Gegen den Sonnenkönig

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von Hauptgefreiter Tunnelblick (RUM)
Online seit 13. 08. 2003
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Aus der Wache geschmissen? So nicht! Aber auf dem Weg zum Wachhaus wird Tunnelblick in Geschehnisse hineingezogen, die bedeutender sind als der Streit mit einem aufgeblasenen Vorgesetzten.

Dafür vergebene Note: 11

Gegen den Sonnenkönig

"Also, Jungs, wenn das klappt, dann wird niemand auf dieser Scheibe jemals wieder frieren müssen. Drei - Zwei - Eins..."
BUMMMM!!!


***


Es war ein herrlicher Tag, der heißeste des ganzen Jahres. Von nichts getrübt brannte die Sonne vom wolkenlosen Himmel herab und wärmte den unrasierten kleinen Mann, der vor Wut zitterte. Fassungslos starrte Tunnelblick auf den Zettel in seiner Hand. Wieder und wieder las er die lapidaren Zeilen:

Hallo Hauptgefreiter!
Du wurdest hiermit aus der Wache entlassen.
Gruß
Rascaal Ohnedurst, Hauptmann

Tunnelblick - das bedeutete wirr, Werwolf, Wächter. Vor allem Wächter. Na ja, eigentlich vor allem wirr, aber... Was jetzt? Dieser dahergelaufene... dieser... Blutsauger... dieser Bürokratenarsch! Was fiel diesem Kerl eigentlich ein? Wie kam der dazu...
Tunnel?
"Was?"
Er war nicht bereit, sich seinen Wutanfall von seinen inneren Stimmen kaputtreden zu lassen.
Äh... Tunnel...
"Ja - was?!"
Es ist nur so, dass du seit einem Jahr nicht mehr beim Dienst warst.
"Und was soll das mit einer Entlassung zu tun haben?"
Das musste sein Gesprächspartner erst einmal verarbeiten. Tunnelblick lächelte grimmig. Er mochte diese Momente, in denen es ihm gelang, sich selbst auszutricksen.
Tunnelblick - sieh der Wahrheit ins Gesicht. Die Stadt wird Dich nicht länger bezahlen, damit Du zu Hause sitzt und Krimis liest.
"Das wollen wir erst einmal sehen."
Grimmig knallte der Hauptgefreite a. D. die Tür hinter sich zu. Er wunderte sich nur, dass er sich nicht vor Zorn ganz von selbst in seine Wolfsgestalt verwandelte. Aber besser so. Er wollte diesem Wichtigtuer die Meinung sagen, nicht bellen. Wutschnaubend ging er zum Wachhaus.


