Blinddarm

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von Gefreiter Amok Laufen (RUM)
Online seit 09. 02. 2008
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Es ist leicht ein guter Mensch zu sein. Oder?

Dafür vergebene Note: 11

I Zwillinge

Ihr widert mich an. Mit euren gefüllten Därmen und stinkender Haut, dampfenden Haaren und fischigen Augen. Selbst wenn man euch kocht oder brät seid ihr unerträglich, denn ihr schmeckt sauer, dreckig und krank.

Das Sonnenbonbon klebte am Himmelszelt und blutete seine klebrige Masse über die dreckige Stadt. Ein zähes Licht ließ die Häuser aufquellen und schwebte in der Luft ganz so, als würde sie einem anbieten in ihr herum zu vegetieren, was die meisten hier auch taten. In den Gassen war es trüb und bernsteinfarbener Nebel machte die Augen müde.
ER lag schweigend auf dem Boden in den Schatten und mühsam kämpfte sich sein beschädigtes Bewusstsein an die Oberfläche seiner Existenz. Es war, als tobte ein Kampf in seiner Seele, zwischen Tod und Leben, zwischen Dunkelheit und Licht, zwischen Schlaf und wach sein.
Gequält brach sein Augenlid und der Nebel sickerte hinein. Er nahm einen tiefen Atemzug, doch seinen Lungen fiel es schwer den wenigen Sauerstoff aus der Luft aufzunehmen.
Der Sand, der an der Hälfte seines Gesichtes klebte, mit der er am Boden lag, rieselte fein, als er die Luft lustlos wieder ausstieß.
Nach einer Weile drehte er sich um, und ein heftiger Schmerz pochte im hinteren Teil seines Kopfes. Er kniff die Augen zusammen, was nichts half, und setzte sich auf.
War er tot? Und war das hier eine Art Hölle?
Er verwarf den Gedanken anfänglich, doch verband die beiden immer noch ein kleiner, seidener Faden, der nicht reißen wollte.
Er spürte Schmerz, also lebte er. Das war die einzig logische Schlussfolgerung, abgesehen davon, dass Logik im Tod wahrscheinlich keine Rolle spielte.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass er sein Gedächtnis verloren hatte und er blickte auf seine Hände hinab, die von glatter Haut überzogen waren. Sein Alter konnte er nicht schätzen und als er sich ans Kinn fasste und keinen Bart, jedoch einige Stoppeln spürte, entschied er, nicht älter als fünfundzwanzig und nicht jünger als achtzehn zu sein. Doch im Grunde interessierte er sich wenig für sich selbst, auch wenn ihm nicht bewusst war wieso, doch es erschien ihm keinesfalls ungewöhnlich.
Zweifelsohne hatte ihn jemanden niedergeschlagen, was er aus dem Schmerz im Nacken und Hinterkopf ableitete. Vielleicht war er auch zu Fall gebracht worden und ungünstig geprallt. Niemand hatte ihn über den Boden gezogen, das verriet seine Kleidung und der Boden selbst.
Ein Schmerz zog sich plötzlich über seinen Kopf, als er seine Gedanken und Verknüpfungen verfolgen wollte.
Zunächst musste er hier weg, entschied er und wusste aus einem unbekannten Grund, dass er keinen Ausgang finden würde. Ob das hier nun die Hölle war oder nicht.

Frän tänzelte vom einen Fuß auf den anderen und rieb nervös über ihre Fingernägel, als sie vor der Tür des Abteilungsleiters angekommen war. Ihr Herz schlug so laut, dass ihr Brustkorb ungesund auf und ab sprang und die häufigen Versuche sich zu beruhigen waren nutzlos.
Was sollte denn schon passieren?
Sie hatte nichts falsches getan in letzter Zeit. Oder hatte sie das? Wusste sie nichts davon? Vielleicht war es ja genau das, weswegen er sie gerufen hatte.
Sie schluckte schwer.
Ich kann hier entweder noch ewig herumstehen, dachte sie, oder ich gehe da jetzt rein und lasse es über- nein, höre mir an, was er zu sagen hat.
Frän entschied sich dafür einen kurzen Moment nichts zu tun und hob dann fest entschlossen die Hand, um an die Tür zu klopfen. Im selben Moment öffnete sie sich und ein hoch gewachsener Mann stellt sich vor ihr auf.
"Ah, da bist du ja.", sagte er und selbst für die Püschologin war es schwer der Betonung ein Gefühl zuzuordnen. Eine Narbe zog sich über das Gesicht des Abteilungsleiters und ein Bart ließ sein Gesicht fast unberechenbar wirken.
Hätte Frän nicht ohnehin stets kalte Hände gehabt, was wohl daran lag, dass sie ein Vampir war, hätte sich wohl alles Blut ihres Körpers in diesem Moment in dessen Inneres zurückgezogen.

