Nachtgestalten

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von Wächter Valdimier van Varwald (GRUND)
Online seit 30. 08. 2002
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Eine verkleidete Gestalt treibt in Ankh-Morpork sein Unwesen und erschreckt Zivilisten. Wer steckt dahinter?

Dafür vergebene Note: 11

Langsam fing die Nacht an, sich über Ankh-Morpork zu legen. Die Sonne verschwand hinter dem Horizont und Dunkelheit kündigte sich an. Für die Bewohner der größten Stadt auf der Scheibenwelt sollte dies eine Nacht wie alle anderen sein. Doch für eine Person sollte dies die Nacht der Nächte werden.

Sie stieg durch das Dachfenster auf das Ziegeldach ihres Hauses. Sie war schwarz wie die Nacht gekleidet, trug einen Umhang, der knapp den Boden erreichte und ebenfalls schwarz wie die Nacht war. Als sie die Spitze des Daches erreicht hatte, holte sie ein Band aus schwarzem Stoff aus ihrer Tasche und betrachtete es. Dies sollte ihre wahre Identität verbergen. Wie bei einem Ritual schloss die Person ihre Augen, legte sich das Band über die Augen, verknotete es auf dem Hinterkopf und öffnete die Augen.

Hätte nun jemand diese Person beobachtet, so hätte er gesehen, wie die Gestalt verwirrt den Kopf erst nach links und dann nach rechts wendete und dann, bei einem Schritt nach vorne, beinahe vom Dach gefallen wäre.

Die ominöse Gestalt nahm das Band von ihrem Kopf, betrachtete es erneut und murmelte etwas, das niemand hören konnte. Die Person stieg durch die Dachluke zurück in das Haus, nur um nach kurzer Zeit wieder auf dem Dach zu erscheinen. Erneut holte sie das Band aus ihrer Tasche. Diesmal befanden sich zwei Löcher in der Mitte des Bandes. Erneut schloss die Person ihre Augen, legte sich das Band auf die Augen und öffnete selbige. Die Person verharrte für eine kurze Zeit auf dem Dach ohne sich zu bewegen. Folgende Gedanken formierten sich in ihrem Kopf: "Ankh-Morpork wird nun wieder sicher werden."
Dann begab sich die Gestalt an den Rand des Daches und schaute in die Ferne. Die letzten Sonnenstrahlen verschwanden am Horizont und immer mehr Lichter wurden in den Straßen von Ankh-Morpork entzündet. Dann begab sich die Gestalt in die Hocke, um von dem Dach zu springen. Gedanken wie "Es wird funktionieren, es kann gar nicht schief gehen" schossen der Person durch den Kopf. Sie schaute nach unten und sah, dass die Straße verlassen war. Sie ging noch etwas weiter in die Hocke. Ein letztes Mal schaute sie nach unten.

Hätte jetzt jemand die Gestalt beobachtet, hätte er gesehen, wie sie sich aufrichtete, wieder durch die Dachluke nach unten kletterte und nach kurzer Zeit aus der Haustür heraustrat.

Die Person schloss die Tür ab und schaute sich um. Noch immer war die Straße verlassen. Die Person überlegte trotzig: "Warum soll ich mein Leben riskieren, wenn mir niemand dabei zuschaut?", und verschwand in einer dunklen Seitengasse.

**


Ich erwachte, als die letzten hartnäckigen Sonnenstrahlen vom Horizont verschluckt wurden. Obwohl kein Licht in den dunklen Keller von Frau Kuchens Pension fiel, wusste ich genau, dass die Sonne untergegangen war. Vampire spüren es, wenn die Nacht hereingebrochen ist. Ich öffnete meinen Sarg und stieg aus heraus. Dabei knackten ein paar meiner Knochen und wiesen damit drauf hin, dass sie an ein luxuriöseres Schlafgemach gewöhnt waren. Es würde noch etwas dauern, bis ich in dem "Lieg still und sei ruhig"-Modell richtig schlafen konnte. Erneut verfluchte ich den Leichenbestatter, von dem ich den Sarg erworben hatte. Ich hatte leider nur wenig Geld zur Verfügung gehabt und er wollte mir für diesen Betrag nur das billigste Modell verkaufen. "Normalerweise beschweren sich die Personen, die da drin liegen, nicht", argumentierte er. Mit ein paar gymnastischen Bewegungen brachte ich jeden Knochen in seine richtige Position und zog meine Uniform der Stadtwache an. Meine Dienstmarke lag auf dem Buch, welches ich mir bei meiner Ankunft in Ankh-Morpork gekauft hatte. Sein Titel lautete "Wisse was du tust. Ankh-Morpork von A bis Z". Da ich, vor meinem Eintreffen, so gut wie nichts über die Stadt wusste, hielt ich es für besser, mir ein paar Informationen zu besorgen. Ich hatte aber leider in letzter Zeit nicht so viel Zeit zum Lesen gehabt und war erst bis zum Buchstaben B gekommen, aber ich wusste schon mal, daß ich nicht im Ankh schwimmen sollte. Ich stecke Buch und Marke ein. Daneben lag der Abholschein der Schneiderei, die sich ebenfalls in der Ulmenstrasse befand. Ich hatte für meinen Wachendienst einen neuen Umhang anfertigen lassen und heute sollte er fertig sein. Ich entschloss, ihn heute nach Dienstschluss abzuholen, steckte den Schein ein und verließ die Pension in Richtung Wachgebäude in der Kröselstrasse.

