäusern der Stadt standen. Ein Eisenrohr verlief auf 20 cm Höhe über seine ganze Länge, um den Gästen zu ermöglichen, einen Fuss draufzustellen... und lässig zu wirken. Eine Holzstange an der Oberkante verlief ebenfalls über die gesamte Länge, um den Gästen zu erlauben, sich zusätzlich schwer mit den Ellenbogen draufzulehnen... und noch lässiger zu wirken.
Im Eimer, wie in anderen Kneipen, kam es unter dem Strich sowieso nur darauf an, betont lässig in der einen oder anderen Pose zu verharren, mit möglichst wenig Kraftaufwand möglichst viele Krüge Bier in sich hineinzustemmen und dabei zu versuchen, sich bei der permanenten Gier nach mehr nicht durch Schlabbern die Kleidung und speziell die Uniform zu versauen und damit die ganze aufgesetzte Lässigkeit ad absurdum zu führen.
Als Hauptmann Ohnedurst den Tresen erreichte, über dem Herr Käse als Konzession an seine Hauptkundschaft, die Wächter, Tafeln mit den Emblemen der Abteilung gehängt hatte, schaute er mit gemischten Gefühlen zu dem von I.A. empor, welches, eingerahmt zwischen F.R.O.G. und S.U.S.I. zufälligerweise direkt über ihm hing. Wie schon des öfteren hatte jemand in die Pupillen des wachenden I.A- Auges einen austretenden Esel gemalt, was den Empfindungen der meisten Kollegen gegenüber Intörnal Affairs im Allgemeinen und seiner Person im Besonderem wohl am besten Ausdruck gab. Anfangs hatte Rascaal das Kunstwerk immer wieder entfernt, wurde der Mühe, unter den hämischen Blicken der meisten anderen Wächter dafür den Tresen besteigen zu müssen, irgendwann überdrüssig und ließ es bleiben.
"Herr Ohnedurst, wie schnell doch ein Monat vergeht. Schon wieder Zeit für die kleine Pokerrunde?", begrüßte Herr Käse freundlich den Vampir, fuhr dann aber fort, ohne auf eine Antwort zu warten. "Wie immer, nehme ich an...?"
"Falls du dich noch immer nicht dazu durchgerungen hast, endlich eine Ausnahme für mich zu machen, wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben, oder?", antwortete der Agent schmunzelnd.
Herr Käse bestand bei jedem Gast auf Umsatz, auch wenn er in einigen Fällen nur symbolischer Natur war. Sie wussten beide, dass Rascaal seine übliche Pflichtbestellung, eine halbe Karaffe Rotwein, in den Pflanzenkübel auf halben Weg zurück zu seinem Tisch schütten würde um sie danach mit seinem mitgebrachten Rote-Bete Saft zu füllen. Aber Prinzip war Prinzip. Etwas, wofür gerade der Vampir Verständnis hatte. "Außerdem noch eine Flasche Importsand. Wir haben heute einen etwas staubigen Gast in unserer Mitte."
"Sehr wohl, Herr, kommt sofort.", sagte der Wirt, drehte sich um und griff hinter sich in ein etwas verborgen liegendes Regal, wo er eine ganz spezielle Flasche aufbewahrte, in die er sämtliche Neigen der Gäste goss, die auf den Tischen stehenblieben. Warum auch noch teuren Wein an jemanden ausschenken, der damit doch nur die Pflanzen tränkte? Insgeheim vermutete Herr Käse, dass die klatschianische Schlabberpalme dort in der Nische sowieso nur gedieh, weil sie von den Gästen mir allerlei Getränkeresten begossen wurde. Zusammen mit den Bestellungen für Hpt MeckDwarf und Olt Knurblich stellte er das gewünschte auf ein kleines, von einem dünnen Dreckfilm überzogenem Tablett.
"Für wen ist das?", verlangte der Vampir mit gerunzelte Stirn zu wissen.
"Das haben deine Mitspieler bestellt, Herr, kurz bevor du kamst. Das Froilain Oberleutnant meinte, und ich möchte hierbei ausdrücklich betonen, dass ich sie hier nur zitiere: Wenn der Knollenfuzzi seinen Wein holt und sowieso gerade steht, dann gib ihm unsere Bestellung einfach mit und schreib es auf seine Rechnung!", gab Herr Käse die Order aus dem Gedächtnis wieder und versuchte krampfhaft, seine Mundwinkel unter Kontrolle zu halten, damit sie sich nicht zu einem breiten Grinsen verzogen.
Rascaal hingegen griff sich das Tablett mit einer Hand und grinste breiter, als es Herr Käse jemals zuvor gesehen hatte. Seltsamerweise beunruhigte es den Wirt, ohne dass er einen Grund dafür hätte angeben können.
"Die Beiden, sie glauben, mit mir könn'n sie's machen,
doch glaub mir, am Ende werd' ich doch nur lachen!", kicherte der Agent mit einem Mal albern, so dass die Wächter, die links und rechts von ihm standen und ihn bisher mit Nichtachtung gestraft hatten, ganz so, wie man sich der landläufigen Meinung eben einem Mitarbeiter von I.A. gegenüber verhält, neugierig einen Blick über die Schulter warfen, um zu sehen, was den sonst so humorlosen Wächterjäger denn in solchem Masse amüsieren mochte. Dieser wurde genauso schnell wieder ernst, wie ihn scheinbar der Frohsinn übermannt hatte, warf klimpernd 3 Münzen auf den Tresen und drehte sich so schwungvoll um, dass die Krüge und Flaschen auf dem Tablett bedenklich schwankten, was Einige in seiner direkten Umgebung dazu veranlasste, hastig ein paar Schritte zurückzuweichen, um der sich anbahnenden Dusche aus Wein, Bier und Sand zu entgehen. Im letzten Moment jedoch balancierte Rascaal seine Fracht mit einer eleganten Gehbewegung aus und bahnte sich seinen Weg zurück an den Ecktisch, an dem Olt Knurblich noch immer eindringlich und ausladend gestikulierend versuchte, Mumie die höheren Weihen des Drachenpokers zu geben.
"Gefreiter Shorty wünscht den Agenten Herrn Hauptmann Ohnedurst zu sprechen, SÖR!", schallte ein Ruf mit einem Mal so laut durch das Gasthaus, dass auch die interessanteste Unterhaltung augenblicklich verstummte, gefolgt von dem scharfen Knall zweier brutal aneinandergeschlagenen Hacken. Mit neugieriger Präzision wandten sich 36 Augenpaare simultan der kleinen Gestalt mit seinem alles anderen als kleinem Bauch zu, die im hinteren Drittel des Schankraumes stand und trotz schlichter, grauer Leinenkleidung ohne irgendwelche Rangabzeichen so zackig stramm stand und salutierte, dass jedem Ausbilder die Freudentränen in die Augen getreten wären.
Das Ziel seines Salutes war gerade dabei gewesen, sein Pflichtgetränk so dezent wie möglich hinter einer heftig diskutierenden Gruppe S.E.A.L.S. auf die übliche Art und Weise zu entsorgen, als es mucksmäuschenstill wurde und er sich im Mittelpunkt des Interesses wiederfand.
"SÖR, der Gefreite Shorty hat eine dringende Angelegenheit mit dem Herrn Agenten Hauptmann Ohnedurst zu besprechen und muss auf einen Augenblick seiner kostbaren Zeit bestehen!" wiederholte die kleine Gestalt sowohl ihr Anliegen wie auch den zackigen Gruß.
Langsam richtete sich der vorgebeugte Vampir wieder auf, stellte die nun leere Weinkaraffe zurück auf das schmierige Tablett und wandte sich mit finsterer Miene zu Shorty um. Längst waren die S.E.A.L.S. beiseite getreten und beobachteten das Geschehen genauso neugierig, wie der Rest der Anwesenden.
"Gefreiter Shorty, der Agent Ohnedurst hat Feierabend, gleichfalls der Hauptmann Ohnedurst und soweit ich weiß, hatte der Herr Ohnedurst noch nie das zweifelhafte Vergnügen, zum Dienst erscheinen zu müssen.", erklärte Rascaal, jedes Wort betonend, um alle Missverständnisse auszuschließen. "Und nimm die Hand von deiner Schläfe, bevor sie dort festwächst. Du hast wohl vergessen, wo du dich befindest."
Der Hauptmann spielte damit auf eine ungeschriebene, doch gerne befolgte Regel an, die besagte, dass salutieren im Eimer grundsätzlich verpönt war, um eine Atmosphäre zu schaffen, in der jeder Dienstgrad eine Chance hatte, sich wohl zu fühlen und den Feierabend ohne berufliche Zwänge genießen zu können.
"Geh zum Tresen und trink ein Bier. Herr Käse hat soviel davon, dass er es sogar verkauft.", beendete der Vampir seinen kleinen Monolog, wandte sich dann wortlos von dem noch immer salutierenden Shorty ab und trat an den Ecktisch, wo selbst die Wergnomin ihren Redeschwall unterbrochen hatte, um den Geschehnissen folgen zu können.
"Knollenfuzzi, wie?", frotzelte Rascaal für den die andere Sache damit erledigt war, schob das Tablett auf den Tisch und begann, die Getränke zu verteilen. "Und das ausgerechnet von unserer kleinen Würstchensüchtigen, unterstützt von dem Kameraden mit dem Untermieter im Oberstübchen."
Unter normalen Umständen hätte der Vampir nun schallendes Gelächter und den langersehnten Beginn der Pokerrunde erwartet, doch blieb beides aus einem Grund, der sich offensichtlich noch immer hinter ihm befand, aus.
"SÖR!", drängte sich der Gefreite Shorty an den Tisch und knallte ein offiziell aussehendes Papier mit solcher Wucht auf die Platte, dass sowohl die Getränke, als auch Olt Knurblich einen kurzen Satz in die Höhe machten. Verständnislos schaute Mumie in die Runde und verstand nicht so richtig, was hier gerade geschah. "Herr Sör Hauptmann Ohnedurst, würdest du mir gefälligst erklären, was dieses Schreiben zu bedeuten hat?"
"Dass du morgen einen Termin in meinem Büro hast", antwortete der Vampir so ruhig wie möglich, ohne einen Blick auf das Schreiben zu werfen. "Du weißt doch, was 'morgen' bedeutet, oder?"
Gerade als sich Rascaal anschickte, seinen Platz am Tisch einzunehmen, packte ihn der zwei Köpfe kleinere Mann und riss ihn zu sich herum.
"SÖR, sie werden mir sofort erklären, was es mit dieser Sus-pänn-dirunk auf sich hat, von der sie in diesem Wisch hier reden."
Hinter den beiden fing Hauptmann MeckDwarf die Blicke zweier kräftig aussehender Wächter ein und bedeutete ihnen mit einer unmissverständlichen Geste näherzukommen.
"Es bedeutet, dass du umgehend deine Dienstmarke bis zum Abschluss der Ermittlungen abzugeben hast."
"Das können sie nicht machen, Sör Herr Hauptmannsagent, das ist nicht fair. Ich habe nur meinen Dschopp gemacht. Hat dieser Abschaum, den wir festnehmen, etwa mehr Rechte, als wir Wächter?", zeterte Shorty und zog den Vampir, der es zu aller Erstaunen mit sich geschehen ließ, noch näher an sich heran. "Wir sollten uns gegenseitig helfen, Sör, wir sind doch alle Wächter. Wir sind die Guten, schon vergessen? Du hast kein Recht, mich zu entwächtern, du untoter Wächterverräter, die Wache ist mein Leben und das lass ich mir nicht wegen eines wehleidigen Lügners von Dieb nehmen!"
"Er behauptet, du hättest ihm bei seiner Festnahme den Kiefer und zwei Rippen gebrochen, Gefreiter.", knurrte Rascaal und ein gefährliches Blitzen trat in seine Augen. "Und wenn du mich nicht sofort loslässt und diese Unterhaltung morgen in meinem Büro führst, dann zeig ich dir auch, wie sich das anfühlt!"
Vier kräftige Hände packten Shorty von hinten und zwangen ihn von dem Agenten weg.
"Neiiiin, lasst mich. Er soll sich rechtfertigen, er soll es rückgängig machen!", protestierte er lautstark und versuchte sich nach Kräften zu wehren. "Sör, ich habe nichts außer meiner Pflicht getan. Das habe ich nicht verdient. Wir sind die Guten, verdammt!"
"Bringt ihn raus!", befahl Hauptmann MeckDwarf. "Er soll sich draußen abkühlen und hat für den Rest der Nacht Eimerverbot."
Unter sichtlichen Mühen zerrten und zogen die beiden Angesprochenen den tobenden Gefreiten zur Tür hinaus, beschwörend auf ihn einflüsternd, er möge sich doch in IOs Namen beruhigen, bevor noch ein Unglück geschähe.
"Ich mach dich alle, Hauptmann, ich bin noch lange nicht fertig mit Dir...", grölte der kleine Mann noch einmal während einige der Schaulustigen um ihn herum den Eindruck hatten sein Gesicht würde beginnen kürbisfratzenförmige Züge anzunehmen. In späteren Gesprächen würden sie es auf die Beleuchtung und Shortys hohen Speichelausstoß beim Schreien zurückführen. Dann hörte er von einem Moment auf den Anderen auf sich zu wehren. "Ihr könnt mich loslassen. Ich bin ruhig!"
Auf ein Nicken des Ausbildungsleiters hin ließen sie ihren Kollegen skeptisch los, bereit, jederzeit wieder zuzugreifen, sollte es nur eine Finte gewesen sein.
"Ich krieg dich, Herr Agent, so oder so!", spottete Shorty, auf die F.R.O.G.-Vergangenheit des Vampirs anspielend "Und wenn ich bis ganz nach oben gehen muss, damit dich jemand aufhält."
Die einzige Antwort Rascaals bestand aus einem schlangengleichen Grinsen, woraufhin der Gefreite nur verächtlich auf den staubigen Holzfußboden spuckte, sich abrupt umdrehte und mit einem lauten Knall der Eingangstür in die Nacht hinaus verschwand.
Allgemeines Gemurmel setzte ein, gefolgt von allgemeinen Bestellungen am Tresen, da Gemurmel im Allgemeinen schnell durstig machte. Keine drei Minuten später war der normale Lärmpegel wieder hergestellt, einzig von gelegentlichen Pausen unterbrochen, in denen hier und da ein Finger auf den Agenten zeigte oder ein Kopf zum Ecktisch nickte. Wächter mit Feierabend sind eben sehr anpassungsfähig.
"Man kann sich wirklich bald nirgends mehr mit dir sehen lassen, Ras.", griente Venezia, als sie merkte, dass sich die Wogen für den Moment geglättet hatten. "Warum lässt du nicht einmal an unserem Pokerabend die Arbeit im Büro?"
"Würd' ich ja, aber wie du siehst, holt sie mich immer wieder ein.", schoss der Vampir zurück, griff sich den umgefallenen Kartenstapel von der Mitte des Tisches und fing mit schnelle Bewegungen an zu mischen "Alle Klarheiten beseitigt, Mumie? Dann lass uns doch herausfinden, was für einen Unsinn dir Veni so beigebracht hat, um dich über den Tisch zu ziehen."
Endlich konnte die Pokerschlacht beginnen.

"Dann wollen wir doch mal sehen, was Veni ihm so für einen Unsinn beigebracht hat...gna, gna, gna!", schimpfte die Gnomin und trat wütend nach den Resten eines Aalplätzchens, welches friedlich auf dem frostigen Kopfsteinpflaster vor sich hinrottete. "Haben wir gelacht... der Kerl hat mich glatt ausgeraubt. Wenn er kein Freund von dir wäre, Ras, dann würde ich ihn jetzt der Diebesgilde wegen unlizenziertem Diebstahl übergeben!"
"Denk dir nichts dabei, Mumie.Unser Froilain Oberleutnant ist nur noch nie so vernichtet worden.", erwiderte Rascaal und sein schallendes Gelächter hallte durch die Strasse. Sechs Stunden hatte die Viererrunde intensiv gezockt und keine Gefangenen gemacht. Mumie war der große Gewinner und sein Lederbeutel, in dem zu Beginn nur ein paar Münzen verlockend geklingelt hatten, war nun prall gefüllt mit ein wenig von Humphs, bedeutend mehr von Ras und fast dem gesamten Wochensold Venezias. "Ich hab euch gewarnt, Freunde des schlechten Blattes:
"Das Pokerspiel ist kein Vergnügen,
wenn Mumie kann am besten lügen."
Humph, auf dessen Schulter sich die Mumie abstützte, um auf dem überfrorenen Pflaster nicht ständig mit den bandagierten Füssen auszurutschen, seufzte lautstark bei dem erneuten Vers.
"Geh nach Hause, Ras.", riet er dem Knollensauger "Wie kümmern uns schon um deinen Freund. Das ist ja wohl das Mindeste, was wir tun können, nachdem er uns so ausgenommen hat. Häng du dich derweil an deinen Balken und gönn' deinem Nervenkostüm ein wenig Ruhe."
"Ruhe? Schnickschnack! Die Sonne geht erst in einer guten Stunde auf und ich hab so einen Durrrrrrrrrssst!", kam die prompte Antwort, während der I.A. Agent mit seinem Körper eine verspielte Pirouette in die muffige Luft zeichnete, die in einem Knicks vor der missmutig in den sternenklaren Himmel schauende Gnomin endete. "Ich denke, meinen Fallen verlangt es nach einer überfallartigen Leerung und mich nach einem größeren Schnäck!"
"Durst? Ras, du hast deine Weinkaraffe viermal mit Knollensaft aufgefüllt und ihn runtergestürzt, als gäbe es kein Morgen.", gab Venezia zu bedenken.
"Das stimmt nicht, du lügst doch, das kann ich nicht glauben,
Mich dürstet's, ich sag's dir, ich brauch was zu saugen!
Die Fallen, sie rufen, um sie zu beehren,
damit deren Inhalt ich endlich kann leeren!"
Hüpfend und ohne seinen Freunden noch irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken, verschwand der Vampir daraufhin in eine Seitengasse.
"Öhm... nun ja, dann wohl bis in einer Woche, Ras.", murmelte Hauptmann MeckDwarf missmutig.
"Einer Woche?", fragte Mumie und klammerte sich verzweifelt zwischen Hauswand und Wächter fest, um auf den Beinen zu bleiben.
"Lange Geschichte, Mumie, lange und knollenreiche Geschichte!"

Hauptmann Rascaal Ohnedurst brauchte nicht lange auf die erste gefüllte Knollenfalle warten. Drei Querstrassen weiter, in einer Sackgasse zwischen mehreren Mülltonnen versteckt, deren letzte Leerung wohl zu Gründungszeiten Ankh-Morporks stattgefunden hatte, zappelte ein fettes Exemplar der Gattung Rotrundus Vielleckerus Mobilis und versuchte, den scharfen Widerhaken zu entkommen.
Der Vampir zögerte. Irgendetwas sagte ihm, dass er nicht allein war, doch kämpfte sein Durst die Warnung mit Leichtigkeit nieder.
"Gaaaanz ruhig, meine Hübsche, der Onkel Ras wird dich gleich von all deinen Leiden erlösen!"
Mit vor Gier leicht zitternden Händen zog er lautlos seinen 'Offiziersdolch' mit dem eingravierten Krustenbrecherfrosch, löste die Widerhaken und rammte den Dolch tief in das Fleisch der Knolle. Die Rote Bete zitterte einmal und dann war es vorbei, so dass Rascaal sie ohne zu zögern heraushebeln und den Dolch herausziehen konnte, woraufhin er lautstark an der Wunde zu saugen begann, immer heftiger, bis von dem prallen Gewächs nur noch ein vertrockneter Klumpen übrig war.
"Da bin ich wieder, SÖR! Hast du mich vermisst?", drang plötzlich eine wohlbekannte Stimme an die Ohren des Hauptmanns. "Hübsches Eckchen hast du dir hier ausgesucht, SÖR. Bin zweimal vorbeigelaufen, bevor ich dein Schmatzen hörte. Wie kann man nur so furchtbar gierig sein, SÖR!"
Nicht oft gelang es jemandem, Agent Ohnedurst zu überraschen, doch dieser junge Mann hatte es gerade geschafft. Knurrend drehte sich Rascaal zu der unwillkommenen Gesellschaft um.
Keine fünf Schritte entfernt stand der Gefreite Shorty, unschwer zu erkennen an seiner untersetzten Gestalt und der sackartigen Kleidung. Sein Gesicht zu einer Fratze verzerrt, musste Rascaal unvermittelt an einen ausgehöhlten Kürbis denken, dessen Vorderseite mit Hilfe eines Messers zu einem dämonischen Grinsen verunstaltet worden war und nun von innen heraus zu leuchten schien. In seinen kräftigen Händen hielt Shorty einen abgebrochenen Besenstiel, der sich an einem Ende verjüngte und in einer gefährlich aussehenden Spitze mündete.
Das Kürbisgesicht seines Gegenübers betrachtend, fragte sich der Vampir, ob die letzte Knolle vielleicht krank gewesen war, dass er solch bizarre Halluzinationen hatte.
"Verschwinde Shorty, ich hab zu tun.", befahl er und wandte sich der nächsten Rote-Bete Falle zu, in der die Knolle wie wild tobte und es schon fast geschafft zu haben schien, sich aus den Klauen der Umklammerung zu befreien.
"Oh nein, SÖR! Das geht leider nicht so einfach! Erst mal werden wir uns über diese Sus-pänn-tier-unk unterhalten!"
"Mach dich vom Acker, Bursche...", brummte der Vampir ohne sich umzudrehen, ganz auf die Rote-Bete fixiert "... bevor wir beide etwas tun, was uns später leid und dir wesentlich früher weh tun wird... MISTUNDVERDAMMT!"
Urplötzlich war es der Knolle gelungen, aus der Falle zu entkommen und nun strebte sie auf einen kleinen Spalt in der Mauer an der Stirnseite der Sackgasse zu. Ansatzlos schleuderte Rascaal seinen Dolch aus dem Handgelenk, welcher die Knolle nach ein paar kurzen, blitzenden Umdrehungen auf halbem Wege genau in der Mitte traf und die Klinge auf voller Länge durch sie hindurchtrieb.
"Hahaaaaa... hast du das gesehen?", jubelte der Vampir und riss die Arme triumphierend hoch.
Shorty hatte es gesehen und die Tatsache, dass er in einem solchen Maße ignoriert wurde, steigerte seine Wut in unkontrollierbaren Hass. Mit ein paar schnellen Schritten seiner kurzen Beine brachte er sich direkt hinter den jubelnden Vampir, welcher sich anschickte, zu seiner Beute zu gehen und hob den Stab, um ihn dem Agenten hasserfüllt mit Wucht genau unterhalb der Schulterblätter in den Rücken zu rammen und vielleicht so seine volle Aufmerksamkeit zu erlangen.
In diesem Moment geschah es...
"Jaaaaa.. !", kam es dem Hauptmann noch vollkommen verdutzt über die Lippen. Dann brach er, gleich einer Marionette, deren Fäden man mit einem Scherenschnitt durchtrennt, stumpf zusammen und blieb regungslos liegen.
"Äähh... SÖR?", fragte Shorty perplex, dessen Wut bei diesem skurrilen und unerwartetem Anblick so schnell verpuffte, wie sie gekommen war und senkte erstaunt seine noch unbenutzte Waffe. Unsicher schaute der kleine Mann, aus dessen Gesicht sämtliche Kürbiszüge gewichen waren, kurz nach rechts und links, bevor er langsam näher trat "SÖR, ich... was zum Henker???"
Ein erstauntes Keuchen entfuhr dem suspendiertem Wächter, als seine Ohren ein leises Klingeln vernahmen und seine Augen etwas sahen, was nur ein einziger Mensch in dieser Stadt zuvor gesehen hatte.


Tag 2

Eene, Meene, Muh... und raus bist du!


Büro des Kommandeurs, kurz vor der ersten Frühstückspause:
Wieder ein Tag in der alten Tretmühle. Wieder ein Tag voller Unterschriften, Formulare und den nervigen drei Spinnern in ihren Röhren. Wieder ein Tag voller Entscheidungen, für die sowieso kaum einer Verständnis hatte. Wieder ein Tag, dessen einziger Sinn und Zweck darin lag, mit möglichst wenig Arbeitsaufwand in den Feierabend überzugehen.
Eigentlich hatte Kommandeur Rince noch genug in seiner Halbtagsstelle als Laborant bei S.U.S.I zu tun, doch das war eben der Vorteil als Chef: Man konnte sich selbst hinter seinen Schreibtisch im Kommandeursbüro befehlen, den dampfenden Becher Kaffee neben sich, die Butterbrote für das zweite und dritte Frühstück vor und den Gedanken an den Feierabend in sich.
Genüsslich versenkte Rince seine Zähne in ein dreifaches Sandwich und erfreute sich an dem letzten Mahl dieser Woche, bei dem man sich nicht Sorgen machen musste, dass es mit einem Mal nach Rote-Bete Knollen schmeckte, die nicht nur widerlich stanken, sondern deren Saft auch noch Flecken machte, welche man nur mit einer Schere wieder entfernen konnte. Vorsorglich hatte seine Frau die Brote schon gestern geschmiert, denn ab heute galten andere Regeln, ab heute musste wieder mit Allem gerechnet werden, ab heute war Rinces Stellvertreter offiziell ein Woche beurlaubt.
Heute war der sechste Tag des letzten Monats im Jahr. Heute begann die Weihnachtsraswoche.

Cim Bürstenkinn, Chief-Korporal und stellvertretender Abteilungsleiter der S.E.A.L.S., wischte sich den Schweißfilm von der Stirn, der sich beim Sprint die Treppe hoch in den ersten Stock des Wachhauses am Pseudopolisplatz gebildet hatte und nun seine Augenbrauen zu überfluten drohte. Er wusste, er würde irgendwann in naher Zukunft dringend etwas gegen die wachsenden Rettungsringe an seinen Hüften tun müssen, doch war sein Übergewicht im Frühstadium nur teilweise Grund für seine momentan explosionsartige Transpiration. Wie die meisten der mittleren und oberen Dienstgrade, war er gerade dabei gewesen, seine letzte ungetrübte Frühstückspause für diese Woche zu genießen, frei von der ständigen Sorge, irgendeine Form von Rote-Bete in seinem Essen, den Getränken, der Kleidung, den Möbeln oder wer weiß wo sonst noch zu finden, als die Taube einer Streife sich hektisch durch das gekippte Fenster seines Büros gezwängt hatte.
Beim Lesen der Nachricht an ihrem Bein war ihm der Appetit vergangen.
Liebend gerne hätte er das Papier an seine Chefin, Stabsspieß Atera, weitergegeben, doch war diese am heutigen Tag drüben in der Kröselstrasse, um vor Rekruten einen Vortrag über Lust und Laster des Streifendienstes zu halten und hier und dort versteckt ein wenig Werbung für S.E.A.L.S. zu machen. So blieb CK Bürstenkinn nichts anderes übrig, als den Kommandeur persönlich aufzusuchen, um dort Meldung zu erstatten.

Die ersten drei Sandwiches lagen hinter Rince, ein großer Schluck Kaffee befand sich in seinem Mund und in seiner Hand etwas Neues.
Es war eine Art Spiel, welches der Patrizier ihm vor ein paar Tagen im Zuge der Kampagne zur Hebung des Ansehens der Wache in der Bevölkerung hatte zukommen lassen, dazu da, die Anspannung von Personal in Führungspositionen abzubauen. Zu diesem Zweck war auf einer handflächengroßen, mit einem Rand versehenen Scheibe die Stadt in groben Zügen nachgezeichnet und an den Sehenswürdigkeiten kleine Löcher gebohrt. Auf dieser Scheibe lagen sechs winzige Kügelchen aus gebranntem Ankhschlamm, welche man durch bloßes Kippen der Oberfläche mit etwas Geschick in die sechs Löcher befördern konnte.
Zu seinem Entzücken war es Rince schon gelungen, die Kugeln in den Patrizierpalast, den Kunstturm und die Oper zu befördern und gerade peilte er das nächste Loch in der Mitte des Sees im Hyde Park an, als seine Bürotür krachend aufflog.
Der Schreck ließ den Kommandeur den Kaffee in seinem Mund in einem infernalischen Sprühregen über seine Hände spucken, was zur Folge hatte, dass das Ankh-Morpork auf dem Spielfeld wie nach einer der großen Überschwemmungen aussah.
Im Türrahmen stand ein verschwitzter Cim Bürstenkinn mit hochrotem Kopf, dem gerade eingefallen war, dass er etwas Essentielles vergessen hatte: Das Anklopfen.
"Öhm... Klopf, klopf... ääh...Sör?", hauchte Cim in der Hoffnung, sich durch einen Witz über die Situation retten zu können.
"Ja...", murmelte Rince und legte das Spiel vorsichtig auf die Schreibtischplatte, um die Kügelchen nicht aus Versehen aus der Stadt zu spülen. "... das wäre ein feiner Zug von dir gewesen, Chief-Korporal. Was gibt es denn so dringendes?"
"Sör, diese Meldung kam gerade von einer Streife herein.", antwortete Cim und legte das Papier auf eine der wenigen trockenen Stellen auf dem Schreibtisch vor seinen Chef.
Sich energisch mit einem besticktem Taschentuch die nassen Hände abwischend, überflog dieser die Nachricht leicht angesäuert. Gibt es denn nicht genügend Hauptleute in seiner Wache? Musste er sich jetzt noch mit Streifenmeldungen abgeben? Doch mit jedem Wort, das er las, mit jedem Satz, der sich aus diesen Worten zusammensetzte wurden seine Wischbewegungen langsamer, bis er sich schließlich mit beiden Händen mitten in der Kaffeelache auf der Platte seines Schreibtisches abstützte und die ganze Meldung noch einmal las.
"Falls das ein schlechter Scherz sein soll, dann lass mich dir versichern, das ich schon bedeutend mehr gelacht habe!", kommentierte der Kommandeur den Inhalt mit todernster Miene und schaute den Wächter vor ihm prüfend an. "Lass mich dir ferner versichern, dass sich jeder, der mit diesem Scherz zu tun haben sollte, sich schneller bei G.R.U.N.D. wiederfinden wird, als er ‚Ja, Sör' sagen kann... und zwar als Rekrut!"
Keine Reaktion, nur das ständige Schwitzen des aufgeregten Körpers.
"Ach du Scheiße...", war daraufhin alles, was dem Kommandeur dazu einfiel.
"Ja, Sör. Ganz deiner Meinung.", bestätigte Cim, zog ein eher schmutzig-grau als weiß aussehendes Taschentuch aus der Hose und wischte sich über die Stirn. "Ich nehme an, dass wir in diesem Fall etwas diskreter vorgehen sollen...? Sör?"
"Was...?", schreckte Rince aus seinem komplizierten Gedankengang hoch und schaute den Chief-Korporal für eine Sekunde lang verständnislos an "Ach so, diskret... wenn das so einfach wäre. Ist schon ein Tatortsicherer vor Ort?"
"Der Obergefreite Gnomen est Nomen dürfte wahrscheinlich in diesem Augenblick dort eintreffen. Da der Tatort anscheinend eine Sackgasse ist, dürfte selbst er wahrscheinlich keine Probleme haben, die Schaulustigen davon fernzuhalten."
"In diesem Fall kann ich mich auf kein ‚wahrscheinlich' verlassen, Bürstenkinn.", fauchte der sonst so gelassene Rince, bei dem Gedanken, wenn dem Patrizier das zu Ohren kommen würde. Das würde mit Sicherheit sowieso irgendwann geschehen, doch der Kommandeur wollte zumindest versuchen, dieses Ereignis so lange wie möglich hinauszuzögern. "Schick auch noch diesen neuen Tatortsicherer hin, wie heißt er noch gleich? Dieser Troll..."
"Eisenpelz, Sör? Er ist noch sehr unerfahren, Sör!", gab Cim zu bedenken.
"Dafür ist er sehr groß. Eine Qualität, die mir jetzt wichtiger ist, als Erfahrung. Gnomen soll ihn einweisen. Keiner -ich wiederhole- keiner, der nicht Wächter ist oder ausdrücklich von mir autorisiert worden ist, hat diese vermaledeite Gasse zu betreten. Hab ich mich da klar ausgedrückt?", befahl Rince und hieb mit der flachen Hand auf den Schreibtisch, so dass der Kaffee auf der Platte wegspritze und sich genüsslich auf Rince und Cims Uniformhosen niederließ, um dort ungestört hartnäckige Flecken zu bilden.
"Und verstanden habe ich es auch, Sör. Oberleutnant Pismire wird sofort verständigt!"
"Warte, Chief-Korporal, noch etwas:", hielt der Kommandeur Cim zurück, der sich abgewendet hatte, um die ihm aufgetragene Aufgabe zu erledigen. Adrenalin hatte seinen Körper überflutet, von dem Blut in seinen koffeinverseuchten Adern getragen, und brachte ihn in einen Zustand höchster Entschlussfähigkeit. "Haufen-Hubert soll sofort verständigt werden und darf mit seinem Karren direkt an den Tatort. Dank seiner Stapeltechnik wird es ihm möglich sein, den Leichnam versteckt raus und zum Wachhaus transportieren zu können, ohne dass einer der Gaffer mitbekommt, wer dort gefunden wurde. Sobald der Leichnam hier ist, soll mir jemand von S.U.S.I. sofort die Tatwaffe zur Verifizierung herbringen, um jeden Zweifel auszuschließen."
"Spieß Erschreckja?", warf Cim ein, seinem Chef damit andeutend, dass er dessen Gedankengang folgen konnte und schlug auf seinem mentalen Block eine neue, unbeschriebene Seite auf, da er zu Recht befürchtete, dass da noch mehr kommen würde.
"Genau die! Sie soll augenblicklich in meinem Büro erscheinen, wenn die Tatwaffe hier eingetroffen ist. Danach will ich sämtliche Abteilungsleiter sehen. Ausnahmslos. Mir ist ganz egal, womit sie angeblich gerade beschäftigt sind, oder wovor sie sich zu drücken versuchen."
"War es das, Sör?"
"Nein, zwei Dinge noch: Korporal Breguyar soll bei der Besprechung mit den Abteilungsleitern dabei sein. Irgendetwas sagt mir, dass es ratsam wäre, einen Püschologen dabei zu haben.", schloss Rince seine Anordnungen ab und holte tief Luft. "Außerdem soll jemand meine Frau benachrichtigen, dass ich heute Nacht nicht nach Hause kommen werde!"
Chief-Korporal Bürstenkinn nickte stumm, salutierte kurz und verließ dann eiligst den Raum.

Kaum war die Tür hinter ihm zugefallen, sackte Rince auf seinen Bürostuhl zusammen, der wegen der überfallartigen Belastung laut knarrend protestierte.
"Verdammt, ich hätte dich nach dem ersten Jahr schon aus dem Verkehr ziehen sollen...!", sinnierte er "Es war ja nur eine Frage der Zeit, bis etwas schief geht."
Schließlich nahm er die Streifenmeldung zur Hand, hob sie vor seine Augen und las sie ein drittes Mal durch, in der Hoffnung, alles nur geträumt zu haben.

AN: StSp. ATERA / CK Bürstenkinn --- DRINGEND
VON: HG Dennis Schmied - Streifenführer und OG Damien G. Bleicht

MELDUNG:
Haben in Silberwarzengasse die Leiche des Gefreiten Shorty entdeckt.
In der Brust des Leichnams steckt ein Dolch mit eingraviertem Emblem des Krustenbrecherfrosches der F.R.O.G.
Sackgasse provisorisch gesichert. S.U.S.I. angefordert.

Erbitte dringend weitere Anweisungen und eine neue Taube.
Gez.
Dennis Schmied, Hauptgefreiter

"Mistundverdammt...", fluchte Rince, knüllte das Papier wütend zusammen und schleuderte es quer durch den Raum. Der Patrizier würde nicht explodieren, würde ihn nicht anschreien und toben. Nein, er würde ihm den Blick zuwerfen und in dieser besonders ruhigen Stimme mit ihm reden, die einen einlullt und in Sicherheit wog, bevor er zuschnappte. Rince wusste, dass der Vorfall allem entgegenwirkte, was eure Lordschaft an Ansehen für die Wache in der Bevölkerung erwirken wollte.
Es musste einfach einen Weg geben, wie er es nicht sofort erfuhr. Vielleicht auch gar nicht erfuhr. Die Situation musste einfach nur so schnell wie möglich in den Griff bekommen und kontrolliert werden.
Tief in gedankliche Planspiele versunken, nahm er das Entspannungsspiel für Führungskräfte in die Hand, goss vorsichtig den Kaffee aus der Stadt und begann die Scheibe mit seinem Taschentuch trockenzutupfen.

***


Kurz vor der Mittagspause:
Rince fragte sich wirklich langsam, was er wohl so Schreckliches verbrochen hatte, um diesen Tag zu verdienen.
Tief in ihm drin war neben seinem Hunger noch immer das kleine Licht einer Möglichkeit gewesen, die ganze Angelegenheit durch Sicherung des Beweißmaterials, insbesondere der Tatwaffe, als großes Missverständnis entlarven zu können.
Dann war Korporal Sillybos in seinem Büro erschienen, den fraglichen Dolch vorschriftsmäßig in einer Sicherungstüte mit seinen behandschuhten Händen behutsam tragend und Spieß Erschreckja im Schlepptau. Als der Spurensicherer die Mordwaffe mit der blutverschmierten Klinge und dem deutlich sichtbar eingravierten Krustenbrecherfrosch zwei Zentimeter über dem Griff ausgepackt hatte, brauchte Ecatherina nur einen kurzen Blick darauf zu werfen, um bestätigen zu können, dass es eindeutig Hauptmann Ohnedursts 'Offiziersdolch' war, den sie ihm zu seinem Abschied von F.R.O.G. hatte anfertigen lassen und anschließend mit Hilfe des seltenen Engelsschweißes selbst graviert hatte.
Ihren Ausführungen zufolge hinterließ Engelsschweiß eine sehr prägnante, schwingenförmige Signatur, wenn er sich in Metall fraß und der er auch seinen Namen verdankte. Außerdem hatte die ehemalige GiGa ihr Zeichen in die Pupille des Frosches geätzt.
Damit war es amtlich.
Ein Wächter war ermordet worden... mit der unverwechselbaren Waffe eines hochrangigen Offiziers, des I.A.-Agenten und, als wenn der Rest nicht schon schlimm genug wäre, seines eigenen Stellvertreters... und das war noch der einfachste Teil.
Komplizierter war die Vorstellung, dem Patrizier berichten zu müssen, eben dieser Mann habe sich in einen herumhüpfende Scherzbold mit Rotfetisch und einem recht kranken Sinn für Humor verwandelt, und das nicht zum ersten Mal. Dass Rince dies schon seit drei Jahren gewusst und toleriert hatte, würde ein gefundenes Fressen für ihre Lordschaft sein.
Der plötzlich fehlende Lärmpegel riss den Kommandeur aus seinen Gedanken.
Eine bevorzugte Möglichkeit des Kommandeurs auf die beste Lösung für ein Problem zu kommen war seiner Meinung nach das Präin-Schtormink, weswegen er vor seinem inzwischen wieder trockenen Schreibtisch sämtliche Abteilungsleiter der Wache versammelt hatte.
Normalerweise waren zwei von ihnen in einem Raum immer eine willkommene Gelegenheit, die neuesten Infos über laufende Fälle auszutauschen. Alle in einem Raum war dagegen wie eine Gruppe Marktfrauen, die sich nach einem Monat auf dem Marktplatz wiedersahen und schnatternd den ganzen Klatsch der letzten vier Wochen aufarbeiteten. Nur nicht heute...
Jeder von ihnen hatte andeutungsweise und in mehr oder weniger ausgeschmückter Weise gehört, was vermutlich geschehen war. In der Wache blieb nichts viel länger geheim, als eine Tasse Kaffee brauchte, um kalt zu werden. Dementsprechend ruhig und aufmerksam saßen sie nun wie die Hühner auf der Stange im Büro ihres Kommandeurs, um die Fakten zu erfahren.

Rince atmete tief ein und stand auf. Showtime.