***


Als er den Pseudopolisplatz erreichte, hatte er sich nicht im Mindesten beruhigt. Es war ein strahlender, sonniger Tag, aber es hätte niemanden überrascht, wenn in Tunnelblicks Blickfeld Blitze eingeschlagen hätten.
So rauschte er unbeirrbar quer über den Platz auf das Wachhaus zu, als ihm der erste Fehler im Bild auffiel. Links und rechts des Wachhauses waren zwei Wagen zum Stehen gekommen, die dem Betrachter durch ungewöhnliche Aufbauten auffielen. Aus stabilem Holz gefertigte Türme ragten von beiden Ladeflächen bis zum ersten Stock des Wachhauses empor. An ihren oberen Enden waren kreisrunde Scheiben von etwa anderthalb Meter Durchmesser befestigt, die mit Leinentüchern verdeckt waren. Tunnelblick rief sich den Bauplan des Gebäudes ins Gedächtnis: Die Scheiben waren auf die Fenster zu Beginn und Ende des Wachhausflures ausgerichtet. Ein dritter Wagen mit ähnlichem, aber weniger hohem Aufbau stand nicht allzu weit vom Hauptor entfernt.
Kopfschüttelnd stand der geschasste Wächter auf dem Platz. Er hatte nicht einmal eine Ahnung, was diese Konstruktion sollte. Stattdessen richtete er sein Augenmerk auf die Besatzung der Wagen. Er sah große Männer in schwarzen Rüstungen. Viele große Männer in schwarzen Rüstungen. Mindestens sechzig dieser finsteren Figuren hatten vor dem Wachhaus Stellung bezogen. Menschen, so vermutete Tunnelblick, doch sicher konnte er sich da nicht sein - die schwarzen Visiere ließen auf die Entfernung die Gesichter nicht einmal erahnen. Wenn er darüber nachdachte, war seine erste Idee sogar unwahrscheinlich. Kein Mensch hätte freiwillig bei dieser Bullenhitze eine schwarze Rüstung angezogen. Wer aus dem Leben scheiden wollte und danach als zart gegarte Nahrung dienen, setzte sich lieber in einen großen Dampfkochtopf, das ging schneller.
Tunnel zog sich von der Mitte des Platzes zurück in die Reihen der Ankh-Morporker, die sich sofort versammelt hatten, wie immer, wenn sich etwas Ungewöhnliches zu ereignen schien. Ungewöhnlich schien ihm zunächst, dass sich kein Wächter auf dem Platz blicken ließ. Sechzig schwer bewaffnete und gerüstete Männer mit seltsamen Wagen vor seiner Haustür hätten vielleicht sogar ihn selbst veranlasst, zumindest nach dem Rechten zu sehen, und es gab weiß Gott fleißigere Wächter als ihn.
In der Tat sah er im ersten Stock des Wachhauses eine Bewegung hinter einem Fenster. Ärger wallte in ihm auf, als er begriff, dass dies das Büro von Hauptmann Ohnedurst war. Schnell wich dieser niedere Trieb aber noch niedrigerer Schadenfreude, als er sich vorstellte, welche Qualen es dem Vampir trotz Sonnencreme bereiten musste, sich so nah an diesen strahlenden Sonnenschein heranzuwagen. Plötzlich genoss Tunnelblick den Sommertag noch ein bisschen mehr. Ernüchtert stellte er aber fest, dass Ohnedursts Stimme keinesfalls gequält klang, sondern zuckersüß und Gefahr verheißend:
"Sagen Sie, Gentlemen, möchten Sie uns verraten, was dieser Aufmarsch vor dem Wachhaus soll?"
Einer der schwarzen Ritter löste sich aus der Gruppe. Sein Harnisch trug eine rote Verzierung: einen doppelköpfigen Drachen vor einer brennenden Sonne.
"Aber mit dem größten Vergnügen, Sire. Sagt, mit wem habe ich die Ehre?"