Ich hatte das Glück, dass die Pension von Frau Kuchen recht nahe an der Kröselstraße lag. Ich musste einfach nur ein Stück der Ulmenstraße folgen, am Platz mit dem sonderbaren Namen "Kleben geblieben" in die Kröselstraße einbiegen und war schon am Wachgebäude angekommen.
Als ich das Wachgebäude betrat, sah ich, daß Missy von Aschburg Tresendienst hatte. Er war mitten in einer heftigen Diskussion mit einer älteren Dame, die so groß war, dass sie gerade noch über den Tresen schauen konnte. In einer Hand hielt sie eine Hundeleine, an deren Ende ein kleiner Pudel gebunden war. Daran war noch nichts Ungewöhnliches zu erkennen, allerdings machte der Hund keinen sehr lebendigen Eindruck mehr. Er lag auf der Seite, strecke alle vier Pfoten von sich und seine Zunge hing schlaff aus dem Maul heraus. Dazu kam noch, dass seine Augen in zwei verschiedene Richtungen schauten. Aus dem Fluchen der Frau konnte ich nur entnehmen, dass sie jemanden für den Tod ihres Hundes verantwortlich machte und nun verlangte, dass er eingesperrt würde. Ich wollte mich gerade bei Missy erkundigen, was los sei, als mich jemand von hinten rief: "Hey Valdi!"
Verärgert drehte ich mich um. Ich hasste es, wenn man mich Valdi nannte. Ich war der Ansicht, dies sei Name für einen Dackel, aber nicht für einen Vampir und schon gar nicht für einen Vampir, der Blut der van Varwalds in sich trug.
"Mein Name ist Valdi...", fing ich in der Drehung an, hielt dann aber überrascht inne. Es befand sich niemand im Flur.
"Sag ich doch", ertönte es von unten.
Überrascht blickte ich nach unten und erblickte den Gnom Turik Horifor. Er schaute nach oben und grinste mir ins Gesicht.
"Mein Name ist Valdimier", wiederholte ich "Und ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mich nicht wie einen Hund nennen würdest."
Turik verzog das Gesicht: "Ach, ihr Vampire seit doch alle gleich. Voreingenommen und ekelhaft eitel. Schon allein, dass ihr eure Umhänge über eurer Uniform tragen müsst. Als ob ihr von ihnen abhängig wärt."
"Na ja, dafür muss ich keine Angst haben, dass ich in der Badewanne ertrinken könnte", erwiderte ich "Und außerdem ist es für Vampire Tradition, dass sie immer ihre Umhänge tragen."
Turik lachte künstlich: "Haha, das war ja richtig witzig, Valdi. Oh, entschuldige, Valdimiiiieeeer."
"Hast du aus einem bestimmten Grund nach mir gerufen, oder suchst du Streit?", fragte ich schließlich.
"Ach so, stimmt ja. Der Fähnrich will dich sehen. Du sollst sofort zu ihr kommen, wenn du hier bist."
"Das sagst du mir aber ziemlich früh", bemerkte ich verärgert "Jetzt denkt sie sicher, dass ich zu spät zum Dienst erschienen bin. Ist sie in ihrem Büro?"
"Ich denke schon, und du solltest dich besser beeilen. Den Fähnrich sollte man nicht warten lassen", lachte der Gnom "Aber wir müssen unsere Diskussion mal weiterführen. Am besten bei einem Glas Bier."
"Gerne, aber kein Bier für mich", erwiederte ich und ging in die Richtung von Irina Lanfears Büro. Auf dem Weg dorthin überlegte ich, dass mir noch ein längeres Gespräch mit Turik bevorstehen würde. In Überwald hätte ich so eine Person einfach zu einem schnellen Ableben verholfen, aber da ich nun in Ankh-Morpork und bei der Wache war, würde dies ein paar unangenehme Folgen haben. Außerdem könnte die Diskussion noch sehr interessant werden. Turik schien eine Person zu sein, mit der man sehr lange Gespräche führen konnte.

Ich klopfte an die Tür des Fähnrichs, worauf auch ein schnelles "Herein!!" erfolgte. Ich betrat das Büro und erblickte den Fähnrich hinter ihrem Schreibtisch sitzend. Ich salutierte und stellte mich neben den Stuhl, der auf der anderen Seite des Tisches stand.
"Ich soll mich bei ihnen melden, Ma'am?", fragte ich.
"Ah, Valdimier. Setzt dich, Rekrut. Ich hatte eigentlich etwas früher mit dir gerechnet."
Ich konnte den mahnenden Unterton in ihrer Stimme hören. Wenn ich jetzt etwas Falsches sagen würde, wäre ich in großen Schwierigkeiten.
"Tut mir leid Ma'am. Ich wurde unterwegs aufgehalten.", brachte ich nur heraus und setzte mich auf den Stuhl.
"Na toll.", dachte ich mir "Eine lahmere Ausrede ist dir jetzt nicht eingefallen? Du hättest ihr einfach erzählen sollen, das der Sargdeckel klemmte."
"Nun ja.", erwiderte der Fähnrich "In Überwald hattest du ein eigenes Schloss und konntest tun und lassen was du wolltest, aber bei der Wache wird auf Pünktlichkeit geachtet Rekrut."
"Es kommt nie wieder vor Ma'am."
"Das will ich hoffen. Aber nun zu dem Grund, warum ich dich rufen ließ. Ich habe einen kleinen Auftrag für dich."
"Um was geht es?", fragte ich.
Die Ausbilderin verzog das Gesicht und machte auf einmal einen ziemlich genervten Eindruck.
"Ach. Frau Grimmgesicht hat wieder mal jemanden angezeigt. Diesmal soll sie von einem maskierter Mann beim Einkaufen überfallen worden sein. Er soll ihr aufgelauert und sie dann ausgeraubt haben."
Der Fähnrich lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und schaute zur Decke.
"Und nun sollen wir herausfinden, wer der Mann ist und ihn verhaften", fügte sie entnervt hinzu.
"Frau Grimmgesicht scheint öfters die Wache um Hilfe zu bitten?", fragte ich.
"Das kannst du laut sagen, Valdimier. Es vergeht kein Tag, wo die Frau nicht einen von unseren Wächtern von der Arbeit abhält. Einmal hat sie angeblich gesehen, wie ihr Nachbar eine Leiche im Keller versteckt hat. Es stellte sich heraus, dass es ein Sack voller Kartoffeln war. Bis jetzt haben sich alle Anzeigen als purer Schwachsinn erwiesen.", erklärte der Fähnrich.
"Warum wird sie dann noch von der Wache ernst genommen?"
"Wir sind halt Wächter", erwiderte Irina Lanfear "Es ist unsere Pflicht, solchen Sachen nachzugehen. Es könnte ja sein, daß doch mal was Wahres an einer ihrer Geschichten dran ist."
Sie schrieb etwas auf einen kleinen Zettel und schob ihn dann über den Tisch zu mir.
"Hier hast du ihre Adresse. Geh mal zu ihr rüber und befrag sie über die Person, von der sie angeblich angegriffen wurde. Schreib dir alles auf und versichere ihr dann, das wir uns um den Fall kümmern werden. In der Regel lässt sie es dann auf sich beruhen."
Ich nahm den Zettel, stand auf, salutierte und brachte noch ein zackiges "Jawohl Ma'am!" hervor. Dann drehte ich mich auf dem Absatz herum und verließ das Büro.