"Setz dich.", forderte der Abteilungsleiter die Püschologin auf, als auch er sich hinter seinem Schreibtisch niederließ.
"Kommen wir gleich zur Sache.", begann er. "Ich habe mitbekommen, dass du zum", er hielt inne und kratze sich nachdenklich am Kopf bis ihm der Name scheinbar endlich eingefallen war, "Gefreiten Amok Laufen guten Kontakt hast."
"Ja, Sir.", antwortete Frän schlicht. Zögerlich blickte sie sich im Büro um, denn sie fühlte sich immer noch etwas unbehaglich und vor allem unsicher.
"Neben ihm gibt es im Moment keine weiteren Anwerber, was mich irgendwie nicht unbedingt wundert." Wieder machte er kurz halt um einen Moment zu sinnieren, während die Püschologin ungeduldig abwartete.
"Wie auch immer. Jedenfalls ist es auffällig, dass er schon ein lange Zeit nicht mehr beim Dienst erschienen ist. Weißt du vielleicht etwas genaueres?"
Frän zögerte. Auch sie hatte ihn schon längere Zeit nicht mehr gesehen. Es mochten nun schon mehr als vier Wochen her gewesen sein, dass er das letzte mal beim Dienst erschienen war. Zwar hatte sie ihn zwischendurch ein paar mal besucht, doch hatte das niemandem von beiden irgendwie geholfen. Im Gegenteil. Er vermittelte Frän das Gefühl im Weg zu sein. Wahrscheinlich war das seine Art mit der Sache mit Ayu fertig zu werden. Die beiden waren sehr gut befreundet gewesen und hatten sich eine Wohnung geteilt, bis die Ermittlerin schließlich in einem Streit gegangen war.
Aus irgendeinem Grund musste das Amok schwerer getroffen haben, als Frän es gedacht hätte, denn seitdem war er nicht mehr vor die Tür getreten und seine Aufmerksamkeit auch nur für einen Moment zu erhaschen gestaltete sich jedes mal als neue Herausforderung.
"Ja. Es geht ihm nicht gut.", sagte sie schließlich. Sie konnte ihren Vorgesetzten schlecht anlügen, wollte ihn jedoch auch nicht unbedingt mit diesen Details konfrontieren.
Für einen Moment starrte Romulus von Grauharr sie an und wartete scheinbar auf nähere Ausführungen.
"Wie dem auch sei.", lenkte er schließlich ein, als er bemerkte, dass das alles war, was die Püschologin dazu sagen wollte.
"Jedem geht es mal schlecht, aber da gerade er der einzige seiner Art ist den wir haben, ist es unbedingt notwendig, dass er bald wieder hier erscheint."
"Ja Sir, das werde ich ihm ausrichten."
"Nicht nur das...", unterbrach der Vorgesetzte sie und schaute ihr fest in die Augen. "Wenn er nicht bald wieder hier ist, ohne einen triftigen Grund vorzuweisen, können wir ihn nicht mehr gebrauchen. Dann ist er uns eher eine Last als alles andere. So leid es mir tut."
Frän konnte nicht einordnen, ob letzteres wirklich der Wahrheit entsprach, doch die unverblümte Botschaft fuhr ihr kalt durch die Glieder.
Schließlich nickte sie und verließ bald das Büro.

Aus einer dreckigen Nische der Schatten trat er in den noch abscheulicheren Teil der Stadt, direkt in die gelblich vernebelte Luft hinein. Und nur aus müden Augen erblickte er einen Platz, der von Lebewesen jeder Art überfüllt war und zu reißen drohte. Schnell wandte er sich ab und entschied, sich von der Masse weg, und in eine Gasse hinein zu bewegen.
Doch auch hier entkam er der Menge nicht, denn sie strömte zum Platz wie eine Gesellschaft von Ameisen zu ihrem Ameisenhaufen. Nur hatten diese Menschen hier keinerlei Dienste geleistet die dem Ameisenhaufen zugute gekommen wären. Sie versammelten sich und konsumierten, kauften und traten sich subtil gegenseitig nieder, auf das sie der Erstickungstod schnell ereile. Niemand schien sich dagegen zu wehren.
Ein Mann stieß an seinen Arm, schaute ihn nicht an und ging weiter, während er ihm noch eine Weile nachblickte, auf eine Reaktion hoffend, die ausblieb.
Er taumelte in eine weitere unter der Myriade von Gassen und lehnte sich erschöpft an eine Wand, um nach Luft zu ringen. Die Enge der Massen wurde nun abgelöst, von der Menge an Häuserwänden, die sich um ihn herum bis ins unendliche aufzutürmen schienen und in der gelben Wolke verschwanden. Hilflos schaute er nach oben, um einen Blick in die Weite des Himmels zu werfen, doch der dreckige Nebel nahm ihm jede weitere Sicht und Schwindel überkam ihn. Der Lärm von brüllenden Kindern und grunzenden Lauten vermischte sich mit dem des röchelnden Atems einer Frau direkt neben ihm, welche einen ungewöhnlich großen Bauch vor ihrem sonst zierlichen Körper vorantrug- einem Fremdkörper gleich.