"Mein Name ist Ohnedurst. Hauptmann Ohnedurst. Und im Moment auch ohne Humor. Also, was ist hier los?"
"Dürften wir Ihren Kommandeur sprechen, Sire?"
"Der Kommandeur ist in Urlaub. Ich schmeiße hier den Laden."
"In diesem Falle gewähren Sie mir doch einen Augenblick, Sire."
Der schwarze Ritter ging zu einem der Wagen, nahm etwas von dem Bock und kehrte zurück. Vor dem Fenster entrollte er umständlich eine Schriftrolle. In einer merkwürdig anmutenden Geste streckte er den rechten Arm zur Seite aus und verlas, Pergament in der Linken:
"'Mit dem jetzigen Augenblick übernimmt Lord Sundrake die Herrschaft in Ankh-Morpork. Lord Vetinari ist als Patrizier abgesetzt. Die gesamte Stadtwache steht unter Arrest.' Wir danken für Ihre Aufmerksamkeit, Sire, und möchten Euch und Eure Mannen bitten, das Wachhaus bis zu unserer ausdrücklichen Erlaubnis nicht zu verlassen."
Einen Augenblick herrschte Stille. Tunnelblicks Beobachtungsposten war zu weit entfernt, um den Hauptmann sehen zu können, aber er konnte sich dessen dummes Gesicht lebhaft vorstellen. Dann hörte er ihn brüllen: "LOS!"
Die Wachhaustür flog auf, und die Wache stürmte in einem ordentlichen Angriffskeil hinaus. Ohnedurst war nicht dumm - er hatte den Ärger gerochen und einen Ausfall vorbereitet. Der schwarze Ritter senkte schnell den rechten Arm. Sechs Ritter zogen an Tauen, und die Leinenhüllen fielen von den Scheiben - nein - von den Spiegeln!
Drei Hohlspiegel waren rund um das Wachhaus aufgebaut worden. Der erste blendete die vorpreschenden Wächter, so dass die erste Reihe über die eigenen Füße stolperte und die Nachrückenden über ihre Vorderleute. Schmerzensschreie waren zu hören - selbst ohne blanke Waffen in den Händen hätte es bei dieser artistischen Darbietung sicher Verletzte gegeben.
Die beiden Spiegel an den Seiten des Hauses schickten das gebündelte Sonnenlicht still in den Wachhausflur. Wo war der Sinn dahinter? Es wurde schlagartig klar, als der Schwarze wieder sprach:
"Hauptmann, es ist vielleicht besser, Ihr ruft Eure Mannen zurück. Der Spiegel vor dem Haus muss nur eine Winzigkeit bewegt werden, um Euer Büro in Sonnenlicht zu baden, was schlecht für Euren Teint sein könnte - möglicherweise ist Euer Lichtschutzfaktor für dieses gebündelte Licht doch zu schwach... Ich möchte Euch übrigens raten, das Büro nicht zu verlassen. Der Flur ist bereits in malerisches Licht getaucht. Darf ich Euch nun bitten, mir die Personallisten der Wache zu übergeben? Wir wollen doch nicht, das uns ein entlaufen Schäflein überrascht."
"Sie - Sie sind irre!"
"Möglich, aber Irre explodieren nicht in der Sonne. Das solltet Ihr berücksichtigen."
"Nur geht es hier leider nicht um mich. Angriff, Leute!"
Widerwillig musste Tunnelblick dem Hauptmann Respekt zollen. Er wusste nicht, ober er bereit gewesen wäre, sich für die Stadt zu opfern. Die Wächter, die sich vor dem Wachhaus wieder aufgerappelt hatten, standen reglos. Sie hatten Ohnedursts Befehl gehört - aber konnten sich nicht dazu bringen, ihm zu folgen. Einer nach dem anderen schlich mit gesenkter Waffe ins Wachhaus zurück. Nein, sie würden ihren Kommandanten nicht opfern.
"Ausgezeichnet, ausgezeichnet. Darf ich um die Unterlagen bitten, Sire?"