"Nun hast du also deinen ersten Fall!", schoss es mir in den Kopf. Ich war erst eine Woche bei der Wache und schon durfte ich einen Auftrag erledigen. Es ärgerte mich nur, dass es eine in meinen Augen unnütze Aufgabe war. Worin besteht der Sinn, eine Frau zu befragen, deren Gehirn anscheinend schneller altert als der Körper? Dies konnte genauso gut jemand anderes machen. Nun ja, ich sollte lieber froh sein, dass ich bei der Wache Arbeit gefunden hatte und sollte den Job mit dem besten Ergebnis, wie es sich für einen van Varwald gehört, erledigen. Erneut stiegen die Erinnerungen an meine Ankunft in Ankh-Morpork in mir hoch:

Nachdem ich aus Überwald geflüchtet und in Ankh-Morpork angekommen war, wurde es schon zu einem großen Problem, eine Unterkunft zu finden. Die meisten Pensionen wollten keinen Blutsauger beherbergen. "Ist nicht gut fürs Geschäft, wenn einem die Kunden über Nacht an Blutarmut sterben.", war die Hauptbegründung. Zum Glück hörte ich dann von der Pension von Frau Kuchen. Nachdem ich die erste Monatsmiete und den neuen Sarg bezahlt hatte, fehlte es mir an finanziellen Mitteln. Auch die Suche nach Arbeit erwies sich als zuerst schwierig. Natürlich bekam ich den einen oder anderen Job angeboten. Allerdings liegt es unter der Würde eines Vampirs, als Kanalreiniger oder als Abfallbeseitiger zu arbeiten. Für verantwortungsvollere Arbeiten wollte man aber wiederum keinen Vampir. "Würdest du etwas in einem Laden kaufen, von dem du wüsstest, dass dich der Verkäufer in der nächsten Nacht aussaugen könnte?", wurde ich gefragt, als ich in den verschiedenen Läden von Ankh-Morpork nach Arbeit in der Nachtschicht fragte. Eines Nachts sah ich dann den Aushang der Wache. Es forderte einen regelrecht auf, sich bei der Wache zu bewerben:

Tritt der Wache bei, bekämpf das Böse, tue gutes und beschütze Ankh-Morpork

Da ich mir bei der Wache ein gutes Gehalt versprach und darin auch die Möglichkeit sah, auf schnelle Weise mehr über Ankh-Morpork zu erfahren, versuchte ich mein Glück beim Wachhaus in der Kröselstraße.
Zu meiner eigenen Überraschung wurde ich nach ein paar Standardfragen [1] gleich in die Wache aufgenommen. Durch die Patrouliengänge sah ich wirklich mehr von Ankh-Morpork, aber was das Gehalt anging... Ich würde noch etwas arbeiten müssen, damit es sich in ein gutes Gehalt verwandeln würde. Aber es reichte zum Leben.

Als ich wieder am Wachtresen vorbei kam, sah ich, dass die Frau mit dem toten Hund immer noch da war und immer noch mit Missy diskutierte. Sein Gesicht glich jemandem, der jeden Augenblick verzweifelt von der Brücke in den Ankh springen würde. Ich nickte ihm grinsend zu und verließ das Wachgebäude.

Draußen auf der Straße kramte ich den Zettel aus meiner Tasche und las die Adresse:

Kaimeisterstrasse 3

Da ich ja noch nicht lange in Ankh-Morpork lebte, stellte sich mir ein kleines Problem in den Weg. Ich hatte keine Ahnung, wo sich die Kaimeisterstrasse befand. Und da ich mich nicht vor meinen Kollegen blamieren wollte, schied die Option des Nachfragens aus. Nicht, dass ich nie jemanden um Hilfe bitten würde. Es sollte dann allerdings um etwas Größeres als um eine Wegbeschreibung gehen. Ich ging ein paar Meter die Kröselstrasse hinauf und bog dann, nachdem ich sichergehen konnte, dass mich niemand bemerkte, in eine kleine Gasse ein. Dort holte ich mein "Ankh-Morpork von A bis Z" aus der Tasche. Als besonderes Extra lag dem Buch noch ein Stadtplan, inklusive Straßenregister, bei. Durch das Register war die Strasse schnell gefunden und ich stellte fest dass ich einfach dem Ankh bis zur Schlechten Brücke folgen musste, um zur Kaimeisterstrasse zu kommen. Da ich nicht zuviel Zeit verlieren wollte, wählte ich den direkten Weg. Nämlich den Luftweg. Ich schloss meine Augen, konzentrierte mich und innerhalb des Bruchteils einer Sekunde verwandelte ich mich geräuschlos in eine Fledermaus[2]
und flog Richtung Schlechte Brücke.

Ankh-Morpork von oben zu sehen, war nur einem kleiner Gruppe von Menschen vorbehalten. Man musste entweder fliegen oder sich in den Geist eines Vogels versetzten können. Diesen Personen bot sich dann ein wundervoller Anblick. Besonders bei Nacht zeigte sich Ankh-Morpork von einer unnatürlich ruhigen und schönen Art[3]. Die durch Laternen oder Fenster beleuchteten Straßen wirkten wie die Adern eines Menschen. Auf bestimmten Straßen und Plätzen herrschte, auch noch nachts, reges Treiben und sie erweckten so den Eindruck zu pulsieren und Blut in die anderen Adern zu treiben[4]. Im Westen konnte man das Gelände der Unsichtbaren Universität sehen. Ab und zu zuckten für einen kurzen Augenblick hellblaue Blitze, welche man auch nur nachts sah, über das Gelände und verschwanden auch wieder so schnell, wie sie erschienen waren. Im Osten konnte man ganz deutlich den Palast des Patriziers erkenne. Durch die vielen noch erleuchteten Fenster und seine Größe erweckte er auf mich den Eindruck, das Herz zu sein, welches die Stadt mit Blut versorgt[5]. Von ihm kamen die Befehle und die Energie, die die Stadt am Leben hielten. Mir wurde klar, das ich öfters mal einen Rundflug über Ankh-Morpork machen sollte. Auf diese Art könnte ich ja auch vielleicht das Schlafzimmer einer leicht bekleideten Jungfrau entdecken.