"Guten Tag, Herrschaften. Danke, dass ihr so zügig erschienen seid." begann er und fing an, redend hinter seinem Schreibtisch auf und ab zu gehen. "Gerüchtekontrolle: Falsch ist, dass es eine Erhöhung des Soldes zum Jahresende geben wird. Das Gerücht war letztes Jahr schon Unsinn und ist dieses Jahr nicht einmal mehr originell. Ebenso falsch ist, dass Frau Willichnicht an einem ihrer Aalplätzchen erstickt ist und deswegen nun die Frühschicht am Wachetresen ausfällt. Richtig ist aber leider, dass der Gefreite Shorty heute morgen tot aufgefunden wurde. Wiederrum richtig ist, dass in seiner Brust ein Dolch steckte, der inzwischen eindeutig als Hauptmann Ohnedurst 'Offiziersdolch' identifiziert wurde. Soviel zu dem, was wir im Moment wissen. Die Frage, die wir uns jetzt stellen sollten, ist, was werden wir nun machen?"
Oberleutnant Knurblichs Miene hatte inzwischen die Fröhlichkeit eines offenen Grabes und immer wieder traf sich ihr Blick mit dem des Ausbildungsleiters, der unruhig auf seinem Stuhl hin- und herrutschte.
Nach einem weiteren Moment abwartenden Schweigens, räusperte sich die Wergnomin, die es sich bisher auf Ateras Schulter bequem gemacht hatte, vernehmlich und stand auf.
"Worauf willst du hinaus, Rince? Sollen wir jetzt ausschwärmen und Ras einfangen?", fragte sie frei heraus und schaute dann ihre Kollegen an "Das kann doch nicht euer Ernst sein, oder?"
"Langsam Veni...", versuchte Rince die F.R.O.G.-Chefin zu beruhigen "Davon hab' ich ja vorerst noch gar nichts gesagt."
"Letztenendes könnte es aber genau darauf hinauslaufen, Rince!", warf Daemon nüchtern ein.
"Wenn es stimmt, was man so hört, dann könntest du durchaus Recht haben, Dae.", spekulierte Lt. Lanfear nachdenklich, schlug die Beine übereinander und wischte imaginären Staub von ihrem Knie.
"Was man so hört?", stutzte Daemon und wandte sich der Abteilungsleiterin von R.U.M. zu " Wie meinst du das denn?"
"Wie? Hat es sich noch nicht bis zur Boucherie Rouge herumgesprochen?", verfiel Irina in einen leichten Anfall von Spott. "Unser geschätzter Agent Ohnedurst hatte gestern während seiner Pokerrunde im Eimer eine kleine Auseinandersetzung mit dem späteren Mordopfer..."
Hinter seinem Schreibtisch verschluckte sich Rince erneut an seinem Kaffee und erlitt einen bellenden Hustenanfall, auf den jeder Hund neidisch geworden wäre.
"Wie war das eben? Ras hatte was?", keuchte er, nachdem er wieder zusammenhängender Silben fähig war.
"Rina hat Recht!", schaltete sich Humph ins Gespräch ein und schaute seinem Chef fest in die Augen."Shorty stand mit einem Mal an unserem Tisch, drang auf Ras ein und verlangte, dass er dessen Suspendierung rückgängig machen solle. Als dieser ihm eine Abfuhr erteilte, wäre Shorty fast ausgerastet... Ich befahl dann zwei Wächtern, ihn zum Abkühlen nach draußen zu schaffen."
"Na klasse, genau das fehlte noch. Mehrere Dutzend Leute, die meisten davon Wächter, beobachten einen Streit zwischen dem Agenten von I.A. und einem suspendierten Wächter!", fasste Rince wütend zusammen. "Ein paar Stunden später ist der Wächter tot und, Herrin des Schicksals welch Zufall, mit der Privatwaffe des Agenten ermordet."
Betroffen schauten die Offiziere zu verschiedenen, vollkommen unterschiedlichen Stellen des Raumes.
"Aber es macht keinen Sinn!" begehrte Venezia auf "Wieso hätte Ras ihn töten sollen? Was hätte er davon? Er lässt sich doch auch sonst nicht aus der Ruhe bringen."
"Vielleicht sonst nicht, aber du weißt doch ganz genau, wie er gestern abend war: Albern, kindisch und dann diese dauernde Reimerei.", murmelte Humph und scharrte mit den Schuhspitzen Kreise in den schlecht gewischten Fußboden vor ihm "Und wir wissen doch alle, welchen Tag wir heute haben, oder?"
"Was uns gleich zum nächsten Punkt bringt:", ließ die S.E.A.L.S.-Chefin nun zum ersten Mal ihre schnarrende Stimme ertönen "Wer steht denn eigentlich unter Mordverdacht?"
"Was willst du damit sagen, Atera?", verlangte Rince zu wissen, die nächste Hiobsbotschaft schon erwartend.
"Nun, wie Humph ganz richtig anmerkte, bezeichnet die vergangene Nacht den Beginn der Weihnachtsraswoche. Das Einzige, was wir haben, ist der Offiziersdolch, von dem wir aber wissen, dass sowohl Rascaal Ohnedurst als auch der Weihnachtsras ihn am Gürtel tragen. Deswegen meine Frage: Welchen von Beiden werden wir jagen?"
"Macht das einen Unterschied?", fragte Daemon und kniff die Augen zusammen.
Schweigen.
"Kommt drauf an, wen wir verdächtigen.", meldeten sich Pismire zu Wort,
"Korporal Breguyar, was meinst du dazu?"
Langsam stand Araghast auf und trat nachdenklich aus der Ecke.
"Die Frage ist meiner Meinung nach alles andere als leicht zu beantworten, Sör!", begann er "Betrachtet man NUR die Verwandlung als solche ganz für sich allein, so denke ich, dass es sich durchaus um ein und dieselbe Person handelt, die einfach nur eine andere Gestalt angenommen hat. Die vollkommen unterschiedlichen Charaktere allerdings, die den jeweiligen Erscheinungsformen anhaften und deren Gegensatz sogar für einen Laien offensichtlich ist, ließe allerdings schon die Möglichkeit zu, Agent Ohnedurst und den Weihnachtsras als zwei Personen zu betrachten."
"Hmmm, hmm, hm, hm, hm, hm !", brummte Rince einen Moment vor sich hin, mit einer Entscheidung ringend.
"Es ist halt eine Frage der Betrachtungsweise, Sör.", ergänzte K Breguyar.
"Das müssen wir später klären, denn welcher von beiden die Tat auch immer begangen hat: Einen brauchen wir auf alle Fälle. Die Beweislage lässt mir leider keinerlei Spielraum, so sehr ich das auch bedauere."
Wütend ballte Olt Knurblich die kleinen Fäuste und setzte zu einer scharfen Bemerkung an, verkniff sie sich aber im letzten Moment.
"Meine Entscheidung lautet wie folgt: Vorläufig zu verhaften sind folgende Personen: Hauptmann Rascaal Ohnedurst und der Weihnachtsras, welchem von beiden wir auch immer zuerst habhaft werden. Die Leitung der Ermittlungen hat bis auf weiteres R.U.M.. StSp Atera ich will, dass ab sofort die Streifen verdoppelt werden. Sie sollen die Stadt durchkämmen, aber bitte so unauffällig wie möglich. Auf keinen Fall darf einer der Beiden zu Schaden kommen, also ruhig Blut bei den Festnahmen. Außerdem ist das letzte, was ich will, dass mir der Patrizier noch mehr im Nacken sitzt als jetzt schon."
Allgemeines Nicken.
"Olt Knurblich,", fuhr der Kommandeur fort "F.R.O.G. soll das Dachfenster zu Rascaals Büro bewachen. Vielleicht haben wir ja Glück und schnappen ihn, wenn er wie üblich heute Abend die ersten seiner schrecklichen Knollengeschenke verteilen will. D.O.G und G.R.U.N.D. werden vorerst nicht gebraucht."
"Ich könnte die Streife durch Rekruten verstärken." ,schlug Humph vor, dem es gar nicht gefiel, so kaltgestellt zu werden.
"Auf keinen Fall!", lehnte Rince ab "Das letzte, was ich jetzt auf den Strassen haben will, sind ein paar heißblütige Anfänger mit losen Fingern am Abzug an den Armbrüsten."
Verdrießlich schnaubte der Ausbildungsleiter, sagte aber nichts weiter.
"K Breguyar, vertief den Gedankengang mit den zwei Personen. Desweiteren möchte ich Persönlichkeitsprofile sowohl von Rascaal, als auch und insbesondere vom Weihnachtsras haben. Rede mit allen, die ihm schon mal begegnet sind. Wegtreten! Ich muss nachdenken."
Als alle anderen schon den Raum verlassen hatten, verharrte Venezia im Türrahmen und drehte sich um.
"Nehmen wir an, wir schaffen es wirklich, ihn zu fangen...", fragte sie besorgt "Was machen wir dann?"
"Das überleg ich mir, wenn wir ihn haben.", antwortete Rince, ohne von seinen Notizen aufzuschauen, doch als er nach einem Moment das Türschloss noch immer nicht gehört hatte, legte der Kommandeur seufzend die Schreibfeder nieder und schaute auf. Wie erwartet stand die Gnomin mit den feuerroten, ewig zerzausten Haaren noch immer breitbeinig im Türrahmen.
"Hör zu, Veni, was soll ich deiner Meinung nach denn machen? Ras ist mit jeder Faser seines untoten Körpers ein Vollblutwächter. Was hätte er an meiner Stelle unternommen? Denk mal drüber nach."
Nach ein paar Sekunden nickte die Wergnomin.
"Er hätte sofort zur Jagd geblasen und jede Möglichkeit hier ausgeschöpft, um sein Ziel zu erreichen!"
Kaum dass endlich auch Venezia des Raum verlassen hatte, öffnete Rince eine der unteren Schubladen seines Schreibtisches und holte ein weiteres Butterbrot heraus.
Entscheidungen machen hungrig.

***


I.A.-Büro: Kurz nach der Kaffeepause
Olt Knurblich konnte noch immer nicht recht glauben, dass sie diese Aktion wirklich plante.
Alle verfügbaren F.R.O.G, die die Gnomin für diese Aufgabe als geeignet erachtete und die nicht dringend woanders gebraucht wurden, hatten sich im Laufe des Vormittags auf dem Dach der Wache und der umliegenden Gebäude versammelt, zusammen die Vorgehensweise geplant, Optionen gegeneinander abgewogen und sich ihre Positionen gewählt.
Alle Aufgaben waren verteilt und nun hieß es geduldig warten, etwas, dass der quirligen Gnomin verhasst war, weswegen sie gedachte, die Zeit sinnvoll für einen kleinen Schnäck zu nutzen, oder auch für einen nicht ganz so kleinen.
Zielstrebig durchquerte sie Rascaals Büro und schaute missmutig zum Dachfenster empor. Wie hatte es bloß so weit kommen können, dass sie heute, statt hier mit dem Vampir im Büro zu sitzen und sich über seine erbärmlichen Pokerkünste lustig zu machen, fast seine gesamte ehemalige Abteilung aufgeboten hatte, um ihn zu fangen und ins Loch zu werfen? Den Blick nach oben gerichtet, blieb sie für einen Moment stehen und wartete auf eine Antwort. Als keine kam, ging sie seltsam enttäuscht hinter den Paravent, der in der Ecke des I.A. Büros stand und hinter dem ihr Fass stand, dass sie seit geraumer Zeit bewohnte.
Schon bevor sie durch den torförmigen Eingang trat, vor dem ein dicker, dunkelgrüner Vorhang hing, der die Außenwelt von einem kleinen Vorraum trennte, spürte Venezia, dass sie nicht alleine war. In der näheren Umgebung ihrer Behausung war keine Möglichkeit, sich in irgendeiner Weise zu verstecken, also musste ihr 'Gast' sich im Inneren des Fasses befinden.
Die Wergnomin achtete peinlich genau auf ihre Privatsphäre, wahrscheinlich, weil die hier in der Wache nur ein Fass voll davon hatte. Nicht einmal Rascaal, quasi ihr Mitbewohner, hätte es gewagt, ihr Heim ungefragt zu betreten. Dass dies größentechnisch sowieso nicht möglich gewesen wäre, spielte dabei keine Rolle.
Vorsichtig streckte sie den Arm aus, schob den leicht staubigen Umhang wenige Millimeter beiseite und spähte hindurch. Da an dem Nagel in dem winzigen, unbeleuchteten Vorraum, der normalerweise als Garderobe diente nichts hing, konnte sich auch hier niemand ungesehen aufhalten. Schattengleich schlüpfte sie hinein und zog den Vorhang hinter sich wieder zu. Für die Länge einiger Atemzüge ließ sie die Dunkelheit, die sie umfing, auf sich wirken, bevor sie die Hand nach der Klinke ihrer kunstvoll mit einem geschnitzten Krustenbrecherfrosch verzierten Haustür ausstreckte.
Die Abteilungsleiterin der F.R.O.G. zögerte. Sorgsam hatte sie damals beim Einrichten der Wohnung auf eine leicht quietschende Eingangstür geachtet, so dass sie niemand in ihrem Heim überraschen konnte. Die Möglichkeit, auf der anderen Seite der Tür zu stehen und lautlos eintreten zu müssen, hatte sie zu dem Zeitpunkt nicht in Betracht gezogen.. Auf der anderen Seite konnte sie sich nicht vorstellen, dass dort drin irgendetwas wartete mit dem sie, notfalls mit Hilfe ihres kleinen Geheimnisses fertig werden würde.
Mistundverdammt, es war ihr Zuhause und sie hatte es nicht nötig, wie ein Dieb in der Nacht reinzuschleichen. Dann lieber ein effektvoller Auftritt.
Diesen Gedanken im Kopf, trat sie einen halben Schritt zurück, hob das rechte Bein und verpasste der Tür mit ihren schwarzen Lederstiefeln einen Tritt, der sie mit einem lauten Knall aus dem Schloss sprengte und nach einer 180 Grad Drehung an die rückwärtige Wand donnern ließ. Ohne auf eine Reaktion zu warten, trat die Gnomin ein und bemerkte aus dem Augenwinkel sofort den Arm, der sich ihr schnell von rechts näherte. Mit wölfischen Reflexen packte sie ihn, schwang sich und den Arm einmal herum, was sie auf die andere Seite des Angreifers und dessen Arm in eine wahrscheinlich ziemlich schmerzhafte Position brachte. Ein kurzer kräftiger Ruck riss ihren ungebetene Gast, den Schwung der Drehung ausnutzend von den Beinen und katapultierte ihn quer durch den Raum, wo er krachend in einer kleinen Sitzgruppe landete und stöhnend liegenblieb.
Das leise Sirren, als die Gnomin ihren Gnomensäbel, von dem kaum noch jemand wusste, was er wirklich war, aus der Scheide zog, war noch nicht ganz verklungen, als Venezia schon über dem sich aufrappelnden Schatten im Halbdunkeln war, ihn mit dem Fuß zurück auf den Boden drückte und die scharfe Klinge dorthin setzte, wo sie die Kehle vermutete.
"Baby, wenn das deine Vorstellung von Vorspiel ist, was machst du dann erst, wenn wir richtig zur Sache kommen?", keuchte eine der Gnomin wohlbekannte Stimme.
"Mistundverdammt, Reggie, du hirnloser Röhrenrutscher, hast du deinen Verstand jetzt endgültig verraucht?", fluchte Venezia "Ich hätte dich töten können... nicht, dass es ein großer Verlust gewesen wäre!"
Wütend stieß sie den Säbel wieder in die Scheide, nahm den Fuß von Reggies Brust und ging zum Fenster, wo sie die Vorhänge auseinanderzog, um das Tageslicht hineinzulassen.
Grinsend rappelte sich der Rohrpostdämon wieder auf.
"Das hättest du bei einem so gut aussehenden Kerl wie mir doch nicht übers Herz gebracht, Schnuggelchen."
"Nenn mich nicht so!", fauchte die Gnomin, war mit drei schnellen Schritten bei ihm und packte den Dämon am Hals "Und wenn du es noch einmal wagst, hier ungefragt reinzukommen, werde ich Dinge mit dir anstellen, die selbst du nicht mehr lustig findest."
Reggie lachte schallend.
"So was gibt es nicht, Süße, aber ich liebe es, wenn deine Augen so wütend funkeln." Provokativ drehte der Dämon ihr den Rücken zu und beugte sich geziert vor, um sich den Staub von der Hose zu wischen.
Auch der Gnomin war das neue Kleidungsstück schon aufgefallen, nun, da das Licht ihr Heim durchflutete und den Schaden ihrer kleinen Auseinandersetzung zum Vorschein brachte, wobei sie der Inhalt unter dem Stoff der Hose wesentlich mehr interessiert hätte. Reggie hatte den knackigsten Hintern, den die Gnomin jemals gesehen hatte und sie musste zugeben, dass das eng geschnittene Beinkleid den Eindruck nur noch verstärkte.
"Was w-w-willst du hier?", schnauzte sie etwas unsicher, um sich von dem Drang abzulenken, die Hand nach eben diesem Hintern auszustrecken. "Und fass' dich kurz. Mir steht heute wirklich nicht der Sinn nach deinen Spinnereien."
Der Dämon hatte die Unsicherheit in der Stimme der Gnomin wohl gehört und wusste auch ganz genau warum. Schmunzelnd drehte er sich zu ihr um und zog ein kleines Paket aus den Trümmern der Sitzgelegenheit hervor.
"Für dich, Liebste!"
"Hör auf mit diesem Mist! Geht das nicht in deinen vergilbten Schädel?", fuhr Venezia ihn an "Was ist das?"
"Mach's auf, dann wirst du es sehen."
Skeptisch riss die Gnomin den Deckel der Schachtel mit einem unromantischen Ruck ab und holte ein dunkles Halstuch heraus, gemacht aus dem Stoff, aus dem auch Reggies Hose bestand, wie sie an den purpurnen Rosen erkannte.
"Das kann ja wohl nicht dein Ernst sein, Reggie?", bestaunte sie das Geschenk "Wann sollte ich so was wohl tragen? Und überhaupt... was fällt dir ein, mir so etwas zu schenken, noch dazu in dem Stoff deiner Hose."
"Das nennt man Partnär-Luck, Baby", raunzte der Rohrpostdämon und trat an das Objekt seiner Begierde heran, um ihr die Arme um die Hüften zu legen. "Dann sieht jeder, dass wir zusammengehören"
Blitzschnell riss die Wergnomin ihren Arm nach oben, packte Reggies Pferdeschwanz und zog ihm den Kopf in den Nacken.
"Au, au, au, au.. Vorsicht, Mädchen.. Ich meine, bring meine Frisur nicht durcheinander... auuu!",
heulte dieser auf.
"Das berühren der Figüren...", begann die Abteilungsleiterin der FROGs und begann den Dämon an seinen Haaren in Richtung Tür zu ziehen "... mit den Pfoten ist verboten! Wie oft muss ich es dir noch sagen!"
Wäre Reggie nicht mit Leiden überaus beschäftigt gewesen, so hätte ihm das bebende Dekolletee der Gnomin bestimmt Freude bereitet. So aber blieb ihm keine andere Wahl, als einem Hund an der Leine gleich rückwärts hinter Venezia hinterher zustolpern und sich quer durch das I.A.-Büro zu dem Eingang der Melderöhre schleifen zu lassen. Dort angekommen riss Venezia, die sich das Tuch schnell zwischen die Zähne geklemmt hatte, um beide Hände frei zu haben, die Klappe beiseite und verpasste dem Dämonen einen kräftigen Stoss, der diesen in die glatte Röhre verfrachtete und mit einem ausgelassenen Johlen ins Dunkel hinabgleiten ließ.
"Du willst es auuuuuch... du weißt es bloß noch niiiiiicht!", war das Einzige, was die Wergnomin noch vernahm, bevor es still im Raum wurde.
Oh ja, Venezia Knurblich wusste so einiges. Vor allem wusste sie, dass sie Reggie unheimlich attraktiv fand und sein Hintern ihr fast den Verstand raubte. Sie wusste aber auch, dass sie es weder ihm, noch irgendjemand anderen gegenüber jemals zugeben würde, weil das sowieso schon aufgeblasene Ego des Dämonen noch größer werden würde und er einen Hahnenkamm aufstellen würde, der an die Decke stöße.
"Aber Geschmack hat er, dass muss man dem Kerl lassen!", murmelte sie, nachdem die Gnomin das Tuch aus dem Mund genommen hatte "Wirklich echt todschicker Stoff!"
Sie dachte kurz nach... und band sich das Tuch dann mit einem Knoten um den Hals, so das die Zipfel ihr Dekolletee akzentuierte. Dann ging sie zurück in ihre Wohnung, um aufzuräumen und ihren F.R.O.G. Kampfanzug anzulegen.

***


Über den Dächern der Stadt, kurz vor dem Schichtwechsel und der Einnahme des "Bevor-Frau-Willichnicht-kommt-Schnäcks":
Eine Taube hörte es als erstes.
Gemütlich an einen warmen Schornstein gekuschelt, hockte sie auf dem Dachfirst eines Hauses des Unteren Breiten Weges, einen Straßenzug vom Pseudopolisplatz entfernt, hatte den Kopf tief unter einen Flügel vergraben und versuchte zu schlafen.
Eigentlich war Schlaf eine Übertreibung für den dämmerartigen Zustand, in dem sämtliche Vögel der Stadt nur verfielen. Richtiger Schlaf war viel zu gefährlich. Richtiger Schlaf machte einen noch mehr zur Zielscheibe für die mannigfaltigen Gefahren, die den gefiederten Bewohnern aus allen Richtungen in Form von Wasserspeiern, Menschen mit Bratpfannen, Katzen und Wächtern, die sie für den Meldedienst rekrutieren wollten, drohten.
Ein kleines Nickerchen war okay. Nur ein wenig vor sich hindösen, war der Trick.
Mit halb geschlossenen Augen zog die Taube den Kopf unter dem Flügel hervor und lauschte. Hatte sie sich das nur eingebildet? Waren die Brotkrumen, die sie sich hinter Hargas Imbiss ergattert hatte, vielleicht doch nicht mehr so frisch gewesen?
Nein, da war es wieder. Ein leises, bezauberndes Klingeln einer winzigen Glocke, dass sich aus drehwärtiger Richtung zu nähern und auf den schmutzigen und rutschigen Dächern zu tanzen schien. Begleitet wurde das Klingeln vom unmelodischsten Summen, welches die Taube jemals vernommen hatte, dessen Besitzer sich zwar eindeutig Mühe gab und wohl auch durchaus von seinem Talent überzeugt war, aber an der penetranten Brüchigkeit seiner eigenen Stimmbänder scheiterte, die sein Summen wie die Tonleiter klingen ließ, nachdem man sie stundenlang hinter einer Kutsche hergeschleift hatte.
Ein Blinzeln später sah sie den Eigentümer des Summens sich mit einer Art tänzelnden Bewegung über die Dächer nähern, die einen Widerspruch aus anmutiger Geschmeidigkeit und sinnlosem Stolpern bildete und doch schien sein Tritt sehr sicher, er auf den Dächern wie zu Hause und in seinem Element zu sein. Das eigentlich Seltsame allerdings war seine Kleidung.
Eine rote Zipfelmütze mit einem leuchtend weißen Troddel und einer kleinen, silbernen Glocke an der Spitze saß windschief auf dem schmutzig-grauem und verfilztem Haar, welches strähnig bis über beide Schultern hing. Der leuchtend rote Mantel mit den weißen Säumen schien der Gestalt eine Nummer zu groß zu sein und schlackerte bei jeder Bewegung sackartig hin und her. Erstaunlicherweise schien kein Schmutz diesem makellosen Rot etwas anhaben zu können, kein Staub sich drauflegen zu wollen, kein Fleck an ihm haften zu bleiben. Perfekte Sauberkeit in Ankh-Morpork. Eine bizarre Vorstellung, selbst für eine Taube.
Dann ging das Wesen an der Taube vorbei und bevor sie wusste, wie ihr geschah, war sie von einer Duftwolke eingehüllt, die sie an Erde, an Alter, Fäulnis und Zerfall erinnerte... bis ihr Körper sie zwang, die Gedanken über den sie umgebenden Duft einzustellen und sich spontan in den Schornstein zu übergeben.

***


"Endlich ist das Jahr vorbei, mit der öden Warterei.
Zügellos und voller Gier, Weihnachtsras ist wieder hier... hehehehehehe!", von seinem eigenen ziegenhaften Gelächter begleitet, hüpfte der Weihnachtsras ausgelassen und leicht angetrunken über die Dächer der Stadtwache entgegen. Die gelegentlichen Pirouetten, die er verspielt mit der ihm eigenen stolpernden Geschmeidigkeit vor einem unsichtbaren Publikum vollführte, waren Ausdruck der unbändigen Sucht, mit der er jede Sekunde seines Daseins in sich aufsog. Mit gutem Grund. Dies war die Weihnachtsraswoche. Sie gehörte nur ihm, den Knollen, die er in den verschiedensten Formen bevorzugterweise den Stadtwächtern unterjubelte und der Gier, der Gier nach Freiheit und Vergnügen.
Das Wissen, warum ihm nur diese eine Woche zur Verfügung stand, fehlte dem Weihnachtsras, doch wenigstens war er sich bewusst, in wessen Seele er den Rest des Jahres gefangen war, nämlich in der des Anderen, dieses Möchtegernvampirs. Zutiefst verabscheute er dessen Steifheit, dessen ekelhafte Disziplin und Rechtschaffenheit. Echte Freiheit und richtiges Vergnügen, wie es dem Weihnachtsras vorschwebte, schienen dem Hauptmann fremd zu sein und keinerlei Sucht um jeden Preis nach den echten Freuden dieses Lebens, wie sie dem Weihnachtsras vorschwebten, mit anderen Worten Schadenfreude, Zügellosigkeit und Boshaftigkeit trieben ihn an.
Das Wesen in Rot, welches lustvoll jauchzend durch die Frostnacht tanzte, fand Hauptmann Rascaal Ohnedurst einfach nur zum kotzen.
Aber auch wenn der Hass gegenüber seinem Wirt, denn nichts anderes war der Agent für ihn, mit jedem Jahr wuchs, so wusste der Weihnachtsras auch, dass ihre Existenzen untrennbar miteinander verwebt waren. Der Eine würde nie ohne den Anderen existieren können und dass ihm nur eine jämmerliche Woche des ganzen Jahres zur Verfügung stand, machte die Angelegenheit nicht attraktiver.
Daran jedoch wollte der Weihnachtsras jetzt nichts denken.
"Oh, was werden sie schon warten,
voller Hoffnung zu erraten,
was ich ihnen wohl mag bringen,
um es ihnen aufzuzwingen.", schnarrte seine Stimme durch nächtliche Luft.
"Habt Geduld, oh, dümmlich Wächter,
Ungeduld macht es nur schlechter.
Von euch jeder kriegt etwas Feines,
Doch heut' Nacht gibt es nur eines."
Nachdem der Start in seine Woche etwas holprig gewesen war, er mit einem brummenden Schädel und schwer benommen gestern Nacht in seiner geliebten Gestalt aufgewacht war, hatte sich der Weihnachtsras nach einem Tag voller Ruhe eigentlich vorgenommen viel früher das Wachhaus mit all seinen Diensthabenden und Bewohnern mit seiner Gegenwart beehren wollen. Auf halbem Weg zum Pseudopolisplatz jedoch, noch bevor er auf die Dächer hatte steigen können, war ihm ein stark angetrunkener Ödi Puss über den Weg gelaufen. Ödi, ein hünenhafter Mann in den besten Jahren, mit der Seele und dem Verstand eines Kindes ausgestattet, war mit einer Ausnahme wahrscheinlich das einzige Wesen auf dieser Welt, den der Weihnachtsras als seinen Freund bezeichnen würde.
Ihre Wege hatten sich im letzten Jahr gekreuzt, als er beim Verteilen seiner Geschenke in die Ermittlungen der Wache gestolpert, oder genauer gesagt, aus dem Kamin in Frau Puss gute Stube gepurzelt war. Sofort war eine krankhafte Art von Seelenverwandtschaft zwischen den Dreien zu spüren gewesen, was den Weihnachtsras dazu veranlasst hatte, ein wenig regulierend und für die meisten Beteiligten der Wache ziemlich nervtötend in die Ermittlungen einzugreifen. Die Freundschaft, die daraus entstanden war, hatte das Jahr überdauert und als der Weihnachtsras Ödi kurz nach Anbruch der Dunkelheit über den Weg gelaufen war, hatte dieser ihm keine Wahl gelassen, als ihn zu seiner geliebten Mutti zu begleiten und sich von Frau Puss nach Strich und Faden verwöhnen zu lassen. Niemand im Hause Puss störte sich an seinem Geruch oder seinem unkonventionellen Aussehen. Frau Puss hatte ihn in ihre kleine Familie aufgenommen und da bei ihr das Matriarchat herrschte, hatte er gefälligst am Tisch zu sitzen und alle Rote-Bete Speisen zu vernichten, die sie ihm vorsetzte... vom Wein ganz zu schweigen.
So kam es, dass der Morgen schon fast graute, bis der Weihnachtsras es endlich geschafft hatte, einen seiner angetrunkenen und überfressenen Füße auf das Dach des Wachhauses zu setzen. Wenn diese Normalknollen doch nur nicht so gasen würden, doch er hatte es einfach nicht über sein totes, vergnügungssüchtiges Herz gebracht, seiner Mama Puss, wie er sie seit heute Abend zu nennen hatte, zu gestehen, dass sich der Weihnachtsras nur von den Knollen ernährte, die man an einem ganz bestimmen Platz an der Mauer der Unsichtbaren Universität fand. Nur die bekamen ihm und gaben ihm Kraft, was wahrscheinlich an der intensiven thaumatischen Strahlung lag, der sie ausgesetzt waren, nachdem sie in einer seiner Fallen schmorten.
Doch wenigstens ein Geschenk sollte es heute Nacht noch geben. Nicht, dass seine Wächterlein noch glaubten, ihr geliebter Weihnachtsras hätte sie vergessen.
"Wartet nur, das wird was geben,
werdet morgen ihr erleben.
Morgen, wenn ich dann hab Zeit,
für die Weihnachtsrasigkeit!", gestattete er sich ein Jauchzen in den Himmel, bevor er mit einem tänzelnden Schritt leichtfüßig auf das Dachfenster des I.A. Büros zuging.
Lüstern vor Vorfreude lächelnd griff der Weihnachtsras mit einer Hand, deren alte, runzelige Finger scharfe, überlange Fingernägel zierten, in die große Manteltasche und nahm seine erste Gabe an die Wache in diesem Jahr in die Hand, während er sich summend runterbeugte, um den versteckten Mechanismus zu betätigen, der es einem erlaubte, das Fenster auch von außen zu entriegeln.
Es war halt schon praktisch, über das Wissen dieses Idioten zu verfügen, dem er diesen seiner Meinung nach hinreißenden Körper für den Rest des Jahres überlassen musste.
Dann sah er sie und seine Bewegung erstarrte.
Mitten in dem hellen Fleck, den das Mondlicht durch das Dachfenster auf die Holzdielen des Büros unter ihm warf, stand Olt Venezia Knurblich in vollem Kampfanzug der F.R.O.G., die Hand am Griff ihres Gnomensäbels und starrte finster zu ihm empor.
Der Weihnachtsras wusste zwar, dass die Gnomin ein F.R.O.G. mit Leib und Seele war, fand diesen Empfang allerdings etwas übertrieben.
"Was, sag mir, soll das denn werden?
Hast du etwas zu verbergen?
Komm, lass mich dir etwas bringen,
dann dein Herz kann wieder singen.", rief der Knollensauger unbekümmert nach unten und griff nach dem Mechanismus.
Im selben Moment riss die Wergnomin ihren Säbel aus der Scheide.

Das Geräusch beim Ziehen ihrer Waffe durchschnitt die Stille des Büros.
Venezia war hin- und hergerissen zwischen der Vollblutwächterin, die sie nun einmal war und dem Drang, einem Freund zu helfen.
War die Gestalt über ihr denn ein Freund? Rascaal Ohnedurst war es. Schließlich war sie in seinen Armen gestorben und so etwas prägt eine Beziehung. Doch was war mit dem Wesen über ihr mit den langen, strähnigen Haaren, dem kranken Glitzern in den Augen den überaus scharf aussehenden Fingernägeln und dem Kleidungsgeschmackes eines Eimers roter Farbe? War der Weihnachtsras ein Freund? War er Hptm Ohnedurst? Wie sicher konnte sie sich sein? Was war sie bereit, drauf zu verwetten? Ihre Karriere? Vielleicht ihre untote Existenz?
Ihre Befehle an die draußen lauernden FROGs waren eindeutig gewesen: Zugriff nur, wenn der Weihnachtsras in sein Büro runtergestiegen war, vor dessen Tür zwei kräftige Wächter lauerten, oder wenn eindeutige Anzeichen einer Flucht bestanden. Immer wieder hatte die Wergnomin vor allen Dingen Chief-Korporal Sidney eingeschärft, dass dem Weihnachtsras kein Haar gekrümmt werden dürfte. Allerdings wusste sie auch, dass sie über einen mutmaßlichen Wächterkiller geredet hatte, dem nicht gerade eine Welle der Nächstenliebe und Professionalität entgegenrollen würde.
Stundenlang hatte sie auf dieser Stelle gestanden und abgewogen, wie weit sie gehen konnte, ohne eine falsche Entscheidung zu riskieren. Der Profi hätte die Falle zuschnappen lassen, der Freund hätte die Falle verhindert und so tat Venezia das Einzige, was sie tun konnte, um sowohl dem Weihnachtsras, als auch sich selber etwas Zeit zu verschaffen: Sie gab ihm eine Chance.
Andere hätten es vielleicht ungehorsam oder Befehlsverweigerung genannt, doch wie K Breguyar schon gesagt hatte: Alles war eine Frage der Betrachtungsweise.

Zwei Dächer weiter sah Chief-Korporal Sidney, wie sich der Weihnachtsras ruckartig aufrichtete und sich an den leeren Gürtel fasste.
Irgendetwas war schiefgegangen, nur konnte sich der leichte Armbrustschütze beim besten Willen nicht vorstellen, was das gewesen sein konnte. Olt Knurblichs Plan war eigentlich recht simpel gewesen. Sie sollte versteckt im Büro lauern und den Weihnachtsras in ein Gespräch verwickeln, wenn er unten angekommen war. Während der von G.R.U.N.D. für die Dauer der Aktion zurückbeorderte Valdimier, dem Gefreiten Ortbe und er den Fluchtweg nach oben dann versperrt hätten, wären Kanndra, Rogi und Gina in das Büro gestürmt und hätten den Weihnachtsras festgenommen. Sidney konnte sich nicht vorstellen, dass gerade Olt Knurblich sich nicht gut genug versteckt hatte und aufgeflogen war.
Weiter links, fast schon im Rauch des benachbarten Schornsteins verborgen, stand der Hauptgefreite Ortbe, der Triffinsziel der FROGs mit seiner Spezialarmbrust und schaut fragend zum Chief-Korporal, dem Ranghöchsten hier draußen.
Was hatte seine Abteilungsleiterin gesagt: Nur zugreifen, wenn er EINDEUTIG zu fliehen versucht!
Was war schon eindeutig? Dass dieser nach Knollen stinkende Schwachkopf in dem roten Kostüm aus unerfindlichem Grund nicht mehr in sein Büro hinabsteigen wollte, war offensichtlich... und da er das nicht mehr wollte, war er ganz eindeutig auf der Flucht... irgendwie. Ihm fehlte bestimmt nur noch die nötige Motivation für die dazugehörigen Bewegungen.
Hinten, auf der anderen Seite des Daches lauerte Valdimier und wenn irgendjemand mit einem Vampir fertig werden würde, so war es ein anderer Vampir.
Schon hatte Sidney einen Plan. Nun brauchte er nur noch dafür zu sorgen, dass der Weihnachtsras auch in die richtige Richtung lief. Nichts leichter als das. Ein Bolzen hier, ein Pfeil dort und der Instinkt des Kerls würde den Rest erledigen. Sollte dabei doch ein Bolzen sein Ziel finden... Schwund gab es überall.
Mir diesem Gedanken im Kopf gab Sidney der Hauptgefreiten ein Zeichen sich bereitzuhalten und legte an.

Die Augen des Weihnachtsras verengte sich gefährlich zu schmalen, funkelnden Schlitzen. Er mochte ein vergnügungssüchtiger Spinner sein, ein Lügner, ein Betrüger, ein Trunkenbold, zu allem fähig und zu nichts zu gebrauchen, aber eines war er garantiert nicht... dumm.
Was immer hier auch ablief, es ging weit über die alljährliche Fallenstellerei der Wächterlein hinaus. Das hier war etwas anderes, etwas, wegen dem alle Alarmdämonen in ihm gleichzeitig losschrieen und seine Sinne jeglichen Alkohol in seinen Adern ignorierten... und es galt ihm.
Nur verstand er nicht warum.
Noch einmal schaute er mit halboffenem Mund zu der Wergnomin hinab und leckte sich mit der glänzenden Zungespitze über seine scharfen Eckzähne. Die Nasenflügel des Vampirs bebten, als er versuchte, mit jedem seiner Sinne die Umgebung auszukundschaften, sich von Venezia Blick losriss, einen Schritt von dem Dachfenster zurücktrat und sich spähend langsam um die eigene Achse zu drehen begann.
"Wenn ihr mir habt etwas zu sagen,
könnt ihr mich doch ganz einfach fragen,
statt mir hier heute aufzulauern
und es nur später zu bedauern.
Wie ihr ja wisst, versteh' ich Spaß,
doch wenn ihr nicht bald haltet Maß,
muss ich wohl auf die Freud' verzichten
und meinen Zorn ganz auf euch richten!", raunte er kaum hörbar den russgeschwärtzen Schornsteinen und Dachspitzen zu, die er erblicken konnte.

Chief-Korporal Sidney zielte auf die knallrot leuchtende Mütze auf dem Kopf des Weihnachtsras. Genauso gut hätte er woanders hinzielen können, aber er aus einem Impuls heraus überfiel ihn die Neugier, ob der Vampir wohl eine Glatze unter der Zipfelmütze hatte. Ein kleines und schwieriges Ziel, aber Sidney war ein exzellenter Schütze.
Nur trat der Kerl auch noch brav einen ganzen Schritt zurück und begann, sich umzuschauen. Na, wenn das kein verwertbarer Fluchtversuch war...
Sidney hob die Armbrust ein winziges Stück und drückte ab. Mit einem Schnappen verließ der Bolzen die Sehne.

Der inzwischen ziemlich finstere Blick des Weihnachtsras entdeckte die Armbrust genau in dem Moment, als Sidney den Finger ansatzlos krümmte und ließ sich katzenhaft wie ein Kartoffelsack auf das Dach fallen. Nur um Millimeter verfehlte der Bolzen seine Zipfelmütze, traf die kleine Glocke und riss sie mit sich in die schwarze Nacht. Augenblicklich war der Vampir wieder auf den Beinen und vernahm einen gedämpften Fluch von jemandem hinter sich, der wohl auch nicht mit dem Bolzen gerechnet hatte.
Dieser schwachsinnige Ohnedurst hätte wahrscheinlich Deckung gesucht und probiert, mit dem Schützen Kontakt aufzunehmen, doch er war nicht der Hauptmann. Er war der Weihnachtsras, dem man gerade ein herrliches Vergnügen verdorben hatte und ihm schwebte eine ganz andere Art von Kontakt mit demjenigen am anderen Ende der Armbrust vor. Mit weit ausholenden Armen begann er zu rennen, immer schneller werdend, den Schornstein, hinter dem sich der Schütze vermutlich damit abmühte, seine Waffe nachzuladen, nicht aus den Augen verlierend.

"Verfluchter Mist!", schimpfte Sidney derweil in seiner Deckung, als er sah, wie sein Ziel atemberaubend schnell abgetaucht war und sein Bolzen in Valdis Richtung weitergerauscht war. Sofort riss er einen neuen Bolzen aus seinem Gürtel, steckte ihn zwischen die Zähne und stemmte die Armbrust zwischen sich und das Dach, um die Sehne erneut spannen zu können. Ein kurzer Blick zeigte Sidney, dass der Weihnachtsras anscheinend alles andere als Flucht im Sinn, sondern dem bösartigen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, ganz andere Pläne mit ihm zu haben schien. Nicht, dass er Angst gehabt hätte... und doch war ihm nicht wohl bei dem Gedanken an einen offenen Kampf mit dem Weihnachtsras. Nicht nur, dass er Olt Knurblich eine Menge würde erklären müssen... das Wesen in Rot war ein Gegner, den er in keinster Weise einzuschätzen vermochte. Die Zeit wurde knapp.
"Komm schon, komm schon!", feuert er sich an, realisierte jedoch, dass er es nicht rechtzeitig schaffen würde, die große Armbrust nachzuladen. Also blieb ihm nur die wesentlich kleinere Pistolenarmbrust an seinem Gürtel. Kaum hatte er den Gedanken zuende gedacht, trat der auszubildende Triffinsziel Ortbe ein paar Meter neben ihm aus der Deckung und legte auf den Weihnachtsras an.

Der Vampir wusste, dass sein Gegner es nicht rechtzeitig schaffen würde und ein triumphierendes Fauchen entrang sich seiner Kehle. Dann trat keine 10 Meter neben dem Schützen ein weiterer Wächter im schwarz-grünen Kampfanzug hinter einem Schornstein hervor und legte mit einer Armbrust auf ihn an, die nicht nach viel Vergnügen für den Weihnachtsras aussah. Das wurde jetzt mit der eben vernommenen Stimme hinter ihm, die sicherlich auch nicht nur als begeisterter Zuschauer gekommen war, langsam aber sicher zu kompliziert.
Mit einem leisen PLÖPP verwandelte sich der Weihnachtsras in eine stattliche Fledermaus mit einem kleinen leuchtend-roten Rucksack auf dem Rücken und einer kleineren Version der roten Zipfelmütze mit dem strahlend weißen Saum auf dem verschrumpeltem Kopf. Kräftig mit den ledernen Flügeln schlagend raste er immer schneller werdend auf einen Punkt zwischen den beiden Schützen zu.