***


Tunnelblick hatte gesehen, wie die schwarzen Ritter diejenigen Wächter, die gerade auf Patrouille waren, abgefangen und hart über das Pflaster des Pseudopolisplatzes ins Wachhaus geschleift hatten. Kein einziger war ihnen entgangen - Ohnedursts Liste war anscheinend sauber geführt. Tunnelblick war nur froh, dass er schon davon gestrichen war.
Aus dem Wachhaus an der Kröselstraße war auch keine Hilfe zu erwarten. Die Wächter dort waren auf einfachere, aber ebenso effektive Weise außer Gefecht gesetzt: dort war die Straße geteert, und die Hohlspiegel brachten den Belag unter allen Fenstern und Türen zum Kochen. Wer hier hinauswollte und nicht fliegen konnte, sähe sofort beinah schwärzer aus als die unheimlichen Ritter - jedenfalls bis ein freundlicher Bürger versehentlich einen Sack Federn über ihn ausgekippt hätte. Tunnelblick wusste auch nicht, warum er ausgerechnet auf diese Idee kam. Vielleicht lebte er einfach schon zu lange in der Stadt.
Nun rannte er so schnell, wie die Hitze es zuließ. Wenn schon die Wache nicht eingreifen konnte, dann war es wohl seine, des Ex-Wächters, Aufgabe, den Patrizier zu warnen. Zu seiner Überraschung wurde er sofort eingelassen. Anscheinend hatten die Gardisten ein Gespür dafür, wer mit wichtigen Nachrichten kam und wer nicht. So eilte er ins wunderbar kühle Büro des Patriziers.
"Sir... Sir... ein Staatsstreich... die Wache ist gefangen..."
Ruhig legte Lord Vetinari die Feder aus der Hand, mit der er gerade schrieb, und sah den schwitzenden, dreckigen Ex-Hauptgefreiten an, bis dieser wieder zu Atem gekommen war. Der Wächter begann noch einmal:
"Sir, ungefähr sechzig schwarz gerüstete Männer, vermutlich keine Menschen, haben das Wachhaus auf dem Pseudopolisplatz umzingelt. Sie machen Dinge mit dem Sonnenlicht... Sie haben Hohlspiegel gebaut, so dass keiner das Wachhaus verlassen kann. Genauso in der Kröselstraße. Sie haben einen Lord Sundrake zum Patrizier ausgerufen, und sie haben gesagt, Sie sind abgesetzt."
Einen Moment lang zogen sich drei lange, parallele Falten über Vetinaris Stirn.
"Sundrake... das ist interessant."
Er erhob sich, ging an ein Regal und zog einen schweren Folianten hervor. Man hätte nicht geglaubt, dass der hagere Mann ein Buch dieser Größe hätte tragen können, doch ohne erkennbare Schwierigkeiten wuchtete er es auf seinen einfachen Holzschreibtisch. Staub wirbelte auf, als er die alten Seiten voneinander löste. Überkopf sah Tunnelblick ein Symbol, das er kannte: den zweiköpfigen Drachen vor der Sonne.
"Das ist in der Tat interessant. Drumknott?" - Tunnelblick hatte überhaupt nicht bemerkt, wann der Sekretär ins Zimmer gehuscht war - "Drumknott, sagen Sie meine Termine bis Sonnenuntergang ab. Ich nehme mir einen freien Tag."
Stille. Der Sekretär war sichtlich erschüttert. Sein Herr hatte noch nie einen Tag freigemacht.
"Nun schau doch nicht wie sieben Tage Regenwetter. Es ist nur so, dass meine Anwesenheit hier heute vielleicht zu Komplikationen führen könnte, die nicht zum Besten der Stadt sind. Aber ich bin sicher, heute Nacht ist der Spuk schon vorbei."
Auch Tunnelblick fasste nicht, was er sah. Der Patrizier griff in ein Schublade, zog ein Drahtgestell heraus, eine Brille - aber - wie bitte? Mit dunklen Gläsern? Lächelnd setzte Vetinari sie auf.
"Aber Sir, Sie können doch nicht in Urlaub gehen, während die Stadt von..."
"Höre auf Deine eigenen Worte. Du selbst hast mir mitgeteilt, ich sei abgesetzt. Da ich anscheinend meiner Ämter ledig bin, spricht nichts dagegen, meine neugewonnene Freizeit ein wenig zu genießen. Sei doch so gut und bring diese Nachricht" - er kritzelte einige Wörter auf ein Blatt, faltete und siegelte den Brief - "zur Universität. Aber schau vorher beim Pseudopolisplatz vorbei. Ich bin sicher, Du wolltest in Deiner Wolfsgestalt nach dem Wohl Deiner Kameraden sehen?"
"Woher wissen Sie...?"
Sein Werwolfdasein war ein gut gehütetes Geheimnis, so hatte er jedenfalls gedacht. Vetinari zog eine Augenbraue leicht in die Höhe. Es ist schlimm genug, wenn man seine Augen sehen kann, dachte der Wächter, nein, Ex-Wächter. Aber mit der Sonnenbrille...
"Nein, Sir, auf die Idee bin ich noch nicht gekommen."
"Dann solltest Du das einmal versuchen. Oh ja, versuch das, Wächter."
Lächelnd verließ der Patrizier sein Büro durch eine Hintertür, die Sekunden vorher noch nicht dagewesen war.
Sekunden später wurde die Vordertür eingetreten. Vier schwarze Ritter kamen herein. Ein lächelnder Mann in weißer Kleidung folgte ihnen. Auf seinem Wams war der Doppeldrachen vorm Sonnenkreis eingestickt.
"Heil Lord Sundrake, Sonnenkönig, Herrscher des Tages!", so schrien die Wachen.
"Danke."
Alles in Tunnelblick sträubte sich, als er diese Stimme vernahm. Sie brannte in ihm. Sie war falsch. Sie gehörte nicht in diese Welt.
"Wo ist Vetinari?"
Schweigen war die Antwort.
"Nun, ein stummer Sekretär kann nicht viele Dienste leisten. Lassen wir heute Abend vor dem Palast verbrennen. Das wird anderen eine Lehre sein."
Drumknott erbleichte, sagte aber keinen Ton.
"Und du" - Sundrake musterte abfällig den Ex-Wächter - "gehst und erzählst allen, dass Lord Sundrakes Herrschaft keinen Ungehorsam duldet."
Angesichts vierer scharfer Schwerter sah Tunnelblick keinen Grund für Widerspruch.