Er sah nicht sehr viel anders aus als sonst, wenn er auf dem Boden lag, obwohl er im Moment wohl vielmehr saß. Um ihn herum befanden sich Berge von Blättern, Stifte verschiedenster Art und wenige Bücher. Dicken Vorhänge verdeckten die Fenster, welche der sandige Nieselregen als Instrument nutzte.
Hosen und Hemden hatte er über die beiden Stühle geworfen und an einigen Stellen der Wohnung stapelte dich das Geschirr.
Frän stand mitten in diesem Chaos und machte sich auf zum Fenster, um es zu öffnen, denn obwohl die Luft gerade noch zu ertragen war, war es unangenehm warm in der kleinen Wohnung. Es war nicht schwer die vielen Blätter und alles andere, so genau wusste sie nicht einmal, was sich hier alles auf dem Boden befand, zu umgehen, denn seit mehreren Wochen hatte sich hier nichts mehr verändert. Auf dem Tisch lagen Reste, die wahrscheinlich die Überbleibsel einer Pflanze waren und auf denen sich eine widerliche, staubähnliche Schicht gebildet hatte.
Er saß mit dem Gesicht der Wand gegenüber und starrte aus leeren Augen auf einen kleinen Punkt, einen Fehler in der Maserung.
Frän schnaufte unzufrieden und setzte sich auf den üblichen Platz neben dem Anwerber.
Sie schaute ihn an, erwartete jedoch keine Reaktion.
"Wie geht es dir?", fragte sie fast schon obligatorisch.
Er antwortete nicht, womit sie bereits gerechnet hatte. Die Vampirin entschied sich abzuwarten und verharrte eine Weile lang neben ihrem Kollegen.
"Er geht nicht weg.", sagte Amok nach einer Weile.
Frän blieb ruhig. Es kam in letzter Zeit zwar nicht oft vor, dass Amok etwas sagte, doch sie wusste, dass wenn er es tat, es nichts brachte, ihn dafür zu loben oder es als etwas Ungewöhnliches, einen Fortschritt darzustellen. Es war nicht nötig, weder für sie noch für ihn. Ihre Püschologiekenntnisse hatte sie in ihrer langen Zeit bei der Stadtwache gut vertiefen können und obwohl sie einige Muster bei ihm anwenden konnte, stellte es sich von Zeit zu Zeit als Nachteil heraus, dass er zumindest eine Grundausbildung in Püschologie während seiner Ausbildung hinter sich gebracht hatte.
Das Problem war, dass sobald er merkte, dass Frän ihre Kenntnisse nutzte um ihm zu helfen, er sich für einige Tage wieder vollständig abschottete und schwieg. Sie wusste nicht, wieso er so handelte, schließlich wollte sie ihm helfen und sie sah es keinesfalls als Nachteil an, dass sie dazu Püschologie nutzen konnte, sogar musste.
"Was meinst du?", sagte sie, während sie sich eine rote Strähne aus dem Gesicht strich und sie hinter das Ohr legte. Sie zog die Knie an den Körper, überkreuzte die Beine und legte die Arme auf denselben ab. Dann legte sie den Kopf auf sie und wartete geduldig.
"Der Fleck.", sagte er. "Dabei gehört er hier gar nicht hin. Jemand hat einen Fehler gemacht und nun ist er da." Amok lächelte bitter. "Und nun geht er einfach nicht mehr weg."
"Vielleicht liegt das daran, weil niemand auf die Idee kommt ihn zu entfernen." Die Püschologin vernahm deutlich, dass sich etwas in der Art und Weise des Anwerbers in den letzten Tagen verändert hatte. Das verriet nicht nur sein Tonfall, sondern auch das was er sagte.
"Wie sollte man das auch tun? Ich habe ihn vorher nicht ein mal bemerkt.", sagte er und plötzlich drehte er den Kopf, um mit seinen blau-grauen Augen die der Püschologin zu fixieren.
Man konnte nicht sagen, dass sie erschrak, doch es überraschte sie und innerlich strahlte sie so sehr, dass es schwer war die Freude zu verbergen, wobei sie jedoch wusste, dass das essenziell war, um weitere Fortschritte zu erzielen. Er musste das Blitzen in ihren Augen für kurze Zeit wahrgenommen haben, denn schon wandte er sich wieder ab.
"Hast du es denn mitbekommen... was ich falsch gemacht habe?", fragte er, die Wand wieder betrachtend.
"Es ist nicht wichtig, wer etwas mitbekommen hat und wer nicht.", sagte sie.
Es war wichtig, dass sie ihm nicht die Antworten vorlegte, sondern, dass er selbst darauf kam, was sein Problem war. Hinzu kam, dass sie sich nicht zu einhundert Prozent sicher war. Des Öfteren hatte sich jedoch erwiesen, dass Menschen dazu neigten die Aussagen einer Püschologin zu akzeptieren, sich diesen anzuschließen, und dass die Ursache dennoch nie gefunden wurde. Frän sah sich nicht als jemand, der den Menschen sagen konnte, was ihr Problem war, sie sah ihre Aufgabe vielmehr darin, anderen dabei zu Helfen ihre Probleme zu finden.
"Vielleicht habe ich es geahnt. Ja." Mit dem ersten Teil ihrer Antwort hätte er sich nie zufrieden gegeben, was ihr nach einiger Zeit der Stille klar wurde.
"Amok...", begann sie ruhig und wusste dabei genau welches Risiko sie einging, "...ich weiß, dass es schwer ist, und dass du wahrscheinlich noch viel Zeit brauchst, aber..."
"Ja.", unterbrach er sie schaute sie wieder an. "Ich weiß, dass ich meine Aufgaben vernachlässigt habe."
"Du bist der einzige Anwerber den RUM..."
"Ich brauche nicht mehr lange."
"Das ist nicht wahr."
"Nein."
Wieder schwiegen beide. Verdammt, dachte sich Frän. Auch wenn sie für gewöhnlich ganz und gar nicht zu Gefühlsausbrüchen neigte, war es im Moment doch schwer für sie ruhig zu bleiben.
"Es bringt einfach nichts, wenn du nichts unternimmst. Es wird nicht besser dadurch, dass du in deiner Wohnung bleibst und alles andere vernachlässigst."
"Das ist mir bewusst."
Sie schniefte.
"Hast du schon mit Ayure deswegen gesprochen?"
Er schüttelte den Kopf.
"Es ist deine Sache. Du musst es bewältigen. Ich stehe jeder Zeit hinter dir, aber ich kann nichts an der Situation ändern. Ich kann dich nur unterstützen.", sprach sie und in ihrer Stimme lag eine Mischung aus Besorgnis und Eindringlichkeit, die ihn zum Handeln auffordern sollte.
"Es ist nicht nur, dass du deine Arbeit im Moment ein bisschen vernachlässigst."
"Was meinst du?", nun hatte sie Amoks Aufmerksamkeit voll und ganz auf sich gezogen und zum ersten mal seit einer sehr langen Zeit schaute er ihr mit einem ernsthaften und tiefen Blick in die Augen.
Wieder atmete sie schwer und wandte sich von seinem Gesicht ab, indem sie auf den Boden blickte. Dabei fielen die widerspenstigen Strähnen über ihr Ohr und hingen glatt über ihre Schulter nach unten.
"Romulus hat mit mir gesprochen. Wenn du nicht bald wieder aktiv deinen Aufgaben als Anwerber nachkommst, wird er vorschlagen oder veranlassen, dich nicht länger bei der Wache arbeiten zu lassen."
Immer noch starrte Amok auf ihr Gesicht, um einen Blick aufzufangen, was Frän realisierte und in bald weich ansah.
"Aber er kann doch nicht so einfach...", stotterte Amok beinahe.
Frän schüttelte den Kopf. "Ich kann das nicht einschätzen. Ich kenne mich mit diesen Angelegenheiten leider nicht so gut aus, aber Amok...", jetzt drehte sie sich ihm wieder direkt zu, denn obwohl sie sich in dieser Situation hinterhältig vorkam, wusste sie in diesem Moment immer noch ihren analytischen Verstand zu gebrauchen und ihre Körpersprache zu kontrollieren. Nun hörte er aktiv zu und sie konnte ihm einen ordentlichen Schubs in die Richtung geben, die für ihn wohl die richtige war, "...du musst etwas ändern. Du musst wieder Ordnung in deinem Leben schaffen. Das alles darf dir nicht die Realität und deine Arbeit verstellen."
Für einen kurzen Moment schien es, als würde er zittern. "Und wo soll ich anfangen?"
"Bring wieder Licht in deine Augen."