"Neinneinneinneinnein... Ortbe... NEIN!", rief Sidney panisch aus, als er erkannte, dass der Gefreite Ortbe dem Flug der Fledermaus mit seiner Waffe immer weiter folgte und sie in einer Sekunde genau auf ihn selbst richten würde. Nun war es an ihm, sich hastig zu Boden zu werfen, als sich der Bolzen aus Ortbes Armbrust löste und kurz danach genau dort an den Schornstein schlug, wo Sidney eben noch gestanden hatte. Aus dem Augenwinkel konnte der Chief-Korporal der F.R.O.G. gerade noch erkennen, wie die Fledermaus mit der vollkommen unpassenden Mütze über den rechten Flügel abkippte und in die Häuserschlucht des Unteren Breiten Weges wegtauchte. Gerade wollte er sich wütend aufrichten und Ortbe mal kräftig seine Meinung in Bezug auf das Abfeuern einer Waffe auf einen Vorgesetzten im Allgemeinen und auf ihn im Besonderen husten, als ihn der Flügelschlag eines mindestens ebenso stattlichen Exemplars wieder zu Boden drückte.
Das war Valdimier!
"Hol ihn dir, Valdi!" rief er ihm aus voller Kehle hinterher "Hol' dir diese verdammte Missgeburt von einem Mörder!"

Ohne die rote Mütze, die sein Gegner trug, hätte er echte Schwierigkeiten gehabt, dem mörderischen Tempo zu folgen, mit dem der Weihnachtsras durch die Gasse flatterte. Den gewonnenen Schwung des steilen Sturzfluges geschickt ausnutzend, riss dieser die Flugbahn in eine spitzwinklige Aufwärtsbewegung und setze die Flucht ein paar Häuser von der Wache entfernt auf Dachhöhe fort. Obwohl der Lance-Korporal in Fledermausgestalt einiges an rasanten Nachtflügen gewohnt war, so musste er zugeben, dass ihm bei dem halsbrecherischen Zickzackflug zwischen Schornsteinen und Wäscheleinen hindurch ein wenig mulmig wurde.
Es gab nur einen Weg, hier heil wieder rauszukommen. Er musste es so schnell wie möglich beenden und seinen Gegner stellen... so oder so.

Der Weihnachtsras spürte sofort, dass seine Flucht noch lange nicht vorbei war und der Größe seines Verfolgers nach zu urteilen, konnte es sich ebenfalls nur um einen Vampir in Fledermausgestalt handeln.
Den Takt der Flügelschläge erhöhend, nutze er den Winkel aus und tauschte Geschwindigkeit gegen Höhe ein, um an der Ecke Unterer Breiter Weg und Brauerstrasse wieder über den Dächern durch die Nacht jagen und so vielleicht im Gewirr der Schornsteine entkommen zu können.
Oben angekommen schoss der Vampir empor, zwang seinen pelzigen Körper brutal in eine aberwitzige Schleife und wechselte die Richtung. Ein schneller Blick nach hinten zeigte ihm jedoch, wie der Andere mit einem ähnlich gewagten Manöver den Schornstein nur leicht touchierte und ihm dann hinterher jagte.
Der Kerl war mit Sicherheit kein Anfänger, soviel war klar.
Den Kopf wieder nach vorne wendend konnte der Weihnachtsras gerade noch einer Art Fahnenmast ausweichen, den irgendein Spaßvogel hier oben aufgebaut und einen nicht unbedingt sauber aussehenden Damenunterrock dran aufgehängt hatte. Durch diese hastige Flugbewegung verlor er für eine Sekunde die Kontrolle, nutzte das Trudeln aber zu seinem Vorteil, legte sich auf den Rücken und zog die Flügel eng an den Körper. Meteorengleich sauste er über den Rand des letzten Hauses der Brauerstrasse und fiel dann mangels Flügelbewegung wie ein Stein Richtung Vertragsbrücke.
Jetzt würde sich zeigen, was das Wächterlein konnte.
Auf halber Strecke zum Boden breitete der Vampir seine Schwingen wieder aus, kippte zur Seite und tauchte pfeilschnell unter die Brücke, dicht gefolgt von Valdimier, der fast vorbeigeflogen wäre und erst im letzten Moment die rote Mütze unter der Vertragsbrücke hatte verschwinden sehen. Eine Sekunde später kam der Weihnachtsras heftig flatternd wieder unter der Brücke hervor, überflog sie und tauchte auf der anderen Seite spiralförmig wieder ab. Allerdings begann nach zwei solcher Umdrehungen sein mit den reichhaltigen Gerichten von Frau Puss gefüllter Magen zu revoltieren und er nutzte den Schwung der letzten Kurve, um bei gleichbleibender Geschwindigkeit auf Bodenhöhe durch die Rauhreifstrasse zu rasen.
Die ganze Aktion hatte nichts, aber auch rein garnichts gebracht. Ganz im Gegenteil war es dem Wächter gelungen, die Distanz zwischen ihnen zu verringern. Langsam wurde es eng und ein Blick zum Himmel zeigte dem Weihnachtsras, dass ihm die Zeit mit jedem Flügelschlag buchstäblich davonflog. Er brauchte eine Idee... und zwar schnell.

Valdimier wusste, dass es nur noch ein Frage der Zeit war. Trotz einiger Momente, in denen es mehr als knapp geworden war und die ihm hier und da eine Schürfwunde an Flügeln und Leib beschert hatten, wurde der Vorsprung kleiner. Wenige Augenblicke aberwitzigen Tempos später lagen sowohl die Rauhreifstrasse, als auch die Ankertaugasse hinter ihnen und sie flogen in die Schatten ein, wo sich die Fledermaus vor ihm sofort wieder auf Dachhöhe hochschraubte. Bald würde er ihn eingeholt haben... der Weihnachtsras sein Gefangener sein.
Das Jagdfieber hatte voll und ganz Besitz von Lance-Korporal Valdimier van Varwald ergriffen.

Durch Schnelligkeit würde er nicht entkommen, soviel stand fest. Doch als der Weihnachtsras nach einem weiteren gewagten Manöver knapp unter Dachhöhe durch das Freudenpflaster in den Schatten schoss, wo einige streunende Hunde erschrocken beiseite stoben, kam ihm der vermeintlich rettende Einfall.
Kaum am Ende der Strasse angekommen, legte sich der Vampir in eine steile Kurve, die ihm fast die Flügel abriss, bog um die nächste Ecke, bremste ab und drehte sich mit dem Rücken zur Flugrichtung. Der Schwung und die leichte Aufwärtsbewegung hielten die Fledermaus noch einige Sekunden in der Luft. In diesem Moment kam sein Verfolger um die Ecke geflattert... und der Weihnachtsras verwandelte sich gleichzeitig in einen Vampir zurück.
Nicht nur, dass Valdimier damit nicht einmal ansatzweise gerechnet hatte, nein, vor allen Dingen die unerwartet plötzliche Nähe zu dem Weihnachtsras mit seinem Rote-Bete Geruch, in den er nun ungebremst hineinrauschte, raubte ihm fast das Bewusstsein.
Dann griff die Schwerkraft mit gieriger Klaue nach den Beiden und riss sie erbarmungslos nach unten. Rasend schnell kam das Pflaster näher und in einem Sekundenbruchteil hatte auch Valdimier sich zurückverwandelt, worauf der Weihnachtsras allerdings nur gewartet hatte. Im letzten Moment brachte er sich in die richtige Position und begrub den Lance-Korporal mit seinem ganzen Gewicht unter sich, als sie auf den Steinen neben einem kleinen, dampfenden Müllhaufen aufschlugen, wozu das kleine goldene Glöcken fröhlich klingelte, welches nach der Rückverwandlung in einen Vampir wie durch Zauberei wieder an der Spitze des Zipfels hing, als hätte es die Mütze nie verlassen. .
Stille. Dann ein Stöhnen, als sich der Vampir mit dem roten Mantel mühsam aufrichtete und nach einem schmierigen Seil griff, welches halb aus dem Müll heraushing.
"Es fehlt mir jetzt die Zeit hier,
doch eines sei gesagt dir,
Den Zorn habt ihr bei mir entfacht,
da ihr versaut mir habt die Nacht!", fauchte er und schlang dem noch benommen am Boden liegenden Valdimier hastig das Seil um Hand und Fußgelenke, bevor er ihm das Ende in einer Schlinge um den Hals legte, die sich bei jeder Bewegung des Gefesselten immer weiter zuziehen würde. Der Weihnachtsras wusste zwar genau, dass ihm diese Maßnahme nicht mehr als ein paar Augenblicke schenken würde, doch mehr brauchte er auch nicht, um zu verschwinden.
Warum hatte man ihn einen Mörder genannt? Wieso war ihm, dem Weihnachtsras, von der Stadtwache eine Falle gestellt worden?
Alles Fragen, auf die er sofort als erstes morgen Nacht eine Antwort finden würde... gleich nach einem reichhaltigen Knollenmahl an der Unsichtbaren Universität. Man musste ja Prioritäten setzen und der Weihnachtsras dachte eben besser mit vollem Magen. Außerdem musste er morgen noch schnell bei der Familie Puss vorbeischauen, da er seinen Dolch dort liegengelassen zu haben schien.
Ein volles Programm also... und so wenig Zeit.
Ein Blinzeln später verwandelte er sich wieder in eine Fledermaus und verschwand eiligst in sein Quartier.


Tag 3

Die Nacht der langen Knollen


AUSZUG AUS DEM AUTOPSIEBERICHT DES GEFREITEN JACK NARRATOR:
Name des Toten: Shorty, Gefreiter, Mitglied der Stadtwache von Ankh-Morpork
Todeszeit: Circa 04:00 Uhr
Zuständiger Gerichtsmediziner: Jack Narrator, Gefreiter, S.U.S.I.
Allgemeiner Zustand der Leiche:
Bis auf die offensichtliche Wunde in der Brust zeigen weder Körper noch Kleidung der Leiche irgendwelche Kampfspuren auf. Kleine Schürfwunde am Hinterkopf scheint nach Erachten des Untersuchenden vom Sturz nach der Verletzung herzurühren. Verunreinigungen der Kleidung stimmen mit den entnommenen Umgebungsproben des Spurensicherer überein, stammen daher vom Tatort und sind wahrscheinlich ebenfalls auf den Sturz nach der Verletzung zurückzuführen...

Detailuntersuchung:
Der Tote ist ohne Leben.
Die Augen des Toten sind weit aufgerissen und in dieser Stellung erstarrt. (siehe beigefügte Ikonografie).
Der Stichkanal der Wunde verläuft geradlinig bis zum Herzen, welches von dem Dolch vollständig durchstoßen wurde. Sämtliche Herzkammern wurden in Mitleidenschaft gezogen und schwer beschädigt. Der Tod trat augenblicklich ein.
Gez.
Jack Narrator, G

Büro des Kommandeurs, zur zweiten Frühstückspause:
"Wieso ist der Bericht nicht von Pismire gegengezeichnet worden?", fragte Rince alles andere als zufrieden und ließ das Papier frustriert aber gekonnt auf seinen Schreibtisch zurücksegeln. Wie von Zauberhand fand es nach einem eleganten Schwung den Weg zurück in die aufgeschlagenen Fallakte und legte dort eine Punktlandung hin.
"Nun, Sör...", sagte Lt Lanfear, die dem Kommandeur gegenüber saß und fasziniert den Flug des Blattes verfolgt hatte, und räusperte sich "... ich sagte dem Gefreiten Narrator, dass die Untersuchung höchste Priorität hätte und da wollte er wohl den Dienstweg etwas abkürzen."
"Ist das alles, was wir bisher haben? Ganze 36 Stunden nach dem Mord?", hakte der Kommandeur nach und bis lustlos in den gebratenen Hähnchenschenkel, den ihm seine Frau heute neben vielen anderen Dingen mitgegeben hatte.
Irina schaute versonnen auf das lecker duftende Fleisch, welches Happen für Happen im Mund ihres Chefs verschwand. Irgendwie hatte sich der Leutnant etwas anderes vorgestellt, als Rince sie zu einem Arbeitsfrühstück zu sich hochgebeten hatte. Eher etwas in die Richtung wie ein wohlgedeckter Schreibtisch und gelegentlich hereinhuschende Gefreite, die frischen Kaputtschino brächten. Rince dagegen schien es sich eher so zu denken, dass er frühstückte und sie arbeitete. Arbeitsteilung a la Kommandeur nannte man das wohl.
"Wie du auch selber der Akte entnehmen könntest, Sör...", führte die Abteilungsleiterin von R.U.M. aus und nickte bedeutungsschwanger in Richtung des achtlos beiseite geschobenen Dokumentes auf dem Schreibtisch des Kommandeurs. "...hat S.U.S.I. selbstverständlich auch die Tatwaffe untersucht."
Erwartungsvolles Kauen des Kommandeurs, der sie aus konzentrierten Augen anschaute, war die einzige Reaktion.
"Mal abgesehen von Shortys Blut und einigen Fasern seiner Kleidung konnten wir leider nur die Fingerabdrücke von Hauptmann Ohnedurst drauf finden. Doch selbst wenn S.U.S.I. noch andere gefunden hätte, so würde es den Ermittlungen nur etwas nützen, wenn wir vergleichbare Proben des Weihnachtsr... nun, des Hauptverdächtigen hätten."
"Was aber nicht der Fall ist.", brummte Rince und warf den abgenagten Hühnerknochen angewidert in den Mülleimer. Nicht einmal das Essen verschaffte ihm im Moment Befriedigung. Jetzt gerade wünschte sich Rince, nie etwas von einem Weihnachtsras gehört zu haben. "Wie du sicherlich schon gehört hast, ist er gestern F.R.O.G. entwischt."
Rina nickte stumm.
"Eine beachtliche Leistung, das muss ich zugeben. Ich habe vorhin mit Venezia gesprochen, und sie hat mir den ganzen Hergang geschildert, so wie sie und ihre Leute ihn gesehen haben. Sie kann sich einfach nicht erklären, was schiefgegangen ist und wie der Weihnachtsras Wind von der Falle bekommen haben könnte. Da er wohl jetzt nicht mehr so schnell herkommen wird, haben wir wieder einen Ansatzpunkt weniger.", sinnierte der Chef nachdenklich und schüttelte langsam den Kopf "Gibt es inzwischen irgendwelche Spuren vom Weihnachtsras oder Hauptmann Ohnedurst?"
"Du meinst, er könnte sich zwischendurch wieder zurückverwandeln?", fragte Lt Lanfear erstaunt.
"Zum Henker, woher soll ich das wissen? Ich glaube es nicht, aber die Möglichkeit außer Acht lassen können wir auch nicht, vor allen Dingen, da nur Rascaals Fingerabdrücke auf der Tatwaffe aufgetaucht sind."
"Hmm... alle verfügbaren S.E.A.L.S. durchkämmen die Strasse. Stabsspieß Atera hat sogar den Tresendienst auf ein Minimum beschränkt, um mehr Leute da draußen zu haben. Zum Glück ist es momentan recht ruhig, sagte sie. Nur Routinesachen am Tresen: Die üblichen Beschwerden von Frau Willichnicht, ein paar unlizenziert gestohlene Sumpfdrachen, bei der Einbalsamierergilde wurde eingebrochen und eine gefälschte Quittung für die Holzkohle hinterlegt, die der Dieb hat mitgehen lassen und irgendein Spaßvogel hat Schnapper angezeigt und behauptet, seine Würstchen wären genießbar, woraufhin Schnapper ihn gleich wegen Verleumdung angezeigt hat." berichtete Rina und ein Schmunzeln legte sich bei dem Gedanken für einen Moment auf ihr Gesicht. "Verdeckten Ermittler versuchen alle Orte zu überwachen, an denen der Weihnachtsras in den letzten Jahren mal gesehen worden ist, während mein Informantenkontakter eine Möglichkeit sucht, durch die Hintertür an neue Informationen zu gelangen."
Nachdenklich zog Rince ein nicht mehr ganz sauber aussehendes Taschentuch aus der Tasche, schaute an den in säuberlichen Falten liegenden Vorhängen von seiner Frau vorbei aus dem Fenster und befreite seine Finger eher schlecht als recht von dem Bratfettresten.
"Irgendeine Spur muss es doch von ihm geben, schließlich wird er sich wohl kaum in Luft aufgelöst haben!", schimpfte er.
"Was erwartest du denn? Dass Venezia und ich uns F.R.O.G. und R.U.M unter die Arme klemmen und jedes Haus der Stadt auf den Kopf stellen? Wohl kaum!", fauchte die inzwischen leicht genervte Abteilungsleiterin von der Abteilung Raub und Mord ihren Chef an.
"Was ist mit seinen Freunden?"
"Der Weihnachtsras hat Freunde??", platzte es überrascht aus Irina heraus.
"Ich meinte Hauptmann Ohnedursts Freunde? Wie ist es mit Haufen-Hubert... Frau Willichnicht vielleicht. Außerdem sollte jemand den Kater im Auge behalten!"
"No-Name? Glaubst du, er würde uns eventuell zum Weihnachtsras führen?"
"Kannst du es denn mit Sicherheit ausschließen?"
Stirnrunzelnd zog der Leutnant einen Block aus der Uniform und machte sich eine kurze Notiz.
Rince hingegen juckte es in den Fingern, sich selber in die S.U.S.I.-Räume zu begeben und alle Spuren nochmal persönlich zu untersuchen. Wozu war er schließlich halbtags voll ausgebildeter Laborant? Allerdings war ihm auch durchaus bewusst, dass die Abteilung mit Lady Rattenklein und Isis zwei weitaus erfahrenere Laboranten hatte und er wesentlich dringender als Kommandeur gebraucht wurde. Doch das sinnlose und unproduktive Herumsitzen, das nervtötende Warten auf das Eintrudeln von Informationen ging ihm langsam gehörig auf den Weckdämonen. Er musste hier raus.
"Ich werde zu Frau Willichnicht gehen!", entschied er spontan.
Misstrauisch beäugte Lt Lanfear ihren Kommandeur.
"Ist das dein Ernst... äh... Sör?", wollte sie wissen.
"Natürlich ist es das. Was soll schon passieren? Im schlimmsten Fall komm ich mit einem halben Dutzend ihrer Beschwerden zurück. Rascaal meinte einmal zu mir, dass man richtig gut mit ihr reden könnte, wenn man es nur richtig anstellt. Leider hat er mir nicht verraten, was er damit meinte. Ich gehe hin... und dabei bleibt es. Schickt eine Taube, wenn sich etwas Neues ergibt.",
Unternehmungslustig gönnte er seinem gepeinigten Bürostuhl eine Pause, stand auf, schlang sich einen Umhang um den voluminösen Körper und stapfte entschlossen über die protestierend knarzenden Bodendielen hinaus.

***


Sentimentale Brücke, fast schon in der Mittagspause:
Kommandeur Rince liebte den Klang seiner Stiefel auf dem Pflaster der Strassen dieser Stadt. Das stetige, halbwegs gleichmäßige Trommeln seiner Sohlen auf den halb überfrorenen Steinen mit ihren Speise-, Taubenkot- und Ankhschlammresten lullte ihn ein, klärte seine wolkenverhangenen Gedankengänge auf.
Über die Sentimentale Brücke in Richtung Friedhof schreitend, schweifte sein Blick über das halbverwitterte Geländer, in das unzählige Liebespaare beim Anblick des träge vor sich hindampfenden Flusses stumme Schwüre ihrer ewigen Liebe eingemeißelt hatten, kurz bevor meistens Beiden schlecht geworden war und sie einsehen mussten, dass es wohl doch bessere Plätze geben mochte, als direkt über dieser Brühe. Wie einfach war das Leben für diese jungen Leute, hier, wo man die Nähe des Anderen spürte, die Sterne über sich erkannte und vor seiner Liebsten angab, dass man die ganzen Sternbilder kannte und zu deuten vermag. Hier, wo man ihr mit einem sehnsüchtigen Blick in die Augen schaute, obwohl man wegen des Geruches doch schon lange gegen den Brechreiz ankämpfte, wenn der Fluss nachts seine schmierigen Poren öffnete. Hier, wo man eng aneinandergeschmiegt am Geländer lehnte, die Liebste im Arm oder diese stützend, wenn sie sich in wilden Krämpfen über das Geländer erbrach, weil es am Fluss in der Nacht besonders schlimm war und das Paar nicht schnell genug wieder verschwunden war. Wie oft hatte er diese jungen Leute in den letzten Jahren abends auf dem Weg nach Hause heimlich beobachtet und sie um ihre naive Unschuld beneidet.
Keine Gewalt, keine Verbrechen, keine Intrigen, keine Kontrolle, keine Entscheidungen, kein Druck und keine Verantwortung.
Kurz bevor Rince die Brücke wieder verließ, drehte er sich noch einmal um und betrachtete das Geländer. Vielleicht sollte er irgendwann mit seiner Frau noch mal herkommen. Der alten Zeiten wegen. Nur hier stehen... und ganz flach atmen. Nur so. Weil nur solche Momente zählten...

***


Amalie Willichnicht bewohnte ein kleines Haus unweit des Friedhofs in der Teekuchenstrasse 17. Obwohl der Kommandeur der Stadtwache noch nie bei ihr gewesen war, zum Glück, wie er meinte, so erkannte er doch sofort, auf welches Haus er zuhalten musste. Einen kurzen Moment lang blieb Rince stehen und betrachtete das Gebäude durch die nebligen Dunstschwaden seines eigenen Atems, der in der kalten Luft kondensierte.
Das einstöckige Fachwerkhaus, dessen rauhreifbedecktes Dach so spitz war, dass man meinen könnte, es würde damit drohen, den Himmel aufzuspießen, war bei weitem das gepflegteste, wenn auch lange nicht das Größte in der Strasse. Obwohl der Bau an sich eher schlicht und schnörkellos war, strahlte er doch eine Art von fleißiger Pflege aus, wie sie nur von Bewohnern mit einer Menge Zeit erreicht werden können. Vor den Fenstern im Erdgeschoss wuchsen in den schmalen, in frischem grün gehaltenen Kästen prächtige Frostködelblumen von der Art, die bei genügend umsorgender Zuneigung das ganze Jahr über ihre eisblauen Blüten mit dem strahlend gelben Inneren trugen.. Die Fenster, natürlich frisch geputzt und streifenfrei, waren mit wunderbar handgestickten Gardinen verhangen, die in einem Weiß strahlten, welches selbst seine Frau vor Neid hätte erblassen lassen.
Unsicher, was genau er sich von diesem Besuch eigentlich erhoffte, ging er die 5 Meter bis zur Tür, legte die Hand auf den interessanterweise eine Dämonenfratze darstellenden Türklopfer und schmetterte dessen Hinterkopf einige Male fordernd gegen die hölzerne Eingangstür.
Einige Augenblicke lang geschah gar nichts und erst, als Rince schon die Hand ausstreckte, um den abstoßend hässlichen Kopf noch einige Male fest an das Holz zu rammen, vernahm er Schritte in Holzschuhen, die sich der Tür forsch von der anderen Seite der her näherten.
"Jaaaaa?", drang Frau Willichnichts Stimme von drinnen bohrend an seine Ohren und ohne, dass er etwas dagegen tun konnte, bildete sich ein dünner Schweißfilm auf seiner Stirn.
"Ähem... Hier ist Kommandeur Willichnicht von der Rince, Frau Stadtwache!", stotterte der Angesprochene, bemerkte seinen Versprecher aber sofort und ärgerte sich, dass sie es allein schon durch ihre Stimme geschafft hatte, ihn aus dem Konzept zu bringen. "Mist, ich meine natürlich: Hier ist Kommandeur Rince von der Stadtwache, Frau Willichnicht!"
Das Klacken von Riegeln, die zurückgeschoben wurden, gefolgt von Ketten, die abgenommen wurden, sagte Rince, dass jemand, der tatsächlich so schwachsinnig wäre, diese Tür einzutreten, sich an den ganzen Sicherungen den Fuß brechen würde.
"Also jetzt wird es wirklich langsam unerträglich gespenstisch, wenn die Stadtwache jetzt sogar noch anfängt, ihre Offiziere zu Hausbesuchen auszuschicken!", begrüßte ihn Frau Willichnicht, als die Tür letztenendes dann doch noch aufschwang. "Oder steht die Stadt in Flammen und ich habe es vor lauter Putzen nicht mitbekommen?"
"Nei... Nein!", fing der Kommandeur sich wieder "I... ich wollte nur mal nach dem Rechten sehen und auf einen kleinen Plausch vorbeikommen. Hauptmann Ohnedurst redet immer so nett über dich, Frau Willichnicht, da dachte ich, ich nehme die Gelegenheit beim Schopfe."
"So, so... wolltest du also...", antwortete sie trocken, während ein seltsamer Glanz sich auf ihre Augen legte. Dann trat sie zur Seite und bat ihren Gast herein. "Tritt ein und lass den Schmutz draußen!"
Schon seit Frau Willichnicht die Tür geöffnet hatte, war es ihm schwer gefallen, ihr in die Augen zu schauen. Zu unerwartet und ungewohnt war der Anblick, der sich ihm bot. Die Haare, mit einem schreiend roten Kopftuch gebändigt; eine grüne, von zahlreichen Flecken übersäten Schürze, die ihren kompakten Körper vor Unreinheiten aller Art zu schützen schien, war mit einem kompliziert und amateurhaft aussehenden Knoten notdürftig befestigt, während unter dem geblümten Hauskleid ein paar schwere Soldatenstiefel herausschauten. Wie sehr unterschied sich ihre Erscheinung doch von der Frau Willichnicht, die er kannte und der er immer wieder mit wachsender Begeisterung aus dem Weg ging.
Ein lautes Räuspern riss den Kommandeur aus seinen Gedanken, und als er sich im Flur halb umdrehte, wurde er sich ihres Blickes gewahr, der sich vernichtend auf seine nicht besonders sauberen Stiefel richtete.
"Ich.. äääh... oh.. Entschuldigung!", stammelte er und entledigte sich hastig seines Schuhwerks.
"Komm herein!", lud ihn Frau Willichnicht in ihre gute Stube ein und drängte sich geschäftig an Rince vorbei. "Setz dich bitte, ich bin in einer Minute bei dir..."
Noch bevor er den Raum überhaupt betreten hatte, war die Hausherrin schon wieder durch eine Seitentür verschwunden.
Aufmerksam sah sich Rince in dem Raum um.
Perfekte Ordnung wäre vollkommen untertrieben, um den Zustand zu beschreiben, der ihn umgab. Jede Decke, jeder Nippes, alles schien perfekt arrangiert zu sein, alles in jahrelanger, mühsamer Kleinstarbeit an seinen endgültigen Platz gelangt zu sein... nur um dort begierig auf den Betrachter zu warten. Ein Schrein, dem eventuellen Besucher gewidmet... und Rince wurde mir einem Mal klar, was es zu bedeuten hatte. Was es über die sonst so resolute und selbstsichere Frau Willichnicht aussagte.
"So, Herr Rince, was kann ich dir denn anbieten? Tee, Kaffee, ein Bier, einen Knieweich, einen Ankhkneter oder ein Glas Milch?"
"Öhm.. nur einen Kaffee bitte, nichts weiter. Ich hab' sowieso nicht soviel Zeit!", antwortet Rince und versuchte, sich seine neue Erkenntnis nicht anmerken zu lassen. "Wollte nur kurz schauen, ob bei dir alles in Ordnung ist."
Ein paar Falten legten sich bedeutungsschwanger an ihre sonst so glatte Stirn, bevor sie sich umdrehte und wieder in den Nebenraum verschwand, aus dem kurz darauf das angenehm verheissungsvolle Geschirrgeklapper erklang, gefolgt von einem kaffeeähnlichen Duft, den Rince nicht genau einordnen konnte.
"Weißt du, dass es wirklich beängstigend für mich ist, in letzter Zeit die Wache zu betreten?", ertönte ihre Stimme aus der Küche und versuchte das Pfeifen des Wasserkessels auf dem Herd zu übertönen.
"Beängstigend? Wie meinst du das, Frau Willichnicht?", rief Rince, nun vollends verwirrt. Was sollte ausgerechnet sein Gegenüber in der Wache ängstigen?
Ein paar knisternde und klappernde Geräusche später öffnete sich die Tür zur Küche und seine Gastgeberin kam mit einem beladenen Tablett sowie komplett umgezogen in die gute Stube. Das war wieder die Frau Willichnicht, wie Rince sie kannte: strenger Haarknoten, beige Bluse mit einem recht geschmacklosen Blumenmuster in fast allen Farben des Regenbogens. Ein dunkelbraunen, gerade geschnittenen Rock ging ihr bis an die Knöchel, denen abgetragene, flache Lederschuhe herausragten , welchen man ansah, dass sie ihre Lebenserwartung schon lange überschritten hatten.
"Ich finde es schon beängstigend, wenn man mit einem Mal so ohne jede Vorwarnung freundlich vom Wachhabenden begrüßt wird. Dann werde ich auch noch dauernd danach gefragt, wie es mir geht... und sie wollen etwas über mein wertes Bä-fin-denn wissen. Ich wusste nicht einmal, dass ich so etwas habe, aber sollte das tatsächlich der Fall sein, dann geht's den Wachhabenden rein garnichts an.", zeterte sie, während sie nebenbei das kleine Beistelltischchen neben Rince Sessel mit zwei Tassen, einer anscheinend recht heißen Kanne, einem Zuckertopf mit dem Wappen von Sto-Lat auf der Seite und einem gefüllten Teller belud. "Schließlich bin ich eine Dame."
"Öhm... freut es dich denn nicht, wenn die Wächter dich mit Respekt und Freundlichkeit behandeln? Ich dachte immer, dass es vielleicht zu einem besseren Verhältnis zwischen Wächtern und Bürgern wie dir führen würde?", eröffnete Rince ihr die eigentlichen Hintergründe der ganzen Kampagne, während er verwirrt auf den Teller starrte. "Was bitte ist denn das?"
"DAS, mein lieber Kommandeur, sind Aalplätzchen, wie man meiner Meinung nach unschwer an den Stückchen in der Mitte erkennen kann. Greif ruhig zu, ich hab sie gerade erst gemacht. Sie werden kalt gebacken, weißt du? Nach altem achaten Rezept.", erläuterte Frau Willichnicht, stellte die Kanne wieder auf das Tablett und reichte Rince eine der Tassen. "Ein besseres Verhältnis zwischen Bürgern und Wache willst du? Da gibt es nur zwei Möglichkeiten: Tausch die Bürger aus oder schaff' die Stadtwache ab! Aber wozu? Zwischen der Stadtwache und den Bürgern hat es schon immer eine gesunde Portion Misstrauen gegeben. Das hilft beiden Seiten, sich zu akzeptieren. Ihr hohen Leute solltet nicht in Dingen herumpfuschen, von denen ihr nichts versteht und die natürliche bestehende Ordnung nicht durcheinander bringen."
Vollkommen in Gedanken über das eben Gehörte versunken, hob Rince die Tasse mit der dunklen Flüssigkeit an den Mund und nahm einen tiefen Schluck... den er seiner Gastgeberin vor Schreck und Ekel fast auf ihre Bluse gespuckt hätte, was deren Aussehen wahrscheinlich nicht einmal abträglich gewesen wäre.
"Ach ja,", fügte Frau Willichnicht lapidar hinzu und ließ sich in den anderen Sessel fallen "Und der Kaffee war alle, deswegen hab ich eine Kanne klatschianischen Flüsterkuhfladentee gemacht. Der hat so eine ähnliche Farbe, wenn man ihn stark genug macht."
Nur mühsam überwand sich Rince, das Gebräu an seinen Geschmacksnerven vorbei die Speiseröhre hinunterzuschicken und stellte die Tasse mit leicht zitternder Hand direkt neben die Aalplätzchen zurück auf das Tablett.
"Du hast ja noch gar kein Plätzchen genommen.", stellte Frau Willichnicht fest. "Schmecken sie dir nicht? Glaub mir, nur frisch sind sie wirklich gut."
Der Höflichkeit halber nahm der Kommandeur eines der Gebäckstücke mit spitzen Fingern in die Hand, lehnte sich zurück und legte es sich in den Schoss.
"Frau Willichnicht, ich hatte eigentlich gehofft, vielleicht Hauptmann Ohnedurst hier bei dir anzutreffen.", gab er einen Schuss ins Blaue ab "Er macht sich in den letzten Tagen etwas rar bei uns und ich müsste ihn dringend sprechen."
"Macht sich rar? Nun, es ist eine recht dunkle Jahreszeit, in der wir uns befinden. Vielleicht macht ihm die Wachearbeit etwas Frust und er hat sich deshalb... nun sagen wir mal... lustigeren Dingen zugewandt.", erwiderte die Angesprochene und schaute Rince starr in die Augen.
"Dunkle Jahreszeit? Hauptmann Ohnedurst ist ein Vampir, ein vegetarischer Vampir, zugegeben, aber immer noch eine Kreatur der Dunkelheit, meinst du nicht auch?", tastete sich Rince langsam an den Kern dieses Gespräches heran. "Oder täusche ich mich da?"
"Sicherlich ist er ein Vampir, vielleicht sogar mehr noch als die meisten... auf die eine oder andere Art jedenfalls.", gab Frau Willichnicht zurück "Aber das weißt du vermutlich besser als ich."
Rince fragte sich, was er von dieser Bemerkung halten sollte, was ihm nicht leicht fiel, da sein Blick immer wieder zu dem Aalplätzchen in seinem Schoss wanderte. Hatten die Aalstücken nicht eben noch anders gelegen? Wie frisch war das Plätzchen eigentlich? Der Kommandeur hatte andere Wächter, unter anderem Rascaal, über die Plätzchen reden gehört, die man auch noch im achaten Imbiss bekam und die Geschichten beruhigten ihn nicht gerade. Da! Das Stückchen hat doch gezuckt, oder? Eine kleine Stimme im Hinterkopf erinnerte ihn daran, wo er war und dass er gerade dabei war, sich ziemlich merkwürdig zu benehmen.
"Kennst du den Weihnachtsras?", fragte er direkt, um die ganze Sache erheblich zu beschleunigen und hob den Kopf. Inzwischen war sich Rince sicher, dass das Plätzchen ihn auf eine subtile Weise beobachtete, ihn anstarrte.
"Nein, sollte ich?", kam die knappe Antwort aus Frau Willichnichts Mund, während ihre Augen sagten: ‚Vielleicht ja, vielleicht nein.. aber das werde ich dir bestimmt nicht auf die Nase binden.' "Du isst ja garnichts!"
"Ich... ich heb es mir für später auf, weißt du?", rettete sich Rince und zwang sich, nicht nach unten zu schauen, da er sicher war, dass sich die frischen Stückchen bestimmt schon wieder bewegt hatten.
"Weswegen suchst du Rascaal eigentlich? Er hat doch wohl nichts verbrochen, oder? Soll ich ihm etwas ausrichten, wenn ich ihn sehe?", bombardierte seine Gastgeberin ihn nun ihrerseits mit Fragen.
"Wie kommst du darauf, dass er etwas verbrochen haben könnte, Frau Willichnicht?"
"Du benimmst dich so, als wenn es der Fall wäre..."
"Nein, natürlich hat er nichts verbrochen. Unsinn.", log Rince, sah aber sofort in den Augen der Frau, dass er nicht damit durchgekommen war. Er sollte gehen. "Aber schick ihn unverzüglich zu mir, wenn er dich besucht."
Sich ruckartig erhebend, versuchte Rince, das Plätzchen so unauffällig wie möglich wieder auf den Teller gleiten zu lassen, doch Frau Willichnicht gab ihm nicht die Spur einer Chance.
"Soll ich es dir vielleicht einpacken?"
"Nein... nein, ich esse es auf den Weg zurück zur Wache.", sagte er und gab Frau Willichnicht etwas zu hastig die Hand "Und falls ein alter, heruntergekommener Mann mit einem Fetisch für rote Winterkleidung aus deinem Kamin rausfällt... oder Hauptmann Ohnedurst bei dir auftaucht, lass mir bitte sofort durch die nächste Streife eine Nachricht zukommen. Ich kann dir gar nicht genug sagen, wie wichtig das ist."
"Selbstverständlich, Herr Kommandeur", kam ihre Antwort ohne zu zögern, und dieses Mal gab sie sich nicht einmal mehr besonders viel Mühe, ihr Lüge zu kaschieren.
Als er in den kleinen Zwischenflur trat und die Haustür öffnete, wurde Rince klar, dass Frau Willichnicht wahrscheinlich eine hervorragende I.A.-Agentin abgeben würde. Zusammen mit ihren verfluchten Aalplätzchen gab es wahrscheinlich niemanden in der Stadt, der einen so schnell und so gründlich verunsichern konnte.
"Vielen Dank für die... Leckerei, Frau Willichnicht!", verabschiedete sich Rince mit der ihm verbliebenen Höflichkeit und trat auf die Strasse. "Und für ihre Mithilfe natürlich auch...!"
"Herr Kommandeur?", hielt diese ihn grinsend zurück, bevor er sich entfernen konnte und ungeduldig wandte er sich wieder zu ihr um. "Wäre es nicht viel angenehmer und vor allen Dingen wärmer, MIT den Stiefel zur Wache zurückzugehen?"
Wortlos, dafür mit umso tiefroterem Gesicht, hastete Rince zurück in den Flur, schlüpfte in die Stiefel und hastete lautlos fluchend und so schnell es sein schlecht ausbalancierter Körper erlaubte um die nächste Ecke... wo er als erstes das Aalplätzchen auf das Pflaster warf und es wütend unter seinen Stiefeln zerquetschte.
Warum war er bloß hergekommen und hatte seine Zeit verschwendet? Er hätte sie lieber in der Wache bei seiner Butterbroten und diesem Kugelspiel verschwenden soll, denn mehr als abwarten konnte er sowieso nicht tun. Was hatte dieses Weib, was einen so aus der Fassung brachte? Und wieso würde er schwören, eben ein leises Quieken vernommen zu haben, als er auf die Plätzchen getreten war?

***


In den Schatten, kurz vor dem Abendessen:

"Einst ging ich am Rande des Ankhes entlang... oooooOOOOoooooh-lalala,
Nen reglosen Körper am Ufer ich fand... oooooOOOOoooooh-lalala,
Nen rEEEEEEglosen KÖÖÖÖrper am UUUUfer ich fAAAAHAHAND!
Nen rEEEEEEglosen KÖÖÖÖrper am UUUUfer ich fand!" trug der vor einer Stunde aufgekommene eiskalte Wind Haufen-Huberts unpassend hohe, doch kristallklare Gesangsstimme durch die Gassen der Schatten, als er seinen Karren die Affenstrasse hoch in Richtung Ankhbrücke zog, kurz vor dem Einschlafen stehende Vögel in geschützten Nischen aufschreckte und sie durch die Reinheit der Stimme vor Neid erblassen liess.
"Ich machte mich über den Reglosen her... oooooOOOOoooooh-lalala,
warf ihn auf den Karren, obwohl er sehr schwer... oooooOOOOoooooh-lalala,
warf IIIIIhn auf den WAAAAgen, obwOOOOhl er sehr schwEEHEHER!
warf IIIIIhn auf den WAAAAgen, obwOOOOhl er sehr schwEEHEHER!"
Haufen-Hubert liebte sein Leben.
Hoch gewachsen und mit einem Körper ausgestattet, der subtile Kraft und Autorität ausstrahlte, war jeder, der ihm zum ersten Mal begegnete, verwundert, dass so ein Mann, in dessen freundlichem Gesicht hochintelligente und strahlend blaue Augen sternengleich funkelten, den Beruf des Leicheneinsammlers ausübte. Ihm selber war es ziemlich egal, was die Leute über ihn dachten. Er kannte seine Qualitäten und hatte es nicht nötig, sich zu beweisen. Hauptsache, er war hier draußen. Allein mit seinem Karren und seinen stummen Begleitern, die er kunstvoll gestapelt auf seinem Gefährt hinter sich herzog.
Sein Leichensammlerlied abbrechend hielt er einen Augenblick an, als der Ankh in Sicht kam, schloss die Augen und ließ die letzten Strahlen der Wintersonne sein wettergegerbtes Gesicht liebkosen, bis das Geräusch schwerer Stiefel gepaart mit dem unmissverständlichen leisen Geschepper von Schwertern in Waffengürteln den perfekten Moment beendeten. Ohne die geringste Überraschung erblickten seine Augen eine S.E.A.L.S.-Streife der Stadtwache, die ca. 20 Meter von ihm entfernt am Ankhufer die Affenstrasse kreuzten und mit finsterer Miene auf die Ankhbrücke zuhielten. Kein ungewöhnlicher Anblick in den letzten Tagen. Überall schienen sie präsent zu sein, seit er gerufen worden war, um vor den Blicken der Gaffer durch die Tatortsicherer von S.U.S.I. geschützt den Leichnams eines Wächter ungesehen aus einer Sackgasse zu holen. Logischerweise waren die Mitglieder der Stadtwache immer übermäßig scharf darauf, den Täter zu fassen, wenn einer der ihren ermordet worden war. Doch dieses Mal war es anders. Grimmiger. Verbissener. Hartnäckiger. Mit Misstrauen und Wachsamkeit wurde jeder Passant begutachtet und abgeschätzt. Die Wache war auf der Jagd... keine Frage. Nur nach wem? Haufen-Hubert hatte die Streifen hier und da angesprochen, doch keinerlei Auskunft bekommen und das, obwohl er weithin bekannt war in der Wache und dort mit Sicherheit als vertrauenswürdig galt. Schließlich war er sogar für eine sehr kurze Zeit selbst ein Wächter und zudem Ausrichter des ‚Kurses zur motiviert sinnlosen Zusammenarbeit für sich ständig angiftende Offiziere' gewesen, dessen erste Teilnehmer die damals noch im Rang eines Leutnants stehenden Rascaal Ohnedurst und Ptracy gewesen waren.