***


Wenn überhaupt, war es draußen noch heißer und heller geworden. Das Wachhaus war nach wie vor belagert. Gegenüber verstaute Tunnelblick seine Kleider in einer Mülltonne auf einem Hinterhof, die er für vielleicht eine Viertelstunde vor Plünderung sicher wähnte. Die Nachricht für die Universität versteckte er unter der Tonne. Dann leitete er die Verwandlung. Er ließ die Wut durch seine Adern pulsieren, die Gier, die Jagd, und... es geschah nichts.
Nichts!
Nicht einmal ein Kribbeln in der Bartzone.
Jetzt bekam der nackte, kleine, unrasierte Mann auf dem Hinterhof zum ersten Mal an diesem Tage Angst. Was immer hier vorging - es war stärker als die uralte Magie im Wolfsblut. Hastig zog er sich an, ergriff den Brief und lief zur Universität.

***

Die Unsichtbare Universität von Ankh-Morpork war seit Menschengedenken die angesehenste Ausbildungsstätte für Zauberer. Normalsterbliche erhielten hier nur in Ausnahmen Zugang. Dies stürzte aber niemanden in Gewissensnöte, denn die meisten Menschen waren froh, wenn soviel Abstand wie möglich zwischen ihnen und dem nächsten Zauberer lag. Abgesehen von der Gefahr, für eine falsche Bemerkung in einen Frosch verwandelt zu werden, bestand stets ein Risiko für Leib und Leben durch fehlgeschlagene Experimente. Auf dem Weg zum Hauptgebäude fielen Tunnelblick die Trümmer des Traktes für Hochenergetische Magie ins Auge, der offensichtlich erst heute morgen explodiert war.
Entsprechend unwohl fühlte sich der nicht-mehr-Hauptgefreite Nicht-mehr-Werwolf, als Prof. Dr. Dr. mag. Hervitius Solex ihn in sein Studierzimmer bat. Der Zauberer war klein, noch kleiner als Tunnelblick, und wie so viele seiner Kollegen von runder Statur. Seine Augen blinzelten müde durch die Gläser einer kleinen, runden Brille.
"So... Das Siegel des Patriziers. Havelock Vetinari hat sich lange nicht hören lassen. Was will der Grünschnabel denn?"
Nach einem Moment des Entsetzens fasste sich der Wächter. Der Patrizier ein Grünschnabel - seltsamer als der Rest des Tages war das auch nicht.
Inzwischen hatte der Zauberer das Siegel gebrochen und die Nachricht gelesen.
"Ja, ein Mann vieler Worte war Havelock nie."
Er reichte den Brief an Tunnelblick, der die Zeile überflog: Hör den jungen Mann an.
"Es scheint, als solltest Du mir eine Geschichte erzählen."
Und Tunnelblick erzählte. Von der Belagerung des Wachhauses, von den schwarzen Rittern, der Flucht des Patriziers, von Sundrake und von seiner gescheiterten Verwandlung. Von Drumknott und dem Scheiterhaufen. Hervitius Solex hörte mit geschlossenen Augen zu und unterbrach seinen Gast nicht ein einziges Mal. Erst als die Erzählung versiegte, blinzelte der Zauberer wieder durch seine Brillengläser hindurch.
"Zunächst, mach Dir keine Sorgen. Du bist noch Werwolf. Keine Magie dieser Welt kann einen Werwolf zu einem Menschen machen. Jeder Werwolf trägt ein Stück der Nacht in seiner Seele in sich."
"Aber wieso kann ich mich nicht..."
Der Zauberer legte den Zeigefinger seiner rechten Hand ans Kinn und blickte Tunnelblick verwundert und distanziert an. Dieser verstummte. Natürlich, einen Zauberer zu unterbrechen war in jedem Fall eine schlechte Idee. Schlechter ging es kaum.
"Sieh aus dem Fenster."
Gehorsam schaute er in den strahlend blauen Himmel. Es musste schon spät am Nachmittag sein, aber immer noch brannte die Sonne mit unverminderter Kraft herab.
"An einem Tag wie diesem ist es nicht leicht, die Nacht in sich zu finden. Wie leitest Du die Verwandlung ein?"
"Ich... ich stelle mir vor, wahllos Menschen zu töten."
"Ja, so etwas habe ich mir schon gedacht." Allmählich wurde dieses Gespräch wirklich unangenehm. "Nun, es gibt stärkere Instinkte als die Jagd, im Menschen und im Wolf. Wie ich schon sagte, mach Dir keine Sorgen. Lass uns über wichtige Dinge sprechen."
Ärger brandete in Tunnelblick hoch. Das WAR wichtig! Andererseits... ob der Scheiterhaufen schon brannte? Vielleicht war es doch an der Zeit, persönliche Dinge einmal hintanzustellen.