Ich flog den Ankh entlang, bis ich die schlechte Brück erreichte. Ich suchte mir eine dunkle Seitengasse und verwandelte mich dort in meine menschliche Gestalt zurück. Ich kontrollierte den korrekten Sitz meiner Uniform und trat auf die Straße. Nach kurzem Suchen fand ich das Haus mit der Nummer drei. Es hob sich in kleiner Weise von den anderen Häuser ab und seine Lage zeigte, dass sich der Besitzer nichts besseres leisten konnte. Niemand mit viel Geld würde freiwillig so nahe am Ankh wohnen. Besonders nicht im Sommer.

Auf mein Klopfen hin öffnete sich die Tür einen Spalt breit und eine kratzige Stimme fragte scharf: "Wer bist du? Was willst du hier?"
"Guten Abend Madam, mein Name ist van Varwald und ich komme von der Wache" sagte ich in einem schon fast schleimigen Tonfall und hielt meine Dienstmarke an die Stelle des Türschlitzes, wo ich das Gesicht der Frau vermutete.
Auf einmal wurde die Tür aufgerissen und eine ältere Frau stand im Eingang.
"Oh Gott sei Dank, dass Sie endlich hier sind. Ich hatte schon Angst, das Sie nicht mehr kommen würden."
Die kratzige Stimme von Frau Grimmgesichts hatte sich auf einmal grundlegend verändert. Auf einmal hörte man einen verzweifelten Unterton heraus, der eigentlich nur bei Leuten zu hören ist, die dem Tode nahe sind.
"Sie wollen sich sicher über den Mann erkundigen, der mich überfallen hat", fragte Frau Grimmgesicht, "kommen sie herein, ich hab frische Plätzchen gebacken und die Milch dürfte auch schon warm sein."
Sie drehte sich um und ging ins Haus hinein.
"Folgen sie mir einfach."
Unsicherheit machte sich in mir breit. Frau Grimmgesichts Stimme hatte sich in eine verwandelt, die man von alten freundlichen Omas kennt, die sich über jeden Besuch freuen. Frau Grimmgesicht war anscheinend in der Lage, sich emotional innerhalb des Bruchteils einer Sekunde von einer Stimmung in die andere zu bringen. Ich folgte ihr in einen Raum, der anscheinend das Wohnzimmer war.
"Setzen Sie sich, ich bin sofort zurück. Ich hole gerade nur die Plätzchen und die Milch."
Ich war zu abgelenkt, um zu antworten. Ich war mehr damit beschäftigt, das Zimmer einzuordnen. Es war komplett in Rot gehalten. Rote Tapeten, ein dunkelrot lackierter Wandschrank und Regale, die ebenfalls rot lackiert waren. In der Mitte des Raumes standen ein kleiner Rundtisch und zwei Stühle. Der Tisch war von einer roten Stoffdecke bedeckt und die Stühle waren ebenfalls rot. Sie waren mit einem roten Samtkissen gepolstert und machten einen gemütlichen Eindruck.
Frau Grimmgesicht kam mit einem silbernen Tablett in das Zimmer zurück und stellte es mit einem leisen Scheppern auf den Tisch. Auf dem Tablett befanden sich ein Krug Milch, zwei kleine Tassen und ein Teller mit Plätzchen. Sie setzte sich auf einen der Stühle, schenkte Milch in beide Tassen ein und nahm sich ein Plätzchen.
"Setzen Sie sich doch, Herr Wächter und nehmen sie sich doch ein Plätzchen, solange sie noch warm sind."
Ich setzte mich und nahm der Höflichkeit wegen ein Plätzchen. Aus Sicherheitsgründen roch ich erst unauffällig an dem Plätzchen, um sicherzustellen, dass Frau Grimmgesicht keinen Knoblauch oder Zitronensaft verwendet hatte. Zugetraut hätte ich es der Frau aus irgendeinem Grund.
"So, Madam. Um auf die Beschreibung des Mannes zu kommen."
"Sie sehen sehr blass aus, ist mit Ihnen alles in Ordnung? Sind Sie krank? Soll ich das Fenster öffnen?"
"Äh....", die Unsicherheit breitete sich weiter in mir aus, "nein, mit mir ist alles in Ordnung. Ich bin von Natur aus sehr blass."
Nach den ersten Erfahrungen in Ankh-Morpork wusste ich, das ich nicht jedem sofort sagen sollte, dass ich ein Vampir war.
"Sie sollten sich mal im Spiegel anschauen. So kann keiner aussehen, der gesund ist."
"Ich bin kein großer Freund von Spiegeln. Ich kann mich nicht in ihnen sehen."
"Das müsste sie jetzt eigentlich richtig deuten können", dachte ich mir.
"Warum? Sind Sie nicht zufrieden mit Ihrem Aussehen? Das kenn ich. Ich hatte auch mal eine Zeitlang ein Problem, mich im Spiegel anzusehen."
"Nein..., so meinte ich das nicht."
Die Unsicherheit fing an, sich in Verzweiflung zu verwandeln.
"Ich bin ein..", begann ich.
"Mein Mann hatte das gleiche Problem", fiel mir Frau Grimmgesicht ins Wort. "Er wollte sich nie im Spiegel anschauen. Er hatte Angst, dass der Spiegel seine Seele fressen könnte. Ach, ich wünschte, er wäre noch bei mir. Wissen sie, er starb vor zirka drei Jahren."
"Das ist sehr tragisch Madam, aber um nochmals auf den maskierten Mann zurück zu kommen...."
"Er war ein guter Mann. Wir lernten uns vor etwa 40 Jahren kennen. Ich kann mich noch dran erinnern, als wäre es erst gestern gewesen", fing Frau Grimmgesicht an zu Schwärmen.
"Oh Gott!" Das war der einzige Gedanke, den ich noch denken konnte. Aus purer Verzweiflung nahm ich mir ein weiteres Plätzchen und hörte der Frau aufseufzend zu.