Nach einem kurzen Nicken und einem weniger als halbherzigen Gruß in seine Richtung gingen die beiden S.E.A.L.S. weiter, sich immer wieder aufmerksam sowohl auf den Strassen, als auch Richtung Dächer umschauend und überquerten die Ankhbrücke.
Schulterzuckend zwang Haufen-Hubert seinen Karren in eine scharfe Linkskurve, zerrte ihn am Ufer des Ankhes entlang flussabwärts, bis er nach einem weiteren Schlenker in die Seilstrasse einbog. Er brauchte die Streifen nicht, um zu erfahren, was vor sich ging, denn schließlich würde er gleich jemanden treffen, der ihm bestimmt das Eine oder Andere verraten könnte. Gleich würde er den Weihnachtsras treffen.
Da Haufen-Hubert recht oft seine Routen den Streifzügen seines Freundes Rascaal Ohnedursts durch die Nacht anglich, war er vor zwei Jahren zufällig Zeuge gewesen, als dieser sich in der Nähe der Unsichtbaren Universität zum ersten Mal in den Weihnachtsras verwandelt hatte. Nachdem der erste Schock überwunden war, hatten die Beiden festgestellt, dass sie eine sehr ähnliche Vorstellung von Humor in ihren Köpfen beheimateten, in der Wache auch gleich das perfekte Ziel dafür gefunden und angefangen, Pläne zu schmieden, sowie ‚Geschenke' für die Wächter zu ersinnen. Seitdem trafen sie sich jedes Jahr mindestens einmal, immer in einer kleinen Gasse die von der Unbesonnenheitsstrasse nahe der Perlendocks abging und starteten von dort aus einen gemeinsamen Zug durch die Nacht, welcher für die meisten Leute, die ihnen begegneten, in irgendeiner Form von Rote-Bete endete... also äußerst unerbaulich.
Keiner, der Haufen-Hubert kannte, hatte auch nur den Hauch einer Ahnung, welch verdorbener und hinterhältig gemeiner Humor in diesem Mann steckte. Der Weihnachtsras war der Einzige, dem er sich jemals auf die Art offenbart und in ihm einen Seelenverwandten gefunden hatte.
In diesem Jahr würden ihre Geschenke über das Wachhaus in der Kröselstrasse hereinbrechen, welches sie die letzten beiden Jahre immer sträflich vernachlässigt hatten. Fast tat ihm Hauptmann MeckDwarf schon ein wenig leid, wenn er daran dachte, was dem Ausbildungsleiter bevorstand. Fast tat es ihm leid... aber eben nur fast.
"Oh Hauptmann, oh Hauptmann, du kannst nichts dafür... oooooOOOOoooooh-lalala,
der Weihnachtsras heut' Nacht klopft an deine Tür... oooooOOOOoooooh-lalala.
Der WEIIIIIhnachtsras hEUUUt' Nacht klopft AAAn deine TÜHÜHÜR...", setze Haufen-Hubert vergnüglich sein Lied mit einem der Situation angepassten Text fort, während er von der Unbesonnenheitsstrasse in eine verwaiste Seitengasse einbog und sich überlegte, dass er doch bestimmt noch genug Zeit haben würde, den Barbaren-Schnäck in Ruhe zu essen, den er sich vorhin bei Hargars Rippenstube gekauft und anschließend zum Schutz vor dem kalten Wind zwischen seinen ‚Kunden' deponiert hatte. Dann sah er die Gestalt in dem roten Mantel und der gleichfarbigen Mütze auf dem Kopf, die in einer Nische der Gasse hockte und offensichtlich dabei war, die dort wohlversteckte Knollenfalle zu inspizieren.
Verwundert zog Hubert den Karren bis auf 5 Meter heran und stellte ihn dann sorgfältig mit den Holzstützen in eine Ritze im Straßenpflaster, so dass er nicht wegrollen konnte. Mit einem kurzen stirnrunzelnden Blick auf den noch hellen Himmel ging der Leichensammler zögernden Schrittes zur Ladeklappe, öffnete sie und fische den Barbaren-Schnäck zwischen zwei Opfern eines etwas außer Kontrolle geratenen, doch quotengeregelten Raubüberfalls hervor.
"Hör mal, mein Freund...", begann er, holte eine mit fetttriefendem Fleisch bestückte Grillrippe aus der braunen Papiertüte, auf dessen Außenseite der Schriftzug ‚Fröhlicher Barbaren-Schnäck! Fiel Fätt in fast frischem Flaisch!' prangte und biss gierig hinein. "...isch weisch esch durschausch schu schätschen, dasch du schon da bischt..schhhhhhhhhhhllllllrrrt!"
Mühsam saugte Haufen-Hubert das runtertropfende Bratfett wieder in den Mund, schluckte den scharf gewürzten Bissen runter, um eine halbwegs normale Artikulationsfähigkeit wieder herzustellen, und ärgerte sich, seinen Bierkrug nicht gleich mitgebracht zu haben, bevor er fortfuhr.
"Aber ist es nicht noch viel zu fr... DUUUUU???", platze es aus dem Leichensammler noch heraus, als die Gestalt sich aufrichtete und umdrehte, bevor er einen sengenden Schmerz in der Herzgegend spürte und zwei Meter zurück gegen den Karren geschleudert wurde.

"Er macht das vollkommen falsch, weißt du?", sagte Hubert ein paar Augenblicke später zu der hochgewachsenen Gestalt in dem nachtschwarzen Kapuzenmantel mit der vor Schärfe blau glühenden Sense in der knöchernen Hand. Zusammen beobachtete sie den rotgekleideten Mann, wie er vor Anstrengung schwitzend Haufen-Huberts Leiche auf dessen Karren hievte und mit ausgestreckten Armen und Beinen kreuzgleich auf den anderen Leichnamen arrangierte.
"WIE HÄTTEST DU ES DENN GEMACHT?", fragte Tod mit eher oberflächlichem Interesse.
"Man muss ‚das Gelände nutzen', wie ich immer zu sagen pflege.. äh.. pflegte", dozierte der frisch Verstorbene im Tonfall eines Profis mir langjähriger Berufserfahrung. "Die Zehen des Oberen kommen in die Ohren des drunter liegenden zum Beispiel, um ein Abrutschen zu verhindern... och nun schau dir an, wie amateurhaft ich da oben liege. So fall' ich doch beim ersten Schlagloch von der Ladefläche! Verdammter Stümper!"
"BIST DU FERTIG?", drängte Tod, der das Interesse schon wieder verloren hatte.
"Wie? Oh... ja... natürlich.", sagte der Angesprochene, drehte sich nach einem letzten missbilligenden Blick um und erspähte Binky, Tods Pferd, welches brav etwas abseits auf seinen Herrn wartete. "Hm... sag mal, mein Freund, hast du schon mal über die Möglichkeit eines Karrens nachgedacht?"

***


Zwei Stunden später:
Er hatte Hunger. Grässlich nagenden Hunger.
Schon direkt nach der Verwandlung vor zwei Nächten war sein Verlangen nach einer der Knollen von der Universitätsmauer so stark gewesen, dass es ihn sofort und ohne einen Gedanken an etwas anderes zu verschwenden dorthin getrieben hatte.
Gestern... nun ja... gestern war sehr verwirrend und ziemlich unbefriedigend gewesen. Heute dagegen hatte der Weihnachtsras wach in seinem Versteck gelegen, über die gestrige Nacht nachgegrübelt und versucht, die Attacke der Wächter in einen selbst für ihn halbwegs vernünftigen Zusammenhang zu bringen. Dass auch seine Gedanken in Versform abliefen, hatte die ganze Prozedur nicht gerade vereinfacht. Aus diesem Grunde war er nicht nur hungrig, sondern auch noch unausgeschlafen und hatte noch immer keinen Weihnachtsras-Spass gehabt, was aus ihm in dieser Kombination einen ziemlich missmutig gelaunten Weihnachtsras machte.
Noch nie war er schlecht gelaunt gewesen. Es war eine vollkommen neue Erfahrung für ihn... und er hasste es.
Zumindest würde er gleich jemanden treffen, der ihm wenigstens bei seinem Wächterproblem würde helfen können.
Sich dauernd umschauend, ob nicht wieder irgend so ein Stehenbleiben-du-bist-verhaftet-Spinner hinter einem der verrußten Schornsteine oder Hausecken unten mit einer Armbrust lauerte, verließ der Weihnachtsras die vom silbernen Mondlicht überfrorene Nässe auf den Dächern und kletterte mit laut knurrendem Magen geschmeidig die schmierige Regenrinne hinunter auf die Unbesonnenheitsstrasse. Von den seltenen Streifen abgesehen, verirrte sich kaum jemand in diesen Teil der Schatten. Die Perlendocks waren nicht weit und boten den Bewohnern weitaus mehr Vergnügungsmöglichkeiten als der obere Teil Unbesonnenheitsstrasse. Vermutlich kamen genau deswegen die Wächter hier entlangpatrouilliert. Es war vergleichsweise ungefährlich und man musste seinen Vorgesetzten nicht anlügen, konnte ruhigen Gewissens behaupten: Ja, wir haben in den Schatten nach dem Rechten gesehen. Daher rührte auch der Name ‚Halbschattenroute', den jeder Mannschaftsdienstgrad wie ein Geheimnis handelte und benutzte, um sich das Streifenleben etwas leichter zu machen.
Das Klingeln seiner neuen Glocke hallte verschmitzt von den Hauswänden wieder, als der Weihnachtsras vorsichtig um die Ecke spähte, Haufen-Huberts Karren entdeckte und daraufhin die kleine Seitengasse betrat.
"Wo bist du, mein Hubert, musst dich nicht verkriechen
Ich kann deine Rippchen bis hier doch schon riechen.
Komm raus und erzähl mir, was es gibt zu sagen.
Warum will die Wache den Kopf mir einschlagen?
Warum mich verhaften? Das ist doch zum lachen.
Die machen doch sonst nicht mit mir solche Sachen...", rief er, als er neben dem Karren ankam, jedoch keine Spur des Leichensammlers entdecken konnte.
"Und nicht mal Geschenke konnt' ich bisher bringen.
Kein Spaß, den ich plante, will dies' Jahr gelingen!"
Versteckt in der Nische konnte der Weihnachtsras die Umrisse einer der Knollenfallen Hauptmann Ohnedursts erkennen, die er in jedem Jahr leerte, um die Ernte dann für seine Geschenke und Streiche zu verwenden. Soweit, so gut... doch kein Haufen-Hubert weit und breit und das, obwohl sein Karren und er unzertrennlich waren.
"Es reicht jetzt, hör' auf dich vor mir zu verstecken,
Ich hab keine Lust, dich im Spiel zu entde...", verschlug es dem Weihnachtsras die Sprache, als er, der besseren Sicht durch den Verlauf der Gasse wegen mit einem eleganten und vom Klingeln begleiteten Hüpfer auf den Rand der Ladefläche des Leichenkarrens gesprungen war. Er hatte seinen Freund gefunden, nur, dass dieser sich nicht versteckt hatte.
Ausgebreitet wie eine zu opfernde Jungfrau lag Haufen-Hubert vereint mit seinen Kunden ganz oben auf dem Stapel, die Arme und Beine kreuzförmig von sich gestreckt und deren Knöchel mit Seilen an der obersten Umrandung fixiert. Ungläubig sank der Weihnachtsras auf die Knie und stieß die Leiche seines Freundes vorsichtig, beinahe zärtlich an, wie um durch die Berührung der Situation mehr Realität verleihen zu können. Sein sich öffnender und schließender Mund versuchte Wörter zu artikulieren, Wörter die seiner Trauer und seinem Entsetzen Ausdruck verleihen würden, doch kein existierender Reim hätte seinen Gefühlen gerecht werden können und so formten seine Lippen schließlich nur einen stummen Schrei... und mit ihm kam die Wut.
Am Tod des Körpers vor ihm konnte kein Zweifel bestehen, allerdings traute der Weihnachtsras seinen Augen nicht, als er sah, was dort direkt über dem Herzen aus Haufen-Huberts muskulöser Brust ragte. Zeitlupenartig streckte er seinen Arm nach dieser mehr als eigenartigen Waffe aus, doch gerade, als er seine Hand darum schließen wollte, spürte er, dass er nicht mehr allein war.

Keine 15 Meter entfernt, dort, wo er vor nicht einmal zwei Minuten die Gasse unbemerkt betreten hatte, standen nun der hochgewachsene HG Dennis Schmied neben der bedeutend kleiner und zierlicher wirkenden OG Claudette Minze in ihren S.E.A.L.S-Uniformen und waren von der sich ihnen bietenden Situation vollkommen überrascht. Trotz der Ereignisse der letzten Tage hatten sie der Kälte wegen nur so schnell wie möglich ihre ‚Halbschattenrunde', wie sie bei den S.E.A.L.S der relativen Ungefährlichkeit wegen genannt wurde, hinter sich bringen wollen, um danach wieder ins Wachhaus zurückkehren zu können und sich von den Anderen die Gerüchte über den letzten Stand der Dinge anzuhören... im Warmen.
"Was machen wir jetzt?", zischte Claudette ihrem Partner zu und zog vorsichtshalber ihr Kurzschwert.
"Na was glaubst du wohl? Der Kerl steht unter Mordverdacht, falls du es schon vergessen hast, Claudette.", flüsterte dieser zurück, zog seinerseits auch die Dienstwaffe und trat zwei Schritte vor "Schau ihn dir doch an... diese wilden Augen... und da hast du noch Zweifel, dass er Shorty nicht getötet hat?"
"Das mag schon sein.. aber was, wenn er gefährlich ist?", versuchte sie ihren Streifeführer zurückzuhalten. "Es müssen ja nicht unbedingt WIR sein, die ihn fassen, oder? Es reicht doch vollkommen, wenn wir sagen, dass wir ihn gesehen haben. Schließlich ist er auch schon F.R.O.G. entwischt."
"WEIHNACHTSRAS! IM NAMEN DER STADTWACHE VON ANKH-MORPORK BIST DU HIERMIT VERHAFTET!", rief Dennis der roten Gestalt selbstbewusst zu.
"Psssssst... nicht so laut, Mensch... er kann dich doch hören!"

Im dem Moment, in dem er die beiden Wächter sah, hatte er es satt und als der Weihnachtsras deren Ruf hörte, zerbrach etwas in ihm und eine andere Art von Humor quoll aus dem aufbrechenden Spalt hervor. Ein bösartiger, gemeiner und gefährlicher Humor.
Mit einem letzten Blick auf seinen Freund richtet sich der Vampir auf und funkelte die S.E.A.L.S. mit Augen an, in denen ein kaltes, verzehrendes Feuer brannte.
Nicht hier, nicht jetzt... noch nicht.
Erst brauchte er mehr Informationen, um zu verstehen, was hier vor sich ging und dafür musste er ein wenig im Wissen von diesem Frischmilchvampir Ohnedurst herumstöbern, welche Quelle er in diesem Fall am besten anzapfen könnte. Doch das ging nicht ohne Ruhe.
Mit einem leisen Plöpp verwandelte sich der Weihnachtsras in eine Fledermaus, flatterte noch eine Sekunde Abschied nehmend über Haufen-Huberts Leiche, schoss dann immer schneller werdend knapp über den Köpfen der Wächter hinweg aus der Gasse heraus, gewann draußen in der Unbesonnenheitsstrasse an Höhe und war verschwunden.

Zurück blieb ein ziemlich erleichterter HG Schmied mit seiner Partnerin und subtil von der Stirn perlendem Angstschweiß, dem gerade bewusst geworden war, dass seine Angst vor Vampiren aus Kindheitstagen wohl doch nicht ganz so gut versteckt war, wie er es gerne gehabt hätte.
"A-a-alles in Ordnung bei dir?", fragte Claudette, die den Blick in den Augen ihres Kollegen bemerkte.
"Ich... äh... nein... doch.. ich meine... wieso nicht? Er ist uns.. äh.. entwischt!", fasste Dennis ein wenig verunsichert die Lage zusammen. "Ist doch sogar schon F.R.O.G. entwischt... oder... haha... was soll's also."
Skeptisch betrachtete Claudette den Hauptgefreiten. So hatte sie ihn noch nie gesehen.
"Sollten wir nicht mal auf dem Karren nachschauen?", fragte sie vorsichtig und deutete auffordernd in dessen Richtung.
"Den Karren?", stutzte Dennis und schaute Claudette eine Sekunde lang verständnislos an. "Ach, den Karren... ja, das sollten wir wohl."
Als sie kurze Zeit später dessen Fracht sahen, mussten sie erkennen, dass es wohl noch eine lange Nacht werden würde.

Tag 4

Das Ende der Unschuld


F.R.O.G.-Trainingsraum, kurz nach dem Mitternachts-Schnäck:
Wütend und schweißüberströmt zerrte die Gnomin an dem Miniaturwurfdolch, den sie in einer Schmiede unweit des Ankhes vor einiger Zeit extra für ihre Größe hatte anfertigen lassen. Es war eine elegante kleine Waffe mit einer doppelschneidigen, rasiermesserscharfen Klinge und einem mit dem Leder des klatschianischen Schleichholms umwickelten Griff. Leider steckte der Dolch momentan viel zu tief in einer der Zielscheiben, welche die F.R.O.G. für ihr Wurftraining benutzten. Am meisten nervte Venezia jedoch, dass sie nicht einmal jemand Anderem die Schuld daran geben konnte. Sie selbst war es gewesen, die nach ein paar Trainingseinheiten zum Abbau ihrer Frustration wegen der Ereignisse in der vergangenen Nacht die Klinge mit einem überaus kraftvollen Wurf, in den sie all ihre Wut gelegt hatte, bis zum Heft in die Scheibe versenkt hatte.
Dunkle Schweißflecken zierten ihr eng anliegendes Trainingsdress, eine Sonderanfertigung, damit ihre Figur besser betont wurde, und ihre sonst so perfekt durcheinander liegenden Haare, hingen nun nass und motivationslos über dem Stirnband herab.
"Hallo mein Zuckerpüppchen, brauchst du eine kräftige Männerhand?", hörte die Wergnomin Reggies Stimme hinter sich, als sie gerade, sich mit den Füssen gegen die an der Wand hängenden Scheibe stemmend, einen weiteren Versuch startete, einen größeren Dickkopf als dieses blöde Ding zu haben.
"Mach nen Abgang, Reggie, ich hab keine Zeit für dein Gefasel. Ich arbeite...", fauchte sie den Rohrpostdämonen atemlos an.
"DAS nennst du Arbeit?", kicherte Reggie und begann auf den alten Korbstuhl mit dem ausgefransten, nikotingelben Sitzkissen zu steigen, den die Gnomin vor über einer Stunde als Leiter für sich unter die Zielscheibe geschoben hatte. "Behandelt man außerdem so seinen Retter und Beschützer?"
"Kerl, ich meine es Ernst, verschwindeeeeeeeee...", schimpfte sie und zerrte heftig an dem Griff des Dolches.
"Dein Mund sagt: Verschwinde...", griente Reggie, klettert behände zu Venezia empor und atmete genüsslich den sie umgebenden Duft ein "... aber dein Körper sagt: Komm, und hilf' mir, mein starker Dämon!"
Ohne auf eine weitere Reaktion zu warten, legte er dann seine fettverschmierten Hände auf die der Gnomin, zog sich zu ihr hoch und brachte sich neben sie in Position.
"Das ist Männerarbeit, Schnuckelchen, dafür braucht man einen ganzen Kerl!", brummte der Dämon und spannte seine recht beeindruckenden Muskeln.
"Hast du denn einen mitgebracht, Kleiner?", frotzelte Venezia, von der Penetranz ihres Verehrers und den doch recht appetitlichen Muskelpaketen angestachelt.
"Ach Schatzi..."
"DU SOLLST MICH NICHT SO NENNEEEEN!!!", keifte Oberleutnant Knurblich "Jetzt halt die Klappe und ZIIIIIEEEEHHHHAAAAAARRRRRRGGGHHHH!"
Einen Augenblick lang sah es so aus, als würden selbst ihre vereinten Kräfte nicht ausreichen, doch plötzlich, so als wenn dem Metall der Klinge das Spiel jetzt langsam zu albern werden würde, rutschte die sie mit einer unerwarteten Heftigkeit aus der Scheibe, der die Beiden nichts entgegenzusetzen hatten und ein paar Überschläge später sowie knapp einen Meter tiefer, fanden sie sich auf dem Sitzkissen wieder.
"Mmmh... na du änderst deine Meinung aber schnell, Baby.", grinste Reggie die Gnomin an, die auf ihm gelandet war und sich gerade aufsetzte. "Hat dir wohl gefallen, was du gesehen hast, wie?"
Diese allerdings schaute ihn nur kurz verständnislos mit gerunzelter Stirn an und sprang dann wortlos vom Korbstuhl auf den glattpolierten Holzboden, wo sie ihren Wurfdolch einsammelte.
"Öhm... hallo? Kleines?", rief Reggie ihr verwirrt hinterher. "Hörst du mich noch? Der Dicke will dich sehen..."
Oberleutnant Knurblich jedoch nahm seine Stimme nur noch am Rande wahr, denn sie war mit den Gedanken noch immer bei der gestrigen Nacht.
Wieder und wieder sah sie den Weihnachtsras über dem Dachfenster seines Büros auftauchen und mit seinem seltsamen Blick auf sie herabstarren, einem Blick der sie zu durchdringen schien. Die Gnomin hatte ihm eine Chance gegeben, alle anderen angelogen und sogar ihre F.R.O.G.s betrogen... und hoffte bei allen Würstchen, die sie noch essen konnte, dass sie keinen Fehler gemacht hatte.

***


Boucherie Rouge, etwa zur selben Mahlzeit:
Chief-Korporal Robin Picardo lag unruhig auf den Laken in dem überdimensionalen Himmelbett des himmelblauen Knahbenzimmers im 2. Stock der Boucherie Rouge, welches er zusammen mit dem Hauptgefreiten Leopold von Leermach bewohnte... sowohl das Zimmer, als auch das Bett... und träumte.
Träume waren jedes Mal Robins meistens nicht sehr freundlicher Begleiter, wenn sein Zimmer- und Bettgenosse dienstlich unterwegs war und das Lager nicht mit ihm teilen konnte. Obwohl er alles andere als ein Angsthase war, so gab ihm die Gegenwart des Vampirs nachts halt doch das nötige Quentchen Sicherheit, dessen es bedurfte, um tief und traumlos zu schlafen.
Der Traum der heutigen Nacht, der dicht unter der dünnen Decke des Schlafes in ihm brodelte, war allerdings besonders schlimm. In jener Scheinwelt trug er einen weißen Kittel, der ihm wahrscheinlich sogar zu einem respektvollem Aussehen verholfen hätte, würden dort, wo der Stoff endete, seine ziemlich muskulösen Beine nicht in rot-violetten halterlosen Netzstrümpfen stecken, die perfekt zu den schwarzen, hochhakigen Lederschuhen passten. Vor ihm waren drei Käfige, in denen je ein Wächter in voller Ausgehuniform vor einem kleinen Holztisch saß, auf dem eine dampfende Mahlzeit stand. Gierig vertilgten seine Probanten das ihnen vorgesetzte Mahl voller Vertrauen, als wäre es das Natürlichste der Welt, doch Robin wusste es besser. Schließlich war er es gewesen, der jedes Essen mit einem anderen, furchterregenden Krankheitserreger verfeinert hatte, um die Auswirkung auf den Organismus der Wächter studieren zu können. Ein Teil von ihm wusste, dass es falsch und verwerflich, ja sogar Verrat an allem, was er glaubte, war, doch dieser Teil war deutlich kleiner, als die Neugierde, die sein Denken beherrschte. Minuten später brach der erste seiner Kollegen zusammen, auf dessen Schulter Robin meinte Offizierssterne erkannt zu haben und wand sich vor Schmerzen oder Übelkeit in Fötusstellung zusammengerollt auf dem Boden seines Käfigs.
Robin wollte zu ihm, doch nicht um ihm zu helfen, wie er noch immer mit Bestürzung feststellte, sondern um ihn zu untersuchen, zu analysieren und von der Krankheit zu lernen.
Rote-Bete Saft, drängte sich ihm der Gedanke aus heiterem Himmel auf, Rote-Bete Saft hätte er in das Essen träufeln sollen. Das wäre eine Show gewesen. Die innere Stimme des Traumes war noch nicht richtig verklungen, als aus dem Nichts ein Käfig entstand und aus einer dunklen Ecke ein weiterer Wächter heraus trat... dieses Mal in einem schwarz-grünen Kampfanzug.
Er musste dorthin, musste doch das Essen präparieren... er musste... wieso konnte er sich nicht bewegen, seine Gliedmassen in Steifheit erfroren... es gab doch so viel zu tun.. so viel zu forschen... muss sich bewegen... laufen... muss.

Schweißgebadet stieß Chief-Korporal Picardo aus den Tiefen des Traumes hervor und durchbrach mit weit aufgerissenen Augen die Oberfläche zur Realität... nur um festzustellen, dass er sich auch hier nicht bewegen konnte. Schlaftrunken und orientierungslos fiel sein glasiger Blick auf den siebenarmigen Leuchter mit den brennenden Kerzen, die er definitiv vor seiner Nachtruhe gelöscht hatte, welche jetzt aber das Knahbenzimmer in ein unruhig flackerndes Halbdunkel tauchten. Einer Illusion gleich betrachtete er das raue Seil, welches, wie er nun bemerkte, schmerzhaft fest um sein Handgelenk geschlungen und mit einem kompliziert aussehenden Knoten am Bettpfosten befestigt war. Der Schreck ließ Robin vollends wach werden, und eigentlich wollte er den Kopf panisch herumwerfen, um das andere Handgelenk zu kontrollieren, doch dann entdeckte er das Kurzschwert, welches mit der Spitze nach unten ungefähr 50 cm über ihm hing... und auf seinen Hals zeigte. Aus tiefster Seele stieg ein gewaltiger Schrei in seinem Hals nach oben, und er hatte den Mund schon aufgerissen, um ihn in seiner ganzen Größe in die Welt zu entlassen... als sich eine kalte, übelriechende Hand unbarmherzig auf seine Lippen legte und jeden Laut im Keim erstickte.
"Willkommen, mein Kleiner, wer wird denn gleich schreien
Und mir diese herrliche Stille entweihen?
Ein Mann sollte wissen, wann er hat zu schweigen
Um bloß keine Strafe von mir zu erleiden.", drang eine heisere Stimme an Robins Ohren, während seine Nase, von dem üblen Geruch in die Ecke gedrängt, die symbolische weiße Fahne hisste. Dicht über ihn gebeugt, hockte eine rot gekleidete Gestalt so dicht über ihm auf dem Bett, dass ihre verfilzten, grauen Haare seine Wangen berührten und der heiße, stinkende Atem sein Gesicht zu versengen drohte.
"Dann muss ich es schnell dir wohl noch mal erklären,
damit du danach dich nicht noch kannst beschweren:
Lässt du einen Laut, ja, dann kann ich dir schwören,
Werd Leib und dann Geist mit Genuss dir zerstören.
Hast du mich verstanden, dann gib mir ein Zeichen,
dass kein Mucks der Stimme dir laut wird entweichen."
Der Weihnachtsras... es war tatsächlich der Weihnachtsras. Seine ungläubigen, weit aufgerissenen Augen schickten das Bild des im flackernden Kerzenlicht auf dem Bett hockenden Wesen mit den buschigen, weiss-grauen Augenbrauen und der spitzen Hakennase immer wieder in sein Gehirn, um jeden Zweifel eines Irrtums auszuschließen. Nichts in seinen Augen ließ etwas von dem streichespielenden Spinner erkennen, der sie in den letzten Jahren um diese Zeit immer wieder heimgesucht hatte und die dreckigen, langen Fingernägel der anderen Hand, mit denen er sich abwartend durch den verfilzten Bart strich, eine kleine Lawine an Schuppen und kleinen Dreckpartikeln auslösend, sahen bedrohlich scharf aus. Des Korporals Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Wie könnte er hier unbeschadet wieder rauskommen? Irgendwelchen Hoffnungen, dass ein Hilferuf aus seiner Kehle etwas anderes als ziemliche Schmerzen für ihn nach sich ziehen würde, ließ ein Blick in die kranken, kalten Augen des Weihnachtsras schon verpuffen. Das waren die Augen eines Mörders. Robin brauchte Zeit zum Nachdenken... brauchte Zeit für einen Plan.
Langsam bewegte er seinen Kopf vorsichtig auf und ab, dem Weihnachtsras damit seine Zustimmung anzeigend.
Nach einem kurzen nachdenklichen Trommeln seiner Fingernägel auf Robins vor Erregung geröteter Wange, ließ der Weihnachtsras ein paar Sekunden verstreichen, bevor seine eigenen Lippen sich zu einem gemeinen und von knollenartigen Mundgeruch begleiteten Grinsen verzogen und er die Hand mit einer eigenartigen Form des Genusses von den Lippen, über das Kinn bis hin zur Brust gleiten ließ, um sie dann an seine Nase zu heben und genussvoll dran zu riechen.
"Mach dir um das Schwert im Moment keine Sorgen.
Die Stimmung ich dir doch damit nicht verdorben?
Mit doppeltem Knoten dort oben befestigt,
damit es beim reden nicht sehr dich belästigt,
wenn du mir erzählst, was die Wächter hier spielen
und mit ihren Waffen auf mich dauernd zielen!"
"Als wenn du das nicht selbst am besten wüsstest, du feiger Mörder!", ließ eine Welle des Stolzes und Trotzes den Satz aus seinem Mund entwischen, noch bevor er etwas dagegen tun konnte. Was hatte Leo gesagt, wann er zurückkommen würde? Wie spät war es überhaupt? Was würde geschehen, falls Leo zurückkäme? Viele Fragen, auf die er genauso wenig eine Antwort hatte, wie seine Hand und Fußfesseln ihm Bewegungsfreiheit ließen oder die Schwertspitze über ihm seine fast blankliegenden Nerven beruhigte.
Der Weihnachtsras hatte sich inzwischen in eine der gegenüberliegenden Ecken des geräumigen Himmelbettes zurückgezogen und hockte unwirklich mit seinen schmutzigen Stiefeln auf dem kleinen Quadrat des Bettpfostens, raubvogelgleich und anscheinend mit einem unmenschlichen Gleichgewichtssinn ausgestattet, denn nicht einmal ein winziges Taumeln war zu erkennen. Ein Adler auf einem Baum, das Kaninchen im Blick, ihm jedoch noch ein paar Momente gewährend, bevor er sich todbringend nach unten stürzen würde.
"So gestern schon mal mich hat jemand genannt,
auch wenn ich dafür hab den Grund nicht erkannt.
Vielleicht kannst du mich ja darüber belehren
Und mich mit dem nötigen Wissen beehren.", zischte der Weihnachtsras mit zu Schlitzen verengten Augen, deren Blick zeigte, dass es keine freundliche Bitte war, während seine Fingernägel feine, scharfkantige Kerben in das Holz des Bettpfostens ritzten.
Trotz des winterlichen Luftzuges, der von der Terrassentür durch das Zimmer zu huschen schien, liefen zwei parallel verlaufende Schweißbahnen tränengleich über Korporal Picardos Stirn, vereinigten sich an seiner pochenden Schläfe und setzten dann den Weg nach unten fort, wo sie das mit Daunen gefüllte Kissen gierig aufsaugte.
"D-D-das weißt du doch... vorgestern Nacht hast du den Gefreiten Shorty kaltblütig mit deinem Offiziersdolch ermordet.", antwortete Robin unsicher und fragte sich, ob er sein Glück jetzt vielleicht etwas zu sehr strapaziert hätte. Gab es eine andere Antwort? Seinem stressgeplagten und inzwischen adrenalingetränkten Gehirn wollte jedenfalls keine einfallen.
Lautlos formten des Weihnachtsras rot-violette Lippen den eben genannten Namen und für einen Moment wich der kalte Glanz aus den Augen des Vampirs, als er sichtlich verwirrt das Flackern der Kerzen betrachtete und nach einer Erinnerung an Shorty kramten. Gedankenverloren strichen seine Hände über die leere Scheide und einen Dolch, den der er durch die Ereignisse vollkommen vergessen hatte.
"Die Waffe, du sagst mir, mein Dolch wurd' gefunden?
Inmitten des Opfers, mit ihm fest verbunden?
Des Streites mit Shorty, er kann sich erinnern,
doch nichts, dessen Tat es für uns könnt verschlimmern.", sinnierte der Weihnachtsras, stieg mir einer ungelenken Bewegung von dem Bettpfosten nach hinten in einen Bereich des Knahbenzimmers, den der Kerzenleuchter mit seiner hellen Fracht nicht zu erhellen vermochte, nur um gleich darauf neben dem Bett wieder in den Lichtkreis zu treten, was einen höllischen Schreck durch Robins sowieso schon recht steife Glieder fahren ließ.
"Er? Uns?", keuchte der Gefesselte und warf den Kopf zur Seite, um zu sehen, was sein Gegner dort bei den Kerzen mit den ausgesprochen heiß aussehenden Flammen machte. "Ich.. ich verstehe nicht. Wen meinst du?"
"Verstehen ist etwas, dass scheinbar sehr schwierig,
doch bin ich des Wissens unendlich begierig,
denn ohne es könnte dies tragisch bald enden
und damit das Schicksal sich gegen mich wenden.", schlussfolgerte der Vampir mit einer sanften Bewegung seines Kopfes, was ein leises Klingeln des goldenen Glöckchens zur Folge hatte. Er hatte nicht vor, den schwitzenden Mann auf dem Bett mit dem zerbrechlichen Verhältnis zwischen ihm und dem Schwachkopf Ohnedurst zu verwirren. Da gab es wesentlich bessere Methoden...
"Ich werde dich brauchen, um mir zu beschaffen,
was ich nicht kann holen, selbst wenn ich hätt' Waffen.
Mit Informationen nur kann ich verstehen,
was vorgestern Nacht und auch heute geschehen.
Den Tod eines Wächters, den mag ich bedauern,
beim Tod eines Freundes, da hilft mir kein Trauern,
wenn Schmerzen und Wut sich zur Jagd dann verschweißen,
die Vorstellung ihm bald das Herz zu entreißen,
die Gier, ihn zu finden, ins Dunkel zu zerren,
viel besser, als in eine Zelle zu sperren.", fuhr er mit einem Tonfall fort, dessen Herzlichkeit den eisigen Temperaturen, die sich in den letzten Tagen über die Stadt gesenkt hatten in nichts nachstand. Eine Flamme nach der Anderen ließ der Weihnachtsras scheinbar genüsslich über die ledrige Haut seiner Fingerspitzen streichen, bevor er den Docht der Kerze mit einer schnippenden Bewegung seiner Nägel von dem Leuchtkörper trennte, bis schließlich nur noch eine brannte.
"Du wirst mir das Wissen der Wache besorgen
von deinen Kollegen als Erstes am Morgen.
Sorgfältig notieren, was sie rausgefunden
Und dann, welche Schlüsse sie damit verbunden.
Das Ganze hast du dann alsbald zu benennen
An jemanden, der sich dir gibt zu erkennen!
Die Frage ist nur, ob ich gut bin beraten,
dir damit zu trauen... wirst du mich verraten?"
Chief-Korporal Picardo wusste instinktiv, dass dies die Chance und der Plan war, auf den er schon die ganze Zeit gewartet hatte. Dieses... Monster... würde ihn gehen lassen in der Hoffnung auf Informationen und dann wäre er am Zug. Wehe dir Weihnachtsras!
"Nein, nein auf keinen Fall... du... du kannst dich voll und ganz auf mich verlassen... nur tu mir nichts!!", sprudelte es sofort aus ihm heraus, wobei Robin versuchte, möglichst angsterfüllt zu klingen, was ihm nach den letzten 10 Minuten nicht weiter schwer viel.
Das gefährliche Kichern, welches freudig aus der stinkenden Mundhöhle des Wesens zu springen schien, als dieses den grausamen und heimtückischen Blick wieder auf den Korporal richtete, war allerdings nicht die Reaktion, die dieser sich erhofft hatte.
"Ich höre die Worte, die Antwort kam schnelle,
nur bleibt noch die Frage, die ich mir jetzt stelle,
wie kommt es, dass ich denk, du meinst es nicht ehrlich
und in deinen Plänen mich zählst als entbehrlich?
Es gilt hier die brave Entscheidung zu fällen
Und nicht, wenn ich geh, gleich nach Hilfe zu bellen.", belehrte der Weihnachtsras den an das Bett gefesselten Wächter böse grinsend und verschwand mit dem Kerzenständer, dem nur eine einzige Flamme geblieben war hinter den Stoff der rechten Seite des Himmelbettes, nur um am Fußende sein altes Gesicht wieder zu zeigen, dessen dunkelrote Ränder unter den Augen den irren Glanz in ihnen nur noch verstärkten. Recht beiläufig stellte er dort den Kerzenleuchter auf den linken Bettpfosten, sich offensichtlich nicht weiter drum scherend, dass die einzig verbliebene Flamme dem zur Decke führenden Stoff des Himmels gefährlich nah kam.
Eine Schreckensvision schoss Robin durch den Kopf, in der die Flamme den Stoff entzünden und den Himmel des Bettes über ihn in ein feuriges Inferno verwandeln würde.
Mit einer verspielt grazil anmutenden Bewegung, die überhaupt nicht zu dem anscheinend recht alten Körper passen wollte, schwang der Weihnachtsras seine Beine über den Rand des Bettes und stellte sich breitbeinig direkt über sein herrlich verzweifelt schauendes Opfer.
"Nun höret und staunet, was ich hier wohl habe,
damit unsre Stimmung wird sicher nicht fade!", intonierte er kunstvoll und präsentierte eine unsichtbaren Publikum etwas in seiner Hand, das sich Robins Sicht vorerst noch entzog, bis sein Peiniger in die schwarzen Locken auf seinem Kopf Griff und diesen nach oben zwang, damit er besser sehen konnte.
Chief-Korporal Picardos ungläubige Augen hatten einiges auf der Hand des Vampirs erwartet, nur nicht den kleinen, braunen Wurm mit der flechtmusterartigen schwarzen Zeichnung auf der oberen Seite.
"Dies längliche Tierchen auch Bandwurm man nennet.
Mit Freuden genussvoll es Seile durchtrennet.
Ein Sklave des Hungers, von Gier ganz durchtrieben
Frisst weiter bis nichts von dem Seile geblieben.", fuhr der Vampir fort und setzte den Bandwurm auf das Seil, welches das Schwert davon abhielt, sich in Robins darrunterliegende Kehle zu bohren.
"Was machst du da? Was soll das?", keuchte dieser mit blankem Entsetzen im Gesicht. "Tot nütze ich dir doch nichts! Hörst du? Weihnachtsras?"
Doch diesen schienen die Worte des Menschen überhaupt nicht zu interessieren, statt dessen begann er mit der akribischen Neugier eines Wissenschaftlers, der den Verlauf eines Experiments beobachtet, dem Mann unter sich das Nachthemd mit den scharfen Spitzen seiner Fingernägel vom Leib zu schneiden.
TSCHOING...
Panisch flog Robins Blick zwischen dem Treiben des Weihnachtsras auf seiner Brust hin- und her. Aus wie vielen Strängen bestand ein normales Seil? 5? Er wusste es nicht, aber wie viele es auch immer sein mochten... jetzt war es einer weniger.
Auf ihm sitzend hatte der Vampir derweil begonnen, eine seltsam leichte Melodie zu summen, die einem Kinderlied hätte entstammen können, als er die letzten Fetzen des Nachthemdes von der Brust des Wächters wischte, den langen Fingernagel seines rechten Zeigefinger ansetzte und einen geschwungenen Bogen in die Haut ritzte, aus dem sofort das Blut zu tropfen begann.
TSCHOING...
"Nein, nein, nein, nein... nimm das Vieh da weg... ich werde ja alles tun, was du sagst... biiiitteee.... was machst du da auch meiner Brust? Arrrrrrrrggggnnnnnn!", stöhnte Korporal Picardo auf, von dem beißenden Brennen auf seiner Brust an den Rand des Erträglichen getrieben und unterdrückte im letzten Moment einen lauten Schrei, an dessen Konsequenzen durch den Vampir er sich gerade noch rechtzeitig erinnert konnte. "Was muss ich denn tun, damit du mir glauuuuubst? Niemand wird etwas von mir erfahren und ich hole dir, was du willst! Nur hör auf damiiiiit!"
Langsam hob sich der Kopf des Weihnachtsras, auf dessen Gesicht das gütige Lächeln lag, welches ein Großvater normalerweise für seinen weinenden Enkel aufhob, um ihm zu sagen, dass alles wieder gut werden würde... bald alles vorbei sein würde. Weiter unten vollführten sein Finger derweil einen schwungvollen Schnitt, der Robin die Tränen in die Augen trieb.
"In Kürze, mein Lieber, werd ich es dir glauben,
muss nur den Verstand noch dazu dir schnell rauben!"
TSCHOING...
Ohne jede Vorwarnung beugte sich der Vampir mit einem Mal vor, leckte seinem Opfer mit gieriger Zunge über dessen nassgeschwitzte Stirn, wonach ein befriedigtes Grunzen sich seiner Kehle entrang.
"Die Angst eines Menschen ist wirklich entzückend,
den Nerv des Geschmackes wahrhaftig beglückend!", erklärte er dem Wächter unter ihm, der verzweifelt versuchte, einen Blick auf den Bandwurm und die Fortschritte seines Mahls zu erhaschen. Dann widmete der Vampir sich weiter seinem kleinen Kunstwerk, mit dem er sich die Zeit vertrieb, die nötig war, um den Wächter von der Dringlichkeit seines Anliegens zu überzeugen, es in seine Seele zu brennen, welche Konsequenzen ein Verrat hätte. Noch ein Ritzer hier, ein Bohren dort, gelegentlich mit den Fetzen des Nachthemdes das ausströmende Blut wegwischen, damit nichts davon auf die Matratze tropfen konnte und unter dem genussvollen Summen des Vampirs, dem das Gejammer und Flehen Robins wie sanfte Musik in den Ohren klang, formte er in der Haut seines baldigen Informanten die kunstvoll gezeichnete Form eine Rote-Bete mit einer Pudelmütze und langen Reißzähnen am unteren Ende.
Der Weihnachtsras war sich wehmütig sicher, dass Haufen-Hubert das Bild gefallen hätte...
TSCHOING...
Wild, doch ohne nennenswerten Erfolg riss Korporal Picardo an seinen Arm und Beinfesseln, die schmerzhaft in seine Gelenke schnitten. Der Weihnachtsras war übergeschnappt. Keine Sekunde zweifelte er mehr daran. Tief in seinem Inneren wunderte es ihn gar nicht, dass der totale Knollenkonsum irgendwann seinen Tribut forderte. Er würde Robin sterben lassen. Ob es nun ein falsches Wort oder eine falsche Bewegung von ihm gewesen wäre, würde der Wächter wohl nicht mehr erfahren. Der Vampir hatte ihn durchschaut... und würde ihn jetzt bestrafen. Der pochende Schmerz in seiner Brust war der Beweiß dafür.
Plötzlich war der Mund des Vampirs nur noch einen Hauch von seinem Ohr entfernt, sein heißer, verdorbener Atem schien Robins Wange versengen zu wollen, sein kalter, stinkender Körper drängte sich an ihn.
"Die Frage ist wieder, ob gut ich beraten,
dir endlich zu trauen... wirst du mich verraten?", hauchte der Weihnachtsras sinnlich in des Korporals Ohr.
TSCHOING...
Und unter Robins ungläubigen Blick fiel das Schwert...
"Bei meiner Seele... neiiiiiiiiiiiiinnnnn!", wimmerte er und schloss die Augen, den Stich der scharfen Spitze durch seinen Kehlkopf erwartend... doch nichts geschah. Vorsichtig öffnete Chief-Korporal Picardo die Augen und sah die Klinge nur Millimeter von seinem Kinn entfernt... von der knorrigen Hand des Weihnachtsras gehalten.
"Ich glaub' dir, mein Freund, jetzt hab ich Vertrauen
und muss dich nicht auch noch entsetzlich verhauen.
Tu was ich verlange, dann nichts wird geschehen,
kein Ton über das hier, hast mich nie gesehen!", stellte der Vampir zufrieden fest, stand auf und fischte den Bandwurm aus den Laken.
"Du solltest hier putzen, damit niemand wittert,
was grad hier geschehen, dein Freund wär erschüttert.
Denn läuft etwas schief, meine Chancen geh'n flöten...", erklärte der Weihnachtsras, aus dessen Gesicht jedes Lächeln und Schmunzeln verschwunden war. "dann komm ich zurück, und werd' LEO nett töten!"
Mit dieser letzten Drohung setzte er den Wurm auf Robins Handfesseln, kniff diesen nun wieder verspielt grinsend in die Wange und verschwand lautlos aus der Terrassentür. Keine zwei Minuten später hatte der Bandwurm die Armfessel durchtrennt und Chief-Korporal Picardo war frei.
Unten Tränen und tiefem Schluchzen machte er sich daran, die Spuren seiner Qual aus dem Zimmer zu entfernen... doch aus seiner Seele würde er sie wohl genauso wenig loswerden wie das Abbild der Knolle auf seiner Brust.