Sie verengte kurz die schmutzigen Augen, blickte jedoch durch ihn hindurch, der sie beobachtete und schwieg.
Ein schmatzendes Geräusch erschien und die Frau blickte an den Beinen hinab, die mit einen grünen, stinkenden Schleim überlaufen waren. Dann lächelte sie, fast so, als wäre sie erleichtert, dass eine große Last von ihr gefallen war und verließ die Gasse.
Er schluckte schwer und etwas sagte ihm, er müsse sie aufhalten, doch der Anblick des Wesens dort auf dem Boden widerte ihn zutiefst an, so, dass er starr vor Schreck war und seinen Blick nicht davon abwenden konnte.
Statt Händen und Füßen hatte das Ding Klauen, die Nase war flach, ragte jedoch weit aus dem Gesicht hervor. Der Kopf war kahl, die Haut grau und trotzdem wies das Wesen Gesichtszüge auf, die an einen Menschen erinnerten. Der Mund, die Beine und Arme waren völlig normal entwickelt, die Augen hingegen schienen grau und eingefallen, gleich denen eines alten Greises und am hinteren Teil des Körpers befand sich ein gekringelter Schwanz.
Er trat näher heran, nun plötzlich fasziniert von dem Ekel erregenden Anblick, und im selben Moment sprang das Wesen auf die Beine und blickte ihn fordernd an. Es quiekte und röchelte, wobei es Ekel erregenden Gestank ausströmte und der fetten Leib, der die stumpfartigen Klauen an den Füßen des Kindes so sehr in den Boden presste, dass der Schlamm unter ihnen hervorquoll, schwankte hin und her und drohte bei jedem Schritt umzukippen. Die stampfenden Schritte kamen immer näher, und dabei schienen die Wände jedes Mal zu beben, wenn es auftrat.
Kurz vor ihm machte es halt. Es streckte die Hand nach vorn und eine Maske schien ihn anzuschauen, nur, dass diese Maske fest am Gesicht des Dings angewachsen war.
"Dollar?", fragte es mit krächzender Stimme und spuckender Aussprache, die wie Säure den Boden zum Dampfen brachte, dort, wie die Tröpfchen die Erde berührten. Es war, als ginge der Dreck der Gasse mit dem Speichel den Wesens eine chemische Verbindung ein.
Er erschrak und wich einige Schritte zurück, so, dass er sich nun dicht an die Häuserwand quetschte. Unaufhaltsam kam das Ding näher und er stellte sich auf die Zehenspitzen und presste den Hinterkopf so stark an die Wand, dass es schmerzte. Hektisch schaute er sich um, den Blick immer wieder auf das Wesen richtend. Nach einer unendlich lang erscheinenden Zeit, verließ das taube Gefühl seine Beine und als er wieder nach rechts schaute entdeckte er den Ausgang aus der Gasse, der vorher mit Steinen zugewachsen war. Ziellos rannte er, nur das Ziel vor Augen von hier zu verschwinden. Nur raus hier.
Er ahnte nicht, dass es keinen Ausweg gab und so rappelte er sich wieder auf, als er in der Kurve gestürzt war, um immer tiefer und tiefer in Ankh-Morpork hinein zu laufen.