Zirka drei Stunden, zwei Teller Plätzchen und einen Krug warme Milch später verließ ich benommen das Haus von Frau Grimmgesicht. Mein Kopf fühlte sich wie ein Ballon an, der jeden Moment platzen würde. Mir war jetzt die gesamte Lebensgeschichte der Grimmgesichts bekannt. Rückführend bis zu dem UrurururGrossvater von Frau Grimmgesicht. Sie hieß übrigens Ilse mit Vornamen.
Zwischen den einzelnen Epochen der Lebensgeschichte der Grimmgesichts konnte ich aber zum Glück immer wieder ein paar Informationen über den vermeintlichen Überfall bekommen. Man konnte eigentlich von keinem richtigen Überfall sprechen. Frau Grimmgesicht war gerade vom Einkaufen auf dem Nachhauseweg, als plötzlich direkt vor ihr eine verkleidete Gestalt aus einer Gasse sprang, sie anbrüllte: "Sei unbesorgt, Bürgerin! Ich wache nun über Ankh-Morpork!", und wieder in einer dunklen Gasse verschwand.
Auf meine Frage, warum sie bei der Wache gemeldet habe, dass sie ausgeraubt worden sei, antwortete sie nur: "Der Mann raubte mir meinen Atem!"
Ich wollte sie fragen ob das ihr Ernst sei, ließ dann allerdings davon ab, als ich an ihrem Gesichtsausdruck sah, dass sie es wirklich ernst meinte. Zu meiner Verwunderung konnte mir die Frau allerdings eine sehr genaue Beschreibung der Person geben. Sie war männlich, etwa 1,80 Meter groß und hatte braunes Haar. Dazu kam, dass die Person völlig in schwarz gekleidet war und einen pechschwarzen Umhang trug. Zu dem Gesicht konnte Frau Grimmgesicht nur sagen, dass der Mann unrasiert war. Der Rest des Gesichts war von einem Band verdeckt.
Frau Grimmgesicht konnte mir auch einen Fetzen des Umhanges geben. Der Unbekannte hatte sich beim Flüchten in seinem eigenen Umhang verheddert und dabei ein Stück herausgerissen. Aus eigener Erfahrung wusste ich, dass dies ein typischer Anfängerfehler ist, wenn man zum ersten Mal einen großen Umhang trägt. Mit der Zeit entwickelt jeder Vampir seine eigene Technik, um dies zu verhindern. Ich war mir aber ziemlich sicher, dass die Person kein Vampir war. Dies machte die Bemerkung von Frau Grimmgesicht deutlich, indem sie sagte: "Die Gestalt machte einen gesunderen Eindruck als Sie. Er hatte mehr Farbe im Gesicht. Jedenfalls ab den die Stellen, die ich erkennen konnte."
In Ankh-Morpork liefen schon seltsame Gestalten rum. Menschen, die sich wie ein Vampir verkleideten und sich maskierten, um dann alte Frauen zu erschrecken. Ich betrachtete den Fetzen Stoff. Er stellte sich als sehr teurer und seltener Stoff heraus. In Überwald besaß ich selbst ein paar dieser Umhänge. Sie wurden hauptsächlich bei besonderen Anlässen getragen.
Eigentlich hätte ich in das Wachhaus zurückkehren müssen, um dem Fähnrich Bericht zu erstatten. Aber ich entschied mich, erst beim Schneider in der Ulmenstrasse vorbeizufliegen. So konnte ich meinen Umhang abholen und auch gleich mal fragen, ob jemand in letzter Zeit einen Umhang aus diesem Stoff gekauft hatte. Ich betrat wieder eine dunkle Gasse und flog kurz darauf in Richtung Schneiderei.