Den Luxus von Tränen konnte sich der Weihnachtsras nicht erlauben, zu heiß loderte der Zorn in ihm. Und selbst wenn... für Tränen wäre ein funktionierender Stoffwechsel vonnöten gewesen... und an so was konnte er sich nicht einmal mehr erinnern. Außerdem war noch viel zuviel zu tun.. und so wenig Zeit.
Auf seine Fledermausgestalt verzichtend, machte sich der Weihnachtsras über die vereisten Dächer auf zum Pseudopolisplatz, wo er noch jemanden seine Aufwartung machen musste. Fast schon hoffte er, dass dort wieder eine Falle auf ihn wartete... er wäre in genau der richtigen Stimmung! Wenn er auf die eine Art seinen Spaß nicht bekommen konnte, dann eben auf die Andere... so oder so!
Nach diesem Gedanken brach der Weihnachtsras auf seinem Weg in wieherndes Gelächter aus.

***

Kommandeursbüro der Stadtwache, kurz nach dem Zwei-Uhr-Kapputtschino:
Im Gegensatz zum Weihnachtsras stand Olt Venezia Knurblich auf der recht staubigen Fensterbank des Kommandeursbüros mit dem Rücken zum Raum, schaute in die dunkle Nacht hinaus, in der vereinzelte Schneeflocken durch die Luft irrten, und kämpfte gegen die Tränen an.
Haufen-Huberts Leichnam war vor einer halben Stunde von seinem Kollegen Einsturz-Erwin in den kleinen Kühlraum neben dem Arbeitszimmer der Gerichtsmediziner von S.U.S.I. gebracht worden und wartete darauf, von ihnen untersucht zu werden.
"Ich kann es noch immer nicht glauben!", hörte Venezia Lt Lanfears fassungslose Stimme hinter sich, gefolgt vom zustimmenden Murmeln Ateras. "Eine angespitzte Knolle mitten ins Herz! Da gibt es wohl nichts mehr zu beschönigen..."
Die frisch geduschte Wergnomin hätte sich am liebsten geohrfeigt. Wie hatte sie nur so naiv sein können, an das Gute in einem Wesen zu glauben, das sich anzieht wie eine Erdbeere auf zwei Beinen, mit einer Pudelmütze auf dem Kopf, an der eine kleine Glocke hängt und welches meint, den Leuten in der Wache mit Rote-Bete in allen nur denkbaren Variationen eine Freude zu machen.
Ausgerechnet Haufen-Hubert... hätte es nicht irgendein namenloses Gesicht sein können, mit dem sie keinerlei Erinnerung verband?
"Heute am frühen Abend bekam ich wieder eine Mitteilung vom Patrizier von einem Boten überbracht, in der er ‚freundlich' anfragt, was der ungewöhnlich starke Anstieg der Streifen zu bedeuten habe.", erklang nun auch Kommandeur Rince's Stimme hinter ihr, deren Klang nichts Gutes zu verheißen hatte. "So langsam gehen mir die Ausreden aus. K Breguyar... bist du jetzt endlich mit dem Profil fertig, um das ich dich gebeten hatte?"
"Ähm... ja.. Sör..", erklang dessen Stimme etwas unsicher "Aber ich bin nicht sicher, ob es dir gefallen wird, denn die Antwort, die du suchst, kann ich dir leider auch nicht geben."
"Ob ich irgendwo eine Antwort sehe, kannst du getrost mir überlassen, Korporal... fang an!"
Im Schein des Kerzenlichtes sah Olt Knurblich das Spiegelbild von ihrem Stellvertreter mit der schwarzen Klappe über dem linken Auge aufstehen und einen Block mit Notizen umständlich aus der Hosentasche ziehen und aufschlagen, während sich fast alle Blicke erwartungsvoll auf ihn richteten.
"Nun... ähem... ich habe mit fast allen mir bekannten Personen geredet, die eine direkte oder indirekte Begegnung mit dem Täte... ich meine mit dem Weihnachtsras hatten. Das Bild, welches sich aus den Befragungen ergibt ist... kompliziert... und damit werde ich der ganzen Sache noch nicht einmal gerecht.", begann er seinen Bericht und setzte sich vollkommen in Gedanken auf die Schreibtischkante seines Kommandeurs, was dieser mit hochgezogenen Augenbrauen quittierte, doch vorerst noch nichts dazu sagte... der Bericht war wichtiger. "Jedem der anwesenden Sörs und Ma'ams ist Hauptmann Ohnedurst zweifelsohne bekannt. Sein Charakter spiegelt sich hervorragend in seiner Arbeit als Agent wieder: er ist überaus diszipliniert und beherrscht... weit mehr, als man es von einem normalen Vampir erwarten würde. Seine Rechtschaffenheit ist legendär, seine Loyalität zur Stadtwache unumstritten und beides hat ihm wohl auch letztenendes seinen Weg zu I.A. geebnet. Nichtsdestotrotz scheut er sich nicht, sich die Hände dreckig zu machen und in Außeneinsätzen sein Leben für die Sache und für Andere in die Waagschale zu werfen."
‚Beherrscht...!Wenn du wüsstest...' dachte die Wergnomin auf der Fensterbank stehend, die den Vampir vor langer Zeit auch schon ganz anders erlebt hatte und widerstand erfolgreich dem Drang sich umzudrehen.
"Waagschale ist dabei ein gutes Stichwort und Bild.", fuhr K Breguyar ernst fort, als er merkte, wie sehr alle an seinen Lippen klebten. "... denn auf der anderen Seite der Waage haben wir den Weihnachtsras. Wie er entstanden ist, konnte nie richtig geklärt werden. Olt Knurblich hat mir von einem Vorfall von mit Elfenblut vergifteter Rote-Bete erzählt, durch die Hauptmann Ohnedursts Schöpfer ihn nach seinen eigenen Vorstellungen formen wollte. Wäre eine Möglichkeit, aber die simple Tatsache, dass der Weihnachtsras im selben Jahr das erste Mal aufgetaucht ist, kann nicht genug beweisen. Zuviel Zeit liegt dazwischen. Letztendlich werden wir es wohl nie genau wissen. Das Bild, was sich durch meine Gespräche über den Weihnachtsras herauskristallisiert hat, würde der Theorie allerdings entsprechen, denn der Weihnachtsras ist alles, was Hauptmann Ohnedurst nicht ist. Die andere Seite der Waage ist der Hauptmann selber."
"Alles, was Hauptmann Ohnedurst nicht ist?", wunderte sich Lt. Lanfear und beugte sich konzentriert mit zu schmalen Schlitzen verengten Augen vor. "Wie meinst du das? Der Weihnachtsras ist eine Frau?"
Araghast verdrehte die Augen und hätte fast eine recht bissige Bemerkung über Offiziere im Allgemeinen und deren Auffassungsgabe im Besonderen über seine Lippen gelangen lassen, erinnerte sich im letzten Moment jedoch daran, wo er war und schluckte sie widerwillig hinunter.
"Nein, der Weihnachtsras ist der Vampir, den Hauptmann Ohnedurst schon seit Jahren immer verbissener zu unterdrücken scheint. Er ist undiszipliniert und vergnügungssüchtig, Rechtschaffenheit ist ein Fremdwort für ihn und seine Vorstellung von Loyalität der Wache gegenüber beschränkt sich darauf, sie in der Weihnachtsraswoche mit seinen geschmacklosen Geschenken heimzusuchen und die Wächter vorzuführen. Jeder von euch muss ferner zugeben, dass die Boshaftigkeit der Geschenke letztes Jahr zugenommen hat. Meiner bescheidenen Meinung nach steckt das Wesen, das wir Weihnachtsras nennen, mitten in einem Prozess, den ich noch nicht ganz durchschaut habe, über den wir uns aber mit Sicherheit Gedanken machen sollten."
"Die natürliche Ordnung der Dinge durcheinandergebracht...", murmelte der Kommandeur.
"Wie bitte?"
"Was? Ach so... nichts weiter. Nur etwas, das Frau Willichnicht mir vor kurzem erzählte. Wie dem auch sei... hältst du den Weihnachtsras für fähig, einen Mord zu begehen?", hakte Rince nach und kaute gedankenverloren auf der nach Taubendreck riechenden Schreibfeder herum.
"Ohne eine Sekunde zu zögern, Sör!", kam die prompte Antwort "Genauso wie Hauptmann Ohnedurst!"
"Wie bitte??", fuhr Atera den Püschologen der F.R.O.G. an.
"Ma'am, letztenendes ist auch der Hauptmann nur ein Vampir, nur dass er dagegen ankämpft. Unter den richtigen Vorraussetzungen jedoch... mit Sicherheit... ist alles nur eine Frage des Drucks... und des Gleichgewichts zwischen den Waagschalen."
"Was uns zu der Frage zurückbringt, wen wir denn nun weiterhin jagen...", sinnierte Irina "Reden wir über zwei Personen oder nur über eine?"
"Wiederrum kann ich es nur mit einem Vergleich beantworten, Ma'am. Ist ein Werwolf eine Person? Ja, obwohl der Mensch und der Wolf durchaus unterschiedliche Charaktere haben können, so kann der Eine doch nicht ohne den Anderen existieren, ist der Eine tief in dem Anderen verborgen, aber auf alle Fälle ein Teil von ihm." führte Araghast aus.
"Aber ein Werwolf kann es meistens steuern, wann er sich verwandelt..." murmelte Venezia lauter, als es eigentlich beabsichtigt war und erschrak sich, als K Breguyar darauf einging.
"Ja, genau das ist mein Problem, Ma'am. Der freie Wille... oder eben dessen Fehlen."
"Also haben wir noch immer keine Antwort darauf, ob Hauptmann Ohnedurst und der Weihnachtsras eine Person sind...", dachte Rince laut nach. "Haufen-Hubert hätte bestimmt eine!"

Olt Knurblich fuhr herum, um eine scharfe Bemerkung in Richtung des Kommandeurs abzuschießen, doch dann entdeckten ihre scharfen Augen ein Detail in ihrer Nähe, welches sie die Bewegung abrupt abbrechen ließ.
Die Vorhänge! Das konnte doch unmöglich sein. Das würde dieser kleine nach Fett stinkende Bastard doch nicht wagen. Rasch wandte sie sich wieder zum Fenster, hinter dem das Schneetreiben sich inzwischen von ein paar vereinzelten Flocken zu einem wilden Durcheinander gesteigert hatte. Auf keinen Fall durften die Anwesenden ihren fassungslosen Gesichtsausdruck sehen. Ganz locker und lässig, als würde sie einen Bummel über den Wochenmarkt machen, schlenderte Venezia zu dem Fensterbehang, der in ordentliche Falten gelegt von einer hölzernen Gardinenstange zu beiden Seiten des Fensters herunterhing. Hinter ihr hatte Rince gerade seine Entscheidung bekanntgegeben, Steckbriefe des Weihnachtsras in Auftrag zu geben und an strategischen Punkten der Stadt aufhängen zu lassen.
"Nur vom Weihnachtsras? Ist das dein Ernst, Sör?", fragte Irina verwirrt nach "Dürfen wir auch erfahren, warum?"
"Dafür gibt es mehrere Gründe, Lt. Lanfear.", erklärte Rince, beugte sich vor und stützte seinen Kopf nachdenklich auf die Hände, während sein Blick sehnsüchtig das Kügelchenspiel neben seinem verschmierten Tintenfass streifte "Zum Einen gibt es mir Gelegenheit, mich beim Patrizier wegen der Streifen zu rechtfertigen und mir etwas Luft zu verschaffen. Zum Anderen halten wir damit Hauptmann Ohnedursts Namen noch aus der ganzen Sache heraus und schützen die Wache... zumindest was den Patrizier und den einfachen Bürger betrifft. Nicht einmal in der Wache ist bei weitem jeder über die Beziehung zwischen Rascaal und dem Weihnachtsras informiert."
"Irgendetwas stinkt hier gewaltig gen Himmel und damit meine ich nicht diese Kloake, die sich durch die Stadt windet und versucht, sich als Fluss zu tarnen!", schnaubte Atera frustriert.
"Allerdings... nur bis wir das auch nur im entferntesten beweisen können, muss ich etwas unternehmen, sonst liegt bald mein eigener Kopf in der Schlinge und das will ja wohl keiner, oder?"
Noch bevor irgendjemand etwas sagen konnte, winkte Rince ab und lehnte sich wieder zurück.
"War nur rhetorisch... keine Antwort erwünscht. Noch weitere Vorschläge, was unternommen werden könnte?"
"Du meinst, außer dass alle SEALS, unterstützt von den FROG und RUM die Stadt durchkämmen, auf den Kopf stellen und wir mit dem Steckbrief auch noch die Bevölkerung aktivieren? Mal abgesehen von den ganzen Spuren, die es noch zu sichern gilt? Nein, ich denke nicht.", erklärte Irina sofort "Wobei die Steckbriefe mit Sicherheit nicht vor morgen Mittag fertig werden, zumindest nicht, wenn man etwas darauf erkennen können soll."
"Ich weiß, Leutnant.", erwiderte der Kommandeur. "Aber genau das ist es, was wir brauchen.. mehr Zeit."
"Vielleicht...", murmelte K Breguyar "Vielleicht auch nicht...!"
"Was soll das jetzt schon wieder heißen, Korporal?"
"Das weiß ich selber noch nicht so genau, aber wenn ich es weiß, wirst du es als erster erfahren... ääh... Sör."

Oberleutnant Knurblich bekam von dieser kleinen Unterhaltung nur Bruchstücke mit, denn ihr Zorn hatte ein neues Ziel gefunden: Reggie.
Sehr vorsichtig, um die Aufmerksamkeit der Anderen nicht durch die Bewegung auf sich zu lenken, fächerte sie den linken Vorhang leicht auseinander und wäre vor Schreck fast von der Fensterbank gefallen. Löcher, schnittmusterartige Löcher prangten in dem Stoff, den die Frau des Chefs sicher mit ziemlich viel Mühe zusammengenäht hatte. Deutlich waren Umrisse von Reggies Hose und noch viel schlimmer... von ihrem Halstuch zu erkennen.
Dieser schleimige...!
Verstohlen zerrte Venezia an dem Knoten des Tuches um ihren Hals, doch hatte die Gnomin ihn vorhin in der Eile viel zu fest gezogen, als dass sie ihn nun würde lösen können, ohne aufzufallen.
Sie musste hier raus.
Wie sagte Rascaal doch immer: Benimm dich überall, als würdest du dazugehören und tritt energisch auf... dann wirst du fast überall reinkommen. Zeige nie, dass du dir irgendeiner Schuld bewusst bist... und du kommst mit Vielem durch.
Mit diesen Worten im Kopf sprang sie von der Fensterbank auf einen Stuhl, von dort auf die hölzernen, abgenutzten Holzdielen und begann unten angekommen mit gebieterisch fuchtelnden Bewegungen erst auf sich und dann auf das Wetter hinter der Fensterscheibe aufmerksam zu machen.
"Schaut euch dieses Schneetreiben an!", rief sie und stellte mit großer Befriedigung fest, wie alle Anwesenden den Kopf zum Fenster wendeten, während sie rückwärts stetig weiter dem Ausgang zustrebte. "Schaute es euch gut an... im Schnee sieht man Spuren... so werden wir ihn erwischen... und genau auf diesen Moment werde ich mich jetzt vorbereiten gehen... ich empfehle mich!"
Hastig schob sie die massive Holztür das Kommandeursbüros hinter sich zu und atmete tief durch. Was für ein Auftritt!
'Das war knapp...zu knapp', dachte sie zornig, wandte sich um und sprintete, energisch am Knoten des Halstuches zerrend, durch den dunklen Flur des momentan verwaisten ersten Stockes des Wachhauses.

***


Finstere Rachepläne schwirrte der F.R.O.G.- Chefin durch den Kopf, als sie die nur angelehnte Tür zu Rascaals Büro und ihrer Wohnstätte mit einem wütenden Tritt öffnete... nur um zu erkennen, dass im Licht einer einzigen Kerze jemand einen Teil ihrer Rachepläne schon verwirklicht hatte.
Von Rascaals Balken hing Reggie, durch ein dünnes, augenscheinlich schmerzhaft fest sitzendes Seil zu einem handlichen Paket verschnürt und mir einem kleinen Stück Rote-Bete geknebelt.
"Aaaah, mein Liebling, mein Herzblatt, Traum meiner verstärkten Magenwände... und unförmiger Klumpen Fleisch, wenn ich mit dir fertig bin.", fauchte Venezia mit einem wölfischen Grinsen und wedelte verheißungsvoll mit dem Halstuch, welches sie sich auf dem Weg zum Büro wütend abgerissen hatte. "Wer auch immer dich da aufgehängt hat... ich sollte ihm ein extralanges Würstchen zukommen lassen, denn er hat mir eine Menge Arbeit erspart!"
Kaum waren diese Worte ausgesprochen, flammte ein Zündholz in einer bisher dunkel gebliebenen Ecke des Büros auf und enthüllte die Gestalt des Weihnachtsras.
"Ich ziehe es vor, mir mein Mahl zu erlegen,
doch davor wir haben noch was zu bereden.
'Ne wichtige Sache, die nicht mehr kann warten.
Wird Zeit, dass ICH anfang zu mischen die Karten!", gab dieser mit einem geübten Sinn für Theatralik von sich, entzündete eine rote Kerze in seiner anderen Hand und ließ das Zündholz dann achtlos auf den Fußboden fallen während er mit einer unheimlichen Anmut, die überhaupt nicht zu seinem Äußeren, passte durch den Raum schritt.
"Duuuuu...!", hauchte die Gnomin und ihrer Kehle entrang sich ein animalisches Knurren, als sie zum zweiten Mal innerhalb von 48 Stunden ihren Säbel vor dem Weihnachtsras blankzog und jeden Muskel im Körper zum Sprung spannte.
Blitzartig brachte der Vampir den letzten Schritt bis zu dem hängenden Rohrpostdämon hinter sich, hob den Arm und setzte ihm den scharfen Fingernagel seines bleichen, rechten Zeigefingers an die Kehle. Sofort verebbte jede Zappelei Reggies.
"Vielleicht willst du hören, was ich dir zu sagen,
bevor einen Angriff auf mich du wirst wagen!"
Olt Knurblichs Gedanken überschlugen sich. Hier stand er. Der Weihnachtsras mit seiner albernen weiss-roten Mütze und seinem verfilztem, schmutzigen Haaren. Hauptverdächtiger in zwei Mordfällen und bedrohte die Existenz des Dämonen, mit dem sie noch ein gewaltiges Hühnchen rupfen wollte... was hatte sie also zu verlieren?
"Schieß los, bevor ich es mir anders überlege!", knurrte sie und tänzelte leichtfüßig ein paar Schritte zur Seite, um notfalls einen besseren Angriffswinkel zu haben.
Mit einem flüchtigen Schmunzeln veränderte auch der Weihnachtsras den Winkel zwischen sich, der Gnomin und dem Dämonen, damit Venezia den Vorteil wieder nehmend.
"Ich brauch' deine Hilfe, um nicht zu verlieren
und halte dich an, dich nicht länger zu zieren.
Was mir vorgeworfen, ich nicht hab verbrochen.
Hab' niemand mit Nichts und schon gar nicht erstochen."
"Ich bin wirklich zu Tränen gerührt!", spottete Venezia und wechselte erneut die Position, was dieses Mal keinerlei Reaktion bei dem Eindringling hervorrief. "Kannst du mir auch nur einen Grund nennen, warum ich so einem heimtückischen und verlumpten Wrack glauben sollte?"
"Weil in seinen Armen du qualvoll gestorben
und weißt, dass sein Kater geht heimlich nachts morden.
Er kennt dein Geheimnis, dein wölfisch Getue.
Er steckt in mir drinnen und gibt niemals Ruhe.
Ich hasse den Burschen, verabscheu sein Wesen
Und ging es nach mir, wäre er nie gewesen!
Doch leider kann ich ohne ihn niemals leben.
Muss in seinem Namen nach Hilfe ich streben."
Olt Knurblich traute ihren Ohren nicht. In den paar Zeilen steckten zwei der bestgehütetsten Geheimnisse zwischen Rascaal und ihr. Also war der Weihnachtsras eins mit Rascaal Ohnedurst... und auch nicht, wie Araghast schon gesagt hatte. Doch während Rascaal offensichtlich nichts von dem wusste, was in ihm das ganze Jahr über schlummerte, schien die Gestalt in rot, die nun langsam die Fingernägel von Reggies Kehle nahm, auf die intimsten Geheimnisse das I.A.-Agenten zugreifen zu können. Zwei Vampire, in einem Körper gefangen. Beide auf ihre Art und Weise brandgefährlich und zu allem fähig, aber auch vollkommen unterschiedlich. Eine explosive Mischung.
"Wie kann ich sicher sein, dass es nicht nur ein Trick ist?"
"Der Hubert mein Freund war, genauso wie deiner.
Nur weil ich bin anders, der Schmerz wird nicht kleiner.
Wer immer der Täter, ich werde ihn kriegen.
Werd' mich um ihn kümmern, ihn tödlich besiegen!
Ich kann dich nicht bitten, für mich es zu machen.
Doch gehe ich unter, hat er nichts zu lachen.!", sagte der Weihnachtsras bestimmt und trat einen Schritt vor.
"Rascaal braucht jetzt Hilfe, von mir ganz zu schweigen,
braucht Informationen, um Sieger zu bleiben."
Bedächtig senkte Olt Knurblich ihren Gnomensäbel, in dem sich der Schein der Kerzen grell spiegelte und absurde Reflexionen an die halbdunkle Decke warf. Reggies flehentliche Blicke schienen sie förmlich zu durchbohren, während er offensichtlich mit dem Geschmack, den das Rote-Bete Stück in seinen Mund fließen ließ, zu kämpfen hatte.
"Ach Mistundverdammt, warum passiert so was immer mir?", machte die Gnomin ihrer Anspannung Luft und rammte ihren Gnomensäbel mit der Spitze in den Holzboden. "Woher hast du gewusst, dass ich diesen... Kerl... nicht über die Klinge springen lassen würde?"
Ein spöttisches Grinsen erschien auf dem Gesicht des Weihnachtsras, seine scharfen Eckzähne entblößend.
"Ach, vergiss die Frage lieber... ", seufzte Venezia und winkte ab. "Was willst du wissen?"
"Von dir erst mal garnichts. Ich will nichts riskieren.
Denn wenn etwas rauskommt, kannst du nur verlieren!
Ich hab' schon die Quelle, die mich wird versorgen.
Alleine den Boten, den kannst du mir borgen.
Du könntest ihn fragen, auf dich wird er hören.
Wenn nicht, darfst du ihn dann für mich gern betören."
"Ich soll was bitte mit wem machen?", fragte die Gnomin vollends verwirrt "Drück' dich gefälligst etwas deutlicher aus."
Wortlos trat der Weihnachtsras an den noch immer verschnürt vom Balken hängenden Reggie und gab ihm einen leichten Schubs, so dass sein Körper in eine ovalförmig schwingende Bewegung geriet, die dem Rohrpostdämon in Verbindung mit dem Geschmack und Geruch des Knollenstückes in seinem Mund zu einer ungesund grünen Gesichtsfarbe verhalf, die auf spontane Übelkeit schließen ließ.
"Uns' kleines Dämonchen als Bote soll springen.
Nun dachte ich mir, dass du könntest ihn zwingen.
Ihn zu überreden, ihm was zu versprechen...", enthüllte Vampir einen Teil seines Planes, beugte sich zu der Gnomin runter und flüsterte:
""Wenn's dir nicht gefällt, dann kannst du es ja brechen!"
Die Lippen nachdenklich geschürzt, schaute Venezia zu dem würgend im Halbdunkel pendelndem Dämonen empor, bevor sie ihren Säbel aus dem Fußboden zog und dem Weihnachtsras zuzwinkerte.
"Och, Reggie wird dir helfen, da mach' dir mal keine Sorgen!", versprach sie "Gib mir nur ein paar Minuten allein mit ihm."
Erwartungsvoll schnitt der Vampir den Rohrpostdämonen vom Balken und übergab ihn immer noch gefesselt der Gnomin, die ihn mit einer unwahrscheinlichen Genugtuung auf dem Fußboden hinter sich herzog und mit ihm in ihrem Fass verschwand.
Keine fünf Minuten später trat ein Reggie vor den Weihnachtsras, dessen Wangen wie von einem halben Dutzend Ohrfeigen gerötet waren, dessen Augen in einer wohlportionierten Mischung aus Angst und Lust glänzten... und der statt des modisch angefertigten Beinkleides jetzt eine ziemlich verschlissen ausschauende lange Unterhose trug.
"Was soll ich machen, du Stin... ich meine... Herr?", schnarrte Reggie ohne jede Begeisterung.
Nach einem Moment schadenfrohen Gekichers begann der Vampir zu erklären.

***


Innenhof der Wache: Kurz vor der Mittagspause
"Tote haben automatisch Tatortberechtigung? Was soll das denn nun schon wieder heißen?", fragte der Hauptgefreite Leopold von Leermach empört seinen Kollegen.
"Das bedeutet, dass gleich Mittag ist und ich keine Lust habe, sämtlichen Leichen, die auf dem Karren lagen, ihre schmierigen Fingerabdrücke abzunehmen. Weißt du, wie zeitraubend und unappetitlich das ist?", verteidigte sich der angesprochene Obergefreite Drachenflug und stieg von Haufen-Huberts inzwischen leerem Leichenkarren, der zur näheren Untersuchung in einem extra dafür abgesperrten und wegen des Schneefalls der vergangenen Nacht notdürftig mit einem Tuch überdachten Bereich des Innenhofs abgestellt worden war.
"Unappetitlich? Ich wusste nicht, dass so etwas für einen Werwolf maßgebend ist; eigentlich war ich immer der Meinung, dass ihr alles runterschlingen würdet, was nicht schnell genug auf die Bäume käme.", schoss Leopold gleichermaßen schlecht gelaunt zurück.
Seit gestern Nacht kamen die beiden Spurensicherer schon ohne nennenswerte Pause ihrer Arbeit pflichtgemäß nach und der Bericht, welchen sie sorgfältig mitschrieben wurde länger und länger.
Genervt fuhr sich Lupos durch seinen dichten Haarschopf und lauschte eine Sekunde lang dem Klang seines hungrig protestierenden Magens.
"Hör zu, Leo! Alles, was ich sagen will, ist: Lass uns nicht auch noch das Mittagessen in den Wind schießen, wenn wir fast fertig sind und der Täter sowieso schon feststeht.", erklärte er seinem Kollegen versöhnlich "Gib doch wenigstens zu, dass es herrlich ist, seit drei Jahren zum ersten Mal in dieser ganz speziellen Woche nicht drauf achten zu müssen, was man sich in den Mund steckt oder anfasst. Von mir aus können sie den Weihnachtsras jagen, fangen, einsperren und den Schlüssel einschmelzen."
"Mmmmmhmmmh...", murmelte der Angesprochene und überflog den eng beschriebenen Berichtsbogen.
"Außerdem ist heute Rohkost-Tag bei Hargar und auf den freue ich mich schon die ganze Woche. Fleisch, herrlich rotes, blutiges Fleisch, lecker mit rein garnichts gewürzt und einen Meter neben dem Grill leicht erwärmt.", schwärmte der Werwolf sehnsüchtig.
Nur ungern gestand Leo sich ein, dass der Obergefreite Drachenflug recht hatte. Das Einzige, was noch fehlte, war die Abnahme der Fingerabdrücke von den Leichen für den Vergleich mit den am Karren gefundenen und die lagen wohlverstaut im Kühlraum von S.U.S.I., und wie Lupos schon so treffend bemerkt hatte: Die Leichen waren wohl automatisch tatortberechtigt, und der Täter stand sowieso schon fest. Außerdem verspürte auch er einen schon seit einiger Zeit penetrant an seinem Nervenkostüm nagenden Hunger.
Das Problem war nur, dass sein Abteilungsleiter, Oberleutnant Pismire nichts von Verzögerungen in Form von Mittagessen hielt. Egal, aus welcher Art, Form, Farbe, Zustand, Temperatur oder sonst noch irgendwas die Mahlzeit bestand.
"Und wer von uns liefert den Bericht beim Chef ab und erklärt ihm, dass uns dein Rohkosttag wichtiger war, als Haufen-Huberts ehemaligen Kunden im Kühlhaus die Fingerabdrücke abzunehmen?", hakte Leopold nach, obwohl er an dem verhungert-träumerischen Blick des Werwolfs, der nicht einmal merkte, wie die feuchte Aussprache seines Kollegen auf ihn niederging, schon ablesen konnte, dass es an ihm hängen bleiben würde.
"Das kann ich übernehmen, Hauptgefreiter!", erklang die vertraute Stimme seines Zimmer- und Bettgenossen hinter dem Vampir, der herumfuhr und sich fast vor Schreck in eine Fledermaus verwandelt hätte.
"Robin... ääh... ich meine Chief-Korporal Picardo!", entfuhr es Leo, als er sah, in welchem Zustand sich sein Freund befand. Dominiert wurde dessen leichenblasses Gesicht von den dunklen, fast schon schwarzen Ringen unter den geröteten Augen, die tiefer in den Höhlen zu liegen schienen als es gesund war. Ein mausgrauer Umhang war eng um seinen Leib geschlungen, seinen Besitzer offensichtlich nur unzureichend gegen die ihn umgebene Kälte schützend. "Du siehst ja schrecklich aus!"
"Wenn du einen funktionierenden Stoffwechsel und nur eineinhalb Stunden Schlaf bekommen hättest, würdest du auch nicht anders aussehen, Hauptgefreiter von Leermach.", erklärte Robin und warf Leo einen sonderbar besorgten Blick zu, der diesem allerdings entging. "Immer mit der Ruhe, Obergefreiter Drachenflug, entspann dich!"
Das Kommando galt Leos Kollegen, der beim Auftauchen des höheren Dienstgrades sofort enthusiastisch angefangen hatte zu salutieren und keine Anstalten machte, damit aufzuhören.
"Wieder böse Träume?", fragte Leo leise, das schlechte Gewissen, weil er seinen Freund heute Nacht hatte allein lassen müssen, kaum verbergen könnend.
"Sowas ähnliches...", antwortete dieser mit unverhohlener Bitterkeit, fing sich jedoch sofort wieder und fuhr dann mit gespielt besserer Laune fort, auf das Papier in Leos Händen zeigend "Egal! Was ist nun mit dem Bericht? Soll ich ihn auf meinem Weg zum Kommandeur bei Olt Pismire vorbeibringen? So wie der Obergefreite Drachenflug aussieht und den bedrohlichen Geräuschen aus seiner Magengegend nach zu urteilen, ist er kaum noch dienstfähig."
"Vollkommen richtig, Sör! Ganz meine Meinung.", bestätigte Lupos mit einem siehst-du-ich-hab-es-dir-ja-gleich-gesagt-Blick in Richtung Leopold.
"Nun ja, Chief-Korporal Picardo, Sör, er ist aber noch nicht ganz vollständig.", gab der Vampir zu bedenken. "Die Fingerabdrücke von Haufen-Hubert und seinen Kunden fehlen noch."
"Die aber wohlbehütet in der Kühlkammer lagern und dort bestimmt auch während eines kleinen Mittagsschnäcks bleiben!", maulte Lupos erneut.
"Verdammt, Lupos, du weisst doch ganz genau, dass der Oberleutnant den Bericht so schnell wie möglich haben will, damit er weiss, wo er bei der Op-tuk-zion ansetzen muss...!", fauchte der Hauptgefreite Leo den anderen Spurensicherer an, der sich nach dem Wort Op-tuk-zion angewidert durch das Gesicht wischte.
"Dann schreibst du eben eine Fussnote unten drunter, dass die Fingerabdrücke der Tatortverdächtigen schnellstmöglich nach... nach... nach... der Sicherstellung der Dienstfähigkeit des untersuchenden Personals nachgeliefert werden.", schlug dieser vor "Bis der Oberleutnant herausgefunden hat, was damit gemeint ist, sind wir längst wieder da."
Fragend schaute Leo Chief-Korporal Picardo an, der aber nur gleichgültig mit den hängenden Schultern zuckte und dabei leicht das Gesicht verzog.
"Ach, was soll's...", gab er schliesslich nach, kritzelte freihändig ein paar kaum leserliche Zeilen unter den Bericht und setze seine Initialen drunter. "Hier, Sör, und sollte Oberleutant Pismire fragen, dann sind wir gerade neue Formulare holen."
Schmunzelnd nahm Robin den Bericht an sich und verstaute ihn behutsam unter dem Umhang.
"Konntet ihr wenigstens etwas finden, was uns weiterbringt?"
"Schwer zu sagen, Ro...poral Picardo. Haufenweise Fingerabdrücke, wobei Lupos und ich ziemlich sicher sind, dass sie nur von Haufen-Hubert und seinen Kunden stammen. Einen abgerissenen Handschuhfinger an einem vorstehenden Nagel der Seitenbretter, eine angebissene Rippe von Hargars Imbiss und die dazugehörige Tüte mit der restlichen Portion, ne Menge Haare, die aber wahrscheinlich auch nur von seinen Kunden stammten und eben... nun ja.. die angespitzte Knolle, die Hubert aus der Brust ragte."
"Nicht unbedingt viel für die ganze Zeit, die ihr investiert habt!"
"Eben, Sör, wenn ich so überlege, was wir in der ganzen Zeit für Mahlzeiten hätten einnehmen können..."
"Na, dann lasst euch von mir nicht weiter aufhalten, Herrschaften.", lächelte Robin müde, erwiederte den Salut der beiden Spurensicherer und betrat das Wachhaus, wo er den Weg zu Olt Pismires Büro ignorierte und statt dessen durch die Umkleide in das Bad stürzte.
Glücklicherweise hatte die Mittagspause gerade begonnen, was bedeutete, dass kein Wächter auf die Idee kommen würde, dorthin zu kommen, um heimlich eine kleine Extrapause einzulegen und es dementsprechend leer und verwaist in den Räumlichkeiten war.
Ausgelaugt warf Chief-Korporal Picardo mit schmerzverzerrtem Gesicht die Tür hinter sich zu, lehnte sich schwer atmend rücklings dagegen und fluchte leise, deswegen aber nicht weniger deftig. Die Müdigkeit begann übel an ihm zu nagen. Dabei war es gerade mal Mittag und es galt noch so viel zu erledigen.
Vorsichtig griff Robin unter sein Hemd und befühlte den Verband, den er notdürftig über die Ritzerei des Weihnachtsras gebunden hatte. Kein Blut. Dafür brannte die Wunde heisser als Feuer, und Korporal Picardo war sich fast sicher, dass sie wieder aufgebrochen war und sich entzünden würde. Doch jetzt hab es wichtigeres zu tun. Der Zufall in Form von Leo und Drachenflug hatte ihm zwar schon die Spurenakte in die Hände gespielt, doch sein eigentliches Ziel war viel grösser. Sein eigentliches Ziel war die vorläufige Abschrift der Fallakte, welche mit Sicherheit auf einem der Stapel unerledigter Papierarbeit auf dem Schreibtisch der Kommandeurs lag.
"Also weiter, Picardo!", feuerte Robin sich an, dachte kurz an Leo und das Todesversprechen des Weihnachtsras, welches geiergleich und unsichtbar über dem Kopf seines Freundes kreiste und verliess das Bad.