Es bestand kein Zweifel darin, dass er immer noch nicht wusste, wo er war. Man konnte nicht sagen, dass er sich verlaufen hatte, denn er hatte ja auch zuvor nicht gewusst, wo genau er sich befand, doch man konnte sagen, dass ihn das Umherirren im Moment kein Stück weiter brachte.
Ratlosigkeit übermannte ihn, als er durch die verhältnismäßig leere Straße lief und sich in seinen Gedanken verstrickte. Vielleicht war es doch wichtig zu erfahren, wer er selbst war. Doch andererseits: wieso war das von Bedeutung?
In seinem Kopf überschlugen sich die Bilder und die Gesichter, die er in ihnen erkannte verschwammen nach und nach, falls er sich überhaupt an sie erinnern konnte. War es denn wichtig wer diese Menschen waren? Er kannte keinen einzigen von ihnen, und niemand kannte ihn, wieso sollte er dann sich selbst kennen? Und wie konnte man hier überhaupt sich selbst kennen, wenn anderen einen herumschubsten, wenn man im Weg stand, wenn andere einen nicht ansahen, wenn man doch ganz offensichtlich Hilfe brauchte und nur nicht die richtigen Worte fand, jemandem die Fragen zu stellen, wo denn der nächste Mensch sei, der einem zu Helfen im Stande war.
Er blickte nach rechts und starrte auf ein Plakat, auf welchem jemand für eine "Stadtwache" warb. Noch wusste er nicht, was genau das war, denn auch an die Existenz eines solchen Apperates erinnerte er sich nicht. Einzig und allein sein Gefühl sagte ihm, dass eine Stadt jemanden brauchte, der auf sie aufpasste und dass es sich hierbei um eben diesen jemand handeln musst.
Er fasste sich an den Kopf, der immer noch schmerzte, um rieb mit seinem Handballen dann über sein Gesicht.
Er wusste nicht wo er war. Er wusste nicht wer er war. Und er wusste nicht, ob ihn das traurig stimmen sollte. Jetzt, wo er einigermaßen Ruhe hatte und nicht eingekesselt von all den Menschenmassen war, wurde ihm klar, dass er sich irgendwo hin bewegen musste. Sowohl mental, als auch physisch. Würde er sich nicht darum kümmern, seine Situation zu ändern, würde er zweifelsohne untergehen.
Weiter vorn entdeckte er eine Frau, die eine Uniform trug und gerade damit beschäftigt war, einen Streit oder dergleichen zu schlichten.
Jetzt war der richtige Zeitpunkt, jetzt brauchte er Hilfe.