"Guten Abend, Herr van Varwald", begrüßte mich der Schneider, "Sie wollen sicher Ihren neuen Umhang abholen. Warten Sie bitte einen Moment, ich hole ihn gerade."
Der Schneider verließ den Raum und kam kurze Zeit später mit einem Umhang wieder.
"So, wie Sie ihn bestellt hatten. Schwarz und die Innenseite ist mit rotem Samt ausstaffiert. Zu welchem Anlaß wollen Sie ihn eigentlich tragen? Sie haben doch schon einen."
"Diesen hier trage ich eigentlich nur privat", erklärte ich ihm, "Den neuen benötige ich für meinen Dienst bei der Wache. Es soll schon was Edles sein."
"Ah, ich verstehe. Sie wollen Stolz zeigen. Das will jeder Vampir."
Ich gab dem Schneider den Abholschein und bezahlte den Umhang. Mein restliches Geld und erster Monatslohn gingen für diesen Umhang drauf. Aber er war sein Geld wert. Er war zwar nicht aus dem teuren Stoff, den der unbekannte Mann trug, aber er war schon gehobener Standard.
Nachdem ich den Umhang bezahlt und in einer Papiertüte verstaut hatte, zeigte ich dem Schneider den Stofffetzen.
"Ich hätte noch eine kleine Frage. Hat in den letzten Tagen jemand einen größeren Umhang, der aus diesem Stoff besteht, bestellt und abgeholt?"
Der Schneider nahm den Fetzen in die Hand und beäugte den Stoff.
"Ja, ich erinnere mich. Vor drei Tagen habe ich so einen Umhang verkauft. War ein recht teures Modell. Der Kunde hat schon bei der Bestellung bezahlt."
"Ein Mann, etwa 1,80 Meter groß, braunes Harr und unrasiert?"
"Ja genau. Das war er."
"Haben sie zufälligerweise den Namen und die Anschrift des Herren?"
Ich glaubte eigentlich nicht daran. Jemand, der sich maskiert, gibt bei der Bestellung seiner Klamotten sicher keinen Namen an.
"Natürlich. Moment, warten sie einen Moment."
Der Schneider holte einen Aktenordner unter der Theke hervor und blätterte ein paar Seiten zurück.
"Ah ja, hier hab ich die Rechnung. Sein Name ist Ruß Fein. Er wohnt in der Myrtenstrasse 6."
Der Schneider richtete seinen Blick auf mich und schaute mich fragend an.
"Warum wollen Sie das eigentlich wissen? Hat Herr Fein was verbrochen? Hat er jemanden umgebracht?"
"So schlimm ist es nicht. Und außerdem bin ich mir nicht sicher, ob Herr Fein überhaupt was mit der Sache zu tun hat. Ich wäre Ihnen also sehr dankbar, wenn sie sich mit irgendwelchen Gerüchten zurückhalten würden."
Der Gesichtsausdruck des Schneiders zeigte, dass ihn dieser Vorwurf sehr beleidigte.
"Also, ich muss doch bitten! Ich verbreite keine Gerüchte. Das ist nicht meine Art."
"Dann ist ja gut. Ich wollte es nur gesagt haben."
"Ich gebe nur Informationen weiter, die man so in einem Schneiderladen hört."
"Dann ist diese Information streng geheim und darf keinem weitererzählt werden. Sonst sperr ich Sie wegen dem Weitererzählen streng geheimer Informationen ein. Dies ist ein schlimmes Vergehen und wird schwer bestraft. Hab ich mich klar ausgedrückt?"
Ich versuchte meine Stimme so ernst wie möglich klingen zu lassen und anscheinend erzielte ich auch den gewünschten Effekt. Der Schneider schaute mich mit großen Augen an.
"Wirklich? Davon wusste ich noch gar nichts! Wie groß ist denn die Strafe?"
"Das möchten sie gar nicht wissen! "
"Ah, ich verstehe. Eine Strafe, die so schlimm ist, das man sie gar nicht aussprechen will!"
"Sie haben es erfasst. Aber, um wieder auf Herrn Fein zurück zu kommen. Können sie mir sagen, wo sich die Myrtenstrasse befindet?"
"Och, das ist ganz einfach. Wissen Sie, wo sich die schlechte Brücke befindet?"
"Etwa in der Nähe der Kaimeisterstrasse?"
"Genau. Die Kaimeisterstrasse zweigt von der Myrtenstrasse ab. Sie befinden sich noch nicht lange in Ankh-Morpork, oder?"
"Da haben sie Recht, aber ich muss jetzt gehen. Ich danke Ihnen für ihre Hilfe. Sie haben der Wache einen großen Dienst erwiesen."
Stolz zeigte sich im Gesicht des Schneiders.
"Danke! Man tut, was man kann."
Ich verlies die Schneiderei und entschied mich dazu, erst mal meinen neuen Umhang in der Pension zu deponieren.

Als ich die Pension verließ, flog ich Richtung Myrtenstrasse. Auf dem Weg zur Pension war mir zwar ab und zu der Gedanke gekommen, bei der Wache Verstärkung zu holen, aber ich hielt ich es erstmal für unnötig. Ich würde erstmal beim Haus von Herrn Fein vorbeischauen und wenn mir dort etwas merkwürdig vorkäme, könnte ich immer noch zurückfliegen, um Verstärkung zu holen. Und außerdem konnte ich mir nicht vorstellen, dass Herr Fein gefährlich sein sollte. Er hatte, bis jetzt, niemanden verletzt oder gar getötet.