"Sör, gut, dass ich dich noch erwische!", rief der Chief-Korporal mit gespielt guter Laune die Treppe in den ersten Stock des Wachhauses empor, auf der ihm der Kommandeur der Stadtwache in einem seiner sowieso schon vollschlanken Körperlinie nicht sonderlich zuträglichen dicken Wintermantel entgegenkam.
"Was gibt es denn, Picardo?", verlangte dieser zu wissen und schlang einen nicht mehr allzu neu und verwaschen aussehenden königsblauen Schal in kompliziert anmutenden Bewegungen um seinen Hals. "Und mach es kurz, denn mein Tisch im achaten Imbiss wartet darauf, unter der Last der Köstlichkeiten, die ich bestellen werde, zusammenzubrechen."
"Natürlich, Sör.", begann Robin und atmete innerlich tief durch. Genau auf diese Umstand hatte er gehofft. "Ich wollte nur mit dir eben den Wochenbericht von D.O.G. über die Gildenaktivitäten durchgehen."
Rince seufzte.
Es war wie verhext. Nicht einmal ein einfaches, warmes, fünfgängiges Mittagsmenü schien ihm in dieser verfluchten Woche vergönnt zu sein. Reichte es denn nicht, dass sein Stellvertreter indirekt unter zweifachem Mordverdacht stand, sie in dem zum Himmel stinkenden Fall bisher kaum weitergekommen waren und ihm der Patrizier im Nacken sass? Offensichtlich nicht.
"Du siehst fertig aus, Chief-Korporal. Hauptmann Daemon nimm euch in der Boucherie Rouge wohl ziemlich hart ran, wie?", bemerkte der Kommandeur bei nährerer Betrachtung des zwei Stufen unter ihm stehenden Wächters.
"Nun ja, es ist viel zu tun.", log Robin und war dankbar dafür, zu müde zu sein, um rot anzulaufen. "Die Gilden schlafen nie, Sör!"
"Du anscheinend auch nicht, wenn ich dich so anschaue."
"Was ist mit dem Bericht, Sör?", hakte Chief-Korporal Picardo nach und ignorierte die letzte Bemerkung seines Chefs.
Dieser war hin- und hergerissen zwischen dem Wissen um die Notwendigkeit einer regelmässigen Berichterstattung, welche die Bedingung für den Umzug von D.O.G. in die Boucherie gewesen war, und seiner Gier nach der ersten warmen Mahlzeit dieser Woche.
"Ich könnte den Bericht natürlich auch einfach auf deinen Schreibtisch legen, selber eine längere Mittagspause einlegen und im Laufe des Nachmittags wiederkommen, um die Einzelheiten durchzusprechen, Sör!", schlug Robin unschuldig vor, das Brennen auf seiner Brust mühsam ignorierend.
"Ausgezeichnete Idee!", lobte Rince den Wächter überschwenglich, hatte er doch schon die vielen Kombinationsmöglichkeiten der Speisekarte vor Augen. "Guter Mann. Machen wir es so, Picardo. Mahlzeit!"
"Sehr wohl, Sör!'
Erleichtert schaute Robin dem für seine Verhältnisse davonstürmenden Kommandeur nach. Das war ja glatter gelaufen, als er es sich während der ganzen Stunden der Verzweiflung der letzten Nacht vorgestellt hatte. Nun zu dem pikanten Teil seines Planes.
Mit schnellem Schritt brachte er den Rest der Treppe hinter sich und strebte oben angekommen zielsicher auf die Tür des Kommandeurbüros zu. Ein letzter Blick über seine Schulter gab ihm Gewissheit, dass die Luft rein und keiner seiner Kollegen in Sichtweite war. Nie hätte Robin gedacht, das in ihn gesetzte Vertrauen so missbrauchen zu müssen, doch was für eine Wahl hatte er schon...
Unbeobachtet betrat er Rince Büro und schloss die Tür hinter sich mit dem praktischerweise steckenden Schlüssel ab.
Der stellvertretende Abteilungsleiter von D.O.G. wusste, dass er gegen die Uhr arbeitete. Olt Pismire würde sich bald wundern, wo denn sein Spurenbericht blieb, wenn im Hof niemand mehr Haufen-Huberts Karren untersuchte, und jede Minute in diesem Büro bestand sowieso nur aus geborgter Zeit. Glücklicherweise blieb ihm eine längere Suche nach der Fallakte "Weihnachtsras" erspart, da Rince anscheinend vor der Mittagspause an ihr gearbeitet und sie einladend offen neben den Tagesberichten der letzten Tresenschichten hatte liegen lassen.
Hastig setzte sich Chief-Korporal Picardo in den Sessel des Kommandeurs, stützte den Kopf schwer auf seine Hände und konzentrierte sich auf den Text vor ihm. Noch während der abgebrochenen Arztausbildung bei seinem Vater hatte sich sehr schnell gezeigt, dass Robin ein sehr talentierter Schnellleser war, dem es möglich war selbst enorm grosse Textmengen in geringster Zeit durchzuarbeiten und zu verinnerlichen. Einem immer schneller schwingendem Pendel gleich flogen seine Augen von links nach rechts und wieder zurück, sich Zeile für Zeile, Blatt für Blatt durch den Bericht fressend. Die Umgebung war in diesen Momenten nicht existent und seine Stirn von einem dünnen Schweissfilm bedeckt. Kein Geräusch drang in den Geist des Wächters vor. Es gab nur den Text.
Zwischendurch setzte Robin immer mal wieder kurz ab und fasste den Inhalt des Gelesenen präzise und detailgetreu in kurzen Sätzen zusammen. Selbst die Tagesberichte der Tresenschichten nahm er aus Angst, etwas Wichtiges vergessen zu haben, in seine Zusammenfassung auf.
"Aaaah... ", entfuhr ihm ein kurzes Stöhnen, als er danach auch noch den Spurenbericht auf die gleiche Art und Weise durchforstet hatte. Die Wörter hatte ihn wieder in die Realität entlassen und dort warteten die Schmerzen sowie die Müdigkeit auf ihn. Unfähig zu sagen, wie lange er hier gesessen hatte, hörte er jedoch sofort auf die kleine innere Stimme, die ihn ziemlich flegelhaft ankeifte, endlich seinen Hintern aus dem Büro zu bewegen. Rasch versuchte er alles wieder so zu arrangieren, wie er es vorgefunden hatte und legte dann den D.O.G.-Wochenbericht vorsichtig oben drauf.

Keine 10 Sekunden später war er ohne Zwischenfälle wieder auf dem Flur und fragte sich stumm und von Gewissensbissen zerfressen, womit ein so schlechter Freund und Kollege, so viel Glück verdient hatte.

***


Wachhaus am Pseudopolisplatz, etwa zur Kaffeepause:
Kleine, rote Augen sahen den Wächter, sahen jede seiner Bewegungen und fragten sich, warum sie sich auf diesen Schwachsinn eingelassen hatten. Dann schaltete sich das Gehirn ein und erinnerte die Augen an die Drohungen und Versprechen der Gnomin, welche sie so gerne beobachteten. Vor allen Dingen in der Uniform mit dem tiefen Ausschnitt. Als das Gehirn dann auch noch darauf hinwies, was die Gnomin gestern in dem Fass mit dem Dämonen gemacht hatte, sahen die Augen den Wächter gleich in einem ganz anderen Licht.
Reggie schob die Klappe vor dem Röhreneingang von innen zur Seite und steckte seinen Kopf mit dem von frischem Würstchenfett glänzenden und zum Pferdeschwanz gebundenen Haaren durch die Öffnung.
"Psssssssssst...", zischte der Dämon und entlud damit einen Speichelregen auf den Holzfußboden vor dem Loch.
Ruckartig blieb der Wächter in dem grauen Umhang stehen und schaute sich verwirrt um.
"Hey du!", wiederholte Reggie "Hier unten!"
"Wer, ich?", fragte Chief-Korporal Picardo und drehte sich zu dem Rohrpostdämon um.
"Psssssschhhhhhht!", mahnte dieser ihn, leise zu sein. "Jaaaaa, duuuu! Komm mal her!"
Ein Pokergesicht aufsetzend, beugte sich Robin runter.
"Was willst du, Reggie?"
"Nette Ringe unter den Augen, Klugscheißer.", grinste der Dämon und spuckte betont lässig auf den Boden. "Du solltest dir die Nächte nicht mit ungebetenem Besuch um die Ohren schlagen, mein Alter, so was macht 'nen schmalen Hals."
Äußerst befriedigt beobachtete Reggie, wie dem Wächter die Gesichtszüge entglitten und er den Atem scharf einzog.
"Hach, warum hat man nie einen Ikonografen, wenn man ihn braucht?", kicherte er vergnügt und hielt fordernd die Hand auf "Nun gib schon her, was du für mich hast."
Wortlos reichte ihm Chief-Korporal Picardo einige zusammengefaltete Blätter, die der Dämon hinter sich in die Röhre schob.
"Und nicht vergessen, die Fenster nachts zu schließen.", sagte Reggie, zwinkerte Robin spöttisch zu und sprang zurück in die Röhre. "Schöne Träumääääää...!"

***


Mittwärtige Wand des Wachhauses am Pseudopolisplatz, kurz nach dem Abend-Schnäck:
Diesen Teil seines Auftrags fand Reggie im Gegensatz zu der Begegnung mit dem Chief-Korporal heute Nachmittag alles andere als lustig. Ganz im Gegenteil. Es gab nur wenige Dinge, bei denen dem Dämonen mulmig zumute war, doch dies gehörte definitiv dazu.
Seit 30 Minuten hockte er fast regungslos in dem geöffneten Loch in der Außenwand des Wachhauses, welches den drei Rohrpostdämonen eigentlich zur Entsorgung der verbrauchten Wurstpellen, mit denen sie ihre Röhren einfetteten, und ähnlichem Unrat diente.
"Nun komm' schon, du verdammtes Drecksstück! Bringen wir es hinter uns !", murmelte Reggie und zog nervös an seiner recht unförmig gedrehten Zigarette. Der rauchförmige Geruch getrockneter Wurstpellen hüllte ihn ein, bevor er sich grünlich schimmernd in die sternenklare Nacht verflüchtete. Dann stieß sich der Dämon kraftvoll vom Rand des Loches ab und landete 30 cm tiefer auf dem vom getauten Schnee durchnässten und von Zigarettenstummeln übersäten Kopfsteinpflaster.
"Der Mist ist die ganze Sache echt nicht wert.", schimpfte er leise und zündete sich mit der alten Zigarette eine Neue an. "Soviel kann mir das Püppchen gar nicht versprechen."
Ein kehliges Knurren hinter ihm riss den Dämonen aus seinen Selbstgesprächen. Erschrocken ließ Reggie beide Zigaretten fallen und dreht sich so hastig um, dass der eigene Schwung in fast von den Beinen gerissen hätte... nur um sich Auge in Auge mit Hauptmann Ohnedursts Kater No-Name wiederzufinden.
Langsam und bedächtig zwei Schritte zurückweichend, hob der Dämon beschwichtigend seine muskelbepackten Arme.
"Feine Mieze, gaaaaaanz feine Mieze! Süßer, kleiner Puschel!", stammelte er und wünschte sich, nie von diesem stinkenden Knollenfresser und seinem vierpfotigen Monster gehört zu haben. Reggie hasste den schmutzig-weissen Kater, der mit den bis an die Schultern schwarzen Läufen aussah, als würde er Lederstiefel tragen. "Onkel Reggie hat leider kein Happa für dich!"
Die Tonlage des Knurrens verändernd, neigte No-Name den Kopf zur Seite und starrte Reggie auffordernd mit seinen bernsteinfarbenen Augen an. Genaugenommen waren sie es, vor denen der Dämon sich fürchtete, denn im Blick des Katers lag etwas, das dort nicht hineingehörte, etwas Kaltes und Grausames, ein stummes Versprechen und Urteil zugleich, welches Reggie einen Schauer über den Rücken fahren ließ.
Energisch riss er sich von No-Names hypnotischem Blick los und kletterte eiligst zu dem Loch in der Wand empor, aus dem er einen ordentlich gefalteten Stapel Papier und ein Stück Schnur holte, bevor er wieder hinuntersprang. Sorgfältig verschnürte der Dämon die Blätter zu einem handlichen Paket und trat widerwillig zu No-Name.
"Hör zu, liebstes Katerlein, wenn du mich frisst, dann wird dein Herrchen ziemlich böse.", erklärte der Dämon in seinem freundlichsten Tonfall "Und das wollen wir doch beide nicht, oder?"
Obwohl das Tier keine Anstalten machte, sich zu wehren, als Reggie die Schnur über seinen Nacken warf und sie ihm zusammen mit dem Paket um den Hals band, ließ es das kleine Männchen keine Sekunde lang aus den Augen. Kaum, dass der Dämon den letzten Knoten festgezurrt hatte, sprang er eiligst tänzelnd ein paar Schritte zurück, um sich aus No-Names unmittelbarer Reichweite zu bringen.
"So, das war's. Du kannst wieder verschwinden. Mach schon, hau ab.", rief Reggie dem Kater mit schriller Stimme zu und fuchtelte mit den Armen. "Geh wieder zu diesem stinkenden Verrückten... ihr Beiden passt gut zusammen."
No-Name zog die Oberlippe zurück und entblößte seine unnatürlich weißen Zähne. Bei jedem anderen Kater hätte man gesagt, dass er die Zähne bleckte, doch Reggie war sich sicher, bei diesem Tier mit einem Grinsen konfrontiert zu werden, dem es an diabolischer Hinterhältigkeit und grausamen Vergnügen nicht mangelte. Mit einem Mal wusste der Dämon, wie einer Maus zumute sein musste, wenn sie sich plötzlich ihrem hungrigen Todfeind gegenübersah, der sie als Abendessen auserkoren hatte.
Ansatzlos schoss No-Name mit einem gewaltigen Satz auf ihn zu und noch während des Sprunges erkannte Reggie in dem aufgerissenen Maul, was an dem Kater anders war, was nicht passte. Es waren die übermäßig langen Reißzähne, welche das Gebiss dominierten und seine wahre Natur enthüllten. No-Name war ein Vampir... nur eben in Katzenform, was in dieser Situation für Reggie absolut keinen Trost darstellte.
"AAAAARRRRGGHH!!!", explodierte ein Schrei aus seiner Kehle, als ihn die Wucht, mit welcher der Kater gegen ihn prallte, ihn in die muffige Luft hob und den kleinen Körper mit spielender Leichtigkeit in einen Haufen vertrockneter Wurstpellen schleuderte, die der Wind an einem vorstehenden Mauerstein aufgehäuft hatte. In Erwartung rasiermesserscharfer Zähne, die sich in seinen Leib bohren, rollte sich Reggie zu einer Kugel zusammen, um so ein möglichst kleines Ziel zu bieten... doch nichts geschah.
Vorsichtig öffnete seine Augen und spähte durch seine verschwitzte Armbeuge in die Richtung, aus der er den Angriff erwartete. Nichts. Rein gar nichts, außer den Resten der zahlreichen Zigaretten, die der Dämon während der Wartezeit inhaliert hatte und verlassenen Lümmelstrasse.
Mühsam stemmte sich Reggie wieder hoch, als er sicher war, dass No-Name tatsächlich nur ein grausames Spiel mit ihm gespielt hatte und lachte erleichtert auf... bis er entsetzt bemerkte, dass er wohl schon wieder die Hose würde wechseln müssen.

Tag 5

Der trügerische Schein der Wahrheit


Nachdenklich schnalzte Olt Pismire rhythmisch mit der Zunge, was für seine Untergebenen nervtötend und warnend zugleich war. Niemand war bisher in der Lage gewesen, diese Angewohnheit der sich penetrant wiederholenden Abfolge seiner Zungenakrobatik irgendeinem bekannten Lied zuzuordnen, obwohl jeder meinte, es zu kennen. Alles hatte man versucht. Vom Gesang der Priester in den zahlreichen Tempeln der verschiedensten Gottheiten bis hin zum würgend gelallten Trinklied in der Geflickten Trommel. Nichts passte.
Eines jedoch wusste jeder, der mit dem früheren Bewohner des Teppichs vor Rince' Schreibtisch und heutigem Abteilungsleiter von S.U.S.I. zusammenarbeitete: Das Geschnalze bedeutete, dass Olt Pismire etwas äußerst seltsam vorkam... und gewaltig stank.
Auch dem Gefreiten Jack Narrator war das sonnenklar, und am liebsten hätte er sich in das Loch gestürzt, welches sich hoffentlich in den nächsten Sekunden vor ihm auftun würde. Zu genau haftete ihm die Standpauke im Gedächtnis, die er hatte über sich ergehen lassen müssen, als er in dem Glauben, das Richtige zu tun, den Dienstweg abgekürzt und den pathologischen Bericht über den Gefreiten Shorty direkt an den ermittlungsleitenden Offizier weitergeleitet... und damit gegen eine der wichtigsten Direktiven der Abteilung verstoßen hatte, nämlich, dass ausnahmslos ALLE gerichtsmedizinischen Berichte über Olt. Pismires Schreibtisch zu gehen hatten.
Nun schnalzte sein Chef schon wieder... und er stand dicht neben ihm. Das Objekt von Pismires Unmut lag dieses Mal jedoch nackt ausgestreckt auf dem in Länge und Breite ausziehbaren Spezialtisch der gerichtsmedizinischen Abteilung in einem Schuppen im Innenhof des Wachhauses.
"Irgendetwas stinkt hier gewaltig!", murmelte der Oberleutnant und beugte sich vor, um Haufen-Huberts Leiche einer weiteren Untersuchung zu unterziehen.
"Nun ja, Sör, wie wir ja anhand der Probe des Mageninhalts wissen, hatte Hubert einige von Hargars Rippen als letzte Mahlzeit.", spekulierte der Gefreite Narrator und hoffte innigst, den Kern der Sache damit auf Anhieb zu treffen. "Und da der Oberleutnant darauf bestand, die Hauptuntersuchung selber durchzuführen und mir nur die Todeszeitbestimmung überliess, hab' ich die Magenwand und Bauchdecke nur notdürftig wieder geschlossen... und wir wissen ja beide, wie Hargars... nun... Essen... nach mehr als 14 Stunden rie.."
"Das meine ich nicht, Narrator!", schnitt ihm Pismire das Wort ab, obwohl der Geruch in dem kleinen Raum wirklich alles andere als blumig war. Natürlich war Kommandeur Rince alles andere, als erfreut über die Verzögerung der endgültigen Autopsie, doch war es ihm letztenendes wichtiger gewesen, dass sein bester Gerichtsmediziner sich der Sache annahm.
"Sör?", fragte Jack irritiert, erntete aber nur das rhytmische Geschnalze als Antwort.
Olt Pismire schloss den Gefreiten vorrübergehend aus seiner Wahrnehmung aus und konzentrierte sich auf die Leiche vor ihm. Systematisch hatte er Hubert auf Verletzungen ausser der offensichtlichen Wunde in der Brust untersucht, war allerdings ausser einer Schürfwunde am Hinterkopf nicht weiter fündig geworden und wandte sich nun der Hauptverletzung zu.
Noch immer hatte er Schwierigkeiten zu akzeptieren, dass Haufen-Hubert, einer der wirklich alten Freunde der Wache, ein Mann, mit dem man einen Heidenspass haben konnte, der aber auch unbarmherzig zupacken konnte, wenn es darauf ankam, tot sein sollte. Doch der blasse und leblose Körper vor ihm schloss jede andere Möglichkeit aus.
Äusserst vorsichtig zog er den dünnen Metallstab mit der filigran eingestanzten Einteilung wieder aus der Wunde und betrachtete mit skeptischem Blick das Blut, mit welchem der Stab bis knapp über die 15 cm Marke beschmiert war.
"Wo ist die Tatwaffe?", verlangte Pismire zu wissen.
"Drüben bei den Spurensicherern, Sör!"
"Dann beweg dich rüber und frag, wie weit sie damit sind. Sag Korporal Sillybos und seinen Leuten, sie sollen einen Zacken zulegen.", befahl der Oberleutnant "Ich brauch das Teil hier!"
Der Gefreite Narrator nickte stumm, deutete flüchtig einen Salut an und verschwand eiligst durch die hinter ihm liegende Tür. Davon jedoch bekam Pismire schon gar nichts mehr mit, denn der Abteilungsleiter hatte die an einem langen Metallarm mit diversen Gelenken befestigte Petroleumlampe näher zu sich gezogen und war viel zu sehr damit beschäftigt, unter ständigem Schnalzen die Wundränder zu analysieren.
"Na komm schon, Hubert, hilf mir... was ist wirklich passiert?", murmelte er "Sag es dem alten Pismire, Kumpel."

"Das kann unmöglich stimmen, Narrator!", bemerkte der Oberleutnant scharf und ohne jeden Humor.
"Doch, Sör, das ist die am Tatort, genauer gesagt im Opfer sichergestellte Tatwaffe. Leider sind keinerlei Spuren am Griff zu finden.", erklärte der Gefreite zerknirscht und fragte sich, was er nun schon wieder falsch gemacht hatte.
Vor den beiden Wächtern der Abteilung S.U.S.I. lag auf einer seitlichen Verlängerung des Tisches eine mittelgrosse, etwas länglich gewachsene Knolle, deren oberes Drittel vollkommen normal aussah. Die unteren Beiden jedoch schienen mit viel Mühe und Aufwand wahrscheinlich durch Verwendung einer Drehbank zu einem äusserst spitz zulaufenden Dorn gearbeitet worden zu sein, der dem ganzen Gewächs das Aussehens eines Rundkopfnagels gab.
Wie durch Zauberhand hatte Pismire plötzlich ein Massband zur Hand und vermass das vor ihm liegende Objekt von allen Seiten, sorgsam darauf achtend, es selbst mit den behandschuhten Fingern nicht zu berühren. Des Oberleutnants Verstand arbeitete auf Hochtouren. Sämtliche Details des Spurenberichts der OG Drachenflug und von Leermach huschten vor seinem geistigen Auge vorbei, bis er die Information fand, die er brauchte und den Rest ausblendete. Der frühere Schamane war zu recht stolz auf sein Gedächtnis und seine analytischen Fähigkeiten.
"Gefreiter Narrator, ich will sofort den Hauptgefreiten von Leermach hier sehen... mit Russpulver und einem Ikonografen bewaffnet.", ordnete er an und ging an eine kleine, mit geschnitzten Verzierungen in Form der verschiedensten pathologischen Instrumente versehenen Kommode an der gegenüberliegenden Wand, aus deren oberster Schublade er Schreibuntensilien holte und zu dem für immer verstummten Haufen-Hubert zurückkehrte. Dort angekommen begann Pismire mit ruhiger und geübter Federführung einige Sachverhalte in einfachen Skizzen festzuhalten, von denen er annahm, dass er sie sehr bald brauchen würde.
Keine fünf Minuten später kehrte Jack, der sich inzwischen fragte, ob er am heutigen Tag wohl Kilometergeld bekommen würde, ein wenig ausser Atem und nicht ganz so wenig schwitzend mit Leo im Schlepptau in den Arbeitsraum der Gerichtsmediziner zurück.
"Ah, sehr schön, Herrschaften. Immer herein!", bemerkte der Oberleutnant konzentriert, als er vom Klappen der Tür alarmiert den Kopf hob. " Hauptgefreiter von Leermach, ich möchte, dass du den Griff der angeblichen Tatwaffe mit Russpulver bestäubst und deinen Ikonografen bereithälst."
"Sör, bei allem Respekt, wir haben die Oberfläche des Griffes gründlich untesucht und nichts gefunden.", gab der Angesprochene so taktvoll wie möglich zu bedenken und schaffte es, den Speichelflug auf ein Minimum zu beschränken.
Vorsichtig griff Pismire die Tatwaffe mit einer flachen Zange, hielt sie hoch und deutete mit dem Bleistift in der anderen Hand auf die pilzförmigen Kopf der Waffe, aus deren Boden der schlanke Dorn herausragte.
"Überleg dir mal, wie du dieses seltsame Ding anfassen würdest, um es sinnvoll einsetzen zu können.", forderte er seinen Untergebenen auf und beobachtete, wie sich dessen Stirn in Denkfalten legte. "Narrator, schnapp' dir jemanden, geh zur Kühlkammer und bring Shorty her. Dann gehst du nochmal ins Labor und besorgst die dazugehörige Tatwaffe. Beides will ich in 10 Minuten dort drüben auf dem Nebentisch sehen... Bewegung!"
Eine schallende Ohrfeige hätte den Gefreiten nicht härter treffen können, als diese erneute Laufarbeit. Schließlich war er Gerichtsmediziner geworden, um gemütlich an einem der blankpolierten Metalltische zu stehen und nicht, um Leistungssport zu betreiben. Fluchend verschwand er.
"So, von Leermach, und jetzt stäub den Griff ein... und zwar die Unterseite."
"Die... Unter..., Sör, dann müsste doch aber auf der Oberseite auch...!"
"Nicht unbedingt, Obergefreiter, und nun mach schon."
Schulterzuckend zückte der Vampir einen Pinsel aus seinem Umhang und hakte einen kleinen, braunen Lederbeutel vom Gürtel los, auf dem in roten Buchstaben SUSI eingeprägt worden war. Mit äußerster Sorgfalt rückte der Spurensicherer dann unter den wachsamen und gespannten Augen seines Chefs die Knollenwaffe zurecht, tauchte den Pinsel in den Russ und tupfte ihn vorsichtig auf die angegebene Stelle.
"Ich glaub, mein Blut wird flockig... das gibt es nicht.", entfuhr es Leo, als er tatsächlich den schwach erkennbaren Abdruck der Spitze eines Mittelfingers entdeckte.
"Keine Zeit verlieren..", riet Olt Pismire mit grimmiger Befriedigung und schob das Lampengestell näher heran "... mach die Ikonografie."
Gehorsam legte Leo das Säckchensamt des Pinsels auf den Tisch und hob den Ikonografen direkt vor die verrußten Linien auf der Knolle. Knappe zwei Minuten später lag das Ergebnis neben der Tatwaffe auf dem Tisch, während beide Wächter fassungslos draufstarrten.
"Du musst einen Fehler gemacht haben, Hauptgefreiter."
"Bei einer Ikonografie? Was soll man da schon falsch machen?", begehrte Leo mit verletztem Stolz auf und benetzte seinen Vorgesetzten mit einem feinen Speichelregen. "Du hältst den Kasten auf das Motiv, bevorzugterweise richtig herum und so ruhig wie möglich, hoffst, dass der Dämon gefüttert worden ist und genug Farbe auf der Palette hat... und drückst ab."
Widerwillig musste der Oberleutnant dem Vampir recht geben, befahl ihm aber trotzdem, die ganze Prozedur noch einmal zu wiederholen. Weitere zwei Minuten vergingen, doch wie schon bei dem ersten Bild war zwar die Unterseite des Griffes deutlich zu erkennen, aber dort, wo die Augen der beiden Wächter die feinen Linien des Fingerabdrucks sahen, war auf der Ikonografie weiterhin nur das Rot der Knolle zu erkennen.
Unwirsch riss Olt Pismire den Deckel des Ikonografen auf.
"Sag mal, hast du Würstchen auf den Augen, kleiner Mann?", schnauzte er den roten Dämon in dem Kasten unbeherrscht an.
"Hey, was willst du? Ich kann nur zeichnen, was ich sehe und wenn du nicht willst, dass ich dir den Finger abbeiße, dann mach meinen Kasten wieder zu!", fuhr ihn das Wesen mit piepsiger Stimme an.
"Sör!", kam die alarmierende Stimme des Vampirs von der anderen Seite des Tisches und der aufschauende Pismire sah sofort, was dieser meinte. Die Linien verschwanden. Langsam zwar, doch stetig.
"Bei allen Webknoten!", fluchte der Abteilungsleiter von S.U.S.I., griff reflexartig zu Schreibblock und Stift und fing an, die wichtigsten Merkmale des Abdruckes in einer talentierten Skizze festzuhalten.
Noch einmal zwei Minuten später war der Fingerabdruck verschwunden und ließ sich auch nicht durch erneute Rußbestäubung wieder hervorzaubern.
"Verdammter Knollensaft! Gegen den ist einfach kein Kraut gewachsen. Wahrscheinlich hat es irgendeine Art von Reaktion in Verbindung mit dem Russ gegeben.", ärgerte sich der Oberleutnant und betrachtete das Papier in seiner Hand "Aber vielleicht kann ich damit auch schon etwas anfangen..."
"... aber leider nichts beweisen!", murmelte Leo, als die Tür aufgestoßen wurde und der Gefreite Narrator zusammen mit einem weiteren Wächter Shortys Leiche hereintrug.

***


Kommandeursbüro, während der für einige Abteilungsleiter gestrichenen Mittagspause:
"So, Pismire... und nun erzähl ihnen, was du mir vorhin gesagt hast.", wies Kommandeur Rince den neben seinem in einem Chaos aus Notizen, Skizzen und Susi-Beweistüten versinkenden Schreibtisch stehenden Oberleutnant an und schwenkte seinen Arm präsentierend durch die Runde.
"Warten wir denn nicht auf Daemon und Humph?", fragte die auf K Breguyars Schulter sitzende Venezia, welche von der offensichtlichen Freude und energiegeladenen Entschlossenheit des Mannes hinter dem Schreibtisch etwas verwirrt, jedoch auch erleichtert über die Tatsache war, dass sie daran gedacht hatte, ihr Halstuch abzunehmen, von dem sie sich doch nicht hatte trennen können.
"Nein, denn ich habe sie nicht hergebeten!", antwortete dieser lapidar.
"Öhm, darf man auch erfahren, warum?", wagte sich Lt Lanfear auf das schwierige Terrain, ihrem Chef Informationen zu entlocken.
"Nein, darf man nicht... noch nicht.", würgte Rince den Versuch ab, griff zu der Holzscheibe mit der Nachbildung Ankh-Morpork darauf und fing an, die Kugeln rollen zu lassen. Die vor dem Schreibtisch sitzenden Abteilungsleiter von FROG, RUM und SEALS, sowie K Breguyar sahen sich verunsichert an. "Und nun fang an, Pismire."
Sofort richteten sich alle Blicke erwartungsvoll auf den früheren Schamanen, der sich äußerst theatralisch räusperte, die Nase schnäuzte und die Aufmerksamkeit sichtlich genoss.
"Hauptmann Ohnedursts Offiziersdolch, als auch die zu einem Dolch gedrechselte Rote-Bete...", begann der Oberleutnant seine Erklärungen und hielt beide Gegenstände hoch. "waren nicht, ich wiederhole NICHT, die Mordwaffen."
"Wie bitte?", platzte es aus Atera heraus "Was willst du damit sagen?"
Allgemeines Gemurmel war die Folge, als jeder der Anwesenden versuchte, seine Meinung und Vermutung zu dieser Entwicklung gleichzeitig zu äußern. Nur K Breguyar blieb still, ignorierte den Lärm um sie herum, zog sich in seine Gedanken zurück und versuchte Pismires Ausführungen in die eigenen Theorien einzuflechten.
"Leute, Leute... kriegt euch wieder ein! Unser lieber Pismire hat noch viel mehr zu erzählen, aber ihr müsst ihn schon zu Wort kommen lassen!", fuhr Rince dazwischen, wohlweißlich verschweigend, dass seine Reaktion auf den Bericht wesentlich heftiger ausgefallen war, infolge welcher er sich den Kaffee über die delikateste Stelle seiner Hose geschüttet hatte. Keinesfalls würde er aufstehen. Nicht, solange noch jemand im Raum war.
"Danke Chef!", fuhr Pismire fort, nachdem eine Art von lauernder Ruhe eingekehrt war, "wie ich schon sagte: dies sind nicht die Waffen, die zum Tod von Shorty und Haufen-Hubert geführt haben."
"Kannst du das beweisen?", hakte Venezia nach.
"Aber natürlich, Veni. Fangen wir bei den Wundrändern an: Nach neuesten Erkenntnissen lässt die Form und Beschaffenheit der Wundränder Rückschlüsse auf die Waffe zu, mit der die Wunde beigebracht wurde. In den beiden vorliegenden Mordfällen sind die Wundränder jeweils in sieben und ein gleichmäßiges Segment gerissen worden. Weder der Offiziers-, noch der Knollendolch können diese Art von Verletzung verursacht haben... die Rote-Bete ist zu rund gedrechselt und der Dolch hat nur zwei Schneiden. Darüber hinaus ist Haufen-Huberts Wunde bei Weitem zu tief, als dass die Knolle Schuld gewesen sein kann. Das bedeutet zweifellos: jemand hat die beiden Waffen nachträglich in die Wunden eingeführt, die vorher von etwas anderem verursacht worden waren, wahrscheinlich von einem Armbrustbolzen oder Ähnlichem. Das würde sowohl die Tiefe der Wunde erklären als auch die kleine Schürfwunde am Hinterkopf, die ich bei Haufen-Hubert gefunden habe. Die meisten Wesen, die aus nächster Nähe von so einem Geschoss getroffen werden, wirft die Wucht nach hinten um."
Schon länger hatte Atera nicht mehr so einen Drang verspürt, einen Knieweich zu trinken, oder zwei. Eine Flasche wäre auch nicht schlecht.
"Und das bedeutet, dass Hauptmann Ohnedurst nicht der Täter ist?", hakte sie nach, um ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken.
"Das habe ich nicht gesagt, Atera!", antwortete Pismire, ganz im Feuereifer der Erklärungen gefangen, und zwinkerte der SEALS-Chefin amüsiert zu. Eine Geste, die äußerst ungewöhnlich für den Oberleutnant war und die anwesenden Offiziere erstaunt die Augenbrauen heben ließ. "Aber ich bin auch noch nicht fertig."
"Dann mach es nicht so spannend, Mensch.", maulte Venezia, fischte eine Tüte aus ihrer Uniform, der sie ein halbes Würstchen entnahm und enthusiastisch begann, darauf herumzubeißen.
"Was haben wir also?", fuhr Pismire fort und war widerwillig fasziniert von dem Fett, welches in unregelmäßigen Abständen auf die Schulter des in Gedanken versunkenen K Breguyar tropfte. "Den Gefreiten Shorty, Anfang der Woche um 04:00 morgens ermordet. Haufen-Hubert: vorgestern in der Nähe der sogenannten Halbschattenroute ermordet, von der die Mannschaftsgrade noch immer denken, wir wüssten nicht, was das bedeutet. Todeszeit gegen 17:30 Uhr. Der springende Punkt ist allerdings etwas ganz anderes..."
"Halt, halt, halt... Brrrrr... Auszeit!" ertönte Venezias verwunderte und durch das Würstchen in ihrem Mund leicht undeutliche Stimme. "Sag das noch mal!"
"Olt Knurblich, würdest du Pismire jetzt BITTE weiter erklären lassen?", versuchte Rince die Gnomin zum Schweigen zu bringen und schaute streng von dem Kugelspiel auf.
"Wiederhol' es bitte, Pismire. Das, was du als letztes sagtest.", bestand diese auf ihre Forderung.
"Dass der springende Punkt etwas anderes ist?", verlangte der augenscheinlich nun selber verwirrte Abteilungsleiter von S.U.S.I. zu wissen.
"Nein, die Todeszeit. Haufen-Huberts."
"Öööööhm... Tod etwa gegen 17:30 eingetreten. Plusminus 15 Minuten.", wiederholte Pismire nach einem kurzen Blick in ihre Notizen.
"Das ist vollkommen unmöglich!"
"Hör zu, Venezia: Ich glaube, ich bin durchaus in der Lage..."
"Das meinte ich nicht, Pismire. Ich... äääh,", zögerte die Gnomin "...wenn das Huberts Todeszeit ist, dann kann es unmöglich der Weihnachtsras gewesen sein."
Vorsichtig, um ja keine der schon versenkten Kugeln wieder aus den Löchern zu holen, legte Kommandeur Rince das Ankh-Morpork-Spiel auf den Schreibtisch, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor die Brust.
"Und was, wenn ich mal so ganz bescheiden fragen darf, macht dich da so unglaublich sicher?", erkundigte er sich dann in einem Tonfall, der Wasser zu Eis hätte gefrieren lassen können.
"Ich ääh.. nun ja.", begann Olt Knurblich und legt das halbe Würstchen in perfekter Balance auf die Schulter des jetzt auch wieder aufmerksam zuhörenden Araghast. "Mein äußerst talentierter FROG-Püschologe hatte mit seiner Behauptung recht, dass der Weihnachtsras die meisten vampirischen Eigenschaften verkörpert, die Rascaal gerne beiseite schiebt, unterdrückt und verabscheut. Ich hatte letztes Jahr nach der Weihnachtsraswoche eine längere Unterhaltung mit Haufen-Hubert, der, wie er mir sagte, sich regelmäßig mit dem Weihnachtsras zu einer Art Gedankenaustausch getroffen hatte. Was genau er damit meinte, weiß ich leider auch nicht und bin nicht sicher, ob ich es überhaupt will. Deswegen war ich auch so fassungslos, als Hubert mit einer Knolle in der Brust gefunden wurde... wie dem auch sei... worauf ich hinauswollte: der Weihnachtsras weiß nichts von der Existenz der Sonnenschutzcreme, die den Vampiren der Wache streng kontrolliert zur Verfügung gestellt wird... und die Sonne geht erst gegen 19:00 Uhr unter.
"Bist du dir da sicher?", überwand Irina als Erste ihre Sprachlosigkeit.
"Haufen-Hubert war es!", antwortete die Gnomin und schaute ihrer Kollegin direkt in die Augen "Außerdem stellt euch mal folgende Frage: ist der Weihnachtsras auch nur einmal tagsüber gesehen worden und wenn auch nur gerüchteweise?"
Rince und Pismire wechselten einen bedeutungsschwangeren Blick.
"Ihr wisst schon, dass es Rascaal nicht gewesen ist, oder?", spekulierte Atera anklagend und funkelte den SUSI-Chef an, der daraufhin die Lippen schürzte.
"Lass es mich so ausdrücken: Venezias Informationen würden passen... denn wir haben einen Fingerabdruck.", berichtete dieser "Oder besser gesagt... wir hatten ihn."
"Was, zum Donnerwetter, soll das denn nun schon wieder heißen?", erkundigte sich Lt. Lanfear erbost und stand auf "Ihr HATTET ihn? Wie, bei allen Göttern, kann man denn einen Fingerabdruck verlieren?"
"Im Spurenbericht über Huberts Karren steht, dass die untersuchenden Spurensicherer an einem vorstehenden Nagel an einem der Seitenbretter die abgerissene Spitze eines gestrickten Handschuhfingers gefunden haben... eines Mittelfingers, um genau zu sein. Als ich dann die Sache mit den Wundrändern entdeckte und die angebliche Mordwaffe im Fall Haufen-Hubert vor mir hatte, da fragte ich mich, wie jemand die Knolle wohl hätte anfassen müssen, um sie tief in die Wunde versenken zu können. Gleichzeitig ging ich davon aus, dass derjenige den Verlust der Handschuhspitze im Eifer des Gefechts vielleicht gar nicht bemerkt hat.", führte Pismire aus und legte die Hand auf den Griff des Knollendolches, um das Gesagte zu veranschaulichen. "Um die Knolle richtig anfassen zu können, muss man den regenschirmförmigen Griff von oben umfassen... ergo, mit den Fingerspitzen UNTER den Schirm gehen."
Anerkennend nickte Irina und setzte sich wieder.
"Das erklärt, wie du zu dem Abdruck kamst, aber nicht, wie du ihn verloren hast."
"Tja,", seufzte Pismire und warf Rince einen kurzen Seitenblick zu. "Irgendwie verstehe ich es selbst nicht so ganz. Der Abdruck wurde mit Rußpulver bestäubt und dann haben wir ihn ikonografiert... nur dass der Abdruck seltsamerweise auf den Bildern nicht zu erkennen war und noch während der Obergefreite von Leermach und ich uns mit dem Problem beschäftigten, muss es zu einer chämischähn Reaktion des Rußpulvers mit dem plötzlich austretenden Knollensaft gekommen sein und binnen Minuten war der Abdruck verschwunden."
"Glücklicherweise war unser Oberleutnant so umsichtig, sofort eine recht gut gelungene Skizze des Fingerabdruckes zu machen.", schaltete sich Rince in das Gespräch ein.
"Na toll.", schnarrte Atera und zog demonstrativ die Nähte an ihrem rechten Handgelenk fester. "Dann haben wir ja jetzt einen Fingerabdruck, von dem wir nicht beweisen können, dass er je existiert hat und die Aussage über den Weihnachtsras von einem Toten, der sie nicht mehr bezeugen kann. Was glaubt ihr wohl, was passiert, wenn wir damit zum Patrizier gehen? Der würde erst in seiner besch...eiden hintergründigen Art schmunzeln und danach die Wache wegen nachgewiesenem Schwachsinn auflösen."
"Wollt ihr gar nicht wissen, zu wem der Fingerabdruck gehört?", fragte der Kommandeur ernst in die Runde.
Mit geschmeidigen Bewegungen sprang Venezia von Araghast Schulter, federte sich von dessen Knie ab und landete sicher auf dem Schreibtisch ihres Chefs.
"Darauf kannst du deinen Bauch verwetten, Sör!", knurrte die Gnomin respektlos. Sie wollte endlich wissen, wer für den ganzen Schlamassel verantwortlich war.
"Ich habe meine Skizze auf gut Glück mit der Datei der verurteilten Verbrechen verglichen und als dabei nichts herauskam... na ja, hab ich eben auch noch die Kartei der Wächter überprüft.", erklärte Pismire.
"Es... es... ist einer.. von UNS?", stammelte Irina mit schwelendem Zorn.
"Ich sollte vielleicht dazu sagen, dass es eigentlich unsere Pflicht ist, die Fingerabdrucksproben der ausscheidenden Wächter, egal aus welchem Grund sie gehen, zu vernichten... aber... irgendwie hatten wir nie nötige Zeit, dieser Pflicht nachzukommen.", fuhr Pismire ein wenig zerknirscht fort "Und dort wurde ich schließlich fündig..."
"Es ist Johann Zupfgut, nicht wahr?", meldete sich die gefasste Stimme des Püschologen der F.R.O.G. zu Wort.
"Wie bitte???", schnaubte Venezia und fuhr zu ihrem Stellvertreter herum.
"Verdammt, woher weißt du das, Breguyar?", zeterte Pismire, der nun um den Höhepunkt seiner Erklärungen gebracht worden war.
"Wer sonst hätte die Möglichkeiten, die Motivation und vor allen Dingen das Wissen, um uns alle ein solch filigranes Netz zu legen? Zupfgut war Wächter, lange genug dabei, um unsere Ermittlungsmethoden zu kennen und wusste auch, welche Bewandtnis es mit Hauptmann Ohnedurst und dessen Offiziersdolch auf sich hat, wusste, dass Spieß Erschreckja ihn sofort wiedererkennen würde.", erklärte Araghast ernst. "Sein Motiv ist das älteste, das die Scheibenwelt zu bieten hat: Rache! Schließlich war es Hauptmann Ohnedurst, der dafür gesorgt hatte, dass Zupfgut wegen ungebührlichen Verhaltens aus der Wache geflogen ist, unehrenhaft und ohne Chance auf Wiederkehr. Schon damals muss er sich vor Hass verzehrt und den Hauptmann ziemlich intensiv beschattet haben, um soviel wie möglich über ihn herauszufinden. Allerdings wird es sich als fast unmöglich herausgestellt haben, an den stets wachsamen Rascaal Ohnedurst heranzukommen, geschweige denn, ihm eine vergleichbare Schmach zuzufügen... bis das Schicksal ihm den Weihnachtsras in die Hände spielte und Zupfgut muss in dem Zeitpunkt der Verwandlung seine Chance gesehen haben."
"Quatsch, dann hätte er ihn wohl gleich bei seiner Verwandlung getötet, oder? Ich meine, wenn er ihn wirklich so intensiv beobachtet hat, dann wird er den ungefähren Zeitpunkt wohl gewusst haben.", wandte Atera ein.
"Das wird er auch mit Sicherheit... nur ist es nicht Hauptmann Ohnedursts Tod, den er will."
"Sondern?"
"Er will ihn das erleiden lassen, was er selber auch erdulden musste. Schmach, Ungnade, Erniedrigung und Verlust des Selbstwertgefühls. Da er die Schuld daran bei Rascaal sucht, will er ihn ebenfalls genau dort unten haben... und wenn es geht, sogar noch tiefer. Johann Zupfguts Akte zeigt starke Anzeichen von Machtgeilheit, aber auch die Unfähigkeit des Respekts vor der Autorität anderer.", fuhr K Breguyar warnend fort. "Und er hat nichts zu verlieren. Glaubt mir, Ma'ams und Sörs, er will Rascaal Ohnedurst am Boden sehen, unter Mordanklage und aus der Wache ausgestoßen... Dafür ist Johann Zupfgut bereit, alles zu tun, egal, wie viele Leben es kostet."
"Verdammt noch mal, und er ist auf dem besten Wege, es zu schaffen...", fluchte Lt Lanfear und sprach damit aus, was die meisten dachten.
"Nicht unbedingt...", sinnierte Araghast, stand auf und fing an, nachdenklich im Zimmer auf und ab zu gehen.
"Hast du schon vergessen, dass wir nichts von der Fingerabdruckkiste beweisen können?", mahnte Rince, "Mal von der nicht ganz unwichtigen Tatsache abgesehen, dass keine ehemaligen Wächter in der Datei sein dürften."
"Vielleicht brauchen wir das ja auch gar nicht. Wie gesagt: wenn er den Weihnachtsras hätte tot haben wollen, dann hätte er ihn schon vor 5 Tagen umgebracht. Da die Wache es nun aber nicht geschafft hat, in den letzten Tagen des Weihnachtsras habhaft zu werden, läuft ihm die Zeit davon. Nach der morgigen Nacht gibt es für ein Jahr keinen Weihnachtsras mehr und mit Sicherheit wird Johann auch die Steckbriefe sehen, die zur Stunde in der ganzen Stadt aufgehängt werden."
"Ach du Schande, die hab' ich ja vollkommen vergessen", fluchte Rince und schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. "Atera, lass die sofort wieder abnehmen!"
"Nein, nein, Sör, auf keinen Fall. Denn nur so wird er unter Zeitdruck geraten. Nur, wenn er denkt, dass wir ausschließlich den Weihnachtsras jagen... und nicht Hauptmann Ohnedurst.", intervenierte der Püschologe energisch "Zupfgut weiß ja nicht, dass wir ihm auf die Schliche gekommen sind, Sör. Auch die Streifenaktivität muss bleiben, denn nur so wird er sich weiterhin in Sicherheit wähnen. Ich nehme mal an, die Sache mit den Wundrändern- und Tiefe ist neu, Olt Pismire?"
"Relativ.. wir werkeln seit ein paar Monaten damit herum."
"Dann kann er nichts davon wissen. Das Einzige, was ihm nun übrig bleibt ist, den Weihnachtsras direkt anzugreifen und ihn gewissermaßen für die Wache zu fangen... und genau dabei werden wir ihn kriegen."
"Wer ist die Maus...", murmelte Venezia nachdenklich und lehnte sich an den leeren Kaffeepott des Kommandeurs.
"Wie bitte, Ma'am?", fragte Araghast verwirrt und blieb stehen. Alle Augen richteten sich auf die Gnomin.
"Das war das Motto, unter dem Hauptmann Ohnedurst kurz nach Gründung der F.R.O.G. ein Kurzseminar abgehalten hat. Die Teilnahme für FROGs war damals Pflicht, aber auch andere Wächter waren eingeladen, vorbeizuschauen.", erinnerte sich die jetzige F.R.O.G.-Abteilungsleiterin "In diesem Seminar bläute uns Rascaal immer wieder folgenden Satz ein: Die eigentliche Kunst des Katz-und-Maus-Spiels ist es, jederzeit zu wissen, wer die Maus ist!"
"Was hat das hiermit zu tun?", wollte Rince wissen und zog der Gnomin den Kaffeepott weg.
"Ich bin mir auch nicht sicher: aber irgendwas sagt mir, dass niemand, der sich soviel Mühe gibt, so viele Strapazen und Risiken auf sich nimmt, um sein Ziel zu erreichen, wie Johann, dass so jemand nicht noch einen Alternativplan hat. Nur leider habe ich keinen blassen Dunst, was für einer das sein könnte."
"War Johann auch bei diesem Seminar?", fragte Atera.
"Möglich... ich kann es aber nicht mit Sicherheit sagen."
"Weswegen wir jetzt zu LK Breguyars Vorschlag zurückkommen: WIE werden wir ihn kriegen?", ignorierte Rince den Gedankengang Venezias.
"Indem wir selber den Weihnachtsras für seinen Beutezug stellen... und ihn dann dazu bringen, alles zu gestehen... dem Weihnachtsras sozusagen... nur müssen wir dazu wissen, wo er ihn abfangen wird."
Ruckartig hob Olt Knurblich mit glänzenden Augen den Kopf.
"Au Weia, ich weiß wo... Wie konnte ich das nur vergessen? Hubert hatte mir damals in dem Gespräch verraten, was uns auch schon immer beschäftigt hat: Wovon ernährt sich der Weihnachtsras, wenn er uns mit seinen ganzen Knollen in allen nur denkbaren Weisen, Formen und Gerichten 'vergiften' will. Die Lösung ist ganz einfach: Der Weihnachtsras isst nur Knollen zu bestimmten Zeiten von einer ganz bestimmten Stelle neben der Mauer der UU. Hat irgendwas mit der thaumatischen Strahlung dort zu tun und die Wirkung, die diese wohl auf ihn hat. Nur die Rote-Bete bekommt ihm. Deswegen kann er die Anderen auch so großzügig verwenden.", erklärte sie den Anwesenden " Johann wird vielleicht nicht wissen warum, aber wenn er wirklich so gründlich recherchiert hat, wie wir annehmen, dann wird er auf diese Gewohnheit gestoßen sein... und sie ist sein Ausweg, seine Notlösung, sein Alternativplan. Dort wird er ihn erwarten."
"Allerdings nicht heute Nacht, denn er wird der Wache erst noch eine Chance geben wollen, nachdem nun die Steckbriefe rausgekommen sind. Schließlich wäre es noch immer einfacher für ihn, wenn wir den Weihnachtsras fangen würden.", ergänzte Araghast, "Aber morgen Nacht wird er zuschlagen... todsicher!"
Mit einem gefährlichen Glitzern in den Augen rieb sich Olt Venezia Knurblich unternehmungslustig die Hände.
"Dann brauchen wir ja nur noch einen Plan... und einen Lockvogel."