"Also Sundrake." Der Magier lehnte sich zurück und begann, langsam zu erzählen. Der Ex-Wächter hatte nicht das Gefühl, als hätte sein Gastgeber die Dringlichkeit der Situation auch nur im Ansatz begriffen. "Der Sonnenkönig. Das ist wirklich alte Magie. Nun, höre die Geschichte: die Herren von Tag und Nacht, Sundrake und Moondragon, sollen gleichermaßen über diese Welt wachen, so ist es von alters her bestimmt. Im steten Wechsel treten sie auf, und bevor der eine zu mächtig wird und die Welt verbrennt oder erfriert, tritt der andere gegen ihn an, um ihn ewig aufs Neue im Kampf zu besiegen. Zwölf Stunden bleiben ihm dann, um seine Wunden zu heilen und aufs Neue in die Schlacht zu ziehen. Und so ist es vom Anbeginn der Zeiten, bis auf den heutigen Tag.
Doch nichts ist in der Natur, dass der Mensch in seiner Überheblichkeit nicht zu zerstören wüsste. Wo der Mensch versucht, die Kraft der Sonne zu bündeln, da erstarkt Sundrake zu schnell wieder, und er versucht seinen ewigen Widersacher ins Nichts zu bannen. Und ich glaube, dieses Schauspiel dürfen wir heute bewundern."
Das hätte man bestimmt auch einfacher ausdrücken können. Tunnelblick versuchte, das Gehörte aufs wesentliche zu reduzieren.
"Der Tag ist heute zu mächtig, deshalb regiert er jetzt die Stadt?"
Der Zauberer nickte.
"Und wie ist das passiert?"
"Ich weiß es nicht." Solex nahm seine Brille ab und begann die Gläser zu putzen. "Ich ahne jedoch, dass die Explosion im Trakt für hochenergetische Magie etwas damit zu tun haben könnte."
Tunnelblicks Gedanken rasten, bis sie an einer Stelle stolperten und hinfielen.
"Eigentlich müssen wir doch nur bis heute Abend warten, und die Sache ist in Ordnung, oder?"
"Ja, der Einbruch der Nacht verbannt Sundrake."
Das wäre doch schön. Der Sonnenkönig gebannt, und ohne Licht wären auch die Spiegel vor dem Wachhaus nutzlos, und die Wache käme heraus, und dann würden sie es den schwarzen Rittern schon zeigen. Aber...
"Ich habe das Gefühl, hier kommt noch ein Aber."
Solex lächelte.
"Du bist nicht dumm, Wächter. Der heutige Tag geht nie zu Ende. Sundrake wird einen Menschen auf dem Scheiterhaufen opfern. Dessen Leben wird ins Feuer gehen, und das Feuer in die Sonne. Und die Sonne wird leben, und nie wieder wird es Nacht."
Tunnelblick schluckte schwer.
"Und dann? Wie geht es dann weiter?"
"Oh, Sundrake wird wohl eine Weile ein strenges, grausames Regiment führen?"
"Was heißt eine Weile?"
"Eine Woche vielleicht?"
"Und dann? Was ist dann?"
Solex seufzte.
"Dann wird unsere Welt in der ewigen Sonne verbrennen."
Tunnelblick wurde schwindelig. Er musste dieses Brandopfer verhindern, bevor Sundrakes Herrschaft nicht mehr zu brechen war!
"Sag mir, was ich tun muss!"
"Du willst gegen den Tag selbst kämpfen? Du bist mutig, junger Mann. In Dir steckt, was man zum Sieg in diesem Kampf braucht."
"Sag - mir - was - ich - tun - muss!"
"Oh, am besten gehst Du zu Sundrake und forderst ihn heraus zu einem Kampf auf Leben und Tod."
Tunnelblick atmete durch. Warum eigentlich er? Andererseits - wenn er nächste Woche sonst sowieso starb...
"Geh, junger Mann. Schau, was Du retten kannst."
Solex winkte seinen Gast zur Tür.
"Äh - Moment. Kriege ich kein magisches Schwert oder sowas."
Der Zauberer guckte einen Augenblick verwirrt.
"Oh ja, verzeih. Ich vergaß. Natürlich. Wo hab ich nur meinen Kopf."
Suchend blickte er durchs Zimmer, während Tunnelblick versuchte, die Wut zu zähmen, die in ihm aufstieg. Er sollte die Welt retten, und er wollte nicht wegen einer Schussligkeit eines Magiers dabei scheitern.
Endlich drückte ihm der Zauberer einen kleinen, schwarzen Stab in die Hand, der sich seltsam warm und weich anfühlte.
"Hier, nimm hin. Du kannst den Tag nur mit der Nacht besiegen. Dieser Stab ist Schwarze Nacht. Tritt bei dem Opfer vor Sundrake und rufe: ähm..."
Wieder fing der Zauberer an zu grübeln. Tunnelblick beschlichen langsam Zweifel ob seiner Eignung als Berater eines Weltretters.
"Oh ja, ich weiß es wieder. Rufe: Hippe, hoppe, Sonnenkönig, das war wohl ein bisschen wenig, Eure Grenzen zeiget Euch dieser Stab aus schwarzem Zeuch."
Das Misstrauen hatte sich schlagartig verstärkt.
"Sind Sie sicher?"
"Zauberer lügen nicht."
"Das ist eine komische Zauberformel."
"Keine Zeit zu diskutieren. Du weißt jetzt alles, was Du brauchst. Ich wette, der Scheiterhaufen steht schon."