Amok hatte einen Berg, bestehend aus Blättern, Stiften und Kohlebröckchen vor sich aufgetürmt und begutachtete dessen Stabilität. Er ließ einen müden Blick darüber gleiten und hie und dort, fielen ihm ein paar geschriebene Zeilen ins Auge. Er griff in den Haufen und hielt nun einige Zettel in der linken Hand.
Der Nagel tropft mir ins Auge und das Metall verschließt meinen Mund. Müll.
Hinter' m Horizont gehen die Menschen auf und unter. Müll.
Auch würdest du dich umdrehen, könntest du das Messer in deinem Rücken nicht erkennen Müll.
Was hatte er nur die ganzen Wochen über getrieben?
Der Anwerber schüttelte den Kopf. Das alles hatte nicht den geringsten Wert. Zugegeben schrieb er nicht, um es andere lese zu lassen, er schrieb auch nicht, um sich später selbst daran zu erfreuen. Vielmehr war es eine Art Therapie. Der Nachteil war nur, dass er sich immer tiefer in ein sumpfiges Loch gegraben hatte und anderen Gefühlen als Selbstzweifel ausklammerten.
Plötzlich fühlte er Verachtung.
Verachtung bezüglich sich selbst- wie er es hasste, dass jemand in Selbstmitleid zerfloss und anderen damit auf die Nerven ging. Wie hatte sich Frän nur die ganze Zeit so beherrschen können, ihn nicht anzufallen und einfach ins Gesicht zu schlagen? Es war bewundernswert.
Er warf die Zettel weg und dachte nicht näher über ihre Bedeutung nach.
Amok hatte nicht vor sein Leben komplett zu ändern. Er würde nicht aufhören zu schreiben, doch er würde aufhören nur noch sich selbst zu sehen. Zumindest entsprach das seinem gegenwärtigen Ideal, das zu erreichen für ihn nicht möglich war. Dessen war sich der Anwerber bewusst.
Vielleicht sollte er auf einer niedrigeren Stufe anfangen. Vielleicht sollte er zunächst begreifen, wieso er fühlte, wie er fühlte und was er daran ändern konnte.
Er ordnete die Zettel nach thematischem Inhalt, um sie letzten Endes sowieso wegzuwerfen.

Es dauerte eine sehr lange Zeit, doch bald hatte er erkannt, dass die Enttäuschung, die er mit Ayure erlebt hatte nur stellvertretend für das stand, was das Leben im allgemeinen schlechter zu ertragen machte. Konflikte entstanden, weil jeder auf seinen Standpunkt verharrte, oder weil einer der beiden nicht reagierte, oder weil einer überreagierte, oder weil einer sich verschloss.
Jetzt ordnete er die Stifte und legte sie gerade aneinander. Nach dem fünften Stift begann er damit die anderen genau parallel an die vorherigen zu legen, den Abstand dabei vergrößerte er dabei exponentiell.
Musste er verständnisvoller sein? Musste er lernen aktiver zu leben, wenn es um andere ging? Musste er seine Abscheu gegenüber anderen einfach ablegen? Und sich sogar für sie einsetzen. Alle Anzeichen sprachen dafür, dass es ihm besser gehen würde, wenn er dafür sorgte, dass es auch anderen gut ginge.
Doch was brachte ihm das überhaupt? Würde er besseren Anschluss finden und solche Probleme, wie die mit Ayure, folglich umgehen können? Wie konnte er sein Glück finden, das sein Leben lebenswerter machte? War es Glück selbst glücklich zu sein? Wie bei den Göttern würde er finden können, was er Suche, wenn er nicht einmal wusste, was das war? Wer war er überhaupt?