***


Pferdepfad 15a, kurz nach dem zweiten Abend-Schnäck:
Missmutig griff der Mann nach dem Schlüssel, um die Hintertür zu entriegeln, an der es schon seit 10 Minuten kratzte.
"Verdammte Viecher!", schimpfte er und meinte damit die Katzen, die von der nahgelegenen Rennbahn des öfteren durch die benachbarten Hinterhöfe streunten, die Mülltonnen durchwühlten oder die Anwohnern vor allen Dingen im Winter um Nahrung anbettelten. "Hat man denn niemals vor euch Ruhe? Wird Zeit, dass ich mir etwas Gift besorge, damit das Gekratze und Gejammere endlich ein Ende hat."
Von einem leisen Quietschen begleitet, drückte der Mann die Klinke runter und riss mit einem Besen bewaffnet die Tür auf. Keine 50 cm von der Schwelle entfernt saß wie erwartet eine Katze, genauer gesagt ein Kater, schneeweiß und mit schwarzen Läufen, dessen Farbe bis an die Schultern ging. Der dünne Kranz schwarzen Felles um die Augen erweckte den Eindruck, als hätte jemand das Tier geschminkt, doch das seltsamste waren die Augen selbst, denn in ihnen war keine Spur von Not, geschweige denn Angst zu erkennen.
"Verschwinde, du Mistvieh! Bei mir gibt es nichts zu holen.", fuhr er den Kater an, ohne damit die geringste Reaktion hervorzurufen. "Kschhhhhh, Kschhhhhhhhhh!"
Nichts, gar nichts. Nur dieses enervierende Starren... direkt in seine Augen. Abschätzend. Verachtend.
Entschlossen, die lästige Störung zu beenden, trat der Mann auf die Türschwelle und hob den Besen, um das Tier mit einem kräftigen Hieb diesen arroganten Blick auszutreiben, als wie aus dem Nichts eine Hand um den Türrahmen geschossen kam und ihm eine solch schallende Ohrfeige verpasste, dass er von der Wucht getrieben sich erst dreimal um die eigene Achse drehte, bevor er zu Boden stürzte und dabei den kleinen Tisch, auf dem einige Porzellanfiguren und eine gerahmte Ikonografie standen, scheppernd mit sich riss.
Benommen und mit Tränen in den Augen richtete sich der Mann wieder auf und sah gerade noch, wie der Kater gleichmütig kehrt machte und ohne jede Eile aus seinem Blickfeld verschwand, in das dafür ein paar erstaunlich saubere rote Stiefel traten, in denen der Weihnachtsras steckte, der mit einem grausamen Lächeln auf ihn herunterschaute und den Kopf leicht hin und her schaukeln ließ, um das kleine Glöckchen an seiner Mützen zum Klingeln zu bringen.

Der Weihnachtsras hatte genug Zeit gehabt, um die ihm von Korporal Picardo freundlicherweise übermittelten Informationen auszuwerten, mit dem ihm durch Hauptmann Ohnedurst zur Verfügung stehenden Wissen in einen mentalen Topf zu werfen, das Ganze kräftig durchzurühren und durch ein metamorphorisches Sieb zu seihen. Was dann in dem Sieb hängengeblieben war, musste die Lösung sein und in diesem Sieb war der Name Johann Zupfgut hängen geblieben...
Dutzende Fragen waren dem Vampir in Versform durch den Kopf gegangen und je mehr Antworten er sich gab, desto erstaunter stellte er fest, wie vorhersagbar und verletzlich seine bisherigen Streich- und Essgewohnheiten ihn gemacht hatten... und wie dumm er doch gewesen war.
Alles fing an, Sinn zu machen. Doch nun brauchte er nur noch eine Bestätigung, dass er sich nicht irrte und fand in dem weitverzweigten Labyrinth des Hauptmanns Wissen auch die Möglichkeit, diese zu bekommen. Der Möchtegern-Vampir, dem er übermorgen früh wieder das Feld würde räumen müssen, wusste erstaunlich viel über die Leute, die ihn umgaben, mehr, als jemand ahnte und genau in diesem Moment war dem Weihnachtsras zum ersten Mal der Gedanke gekommen, ob er den Hauptmann und Agenten nicht vielleicht doch unter-... oder ganz falsch einschätzte. Doch für diese Art Spielchen hatte er keine Zeit und hatte sich mit No-Name sofort nach Einbruch der Dunkelheit auf den Weg gemacht, auf großen Umwegen und äußerst vorsichtig, nachdem er grinsend seinen ersten Steckbrief entdeckt hatte.

Schon als der Mann im Türrahmen erschienen war, wusste der Weihnachtsras, dass er genau richtig war. Dafür hätte er gar nicht nachschauen müssen, ob auf dem halb verrosteten Schild an der Vordertür auch wirklich der Name Börtram Zupfgut stand. Hier würde er seine Bestätigung bekommen. Hier würde er seinen Spaß haben. Hierher würde er die Dunkelheit bringen.
Mit federndem Schritt ging er grinsend vor Vorfreude in das Haus und warf die Tür mit einem lauten Knall hinter sich ins Schloss.
"Mein Bruder hat mir gesagt, dass du eventuell hier auftauchen würdest. Nur dachte ich nicht, dass du noch den Mut dazu haben würdest, nachdem ich die Steckbriefe mit deiner hässlichen Visage drauf gesehen habe.", zischte der am Boden liegende Mann dem Vampir hasserfüllt zu und kämpfte gegen die Tränen an, die der Schlag ins Gesicht bei ihm ausgelöst hatte. "Du hast nicht den Hauch einer Chance gegen ihn, Scheißkerl."
"Der Chancen Verteilung ist mein Unterfangen.
Vielmehr um dein Leben du solltest jetzt bangen.", erwiderte der Weihnachtsras, lauernd lächelnd und zupfte sich gekünstelt die weißen Ränder seiner Ärmel gerade.
"Du machst mir keine Angst, weißt du?", fuhr Börtram unbeeindruckt fort und stemmte sich stöhnend hoch. Doch der Vampir sah die Angst dort, wo der Mann sie nicht verstecken konnte: in seinen Augen. "Johann hat mit erzählt, dass du nur ein verrückter Spinner bist, den keiner ernst nimmt. Ooooooh.. mein großer Bruder wird dich so was von fertig machen, Kumpel."
Enttäuscht schaute sich der Weihnachtsras flüchtig in dem kleinen Flur um, der dringend einen neuen Anstrich gebraucht hätte und die Fröhlichkeit einer feuchten Gefängniszelle besaß. Das ging viel zu schnell. Der Vampir hatte auf Jammern und Betteln gehofft, sich auf Leugnen und Lügen gefreut, auf Spaß und Vergnügen... auf seine Art natürlich, und nicht auf eine sofortige Bestätigung seiner Theorie.
"Ich bin schwer beeindruckt, dass muss ich schon sagen,
dass ich es nicht schaffe, dir Angst einzujagen.
Kein Fluchen, kein Winseln, kein Jammern und Weinen.
Ein echt harter Kerl, der du bist, wie's mag scheinen.", murmelte der Weihnachtsras, schloss die Hintertür ab und ging einfach an dem Mann vorbei, um sich mit den Räumlichkeiten vertraut zu machen.
"Worauf du dich verlassen kannst, Kumpel.", erwiderte Börtram, stand etwas taumelnd auf und kühlte seine glühende Wange kurz an der kühlen, feuchte Wand des Flures. "Und glaub' ja nicht, dass mein Bruder Mitleid mit dir zeigen wird. Mitleid muss man sich verdienen. Und schließlich warst DU es, der ihn mit Lug und Betrug aus der Stadtwache herausgeschmissen hast. DU hast andere bestochen, ihnen gedroht und sie eingeschüchtert, damit sie sich dir nicht wiedersetzen. Johann hat mir alles erzählt von deinen Intrigen, deinen Lügen über irgendwelche angeblichen Abmahnungen und dem verlogenen Selbstmitleid."
"Mit Sicherheit hat er dir das so berichtet
und damit bei dir jede Logik vernichtet.
Doch muss ich die Freude dir leider verderben.
Ich habe gelernt, mich recht gut zu verbergen.
Und deswegen kann mich die Wache nicht kriegen,
wird Johann versagen und ich sicher siegen.", sagte der Weihnachtsras spöttisch nach einem Rundblick durch das Wohnzimmer Börtram Zupfguts, in dem an einem halben Dutzend Stellen Bilder seines Bruders Johann aufgestellt waren, die diesen in den verschiedensten Posen zeigten, und anscheinend das Einzige war, was im Haushalt penibel sauber gehalten wurde. Eines hatten alle Bilder jedoch gemeinsam: Johann Zupfgut präsentierte sich in seiner damaligen Ausgeh-Uniform der Wache und schaute überheblich lächelnd auf den von einem niedrigeren Standpunkt aus ikonografierenden Dämonen. Dem Weihnachtsras wurde klar, wie sehr Börtram seinen Bruder verehrte... und alles für ihn tun würde.
Ein leises Geräusch ließ den Weihnachtsras herumwirbeln. Gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Börtram nach einem mit Patina besetzten Kerzenleuchter, der dem Aussehen nach schon seit Ewigkeiten im Familienbesitz war, griff und mit einem wütenden Schrei auf seinen ungebetenen Gast losstürmte. Blitzschnell drehte sich der Weihnachtsras unter dem Klingeln des kleinen Glöckchen grinsend pirouettenhaft um die eigene Achse, ließ den Angreifer ins Leere laufen und trat ihm von hinten in die Kniekehlen. Vollkommen unkontrolliert stolperte Börtam in die kleine Sitzgruppe, überschlug sich mit einem der Sessel und krachte gegen die Wand.
Das war viel zu laut. Der Vampir konnte es sich nicht leisten, dass Zupfguts Nachbarn auf ihn aufmerksam wurden. Nicht mit den ganzen Steckbriefen in der Stadt.
Laut japsend und nach Atem ringend krallte sich Börtram an einen noch stehenden Sessel und zog sich hoch.
"Du kannst... kannst nicht gewinnen, Scheißkerl. Johann wird dich... kriegen. Fast zwei Jahre, zwei... gottverdammte... Jahre ist er dir, wo er nur konnte, hin gefolgt. Hat von dem gelebt, was ich verdient habe und jetzt... jetzt kennt er dich. Kennt deine Vorlieben und dein Gewohnheiten. Kennt dich besser als du dich selbst.", schnaufte er, und der Hass in seinen Augen nahm monströse Formen an. "Er wird dich kriegen, Weihnachtsras. Morgen Nacht wird er dich kriegen und dann wird er es sein, der lacht, wenn du am Boden liegst."
Mit wütend zuckenden Mundwinkeln schielte Zupfgut auf den Kerzenständer hinab, der keinen Meter von ihm entfernt auf dem Boden lag.
Der Vampir hatte gehört, was er hören musste. Zeit zu gehen. Unauffällig... und leise.
"Du willst mich bekämpfen. Mich sicher besiegen.
Darum eine Chance du heute sollst kriegen!
Der Sieger kriegt alles, der And're dagegen
bezahlt seine Schuld dann als Preis mit dem Leben.", schlug der Weihnachtsras vor, nahm eine dicke brennende Kerze in die Hand, welche unruhig neben einem Bild Johanns vor sich hinflackerte, und ließ das rote Wachs zu einer gut erkennbaren, saubere Linie auf den Holzfußboden tropfen. Anschliessend stellte er die Kerze mit seltsam anmutender Vorsicht und Sorgsamkeit wieder auf ihren Platz zurück und bedeutete dem verblüfften Börtam, seine Waffe aufzuheben und an die Linie zu treten, was dieser auch ohne weiter nachzudenken tat.
"Es gibt simple Regeln, die man muss verstehen,
um richtig zu kämpfen. Du wirst es gleich sehen!
Als Erstes man stellt sich hier auf beide Seiten,
als Zweites darf man sich den Kragen auch weiten.
Als Drittes, letztendlich, verrat ich den Clou...", mit der Geschwindigkeit eines Augenblicks schoss die bleiche, knochige Faust des Weihnachtsras ansatzlos nach oben, zertrümmerte seinem Gegenüber das Nasenbein und trieb Splitter des Knochen durch die Härte des Hiebes bis in sein Gehirn. Börtram Zupfgut war tot, bevor er dumpf auf dem Boden aufschlug
Als Drittes, da stirbst du und ich hab' jetzt Ruh!"
Ein letztes Mal schaute der Weihnachtsras mit gleichmütiger Miene auf die um ihn herum verteilten Porträts des Mannes, dessen Rachegelüsten er diesen ganzen Schlamassel zu verdanken hatte und ließ mit einem belustigten Kopfnicken das Glöckchen an seiner Mütze fröhlich erklingen
"Ein Gaukler, der bin ich, ein Meister der Lüge
Und das ist der Grund, warum ich gern betrüge!", verkündete er den Ikonografien und bleckte die Zähne. Dann löschte er gewissenhaft alle Kerzen, zog die Vorhänge vor die Fenster und verließ das Haus wesentlich unspektakulärer, als er es betreten hatte, ohne einen Blick zurückzuwerfen.


Tag 6

Eene Meene Meck... und du bist weg!


Ecke Pfirsichblütenstrasse und Ankhuferweg, kurz nach dem Abendessen und dem Einbruch der Dunkelheit:
Irina Lanfear fragte sich schon die ganze Zeit, von welchem Dämon sie wohl besessen gewesen war, als sie sich freiwillig für diesen Wahnsinn gemeldet hatte, bei dem so viele Dinge schief gehen konnten, dass die Chancen, hier wieder heil rauszukommen, sich irgendwo um Null herum bewegten.
Als Atera, Venezia, Araghast und sie den Plan geschmiedet hatten, war es ursprünglich Venezia gewesen, die wie eine tollwütige Löwin darum gekämpft hatte, den Part des Lockvogels zu übernehmen. Nur mit vereinten Kräften war es den Anderen gelungen, die Gnomin davon zu überzeugen, dass sie einfach nicht die körperlichen Attribute besaß, um als Weihnachtsras durchgehen zu können.
Dann waren Irina die Worte 'Okay, ich mach es!' aus dem Mund geschlüpft, noch bevor sie sich auf die Zunge hatte beißen können. Warum auch? Schließlich leitete R.U.M. nicht immer die Ermittlungen und es war ihre Abteilung. Es hatte sich richtig angehört... gestern zumindest.
Heute allerdings hatte sie einen roten Mantel mit puschelig weißen Rändern und einer dazu passenden Hose an und kam sich dabei äußerst albern vor. Eine schmutzig-graue Bartattrappe bedeckte die untere Gesichtshälfte, wohingegen eine Maske aus dünnem, weißen Wachs, dem man durch Kratzen und Schaben die richtige Oberfläche verpasst hatte, ihrem Gesicht zwischen Bart und Haaransatz das runzelig-blasse Aussehen des Weihnachtsras verpasste. Selbst die rot-weiße Mütze hatte detailgetreu eine kleine Glocke am Zipfel, war jedoch im Ganzen etwas groß geraten und auch das zottelig silbergraue Haarimitat von Reggie, der nach Venezias Empfehlung eine erstaunliche Nähfertigkeit an den Tag gelegt hatte, unten an den Innenrand der Kopfbedeckung geflochten, konnte nicht verhindern, dass sie Irina öfters über die Augen rutschte.
Ohne Hast und mit der übermütig-verspielten Art des Weihnachtsras sich fortzubewegen, versuchte Lt. Lanfear sich unauffällig im großzügigen Halbdunkel der Hauswände keine 10 Meter vom Ankhufer entfernt der Sackgasse zu nähern, in der sie wahrscheinlich die Rolle ihres Lebens spielen würde. Authentischer wäre es wahrscheinlich gewesen, über die Dächer zum Ziel zu gelangen, doch nach dem Frost der letzten Woche waren diese höllisch glatt und sich dort oben auf die Art des Weihnachtsras fortzubewegen, hätte die ganze Falle vermutlich beendet, bevor sie eigentlich begonnen hatte.
Endlos hatten sie im Kommandeursbüro darüber diskutiert, wie sie Irina Rückendeckung geben sollten. Das Problem dabei war eindeutig der Zeitpunkt der Annäherung, denn keiner konnte wissen, ob Johann Zupfgut erst mit Einbruch der Dunkelheit kam, oder vielleicht schon vorher. Möglich wäre auch ein Szenario, in dem der Verdächtige dem Weihnachtsras schon von einem anderen Punkt aus in die Gasse folgt, um ihn dort zu stellen. Auf keinen Fall durfte er auch nur den Hauch eines Zweifels daran haben, dass hier alles seinen gewohnten Gang ging. Würde Zupfgut auch nur den Zipfel eines F.R.O.G.-Kampfanzuges sehen, könnte das Ganze in einer Katastrophe enden.
Schließlich hatten sie sich auf eine sehr ungewöhnliche Maßnahme geeinigt: Mit wärmenden Decken und gepolsterten Kampfanzügen waren die für den Zugriff ausgewählten F.R.O.G.s schon frühmorgens einzeln ausgeschickt worden, um selbstständig ihre vorher festgelegten Positionen um die Sackgasse hinter der Unsichtbaren Universität, welche der Einfachheit halber von den Anwohnern 'Hinten' genannt wurde, einzunehmen. Venezia und Araghast würden nach einer letzten Besprechung mit Irina und Rince gegen die Mittagszeit nachrücken und ihren Platz am Kommandopunkt beziehen. Dieser befand sich in einem der Räume im ersten Stock der am Eingang der Gasse gelegenen Beschwörergilde, die nach einer diskreten Anfrage seitens des Kommandeurs ihre Unterstützung zugesagt hatte.
Doch trotz der Decken war es allen klar, dass es für die lauernden FROGs eine enorme Belastung sein würde, den ganzen Tag regungslos und möglichst unsichtbar auszuharren und gegen ihren ärgsten Feind anzukämpfen: Die Langeweile.
Das war tagsüber gewesen. Nun hatte die Sonne in ihrem immerwährenden Krieg gegen die Dunkelheit wieder eine Schlacht verloren und hatte sich für die Dauer der Nacht zurückgezogen, um ihre Wunden zu lecken.
Für Lt Lanfear hatte die Schlacht jedoch gerade erst begonnen, und sie war sich alles andere als sicher, ob der inzwischen stärker werdende Schneefall ihre Chancen verbesserte oder schmälerte. Ein großes Problem war ihr erst vor ein paar Häuserblocks eingefallen: Vampire atmen nicht... und was nicht da ist, kann nicht zu verräterischen Wolken kondensieren. Jetzt war es allerdings zu spät, noch etwas an dem Plan zu ändern und so atmete die verkleidete Frau noch einmal hinter vorgehaltener Hand tief durch, nahm sich vor, von jetzt an, so flach wie möglich Luft zu holen, bog um die Ecke und betrat die Gasse, voll der Hoffnung, dass die FROGs sie vor diesem Irren würden beschützen können.

Beschwörergilde, erster Stock:
Olt Knurblich stand stumm hinter dem fast vollständig zugezogenem Vorhang und starrte angestrengt in das Halbdunkel der Gasse. Sichttechnisch gesehen war es ein Segen, dass der locker fallende Schnee das schmutzige Straßenpflaster immer mehr bedeckte und so das wenige Licht wenigstens etwas reflektieren konnte. Leid taten ihr allerdings die FROGs im inneren Ring der Schlinge, die sie hoffte um die Gasse gezogen zu haben. Die Wächter im äusseren Ring, welche die Aufgabe hatten, ein Auftauchen Zupfguts sofort per Handzeichen an den inneren Ring weiterzugeben, konnten sich zumindest noch an die warmen Schornsteine drücken, um dort mit der Dunkelheit zu verschmelzen. Dem inneren Ring jedoch blieb nicht anderes übrig, als auf ihren verschiedenen Positionen der umliegenden Dachränder bewegungslos unter den inzwischen zugeschneiten Decke zu verharren und zu hoffen, dass der Zauber bald losgehen würde.
"Was, wenn er nicht auftaucht, Ma'am?", fragte K Breguyar leise und sprach damit aus, was die Gnomin in den letzten 30 Minuten pausenlos gedacht hatte.
"Das solltest du nicht einmal in Erwägung ziehen, Bregs.", murmelte Venezia und schaute vorsichtig zu dem auf einer Dachgaube liegenden CK Sidney auf, der als Schnittstelle zwischen den beiden Ringen fungierte und ihr mit einem langsamen Kopfschütteln zu verstehen gab, dass noch nichts in Sicht war. Speziell ihm hatte die FROG-Chefin persönlich eingebläut, den Finger am Abzug unter Kontrolle zu halten, da sie ihn sonst eigenhändig abschneiden würde.
Langsam begann die stundenlange Warterei an die Nerven zu gehen. Die letzte Bewegung in der Gasse hatte es vor über vier Stunden gegeben, nachdem ein Kunde des neben der Beschwörergilde liegenden Musikladens diesen nach einem halbstündigen Aufenthalt wieder verlassen hatte und der Laden kurz danach geschlossen worden war. Seitdem... nichts, rein garnichts. Nur der Schnee, der in immer neuen Formationen vom Himmel fiel und versuchte, seine Farbe in der dreckigen Luft so lange wie möglich zu behalten.

Im Musikladen:
Johann Zupfgut lauschte sorgfältig an der Zwischentür, die den Laden vom Wohnbereich des Hauses trennte. Kein Mucks war zu hören. Das erstaunte ihn nicht weiter, denn Frau und Tochter des Besitzers lagen gut aneinander- und an den Ofen gefesselt, wobei jeweils ein paar Socken des Hausherren als Knebel in ihren Mündern steckte. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie es dennoch schaffen würden, sich zu befreien, hatte er zusätzlich noch ein Klavier aus dem Ausstellungsraum vor die Zwischentür gewuchtet, um vor lästigen Störungen sicher zu sein.
Mit düsterem Blick schaute sich Johann die Ware an, die in dem Musikladen herumstand, den er heute Nachmittag mit einem weiten Tuch um den Leib und einem breiten Hut tief ins Gesicht gezogen betreten hatte. Kaum, dass der Besitzer ihm freundlich und geschäftstüchtig lächelnd entgegengekommen war, hatte er ihm seine Armbrust unter die Nase gehalten, ihn den Laden schließen und sich dann nach hinten in die Privaträume führen lassen, wo Johann dessen Frau und kleine Tochter vorfand.
Etwa 30 Minuten später verließ der Besitzer seinen Laden in Johanns Kleidung wieder und zurück blieb der Mann mit der Armbrust, der ihm mehr als deutlich zu verstehen gegeben hatte, was mit seiner Familie geschehen würde, sollte er es wagen, vor dem nächsten Morgen auch nur einen Fuß in die Gasse zu setzen oder sich an die Wache zu wenden.
Zupfgut war alles andere als sicher, ob der ganze Aufwand nötig war, doch hatte er dieses Haus mit der Wohnung gebraucht, um ungestört seine kleine Lebensversicherung vorzubereiten, falls irgendwas mit dem Knollensauger schiefging. Schiefgehen würde in diesem Fall bedeuten, dass er das tote und wahrscheinlich rot-violette Herz des Vampirs mit dem dünnen Holzpflock auf seiner Armbrust verfehlen würde und sich dann eines vermutlich ziemlich übelgelaunten Untoten gegenüber sehen würde, für den er ein ganz anderes Kaliber brauchen würde, um ihn sich von Leib zu halten. Dafür jedoch hatte er nun genau das Richtige unter dem Umhang auf seinem Rücken.
Doch Johann Zupfgut war guter Hoffnung, dass seine Schiesskünste, wie auch bei den anderen Beiden vollkommen ausreichen würden und er danach die Asche des Vampirs mit dem am Gürtel hängenden Handfeger und Schaufel in den kleinen, schwarzen Jutesack würde schütten können, der an der anderen Seite hing. Die Ehre, diesen dann in das Wachhaus hinein zu bringen, hätte dann niemand geringerer als Frau Willichnicht, da er den Sack genau um 07:00 Uhr mit einer kleinen Phiole Blut daneben vor die Tür des Wachhauses legen und sie ihn mit Sicherheit mit reinnehmen würde, um sich drüber zu beschweren, wenn sie 5 Minuten später einträfe.
Doch das war Zukunftsmusik.
Mit einem Kopfschütteln wurde er sich der Gegenwart wieder bewusst und verließ die Zwischentür, um zu seinem Platz in der Nähe des Fensters zurückzukehren.
Für Johann Zupfgut war es die Nacht der Nächte. Niemals hatte er sich so lebendig gefühlt, so berauscht von der Macht, die er über sein eigenes Schicksal hatte, so elektrisiert von dem Moment der Entscheidung, der jetzt immer näher rückte.
Heute Nacht würde sein Plan aufgehen... auf die eine oder andere Weise.
Erneut überprüfte er seine Ausrüstung, die er an seinem Gürtel verteilt hatte und die ihm den endgültigen Triumph bringen würde. Anscheidend musste er ja alles selber machen, wenn schon die Wache nicht in der Lage war, nach fast einer Woche des Weihnachtsras habhaft zu werden. Was hatte er auch erwartet? Schließlich hatten sie ja ihren besten Mann mit Schimpf und Schande davongejagt.

Ruckartig warf Johann den Kopf herum, als er draußen ein Bewegung bemerkte und zu seiner großen Überraschung feststellte, dass der Weihnachtsras seine Wartezeit verkürzt hatte und freundlicherweise schon so kurz nach Anbruch der Dunkelheit seinem unvermeidlichen Ende entgegengetänzelt kam. Mit gierig leuchtenden Augen beobachtete er, wie die Gestalt in Rot grazil und verspielt auf der gegenüberliegenden Seite der Gasse am Schaufenster des Musikladens offensichtlich prächtig gelaunt vorbeistolzierte und gelegentlich sich vor Übermut in einer gekonnten Pirouette erging.
Ohne hinzuschauen hakte er die Armbrust vom Gürtel und spannte sie. Es ging los.

In der Gasse:
Irina musste ihre gesamte Willenskraft aufbringen, um nicht ständig nach oben zu den Dächern zu schauen, wo irgendwo die FROGs lauerten und hoffentlich jeden ihrer Schritte mit scharfen Augen beobachteten. Auch sie hatte sich schon insgeheim mit der Frage beschäftigt, was wohl passieren würde, wenn Johann nicht auftauchte, doch genauso wie ihre Kollegin von den FROGs kam auch sie zu dem Schluss, dass sie sich darüber immer noch den Kopf zerbrechen konnten, wenn der Fall eintrat. Jetzt hatte sie eine Rolle zu spielen.
Die Beschwörergilde und den verschlossenen Musikladen links liegen lassend, ging die RUM-Abteilungleiterin federnden Schrittes zur rechten Seite der Gasse, an den Mauern der verschiedenen Trakte der Unsichtbaren Universität entlang, und strebte auf eine kleine Nische in der sonst glatten Mauer der Außenwand zu, da sie dort die Knollenfalle des Weihnachtsras vermutete. Was allerdings sollte sie dort machen? Die ganze Zeit dumm herumstehen? Auf keinen Fall würde sie diese... Dinger auch nur in die Nähe ihres Mundes oder der Nase kommen lassen. Sie war ja bereit, Einiges zu tun, um die Täuschung aufrecht zu erhalten... aber das ging zu weit. Dann schon lieber sterben. Ein kurzer, weitgehend schmerzloser Tod war dem ekelhaft penetranten Geschmack des Gemüses noch immer vorzuziehen.
Kaum hatte Lt Lanfear die Nische erreicht und die beiden mit reicher Beute bestückten Fallen entdeckt, da spürte sie, dass sie nicht mehr alleine in der Gasse war.

Am Kunstturm:
Fast wäre der Weihnachtsras dem Gefreiten Schreckt praktisch direkt in die Arme geflogen, als er sich den Universitätsbereich in seiner Fledermausgestalt genähert hatte. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit war er aus seinem Versteck gekrochen und hatte sich in einem weitem Bogen immer an der Stadtmauer entlang flatternd bis zur Ruine auf dem Haufen durchgeschlagen. Die Stadtmauerroute war im Moment noch der sicherste Weg, sich fortzubewegen, da sich die umherziehenden Streifen eher auf die inneren Stadtteile konzentrierten. Von dort aus hatte der Weihnachtsras dann den Mengensee überflattert und sich der Unsichtbaren Universität vom oberen Flusslauf her genähert. Kurz hinter dem Hier-Gibt's-Alles-Platz entdeckte er den schwarzen Mann dann zufällig hinter dem Verschlag einer Dachluke hockend, als sich just in diesem Moment der Mond für eine Sekunde durch eine Lücke zwischen den schneebeladenen Wolken schaute.
Pfeilschnell riss die Fledermaus ihre Flugbahn brutal in einen senkrechten Looping und schoss kopfüber in die Öffnung eines Schornsteines, aus dem glücklicherweise kein Rauch aufstieg, und krallte sich dort in die Mauer. Einige Momente später kletterte sie mithilfe der kleinen Haken an ihren Flügeln wieder hoch und spähte vorsichtig über den Rand. Inzwischen hatte sich die Wolkenlücke wieder geschlossen und das ganze Dach war wieder in ein gedämpftes Halbdunkel getaucht. Nun jedoch, da der Weihnachtsras wusste, wonach er Ausschau halten musste, sah er die verschwommen Konturen der Gestalt noch immer unbeweglich hinter dem Verschlag hocken. Zeitlupengleich krabbelte die Fledermaus wieder über den Rand des am Ende des Daches befindlichen Schornsteines und ließ sich erst lautlos einige Meter in die Tiefe fallen, bevor sie wieder anfing mit den Flügeln zu schlagen und sich entschloss, zunächst einen Punkt zu suchen, an dem sie die ganze Lage überblicken konnte, und dafür war der Kunstturm wie geschaffen.
Irgendetwas stimmte hier nicht und der Weihnachtsras war von Natur aus neugierig.

Beschwörergilde, erster Stock:
"Wo, bei allen Würstchen, ist der Kerl mit einem mal hergekommen?", fluchte Venezia gefährlich knurrend und zeigte auf die Gestalt, die soeben in ihrem Blickfeld aufgetaucht war und nun vorsichtig einen Schritt vor den anderen setzend der als Weihnachtsras verkleideten RUM-Chefin folgte. "Und was hat er da in der Hand?"
Eiligst kam Araghast zu der Gnomin an das Fenster gestürzt und spähte mit weit aufgerissenen Augen nach draußen.
"Ist das Zupfgut?", fragte sie angespannt.
"Ja, natürlich ist er das! Aber wie ist er hier hingekommen, will ich wissen?"
"Er muss der Kunde gewesen sein, der den Musikladen eine halbe Stunde vor Ladenschluss betreten hat, denn einen Hintereingang gibt es zu dem Haus nicht und er ist eindeutig aus dem Geschäft gekommen, wie man an den Spuren im Schnee sehen kann.!"
"Und wer war dann bitte der Typ, der den Laden wieder verließ???", fauchte die Gnomin, die es hasste, in solch einer Situation nicht über alles informiert zu sein, doch bei dieser Frage musste auch ihre Stellvertreterin passen. "Mistundverdammt, das ist eine Armbrust in seiner Hand!"
"Richtig, Ma'am, aber damit haben wir doch gerechnet, nicht wahr!?", versuchte Araghast die Gnomin zu beruhigen.
"Was? Ja... ja, natürlich... trotzdem hasse ich es manchmal Recht zu haben.", sagte diese und schaute zu CK Sidney empor, der ihr durch ein Zeichen zu verstehen gab, dass auch er den Mann gesehen und es an die Anderen weitergegeben hatte.