***


Und wieder rannte der Wächter durch den viel zu heißen Sonnenschein. Er musste den Palast rechtzeitig erreichen. Bereits aus der Ferne sah er den davor aufgeschichteten Scheiterhaufen, und Drumknott an den Pfahl gebunden. Ein schwarzer Ritter lief auf den Platz. Anscheinend war das Feuer einmal rituell im Lauf durch die ganze Stadt getragen worden. Der Sonnenkönig stand in der Mitte des Platzes auf einem Podest und besah das Spektakel. Ein arrogantes Lächeln lag auf seinen Lippen. Etwa achtzig seiner schwarzen Ritter bildeten ein sauberes Spalier für die letzten Meter, die das vernichtende Feuer auf seinem Weg zum Scheiterhaufen nehmen würde.
Am Ende seiner Kraft stolperte der Wächter vor den Sonnenkönig und zog den schwarzen Stab, der bei der Hitze schon zu schmelzen begann. Mit Stentorstimme brüllte er:
"HIPPE, HOPPE, SONNENKÖNIG
DAS WAR WOHL EIN BISSCHEN WENIG
EURE GRENZEN ZEIGET EUCH
DIESER STAB AUS SCHWARZEM ZEUCH!"
Und... es geschah nichts.


***


Ungläubig sah der Wächter auf den klebrigen schwarzen Stab in seiner Hand. Etwa acht Ritter stürzten auf ihn zu. Der Sonnenkönig beobachtete die Vorstellung ebenso verwirrt wie verärgert..
"Hippehoppesonnenkönigdaswarwohleinbisschenwenigeuregrenzenzei... AUTSCH!" Eine schwarz eisenbehandschuhte Faust traf Tunnelblick am Kinn. Ein weiterer Ritter riss ihm den "Zauberstab" aus der Hand und brachte diesen zu Sundrake. Der nahm ihn mit spitzen Fingern entgegen.
"Was ist das?", so kam es mit angeekelter Stimme hervor.
"Ich glaube," erwiderte der schwarze Ritter, der das Artefakt geborgen hatte, "Eure Hoheit, dies ist eine Lakritzstange." Er nahm den Stab zurück und biss hinein. "Eine exzellente Qualität sogar, Sire. Schwarze Nacht. Wird nur in Klatsch hergestellt."
Tunnelblick stand ganz, ganz still und versuchte zu verstehen. Was hier geschah, konnte nicht sein. Auf keiner Welt des Multiversums würde man ihn losschicken, um den Weltenbrand zu verhindern - mit einer Lakritzstange! Sollte er die nächsten Minuten überleben, dann würde er diesen Zauberer verfolgen bis ans Ende der Welt. Und langsam leiden lassen. Dieser Stab ist Schwarze Nacht. Zauberer lügen nicht. Hah!
Der Sonnenkönig betrachtete ihn nach wie vor wie ein Insekt.
"Holt den Sekretär da runter. Ich glaube, wir haben ein besseres Opfer."


***


Gegen die Übermacht hatte er keine Chance gehabt. Er stand auf dem Scheiterhaufen und sah die ersten Flammen tanzen. Grimmig sagte er seinen inneren Stimmen Lebewohl.
Tunnelblick!
Ja, auch Dir eine schöne Reise ins Nirgendwo.
Tunnelblick!
Was?
Du hast nicht richtig hingehört! Zauberer lügen nicht!
Ja, Schwarze Nacht, ich weiß. Herzlichen Dank.
Das war nicht gelogen!
Die Scheite begannen zu krachen und zu bersten. Feuerzungen leckten nach seiner Kleidung. Er begann vor Schmerz zu schreien. Wie für seine letzten Augenblicke nahm er die Welt in ungewohnter Klarheit war. Die schwarzen Ritter. Den lächelnden Sonnenkönig. Den Doppeldrachen vor dem Sonnenschild.
Er hatte sich immer gefragt, wie der Tod sei. Ob man vor Angst und Schmerz nicht mehr denken konnte. Doch er dachte klar wie nie zuvor, als lägen alle Ablenkungen dieser Welt schon hinter ihm. Er dachte an den letzten Tag, an die Sonne, das Gespräch mit dem Zauberer.
Und dann riss er die Augen auf.
Zauberer lügen nicht.
Jeder Werwolf trägt ein Stück der Nacht in seiner Seele in sich.
In Dir steckt, was man zum Sieg in diesem Kampf braucht.
Jeder Werwolf trägt ein Stück der Nacht in seiner Seele in sich.
Du weißt jetzt alles, was Du brauchst.
Jeder Werwolf trägt ein Stück der Nacht in seiner Seele in sich.
Du kannst den Tag nur mit der Nacht besiegen.
Jeder Werwolf trägt ein Stück der Nacht in seiner Seele in sich.
An einem Tag wie diesem ist es nicht leicht, die Nacht in sich zu finden.
Jeder Werwolf trägt ein Stück der Nacht in seiner Seele in sich.
Es gibt stärkere Instinkte als die Jagd, im Menschen und im Wolf.