Nach einem kurzen Flug erreichte ich das Haus von Herrn Fein. Entweder war es verlassen oder Herr Fein schlief schon. Nach kurzem Zögern klopfte ich an die Tür.
Es öffnete niemand. Auch kamen keine Geräusch aus dem Haus, die darauf hindeuteten, dass sich jemand darin versteckt hielt. Ich klopfte erneut, nur diesmal etwas lauter. Wieder keine Reaktion.
"Herr Fein ist nicht zuhause", ertönte eine zornige Stimme hinter mir, "Sie können sich also sparen, hier noch mehr Lärm zu veranstalten!!."
Ich drehte mich um und sah eine etwas dicklichere Frau aus einem Fenster im 1. Stock des Hauses gegenüber schauen. Sie schien ein Nachthemd zu tragen und machten einen recht zornigen Eindruck.
"Guten Abend, Madam. Ich bin von der Stadtwache und hätte ein paar Fragen an den Herrn Fein. Können sie mir vielleicht sagen, wann er gegangen ist und wohin?"
"Vor etwa 4 Stunden. Allerdings hab ich nicht gesehen, wohin. Ich hab nur gehört, wie er sein Haus verlassen hat. Bei dem Lärm, den er machte, konnte man es ja nicht überhören."
"Aha. Ich danke Ihnen, Madam. Sie können jetzt weiterschlafen."
"Das will ich hoffen", fauchte die Frau und schlug das Fenster zu.
Herr Fein war also nicht zuhause. Noch ein Anzeichen mehr, dass es sich bei dem Täter[6] um ihn handelte. Ich entschied mich, auf ihn zu warten und suchte mir eine Ecke, die im Schatten verborgen war. Da ich nicht wusste, wie lange Herr Fein fort sein würde, holte ich mein "Ankh-Morpork von A bis Z" aus der Tasche und fing an zu lesen.
Ich hatte gerade erfahren, dass man den Bibliothekar der Unsichtbaren Universität nicht "Tier" nennen darf, als ich hörte, wie jemand die Strasse herunter lief. Eine Gestalt erschien in der Nacht und machte einen seltsamen Eindruck. Die Art, wie sie lief, deutete auf den Versuch hin, wenig Lärm zu verursachen, was ihr aber nicht sehr gut gelang. Genauso seltsam war ihre Verkleidung. Sie trug einen langen Umhang (aus dem schon ein paar Fetzen herausgerissen waren) und ihr Gesicht war mit einer Augenbinde getarnt. Der Beschreibung nach musste es Herr Fein sein. Der Verdacht erhärtete sich, als die Person die Tür zu dem Haus von Herrn Fein aufschloss.
"Herr Ruß Fein?", fragte ich und trat aus dem Schatten heraus.
Die Person wirbelte herum und blieb wie erstarrt stehen.
"Ja, das bin i.., äh, ich meine, nein. Sie müssen mich mit jemanden verwechseln!" Seine Stimme festigte sich bei dem Schluss des Satzes.
"Wer sind Sie dann und woher haben Sie dann den Schlüssel zum Haus von Herrn Fein?"
"Mein Name ist..", ein Drohen lag in seiner Stimme, "..Nachtschützer! Ich wache über Ankh-Morpork und beschütze die Bewohner bei Nacht."
Ich musste mit aller Kraft den Zwang, laut loszulachen, unterdrücken. Dieser Mann hielt sich tatsächlich für den Beschützer von Ankh-Morpork.
"Alles klar, Nachtschützer. Ich finde es toll, dass Sie eine solch tapfere Tat vollbringen. Aber Sie haben mir immer noch nicht gesagt, woher Sie den Schlüssel zum Haus von Herrn Fein haben."
"Auf die Antwort bin ich jetzt gespannt", schoss es mir durch den Kopf.
"Ähm..", Herr Fein verdrehte für einen kurzen Moment die Augen, "er kam zu mir und wollte, dass ich mich in seinem Haus umsehe. Er vermutete, dass sich Einbrecher in seinem Haus befänden. Deshalb gab er mir den Schlüssel. So helfe ich den Bürgern von Ankh-Morpork."
"So, wie Sie Frau Grimmgesicht schon geholfen haben?"
"Ähm.., sollte ich die Dame kennen? Ich hab heute schon so vielen Menschen geholfen, ich kann mich nicht an jeden erinnern."
"Frau Grimmgesicht kam gerade vom Einkaufen, als Sie vor sie gesprungen sind und sie angebrüllt haben, sie solle sich keine Sorgen machen."
Die Augen von Herrn Fein verengten sich zu kleinen Schlitzen.
"Oh ja. Ich erinnere mich an sie. Warum fragen Sie nach ihr? Ist ihr etwas zugestoßen?"
"Nun ja, Herr Fein..."
"Nachschützer, wenn ich bitten darf!"
Ich gewann den Eindruck, dass ich einen etwas ernsteren Ton verwenden sollte. Entweder wollte mich Herr Fein für dumm verkaufen oder er war nicht mehr ganz richtig im Kopf. Aber anscheinend traf doch die zweite Möglichkeit bei ihm zu.
"OK, Herr Nachtschützer. Frau Grimmgesicht hat Anzeige gegen Sie erstattet. Sieht so aus, als waren sie etwas aufdringlich gewesen. Ich müsste Sie bitten, mich zur Wache zu begleiten, um ein paar Fragen zu beant.."
"Niemand sperrt Nachtschützer in den Knast!", schrie Herr Fein, drehte sich auf der Stelle um und machte Anstalten zu fliehen. Doch es blieb nur bei den Anstalten. Beim Drehen wickelte sich der Umhang um seine Beine und brachten in mit einem lauten "UFFTZ" zu Fall.
"Anfänger!", dachte ich mitleidig und drückte Herr Fein auf den Boden.
"Herr Fein!"
"ARGH, für Sie immer noch Nachtschützer."
"Herr Nachtschützer. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann kämpfen Sie doch für Recht und Ordnung. Oder irre ich mich da?"
"AU! Nein, Sie haben Recht! Nachtschützer kämpft für das Recht der Bürger von Ankh-Morpork und beschützt die Schwachen."
"Dann werden Sie doch auch sicher auf das Gesetzt von Ankh-Morpork hören. Oder?"
"Ja, natürlich."
"Dann werden Sie mich jetzt auf die Wache begleiten, so wie es das Gesetzt verlangt!"
Ich spürte, wie die Gegenwehr von Herrn Fein langsam nachließ. Anscheinend dachte er, unter dem Einfluß meines Gewicht auf seinem Bauch, über den Satz nach.
"Ja, sie haben Recht! Ich werde mich an das Gesetzt halten!"
"Sehr schön."
Ich ließ Herrn Fein los und half ihm auf die Beine.
"So, wir werden uns also jetzt gemeinsam auf die Wache begeben und keine Tricks! Das wäre gegen das Gesetzt und sie wollen sich doch an das Gesetzt halten, oder?"