Am Kunstturm:
Die in Rot gekleidete Gestalt mit der kleinen Glocke an der Mütze staunte nicht schlecht, als sie von ihrem luftigen Standort nach und nach immer mehr FROGs entdeckte, die in zwei geschickt angeordneten Ringen um die Gasse angeordnet waren, in der er sich in dieser Woche normalerweise ernährte, welche er heute Nacht allerdings zur Lösung seines Problems benutzen wollte.
Noch überraschter allerdings war der Weihnachtsras, als er erkannte, dass er sich schon längst in der Gasse hinter der Unsichtbaren Universität befand. Ihn nahezu perfekt imitierend, tänzelte eine ebenfalls in Rot gekleidete Gestalt ausgelassen durch die Häuserschlucht und strebte auf die Nische zu, in der seine heißgeliebten Spezialknollen auf ihn warteten. Allein schon der Gedanke an Nahrung ließ ihn gierig Keuchen und in seinen verfilzten Bart sabbern. In diesem Augenblick allerdings wurde ihm klar, dass die ganzen FROGs es gar nicht auf ihn abgesehen hatten, denn in dem Falle würde diese durchaus talentierte Charade keinen Sinn ergeben. Egal, was er sonst von den meisten Wächtern hielt: Es steckte meistens ein entfernt logischer Gedankengang hinter ihren Aktionen.
Also hatten sie herausgefunden, dass er die Morde nicht begangen hatte und stellten dem wahren Täter nun eine Falle. Vergnügt kicherte der Weihnachtsras vor sich hin. Das würde bestimmt lustig werden.
Leise summend ließ der Vampir seine langen, scharfen Fingernägel auf dem Stein des kleinen Mauervorsprungs an der Außenwand des Kunstturmes klappern, auf der er in seiner Vampirgestalt saß und überlegte, wie seine kleinen Wächterlein die Falle wohl zuschnappen lassen wollten. Bestimmt hatte sich Venezia einen exquisiten kleinen Plan ausgedacht.
Dann betrat der Hauptdarsteller die nächtliche Bühne und die mit kaltem Zorn gefüllten Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

In der Gasse:
Äußerst langsam, um bloß keine Aufmerksamkeit zu erregen, falls der Mond noch einmal durch die Wolkendecke kiebitzen würde, hob Johann Zupfgut die Armbrust. Inzwischen war der Weihnachtsras in der Nische angekommen und beugte sich runter, um die Fallen von ihrer für ihn so kostbaren Fracht zu erleichtern.
"Iss du nur, Freundchen, iss dein letztes Mahl in Freiheit.", presste Johann kaum hörbar zwischen den Zähnen hervor. "Da, wo sie dich hinsperren, wird es keine Knollen geben, du kranker, stinkender Bastard."
Mit einem letzten Blick die verschneite Gasse hinunter vergewisserte er sich, dass niemand Zeuge seiner kleinen Schiessübung wurde, verbreiterte seinen Stand, legte an und wartete geduldig, bis sich das Ziel seines Hasses mit einer Rote-Bete in der Hand wieder aufrichtete.
"Hallo Mäuslein!", flüsterte Zupfgut, der sich das Motto des damaligen Seminars seines Opfers zu Herzen genommen hatte und zog mit dem Zeigefinger seiner Hand den Abzug in einer gleichmäßigen Bewegung durch.

Beschwörergilde, erster Stock:
Energisch schüttelte Olt Knurblich den Kopf, als Sidney vom gegenüberliegendem Dach zum wiederholten Male durch Zeichen um Schusserlaubnis bat.
Venezia hatte vor Einsatzbeginn länger mit dem Triffinsziel Ortbe gesprochen und ihm ihren Plan noch einmal genau erklärt. Außerdem hatte sie sich vergewissert, dass er ganz genau wusste, wann er die Erlaubnis zum Schuss hatte und wann nicht... und jetzt war es mit Sicherheit nicht der richtige Moment. Was Sidney wohl nur schwer einsah.
Sie brauchten erst eine Bestätigung von Johann Zupfgut persönlich, dass er die Morde begangen hatte. Erst dann würde Irina das Verabredete Handzeichen, eine Schnittbewegung mit dem Finger über den Hals, geben. Klappte das nicht, war dieser ganze Einsatz nicht mehr, als eine nette Trainingsrunde.
Vor Anspannung laut mit dem Zähnen knirschend beobachtete sie, wie der Mann mit geschulten Bewegungen die Armbrust hob und abdrückte.

Am Kunstturm:
Vor Schreck und einem gerade aufkommenden Wind hätte es den Weihnachtsras beinahe das Gleichgewicht gekostet, als er sah, wie Zupfgut die Armbrust hob und auf seinen Doppelgänger schoss.
Gerade wollte er sich vom Turm stürzen, um mit dem Kerl abzurechnen, als...

In der Gasse:
"KLOONG!", erklang der laute Ton, als der Holzbolzen auf die doppelte Rüstungsplatte traf, die Irina sowohl vorne, als auch hinten zum Schutz trug und von dort abprallte. Das Geräusch wurde durch die schneeverwirbelte Luft getragen, hallte von den Mauern wieder, erfüllte die Herzen der FROGs mit Freude und entlockte dem Weihnachtsras auf dem Turm ein schadenfrohes Grinsen.
Irina jedoch wurde von der Wucht des Stoßes nach vorne geschleudert und prallte mit der Stirn gegen die Mauer vor ihr, wodurch ihr die locker sitzende Mütze mit einem letzten Klingeln vom Kopf gerissen wurde und die Wachsmaske zerbrach.
"Was zum...?", rief Johann vollkommen verblüfft aus und trat zwei Schritte zurück, während sich Lt. Lanfear mühsam aufrappelte und die Reste der zerbrochenen Maske fluchend vom Gesicht riss. "Wer bist du?"
"Hallo Johann...", antworte sie, während sie sich umdrehte und mit dem Ärmel die kleine Platzwunde auf ihrer Stirn betupfte. Lauernd schaute sie den fassunglosen Mann vor sich an, entfernte nun auch noch den Bart mit einem schmerzhaften Ruck aus dem Gesicht und betete stumm, dass dem Diktierdämon in ihrer Tasche bei dem Sturz nichts passiert war. "Lange nicht gesehen!"
"Duuu...? Was willst du denn hier?", keuchte Zupfgut, als er seine ehemalige Kollegin erkannte. "Was für ein Spiel wird hier gespielt?"
Mit abgehakten Bewegungen ging Johann weitere vier Meter zurück, immer wieder hektisch hinter sich und zu den Dächern emporschauend.
"Du... du bist nicht alleine, oder? Die Grünen sind... sind auch hier, nicht wahr?", stammelte er mit einem Tonfall in der Stimme, den Irina für Verunsicherung hielt, der aber nichts Anderes war, als blanker Zorn und richtete die ungeladene Armbrust auf die Wächterin.
"Es ist vorbei, Johann. Gib auf. Du kommst hier nicht raus. Wir wissen, dass du Shorty und Hubert ermordet hast, um uns dazu zu bringen, den Weihnachtsras zu verhaften... und wir haben sogar Beweise dafür", log Irina frech als Vorbereitung für ihren Vernichtungsschlag "Es ist vorbei, Johann."
"Nichts ist vorbei, Kindchen, rein gar nichts!", rief Johann, legte die nutzlos gewordene Armbrust langsam in den Schnee, ließ die jetzt leeren Hände mit einer geschmeidigen Bewegung unter seinen Umhang auf dem Rücken gleiten und richtete sich wieder auf "Ganz im Gegenteil...ich hab' noch nicht einmal angefangen."
Dann trat er noch weitere drei Schritte zurück... und bewegte sich damit genau in das Schussfeld des Gefreiten Ortbe...

Am Kunstturm:
Die Nasenflügel des Weihnachtsras bebten, als er den Kopf hob, um die Quelle dieses vollkommen unpassenden Geruches zu orten, den eine kecke Windböe zu ihm nach oben getragen hatte. Das war ein Schwelbrand! Irgendetwas kokelte dort unten vor sich hin, und obwohl es ihm eigentlich egal sein und sein Hauptinteresse den überaus spannenden Geschehnissen in der Gasse gelten sollte, sagte ihm eine inneren Stimme, dass der Geruch zu einem wichtigen Detail gehörte, das er bisher übersehen oder vernachlässigt hatte.
Suchend bohrten sich seine scharfen Vampiraugen durch den kaum noch fallenden Schnee in der Nacht, glitten über die Dächer mit den angespannt wartenden FROGs, schauten in die Gasse hinunter, in der sich sein Doppelgänger gerade als Lt Lanfear herausgestellt hatte... und blieb schließlich an dem Gebäude des Musikladens hängen, aus dem Zupfgut vor wenigen Minuten so überraschend herausgetreten war und an dessen Hinterseite der Vampir eine kleine Rauchsäule aufsteigen sah.
Widerwillig ließ er sich in die Nacht fallen, verwandelte sich mit einem leisen Plöpp in eine Fledermaus und flatterte rasend schnell in einem großen Bogen auf die Rückseite des Musikladens, wo er sofort den dunkelgrauen Rauch entdeckte, der in unternehmungslustigen Wölkchen aus einen gekippten Fenster quoll.
Wieso sagte ihm sein Instinkt, dass es so wichtig war, hier nach dem Rechten zu sehen?
Ein flüchtiger Blick offenbarte dem Weihnachtsras nach seiner Rückverwandlung, dass er vergebens auf eine Hintertür gehofft hatte und so ergriff er kurzerhand den Rahmen des Fensters und brach ihn mit einem brutalen Ruck nach innen aus der Verankerung. Katzengleich erklomm er den leicht verwitterten, mit halb geschmolzenem grauen Schneematsch bedeckten Fenstersims und sprang hinein. Graue Rauchschwaden wabberten unförmig durch die Luft und machten es selbst einem Vampir nicht leicht, alle Details zu erkennen. Anscheinend befand er sich in einer Art Esszimmer, denn dominiert wurde der Raum von einem großen Holztisch mit kunstvoll geschnitzten Beinen, auf dem Besteck und Geschirr zu einem präzisen Muster ausgelegt waren, damit drei Personen hier eine gemütliche Mahlzeit einnehmen konnten. Was den Eindruck allerdings zerstörte, war der große Brandfleck in der Mitte des Arrangements, in dessen Mitte sich ein kleiner Haufen glühender Kohle langsam aber stetig durch die Tischplatte fraß und dabei unter anderem die Versiegelung verdampfte.
Der Weihnachtsras runzelte die Stirn. Reimförmig regten sich Gedanken hinter seiner Stirn und streckten sich nach der Lösung des Rätsels aus, verpassten es doch noch immer knapp. Ein leises Stöhnen riss ihn aus den Gedanken. Im Nebenzimmer, welches durch einen großen Mauerbruch mit dem Esszimmer verbunden war, konnte er zwei Gestalten erkennen, eine Frau und ein Kind, die an einen Ofen gefesselt waren und offensichtlich beide durch die Rauchentwicklung am Rande einer Ohnmacht standen.
"Ich frag mich nur, in deinem Wahn,
was du hier hast vorhin getan!", fluchte der Vampir, sprintete ins Nebenzimmer, griff sich eine kleine Holztruhe, in der Brennholz für den Ofen aufbewahrt wurde und schleuderte sie kraftvoll durch das Fenster. Der so entstandene Durchzug begann augenblicklich mit Macht an den Rauschschwaden zu zerren und sie zu vertreiben. Sofort griff sich der Weihnachtsras die volle Spülschüssel und goss dessen ganzen Inhalt auf die schwelenden Kohlen... dann sah er in der sich klärenden Luft die kleinen, dampfenden Kothäufchen in einer sehr charakteristischen Form auf dem klatschianischen Teppich, der in dem Durchgang ausgelegt war und plötzlich machten seine Gedanken einen gewaltigen Satz, ihre gierigen Krallen in die Lösung versenkend. Schlagartig fielen dem Weihnachtsras wieder die von Korporal Picardo notierten Meldungen über die gestohlene Kohle ein... und den am selben Tag verschwundenen Sumpfdrachen.
Mit einem hasserfüllten Fauchen verwandelte er sich in eine Fledermaus und schoss durch die zertrümmerte Fensteröffnung.

Innerer Ring, G Ortbe:
"Na komm schon! Sei ein braver Wahnsinniger und zeig mir deine Hände. Zieh sie unter dem Umhang heraus.", murmelte er hochkonzentriert und presste sein rechtes Auge fest an den Zieldämon. Sein Finger liebkoste den Abzug seiner Spezialarmbrust am Druckpunkt. Zu gern hätte er sein Können unter Beweis gestellt, doch noch immer war kein Zeichen von Lt. Lanfear gekommen und seine Chefin hatte unmissverständlich klargemacht, was mit ihm geschehen würde, sollte er VOR dem Zeichen einen Schuss abfeuern.

Beschwörergilde, erster Stock:
Olt Knurblich spürte, dass etwas schief ging und betätigte lautlos die Entriegelung des nach oben schiebbaren Fensters.
"Was machst du?", hauchte Araghast atemlos. "Lt Lanfear hat noch kein Zeichen gegeben!"
"Ich weiß!", knurrte die Gnomin und fixierte den vor der RUM-Chefin stehenden Mann. "Mach schon, verdammt... Mach schon, Irina! Lass uns die Sache beenden."

In der Gasse:
"Wieso ausgerechnet Shorty?", fragte Irina unverbindlich und registrierte mit wachsender Sorge Johanns Hände unter dem Umhang "Er stand in keinerlei Verbindung zu Hauptmann Ohnedurst."
"Er war nur ein dummer Kerl, dessen Zeit abgelaufen war, wie ich fand, und der sich zur rechten Zeit am falschen Ort befand. Er stand direkt neben dem Vampir, als er sich in diesen clownartigen Wahnsinnigen verwandelte. Hat sich sogar noch kurz mit mir darüber unterhalten. Eine willkommene Zugabe und schließlich hat er eine hervorragende Leiche abgegeben, nicht wahr!", spottete Johann und schaute kurz zu den Dächern hinauf. "Wie viele Armbrüste versuchen dich zu schützen? Drei? Vier? Sie werden dir auch nichts nützen."
"Wir werden sehen... Haufen-Hubert konnte deiner Armbrust ja schließlich auch nicht entkommen.", gab Irina einen weiteren Schuss ins Blaue ab.
Zupfgut kicherte.
"Nein... das konnte er nicht und du hättest mal sein ungläubiges Gesicht sehen sollen, als er starb."
Das war es. Sie hatten ihn. Die Bestätigung beider Morde war nun auf dem Diktierdämonen gespeichert und die Unschuld des Weihnachtsras bewiesen. Langsam hob sie die Hand und setzte sich den Finger an die Kehle.
"Nanananana... aber, aber... mein Froilain... das soll doch wohl kein Zeichen sein, oder? Bin ich jetzt zum Abschuss freigegeben? Das würde ich mir aber noch mal überlegen, wenn ich du wäre!", stoppte Johann die Wächterin mitten in der Bewegung und zog seine Hände unter dem Umhang hervor.

Beschwörergilde, erster Stock:
"Sumpfdrachen! Dieser Irre hat Sumpfdrachen in der Hand!", rief Olt Knurblich und zerrte an dem Fensterladen, um ihn nach oben zu schieben. "Verdammt, Bregs, hilf mir endlich!!"

Innerer Ring, G Ortbe:
"Scheiße...", entfuhr es dem Gefreiten, als er sah, welches Ass Johann unter seinem Umhang gehabt hatte. Was sollte er jetzt machen? Hastig nahm er den Kopf vom Zieldämon und suchte CK Sidney, doch der war inzwischen aufgesprungen und hastete über das Dach, auf dem er bis vor einigen Sekunde noch reglos gelegen hatte, um in eine bessere Schussposition zu kommen.
"Verdammter Mist.", fluchte er erneut, senkte den Kopf und visierte einen der Sumpfdrachen an.

In der Gasse:
Jetzt war es Irina, die ganz langsam Schritt für Schritt zurückwich und ganz gebannt auf die beiden Sumpfdrachen in Johanns Händen schauend das inzwischen überflüssige Zeichen gab.
"Es wird langsam Zeit, dass ich mich verabschiede, meine Liebe.", enthüllte Zupfgut lächelnd, "Es war mir ein echtes Vergnügen, dich mal wieder gesehen zu haben, Rina, aber du weißt ja: man soll gehen, wenn es am schönsten ist. Nur noch eines: Du hast deinen Beruf verfehlt. Du hättest Schauspielerin in der Scheibe werden sollen. Dein Auftritt als Weihnachtsstinker war preissverdächtig... und nun, mein Mäuslein, wollen wir doch mal sehen, wie gut du fangen kannst...!"
Mit diesem Worten riss Johann beide Arme hoch, schleuderte einen der sich windenden Sumpfdrachen auf die Wächterin, den anderen gleichzeitig aber gegen die Mauer, die den Durchgang zwischen den Trakten der Universität zur Pfirsichblütenstrasse versperrte und warf sich flach auf den Boden.

Die Zeit schien sich zu dehnen, schien nicht mehr an sich selbst gebunden zu sein udn ihre eigenen Gesetzmässigkeit in Frage zu stellen.
Mit wütendem Geflatter schoss die Fledermaus steil an der Mauer empor, jagte raketengleich in einer ballistische Kurve über das Gebäude und tauchte nach einem abrupten Richtungswechsel in die Gasse ein, noch immer durch heftiges Schlagen der Flügel die Geschwindigkeit steigernd. Gerade, als die Sumpfdrachen Johanns Hand verließ, schoss der Flattermann über diesen hinweg und verwandelte sich zurück. Die Geschwindigkeit trug den ausgewachsenen Körper mit enormer Wucht gegen Lt Lanfear, vielmehr gegen deren Brustplatten, und der Aufprall schleuderte sie zusammen mehrere Meter durch die Luft nach hinten, bevor sie wieder den Schnee berührten, sich einige Male miteinander überschlugen und dann liegen blieben.
Eine Sekunde vorher hatte Ortbe die erste echte Entscheidung in seinem Leben als FROG zu treffen gehabt: Zwei Ziele, ein Bolzen. Doch sein Instinkt übernahm mit rasender Geschwindigkeit die Kontrolle und einen halben Atemzug später durchbohrte das Geschoss den auf Irina zufliegenden Drachen genau in der Mitte und er explodierte in einem enormen Feuerball. Keine Sekunde später durchfuhr eine weitere Erschütterung die Gasse, als der zweite Drache die Mauer traf und durch seine Explosion ein mannshohes Loch hineinriss.

In der Beschwörergilde hatte Lt Knurblich einen Glasregen ertragen müssen, als die Explosionen das Fenster, vor dem sie stand, zum Bersten brachte und sie sich mit einem kraftvollen Hechtsprung auf den bereits abgetauchten K Breguyar rettete. Sofort war sie wieder auf den Beinen und kletterte zurück auf die Fensterbank.
"Bregs, beweg dich. Er will abhauen...", rief sie und hüpfte in den Nacken des leicht benommen aufstehenden Korporals, wo sie sich an dessen schwarzem Haarschopf festklammerte. "Wir müssen sofort da runter! S-O-F-O-R-T!"
Araghast verstand instinktiv, was seine Chefin von ihm wollte und sprang aus dem Fenster in den Schnee. Noch im Sprung sah er Johann durch das Loch in der Wand zur Pfirsichblütenstrass flüchten. Unten angekommen federte der Halbvampir wieder hoch und sprintete los.
"ROGI!", schrie die Gnomin auf dessen Schulter zu dem Fenster, aus dem sie eben gekommen waren, in dem dieser auch prompt erschien, da er vor der Tür des Kommandopostens gewartet und dafür gesorgt hatte, dass die beiden nicht gestört worden waren.
"MA'AM-FÖR?"
"BEWEG DEINE ERSATZTEILE RUNTER UND KÜMMER' DICH UM DIE BEIDEN!", rief Venezia, deutete auf die beiden reglosen Gestalten am Ende der Gasse und richtete dann noch einen letzten Befehl an alle FROGs in Hörweite. "KEINER RÜHRT MIR JOHANN AN! DAS IST EIN BEFEHL!"
"Der gehört mir...!", knurrte sie wölfisch in Bregs Ohren. Dann waren die beiden verschwunden.

Der Einfachheit halber folgte Rogi dem Beispiel seiner Chefin und sprang ebenfalls durch die Reste des Fensters. Doch kaum war er unten angekommen, erkannte er, dass er nur noch ein Patienten übrig war, da der andere sich in eine Fledermaus verwandelt und mit einem unangenehmen Kreischen in die Nacht geflüchtet hatte.

"Er will über den Ankh!", sagte Araghast zu seiner Chefin.
"Warum sollte er so dumm sein? Das ist offenes Gelände?", wunderte sich diese, als sie von der Gasse rechts in die Pfirsichblütenstrasse gehetzt waren und in ca. 20 Metern Entfernung Johann Zupfgut auf das Ufer des Ankhs zurasen sahen. Die Gnomin traute ihren Augen nicht, als der Flüchtende tatsächlich die mehr als zähflüssige Masse betrat und auf das andere Ufer zuhastete, das an die Lustgärten der Zauberer grenzte. "Aber um so besser...! Jetzt gehört dein Arsch mir, Johann!"
Mit einer fliessenden Bewegung nahm Venezia einen Haarschopf zwischen die Zähne, riss die kleinen Lederhandschuhe aus dem Gürtel ihres Kampfanzuges und zog sie über. Jetzt würde sich herausstellen, ob Araghast genauso treffsicher war wie Rascaal, mit dem sie diese Methode ursprünglich entwickelt hatte.
"Stop, Bregs, halt an...!!", befahl sie "Plan B!"
Ohne zu zögern griff der Halbvampir in seinen Nacken und nahm seine Chefin in die Hand. Seine ganze Wahrnehmung fokussierte sich jetzt auf den Mann, der mit fliegenden Beinen auf das andere Ufer zustrebte... und dann warf er.
In einer perfekten Flugbahn schoss Olt Knurblich wie ein Meteor durch die Nacht und landete genau in Johanns Nacken, der durch den Treffer von den Beinen gerissen wurde und mit dem Gesicht nach unten auf den Ankh schlug. Sofort riss sie ihren Gnomensäbel aus der Scheide und versetzte ihrem Gefangenen mit dem Knauf einen brutalen Hieb auf den Hinterkopf, der ihn augenblicklich erschlaffen liess... und dann noch einen für Haufen-Hubert... und noch einen dafür, dass sie ihre FROGs an der Nase hatte herumführen müssen... und noch einen dafür, dass sie nicht wusste, ob Rina die Explosion überlebt hatte... und noch einen dafür, dass es hier so entsetzlich stank. Dann war K Breguyar zur Stelle und entriss der tobenden Gnomin die Waffe...

***


Drei Stunden später:
Das Mondlicht, welches endlich über die schneebringenden Wolken gesiegt hatte, strahlte noch immer auf die rot-weiss gekleidete Gestalt auf einem der höchstgelegenen Dächer der Stadt, deren zotteliges Nackenhaar noch immer leicht verbrannt roch, obwohl es sehr zügig wieder nachgewachsen war.
Die Explosion des Sumpfdrachen hatte wie eine glutheisse Feuerzunge über seinen Nacken geleckt und seinen Kopf mit der Wucht eines herabsausenden Schmiedehammers getroffen, was für ein paar Momente den kompletten Verlust seines Orientierungssinnes zur Folge hatte. Gleich den Kugeln auf dem Ankh-Morpork-Spiel des Kommandeurs war der Weihnachtsras nach seiner Rückverwandlung in die Fledermausgestalt lautlos kreischend durch die nahgelegenen Häuserschluchten gerast, die Fassaden wiederholt touchierend und nur durch puren Zufall nicht frontal in eine Mauer rasend.
10 Minuten später liess der Druck in seinem Kopf nach und der Vampir schaffte es, wieder geradeaus zu fliegen, ohne dabei nach links und rechts zu schlingern oder um die eigene Längsachse zu schlingern.
Zu diesem Zeitpunkt war schon alles vorbei gewesen.
Lange nachdem der Nachhall aufgehört hatte, durch seinen Kopf zu grollen, lange nachdem er beobachtet hatte, wie Lt Lanfear leicht humpelnd und von zwei FROGS gestützt aus der Gasse geführt worden war, lange nachdem Johann Zupfgut mit einem seltsam befriedigten Lächeln zum Wachhaus am Pseudopolisplatz gebrachte worden war, sass der Weihnachtsras noch immer in seiner letzten Nacht für dieses Jahr auf den Dachziegeln, schaute anklagend zum fahlen Mond empor und versuchte zu verstehen, warum er sich nicht wie ein Sieger fühlte. Niemand lachte, nachdem er so kurz vor dem Ziel gestoppt worden war.
"Ich wünschte, ich wüsst', was du führest im Schilde.
Hab alles versucht und bin doch nicht im Bilde!", murmelte er, ging zum wiederholten Mal die Geschehnisse der Woche im Geiste durch und versuchte sich vorzustellen, was er getan hätte, um auch zuletzt noch so siegesbewusst grinsen zu können.
Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen und er verstand, dass sie alle noch immer Johanns kleine Mäuslein waren. Eiligst machte er sich auf den Weg.

Wachhaus am Pseudopolisplatz, 30 Minuten später:
Nach den aufreibenden Ereignissen der vergangenen Woche waren die beiden Gefreiten, welche die Nachtschicht am Wachetresen darstellen sollten, die einzigen Wesen, die im ganzen Gebäude noch wach waren. Richtig wach war vielleicht etwas übertrieben, vielmehr dämmerten sie mit halbgeschlossenen Augen der Hoffnung auf einen Morgen mit Dienstschluss und einem überaus reichhaltigen Frühstück entgegen... bis die Tür zur Eingangshalle aufgestoßen wurde und ein Botenjunge von Hargars Imbiss mit drei schwer aussehenden Tüten beladen über die Schwelle trat.
"Eil-Lieferung für die Nachtschicht mit besten Grüssen von...", schnaufte der Bote und wuchtete die Tüten auf den Tresen, hinter dem die beiden Wächter mit großen Augen auf die Tüten starrten und mit gierigen Nasen den köstlichen Duft inhalierten. "... einem zufriedenen Bürger!"
"Ein zufriedener Bürger? Wer soll das denn sein?"
"Woher soll ich das denn wissen, Mann?", maulte der Junge "Ich schlepp das Zeug nur in der Gegend rum. Also: Das in den ersten beiden Tüten ist der große Frühstücks-Schnäck nach Art des Hauses, in der dritten Tüte ist die Soße... und ich bekomm' eine Unterschrift genauuuuu... hier!"
"Was soll's... Vielleicht bringt dieser Höflichkeitsblödsinn, den wir hier seit einer Weile veranstalten, ja doch was... und wenn es nur Essen ist."
"Das kriegen wir nie alleine auf!", befürchtete sein Kollege, nachdem der Bote wieder gegangen war.
"Dann sag eben noch Weufolt Bescheid, der hinten Zellendienst hat... der lässt nie etwas verkommen..."

Johann Zupfgut hatte lang ausgestreckt unter der dünnen Decke auf der Pritsche in seiner Zelle gelegen und unter Kopfschmerzen, die von den Hieben der Gnomin geblieben waren, über das Katz-und-Maus-Spiel der letzten Woche nachgedacht. Schön, es hätte besser laufen können und er hatte auf seinen absoluten Notfallplan ausweichen müssen, doch eines hatte Johann spätestens in dieser Zelle begriffen: Wenn man bereit ist, sich selbst für sein Ziel aufzugeben, dann wird man immer die Katze sein.
Schließlich war er eingeschlafen und hatte angefangen zu träumen. Schöne Träume. Prophetische Träume, in denen er als geständiger Mörder, der nicht den Assassinen übergeben worden war, sein Recht wahrnahm, vor dem Patrizier vorzusprechen und ihn um Gnade anzuflehen. Nicht, dass dieses Vorrecht großartig bekannt war, sehr oft wahrgenommen wurde, geschweige denn jemals bei irgendjemandem etwas genutzt hatte. Da durfte man sich keinen Hoffnungen hingeben. Deswegen war es wohl auch in Vergessenheit geraten, aber der immer interessierte Johann war damals im Buch eines Rechtsexperten der S.E.A.L.S. darauf gestoßen. Es würde ihm Gelegenheit geben, Lord Vetinari von den Missständen in der Stadtwache zu berichten, von der jährlichen Verwandlung des stellvertretenden Kommandeurs zum verrückten Weihnachtsras und dessen stillschweigende Tolerierung durch Kommandeur Rince. Letztenendes würde Johann untergehen, das wusste er, jedoch würde er Hauptmann Ohnedurst und vielleicht sogar den Kommandeur mit sich in die Tiefe ziehen.
Dieser herrliche Traum ließ ihn tiefer und tiefer in seinen Schlaf hinabgleiten, wodurch er nichts von dem lieblich-amüsiertem Klingeln der kleinen Glocke mitbekam, die den Zipfel der Mütze auf dem Kopf der Gestalt zierte, die gerade schattengleich und mit dem Schlüssel des am Tresen genüsslich in eine würzige Rippe beißenden Zellendienstes unbeobachtet seine Zelle betrat.

Der Weihnachtsras gönnte es sich, drei genüssliche Sekunden lang dem tiefen und gleichmäßigen Atem des Schlafenden zuzuhören, bevor er lautlos an dessen Pritsche trat und ihm äußerst vorsichtig mit den Fingerspitzen die dünne Decke, das aus Kostengründen nicht viel mehr, als ein Laken war, vom Leib zog und dabei liebevoll ein Schlaflied summte.
Ting-Ting...
erklang das Glöckchen, leise und gut gelaunt, wie auch dessen Besitzer, dessen Lächeln auf den blutleeren Lippen die Fröhlichkeit eines Alptraumes besaß, während er mit scheinbar geübten Bewegungen die inzwischen eingedrehte Decke mit dem einen Ende durch die Gitterstäbe des gegen die Kälte geschlossenen Fensters über dem Bett einfädelte und aus dem Anderen ein Schlinge formte, dessen todbringende Öffnung um den Hals des noch immer tief schlafenden Johann Zupfgut zu liegen kam..
Ting-Ting...
Mit dem losen Ende in der Hand, verharrte der Vampir ein paar Sekunden an dem Bett, dachte an das Elend dieser Woche, dachte an die Menschen, die wegen der Rachegelüste dieses Mannes hatte sterben müssen... dachte an Haufen-Hubert, dessen Ideen er so viele herrlich gehässige Streiche zu verdanken hatte... und riss mit erbarmungsloser Kraft an dem improvisierten Seil, bis Johanns Füße frei über dem Boden zappelten, wo eben noch das Bett gestanden hatte, welches er mit einem Tritt zur Seite befördert hatte.
Ting-Ting...
Genussvoll betrachtete der Weihnachtsras der panischen Blick in den Augen des Gehängten, als er gewahr wurde, was geschah, wer es ihm antat... und dass er nicht das Geringste dagegen tun konnte. Nur wenige Zentimeter vom Gesicht Johanns entfernt, schaute der Weihnachtsras diesem tief in die Augen, neigte den Kopf gebannt zur Seite und war fasziniert von dem Moment kurz bevor der Blick brach und die Augen glasig wurden. Als dieser Augenblick da war gab er dem Sterbenden einen einzigen geflüsterten Vers mit auf den Weg.
"Jetzt stirbst ja endlich, dein Leben ist aus.
Konnt nicht anders enden, denn du bist die Maus!"
Ein paar Sekunden später war es vorbei, und der Vampir verknotete das lose Ende an den Gitterstäben, nachdem er den Toten wieder ein paar Zentimeter runtergelassen hatte, damit es so aussah, als hätte er das Bett aus eigener Kraft weggeschoben.
Von dem lieblich-süßen Klang seiner Glocke begleitet, verließ der Weihnachtsras das ruhig daliegende Wachhaus auf dem selben Wege, auf dem er es betreten hatte.

Tag 7

Wer ist die Maus?


Epilog:
Kommandeursbüro, kurz vor dem zweiten Frühstück:
Aufmerksam beobachtete Hauptmann Rascaal Ohnedurst, wie durch das einigermaßen saubere Fenster des Büros seines Chefs die Sonnenstrahlen auf den in seiner Hand liegenden Offiziersdolch fielen und von dort aus an die trüb-weiße Decke reflektiert wurden, wo sie tanzende Lichtpunkte bildeten.
Vor wenigen Minuten hatte Rince ihm die Waffe ausgehändigt, dem Vampir gleichzeitig fast eine Stunde lang die Geschehnisse der vergangenen Woche detailliert berichtet und um eine Stellungnahme gebeten... erfolglos.
"Und dabei wirst du bleiben?", fragte Rince, dessen Zunge von der Rederei ausgetrocknet war und sich nach einem herrlich kühlen Bier sehnte... vielleicht in Verbindung mit dem leckeren Doppelsandwich, welches in der zweiten Schublade von unten noch darauf wartete, gegessen zu werden.
"Sör!", antwortete Rascaal mit ruhiger Stimme und schob den Dolch ohne hinzuschauen treffsicher in die Scheide an seinem Gürtel "Wie soll ich zu etwas Stellung nehmen, von dem ich nichts weiß? Wird mir, als Hauptmann Ohnedurst, irgendetwas vorgeworfen?"
"Ich... ääh... nein... nein, natürlich nicht.", wiegelte Rince ab, lehnte sich zurück und schaute seinem Stellvertreter aufmerksam in die Augen. Nachdem heute Morgen Zupfguts Leiche nach dessen Selbstmord in seiner Zelle aufgefunden worden war, schien alle Erklärungsnot, speziell dem Patrizier gegenüber nun wohl endgültig vorbei zu sein und das war dem Kommandeur nur recht. Er war müde. Müde von den endlosen Stunden, die er im Laufe der Woche untätig ausharrend in seinem Büro hatte verbringen müssen, müde von den schlechten Nachrichten, die immer wieder eingetroffen waren, und müde von den Entscheidungen, die er im Verlauf der letzten Woche zu treffen gehabt hatte.
"Dann sind wir wohl fertig, nehme ich an.", stellte der Vampir fest und stand auf "Wenn dann nichts mehr wäre... ich hab noch eine Menge zu tun."
"Wie? Ja... ja natürlich, geh nur!", entließ der Kommandeur den I.A.-Agenten und beobachtete nachdenklich, wie dieser den Raum verließ und trat dann ans Fenster seines Büros, um den Blick über den Pseudopolisplatz mit seiner verfluchten Oper schweifen zu lassen, zu dessen Besuch seine Frau ihn in regelmäßigen Abständen zwang. Alleine der Gedanke daran verursachte einen Anflug von Kopfschmerzen, weshalb er nach den Gardinen griff, um seinen armen Gehirnwindungen eine Pause zu gönnen und sie mit einen Ruck zuzog.
Sein entsetzter Aufschrei war noch tief in den Röhre der drei Dämonen zu hören und wurde von Reggie mit einem breiten Grinsen quittiert.

Eine halbe Stunde später sass Hauptmann Ohnedurst noch immer allein und regungslos auf seinem Bürobalken, ein Bein dicht an den toten Körper herangezogen, das Andere achtlos an der Seite herunterhängend und starrte mit einem Gesichtsausdruck aus dem über ihm liegenden Dachfenster, der zu keinerlei Emotion passen wollte.
Gleich würde der Vampir hinaustreten, um Haufen-Hubert, einem seiner besten Freunde, einem seiner wenigen Freunde das letzte Geleit zu geben. Nicht einmal ein allerletzter Zug durch die Schatten war Rascaal mit ihm mehr vergönnt gewesen. Kein letztes Gespräch. Kein letzter Scherz. Kein letztes Lachen. So plötzlich, so schnell, unerwartet... und so unnötig
Lautlos liess sich Hauptmann Ohnedurst zur Seite gleiten, wirbelte in der Luft einmal um die eigen Achse und landete katzengleich auf den Bodendielen seines Büros. Noch während er den Raum langsamen Schrittes durchquerte, fragte sich der Agent, ob er es hätte verhindern können, es hätte voraussehen müssen, kam allerdings zu dem Schluss, dass es unter den gegebenen Umständen nicht möglich gewesen wäre. Haufen-Huberts Tod war ein unglücklicher Zufall und Verlust gewesen.
Nach kurzem Zögern hob er seinen Arm und schloss seine bleichen Finger um eine der Falten im nachtschwarzen Stoff, welcher den mannshohen Spiegel neben der Eingangstür verhüllte und riss ihn mit einem kräftigen Ruck herunter.
Nichts, rein gar nichts, wie er ohne Überraschung feststellte.
Einer seiner Grundsätze war es von je her gewesen, dass jedes Wesen immer wissen sollte, was und wer es war und die reflektierende Fläche vor ihm half Rascaal dabei.
Plötzlich veränderte sich unter dem stirnrunzelnden Blick des Hauptmanns das Spiegelbild und bei genauerer Betrachtung erkannte er einen schemenhaften, roten Schatten, der ihn mit grausam-vergnügten Augen zuzwinkerte. Die Augen zu Schlitzen verengend, musste der Agent mitansehen, wie die Gestalt näher zu kommen schien, konnte beinahe das fröhliche Klingeln der kleinen Glocke am Ende der Mütze und die Worte hören, als sie den Mund öffnete und mit schmunzelnden-blutleeren Lippen die Worte 'Wer ist die Maus?' formte.
Sekunden vertickten in einsamer Monotonie. Sekunden, in denen Rascaal den Blick zu Boden gesenkt hatte.
Schließlich schaute der Vampir wieder auf und gewährte dem Weihnachtsras einen kurzen Blick hinter die Maske auf seiner Seele, die so perfekt sass, dass er sich selbst sogar manchmal davon täuschen liess. Zeigte ihm das Lächeln, welches kälter war als der Wind auf den Gipfeln der Spitzhornberge, sowie einen grausamen, gierig-lustvollen Blick, in dem die Schwärze der dunkelsten Schatten der Nacht lag. Nur für einen Moment entblößte Rascaal das reißende Maul seiner schwarzen Seele, doch dieser kleine Augenblick reichte dem Weihnachtsras im Spiegel, um zu erkennen, dass er getäuscht worden war. Er, der Weihnachtsras, war die Maus. Er und alle Anderen, die sich schon im tödlichen Netz Rascaals befanden, ohne auch nur die Spur einer Ahnung davon zu haben.
Dann traf die Faust des Vampirs den Spiegel und zerschlug ihn mit gnadenloser Wucht zu einer Explosion glitzernder Scherben.
"Bis zum nächsten Jahr, mein Freund!", hauchte er und konnte gerade noch ein schallendes Gelächter unterdrücken.
Er war ein Vampir, ein Gaukler, ein Blender, ein eiskalter Mörder, ein Meister der Lüge und ein Intrigant der Nacht... und niemand außer No-Name wusste es.

Als Hauptmann Rascaal Ohnedurst fünf Minuten später auf den Flur trat, um sich auf den Weg zu machen, von Haufen-Hubert Abschied zu nehmen, fand er dort schon Venezia in Begleitung der gesamten FROG-Truppe in Ausgehuniform vor, die angetreten waren, um ihn dabei zu begleiten. Hinter ihnen erkannte er Pismire und Rina, deren Arm in einer Schlinge steckte.
"STILLGESTANDEN!", befahl die Gnomin in scharfem Tonfall und der Knall der in einer einzigen, fliessenden Bewegung zusammengeschlagener Hacken hallte über den Flur.
Für einige Moment trafen sich die Blicke der Wergnomin und des Vampirs, dessen Maske wieder ihren bisherigen Platz eingenommen hatte, und trösteten sich gegenseitig, stützten sich. Dann nickte Rascaal stumm, wartete, bis Venezia auf seine Schulter geklettert war, und ging mit starrem Blick an den Angetretenen vorbei, die Einer nach dem Anderen aus der Reihe austraten und dem Hauptmann nach unten folgten, wo Haufen-Huberts Leiche unter einem Tuch mit dem Wappen der Stadtwache auf seinem Karren lag und darauf wartete, von seinen Freunden zu seiner letzten Ruhe geleitet zu werden.

Alle Dinge haben ihre Zeit, dachte Rascaal, als er die stumme Prozession anführend über den Pseudopolisplatz langsam in Richtung Friedhof ging. Eine Zeit des Friedens, eine Zeit des Kampfes, eine Zeit des Verrates und eine der Loyalität... und irgendwann würde es auch eine Zeit geben, die Masken fallen zu lassen... irgendwann.
Doch nicht jetzt.
Jetzt war die Zeit für Trauer, Abschied und Erinnerung.

ENDE

Diese Geschichte wurde inspiriert und getragen von den Songs 'Hollywood' und 'Because Of You' der Band Nickelback, sowie des schleichend-gierigen Wahnsinns der aus den Liedern zu mir drang und meine Finger beim Tippen führte.
KEINE DISKUSSION ERWÜNSCHT!



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