Sara hatte Probleme die beiden Kinder ruhig zu halten. Sie hatte es nie für ihre Aufgabe gehalten Streitigkeiten zwischen Kinder zu schlichten, auch nicht während sie einen Kontrollgang durch die Stadt machte, was nun mal zu ihren Aufgaben gehörte, doch irgendwie erinnerte sie das alles zu sehr an früher, als sie als Kindermädchen arbeitete. Sie vermisste die Zeiten etwas.
Die Vektorin in Ausbildung gehörte nicht zu der Sorte Mensch, die ständig in der Vergangenheit lebten. Viel wichtiger war es ihr im Hier und Jetzt zu leben und etwas zu bewirken. Es brauchte nicht gleich eine ganze Revolution sein, die Sara anzetteln musste um zufrieden zu sein, es reichte z.B. auch diesen Kinder einfach zu zeigen, dass es nicht richtig war sich gegenseitig zu verletzen oder Dinge zu stehlen.
"Und deswegen dürft ihr nicht versuchen dem anderen die Augen auszupieksen, versteht ihr?"
Sie warf den Stein weg, den einer der Jungen in mühevoller Arbeit angespitzt haben musste. Traurig sah er ihm hinterher, doch es dauerte nicht lang, als in seinen Augen wieder der Zorn entflammte und er wieder auf den anderen losgehen wollte.
"Hört ihr mir eigentlich überhaupt zu?!"
Keiner der beiden zeigte eine Reaktion, abgesehen davon, dass sie sich gegenseitig umbringen wollten, und obwohl Sara auch das nicht guthieß, war es ihr fast wichtiger, dass sie genau verstanden, was sie sagte.
Sie mochte solche Situationen nicht besondern. Man konnte nicht sagen, dass sie sie hasste, denn Sara hasste grundsätzlich nichts. In allem lag etwas gutes, was nur noch zum Vorschein gebracht werden musste. Einige hätten sie dafür wahrscheinlich idealistisch geschimpft, doch Sara sah es ehr als eine Art und Weise zu leben, die es ihr erlaubte anderen so gut wie möglich zu helfen.
Eine Hand flog ihr ins Gesicht.
Ganz ruhig, es sind doch nur Kinder. Sie können doch nichts dafür... Sie merkte, wie ihre Lippe ganz langsam zu zucken begann. Doch es bedurfte mehr, um sie aus der Bahn zu lenken.
Es klatschte noch ein mal und wieder sprach Sara dieselben Worte in ihrem Kopf.
Hätte man sie gesehen, hätte man nicht erwartet, dass sie gegen zwei aufgebrachte circa sechs und acht jährige Jungen etwas auszurichten vermochte, doch der Schein trug
Zwar war sie schlank, doch praktizierte sie jeden Morgen diverse Übungen, die sie fit hielten.
Ihre haselnussbraunen Haare hatte sie glücklicherweise zu einem Zopf zusammengebunden, denn es hätte ihr die Situation sicher nicht leichter gemacht, hätte sie sich ständig im Gesicht herumwischen müssen. Der Kampf schien aussichtslos, doch sie war mit Werwölfen und Vampiren in Überwald aufgewachsen- dann würde sie ja wohl auch mit diesen beiden Kindern fertig werden.

Er trat an sie heran, doch sie war zu beschäftigt um ihn zu bemerken. Er sah Arme in die Luft fliegen und hörte Kindergekreische... und mittendrin befand sich die zierlich wirkende Gestalt der Wächterin.
"Ent-", setzte er an und erschrak. Er hatte vergessen, dass er seine Stimme selbst nicht kannte und es fühlte sich an, als säße etwas fremdes in seinem Hals, was seine Worte aus seinem Kopf für ihn aussprach und dabei kleinere Fehler machte, sodass die eigentliche Botschaft, die er zu übermitteln versuchte, den Gegenüber nicht erreichen konnte.
Sicher dieser Tatsache bewusst, erkannte er jedoch auch die Notwenigkeit aus der heraus er nun handeln musste und schon viel früher hätte handeln sollen. Also setzte er noch einmal an.
"Entschul-" Er wurde zurückgestoßen, als die Wächterin ebenfalls nach hinten gedrückt wurde. Sofort sprang sie wieder nach vorn und widmete sich den Kindern.
Er beobachtete sie eine Weile.
"Entschuldigung!", rief er laut, doch das Gebrüll der Kinder übertönte ihn.