Ich führte Herr Fein zum Wachgebäude in der Kröselstrasse. Der Weg dorthin verlief ohne größere Probleme. Außer ein paar Menschen, die Herrn Fein verwundert anstarrten, trafen wir auf niemanden. Meine Befürchtung, dass wir auf Personen träfen, denen Herr Fein auch schon "geholfen" hatte und die sich jetzt besonders bedanken wollten, blieb zum Glück unbestätigt. Ich versuchte, Herr Fein in ein Gespräch zu verwickeln, um zu erfahren, was es mit der ganzen Nachtschützer-Sache auf sich hatte. Doch entweder schwieg er oder brachte nur hervor, dass es seine Aufgabe sei, die Bürger von Ankh-Morpork zu beschützen. Wir betraten das Wachgebäude und ich wandte mich an Missy. Er saß hinter dem Tresen und blätterte gelangweilt in der aktuellen Ausgabe der Times. Als er Herr Fein bemerkte, warf er mir einen fragenden Blick zu.
"Das hier ist Herr Fein."
"Nachtschützer!", warf Herr Fein in einem trotzigem Ton ein.
"Na gut. Das hier ist Nachtschützer. Er kümmert sich darum, das keinem Bürger von Ankh-Morpork was passiert."
Herrn Feins Gesicht zeigte sichtbaren Stolz, als er den Satz hörte. Das Gesicht von Missy deutete allerdings darauf hin, das ihm noch entscheidende Informationen fehlten.
"Ich erkläre dir nachher alles. Passt du mal bitte kurz auf ihn auf. Ich will mich nur schnell beim Fähnrich melden."
Ich wollte mich gerade wieder an Herrn Fein wenden, als mir noch etwas einfiel.
"Was war denn vorhin mit der alten Frau und dem toten Hund?"
Missy stöhnte auf: "Ach die. Das war Frau Plumm. Hätte mich beinahe um den Verstand gebracht. Ihr Hund hatte ein Stück von Schnappers Würsten gefressen und war daran erstickt. Frau Plumm wollte, das wir Schnapper wegen Tiermordes verhaften. Sie wollte nicht einsehen, dass der Hund sich selbst in akute Lebensgefahr begeben hatte, als er das Würstchen fraß. Und außerdem hat er anscheint zu schnell gefressen."
"Wer ist Schnapper und was für Würstchen?", fragte ich.
"Du kennst Schnapper Treibe-mich-selbst-in-den-Ruin nicht? Du bist wirklich noch nicht lange in Ankh-Morpork. Du wirst ihn noch früh genug kennen lernen. Aber einen Rat will ich dir geben. Nimm dich vor den Würstchen in acht!" Missys Stimme versprühte einen leichten Anflug von Furcht im letzten Satz. Anscheinend waren Schnappers Würstchen was Besonderes.
Ich drehte mich wieder zu Herrn Fein um.
"So, Herr Fei.., äh, ich meine Nachtschützer. Sie setzen sich jetzt dort drüben auf die Bank und warten, bis ich wieder zurückkomme. Mein Kollege hier wird aufpassen, dass sie nichts tun, was gegen das Gesetzt verstößt. Aber das werden sie ja sicher nicht tun. Da bin ich mir sicher."
Herr Fein nickte nur und setzte sich still auf die Bank gegenüber dem Wachtresen. Ich eilte zum Büro von Fähnrich Lanfear und klopfte an die Tür.
"Herein", ertönte ihre Stimme von der anderen Seite der Tür.
Ich betrat das Büro und salutierte.
"Melde mich vom Auftrag zurück, Mam."
"Ah, Valdimier. Das hat ja auch lange genug gedauert. Was hast du so lange getrieben? Warst du nach dem Besuch von Frau Grimmgesicht noch in der Trommel und hast was getrunken? Ein Besuch bei ihr dauert zwar schon ein paar Stunden, aber so lange hat noch nie jemand gebraucht."
"Nein, Ma'am.", brachte ich hervor und erzählte ihr die gesamte[7] Geschichte.
"Soso. Nachtschützer also." Ihr Gesicht machte einen belustigten Eindruck, "Und wie kam er dazu, sich so einer Aufgabe zu stellen?"
"Tut mir leid, Ma'am. Ich habe mehrmals versucht, ihn darüber zu befragen, aber er übt sich in Schweigen."
"Nun gut. Wir werden Herrn Fein erstmal in eine Zelle sperren und ihn dann später verhören. Hat die alte Grimmgesicht also doch einmal die Wahrheit gesagt."
"Na ja, sie wurde eigentlich nicht ausgeraubt und außerdem hat Herr Fein eigentlich niemanden was getan", sagte ich.
Der Fähnrich schaute auf den Tisch und betrachtete eine Akte.
"Das mag stimmen. Aber er hätte jemanden verletzten können und außerdem hätte Frau Grimmgesicht vor Schreck an Herzversagen sterben können. Wir bringen Herrn Fein erstmal in eine Zelle und später soll sich dann mal ein Püschologe mit ihm unterhalten. Vielleicht findet er heraus, was Herrn Fein dazu gebracht hat."
"Gute Arbeit, Valdimier", sie blickte zu mir auf, " für den ersten Fall nicht schlecht. Auch wenn ich mir einen anderen Verlauf vorgestellt hatte. Ich erwarte morgen deinen kompletten Bericht. "
"Danke, Ma'am. Ich hab mein Bestes getan."
"Wie es sich für einen Vampir gehört", fügte ich in Gedanken hinzu.
"Den Bericht haben sie morgen auf dem Tisch."
Ich salutiert zum Abschied und verließ dann das Büro des Fähnrichs.
Zufriedenheit machte sich in mir breit. Ob sich jeder Wächter so fühlte, wenn er seinen ersten Fall gelöst hatte? Ich dachte einen kurzen Augenblick drüber nach, kam aber zu keinem Ergebnis. Nun würde ich mir Turik schnappen, um unser Gespräch über Gnome und Vampire weiterzuführen.


Es sah so aus, als ob die Arbeit bei der Wache noch sehr interessant werden würde.

**


Folgendes sollte der Püschologe später bei der Vernehmung von Herrn Fein erfahren:

Herr Fein hatte nicht besonders viele Freunde. Seine Nachbarn beschrieben ihn immer nur als seltsamen Kauz, der sich nur nachts aus dem Haus traute. Sein einziger wahrer Freund war sein Hund Fluffi. Er liebte Fluffi über alles. Als er eines Nachts mit Fluffi Gassi ging, wurde er auf der schlechten Brücke von einer unbekannten Person angegriffen. Fluffi wollte seinem Herrchen helfen und biss den Angreifer ins Bein. Der schnappte sich den Hund und warf ihn in den Ankh. Er schlug Herrn Fein nieder und verschwand wieder in der Dunkelheit. Nachdem Herr Fein wieder zu sich gekommen war, lief er verzweifelt hinunter zum Ankh, um zu sehen, was mit Fluffi passiert war. Dieser lag, von den Dämpfen benebelt grinsend, auf der Flussoberfläche. Es war in dieser Nacht, nach mehreren Stunden intensiven Shampoonierens, daß sich Herr Fein am Rande des Ankhs schwor, von nun an gegen das Verbrechen zu kämpfen. Zu einer solchen Arbeit sollte kein Bürger von Ankh-Morpork mehr gezwungen sein! So entstand "Nachtschützer"!
[1]  1.Vorbestraft? 2.Festen Wohnsitz? 3. Verwandte, die im Falle des Ablebens, verständigt werden sollen?

[2] Diese Art der Verwandlung wählt ein Vampir nur, wenn er alleine ist. Wenn andere Personen anwesend sind, verwendet man eine Version der Verwandlung, in der eine Menge Rauch und andere Spezial- und Toneffekte eine wichtige Rolle spielen. So verlangt es die Tradition.

[3] Wer nachts allerdings zur falschen Zeit am falschen Ort war, musste feststellen, das Ankh-Morpork, auch nachts, sehr unruhig und sehr unschön sein kann.

[4] Für einen Vampir war es normal, immer an Blut und Adern zu denken.

[5] Siehe 4

[6] Wenn man überhaupt von einer Tat sprechen konnte.

[7] Die Lebensgeschichte der Grimmgesichts ließ ich allerdings aus. Wahrscheinlich kannte sie sie ja schon.




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