Überleben!

***

Als die Flammen über ihm zusammenschlugen, stieß er ein Wolfsgeheul aus, das sich an den Wänden brach, dessen Echo durch Straßen hallte, das sich über die Stadt legte und in jede Seele drang.
Und er fühlte das Wolfsblut.
Und es wurde Nacht.


***


Es war... unwirklich. Vor Minuten hatte er als Mensch auf dem Scheiterhaufen gestanden, als Wolf war er aus den Flammen gesprungen. Er zog eine flammende Spur durch die Dunkelheit, und schneller, als die schwarzen Ritter auch nur blicken konnten, erreichte er den Sonnenkönig.
Er riss ihn in Stücke.
Sein flammendes Fell erlosch. Doch als er seine Wunden lecken wollte, hatte er keine. Makellos war seine Wolfsgestalt.
Er blickte sich um, doch keiner der schwarzen Ritter war zu sehen. Wo er eben noch ein Blutbad angerichtet hatte, war nur ein leeres Holzpodest.
Der Scheiterhaufen schwelte.
Er witterte die Nacht.
Er atmete ruhig.
Und er verwandelte sich.


***


Noch immer wusste er nicht, wie ihm geschah. Seine Füße hatten ihn dahin getragen, wo alles angefangen hatte: zum Pseudopolisplatz. Vor das Wachhaus. Die Wagen standen da, doch nachts waren die Spiegel blind. Die Wächter hatten sich vor dem Wachhaus versammelt. Niemand wusste, wohin ihre Kerkermeister verschwunden waren.
Vor dem Eingang stand Hauptmann Ohnedurst. Bei ihm standen der Patrizier und Hervitius Solex, der nicht ahnte, dass geballter Zorn sich ihm näherte. Der Patrizier schien ein wenig mehr Farbe zu haben als sonst - anscheinend hatte er die Sonne des Tages genutzt. Von weitem sah er den Werwolf kommen und lächelte ihn aufmunternd an. Auch der Zauberer bemerkte ihn endlich.
"Gut gemacht, junger Mann. Verzeih, dass ich nicht völlig offen sein konnte, aber ich brauchte Deinen Überlebensinstinkt, und Du hättest Dich wohl nicht freiwillig auf den Scheiterhaufen... AU!"
Tunnelblick rieb sich die Faust und sah die beiden Männer vor sich grimmig an. Der Patrizier runzelte die Stirn. Der Hauptmann blickte auf den am Boden liegenden Magier.
"Zivilist Tunnelblick. Seine Lordschaft bat mich zwar gerade, Dich wieder in die Wache aufzunehmen, aber unter diesen Umständen - und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Du noch nie irgendetwas für irgendwen getan hast, muss ich leider... AU!"
Der Vampir war schnell, aber das war ein wütender Werwolf auch. Der Offizier kam direkt neben dem Magier zu liegen.
Der Patrizier blickte Tunnelblick an. Er lächelte herausfordernd.
Der Zorn kochte in dem Werwolf hoch. Er ließ die Wut durch seine Adern pulsieren, die Gier, die Jagd, und... dann atmete er ruhig durch.
"Sehr klug."
Der Patrizier nickte ohne eine Spur von Humor.
Ohnedurst stand langsam wieder auf. Wut glitzerte nun auch in seinen Augen. Der Patrizier räusperte sich. "Hauptmann, das mag im Augenblick schwer zu glauben sein, aber ich kann mir vorstellen, dass dieser junge Mann der Stadt noch gute Dienste leisten wird. Würdest Du mir den persönlichen Gefallen tun und ihn wieder einstellen? Ich bin sicher, Dir fallen einige Aufgaben ein, die ihm seinen Platz in der Rangordnung wieder bewusst machen."
Ohnedurst lächelte gefährlich. Bis über diesen Schlag Gras gewachsen war, würde eine ganze Menge Wasser den Ankh hinunter sickern. Ja, Tunnelblick würde schon noch lernen, seine Wut zu zähmen. Er betrachtete den Wächter eine Weile und ging dann schmunzelnd ins Wachhaus zurück.
Tunnelblick stand einfach nur da. Er hatte heute die Welt gerettet. Er durfte gehen.
Lord Vetinari hatte sich schon ein paar Schritte entfernt, eine hagere Gestalt in einem schwarzen Umhang, irgendwie zuhause in der Nacht. Dann verharrte er noch einmal kurz und drehte sich um, wie um etwas zu sagen. Doch dann verschwand im Dunkel.
Tunnelblick stand noch eine Weile da, dann verstand er. Was sagte man schon einem Mann, der gestorben war, um die Welt zu retten?



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