"Hä?", konnte Sara noch hervorbringen und wagte es für einen Moment nach hinten zu schauen, wo sie im Augenwinkel einen Mann erkannte. Ein unangenehmes Gefühl überkam sie und etwas sagte ihr, sie sollte ihm zu hören, doch die Streithähne zerschlugen es sofort.
"Entschuldigung!", hörte sie ihn rufen.
"Es tut mir leid! Ich bin sofort-", sie brach ab. "Nur einen kleinen- ich muss hier- aber dann- Verdammt hört mir zu!"

Es war hoffnungslos.
Die Stadt war hoffnungslos.
Wieso konnte sie ihn nicht hören? Vielleicht war er doch tot, diese Möglichkeit hatte er vorn vornherein nicht ausgeschlossen.
Er warf einen Blick auf die Kinder. Sie taten ihm leid.
Sie taten ihm leid, aufgrund dessen, dass sie hier leben mussten und so zu dem geworden waren, was sie nun waren. Plötzlich sah er die Klauen und die eingedrückten Schnauzen.
Wer tut euch das an?, dachte er und meinte damit die Kinder.
Wer tut dir das an?, ergänzte er und meinte damit die Stadt.

Es war ruhig. Sara hatte es tatsächlich irgendwie geschafft die beiden Kinder zu beruhigen und auseinander zu bringen. Wieder redete sie auf die beiden ein, welche für eine lange Zeit schwiegen.
"...in Ordnung?", beendete sie ihren erzieherischen Exkurs. Die Kinder nickten. Wahrscheinlich hatten sie kein Wort von dem verstanden, was die Wächterin gesagt hatte, doch hatten sie nun erkannte, dass es schlauer war, so zu tun, als wäre alles in Ordnung, um dann in verschiedene Richtungen zu gehen und sich am vereinbarten Ort zu einem erneuten Kampf zu treffen.
"...hier-gibt's-alles.", brummte der eine, und der andere erwiderte es mit einem Nicken.
"Na also.", Sara grinste zufrieden.
"Und nun gebt euch die Hand."
Widerwillig leisteten sie Folge und irgendwie ahne der Vektor, dass die Sache noch nicht ganz geklärt war. Anderseits wünschte sie sich endlich Ruhe und das seltsame Gefühl nagte unter ihrer Haut an selbiger.
"Also...", begann sie und drehte sich um. "...was kann ich-"
Sie blickte ins Leere.

Er schlurfte durch die Straßen und hatte die Augen halb geschlossen.
Es konnte niemandem mehr geholfen werden außer der Zukunft und der Stadt selbst, doch was ihn am meisten belastete war die Tatsache, dass er nicht wusste, wie er das alles ändern konnte.
Zum ersten Mal wünschte er sich seine Erinnerung zurück.
Hatte er auch vorher schon so gefühlt? Hatte er etwas dagegen unternommen? Und wenn ja, was war es? Und wenn nein, wie hatte er es geschafft so alt zu werden?
Das Sonnenlicht, was allmählich in ein blutendes Rot überging, spiegelte sich in einem Schaufenster, in welchem alle Möglichen Arten von Seilen angeboten wurden.
Er machte halt und betrachtete die Stricke emotionslos, mehr in Gedanken verunken, als über einen Kauf sinnierend. So weit er wusste, besaß er ohnehin kein Geld.
"Altrouis?", rief jemand fragend aus dem Laden.
Immer noch starrte er auf die Taue.
"Hey! Du bist es ja wirklich!" Plötzlich stand ein Mann vor ihm. Er war groß, hatte braunes, kurzes Haar und grüne Augen. Auf seinem rundlichen Gesicht zeichnete sich ein Lachen ab- dieser Mensch schien wirklich überglücklich zu sein.
"Dass ich dich noch mal sehe! Das ist ja unglaublich. Wie geht's dir denn? Hast du mal wieder was von Mutter gehört? Komm erst mal rein. Wie siehst du eigentlich aus?"
Es war zwecklos sich zu wehren, denn die riesigen Pranken des Manns drückten so stark gegen seinen Rücken, dass er befürchtete zu zerbrechen.
"Setz dich." Nach wie vor schwieg er, als die beiden in einen kleineren Raum im hinteren Teil des Ladens gingen und ihn ein Druck, ausgehend von zwei Händen auf seinen Schultern, dazu veranlasste sich zu setzen.
"Erzähl mal.", forderte der Mann ihn auf und setzte sich ebenfalls.
Altrouis, dachte er. Das muss mein Name sein.
Unfähig zu antworten blickte er sich im Laden um. Von der Decke und an den Wänden hingen unzählige Taue in verschiedensten Längen und Dicken. Hie und da waren darüberhinaus auch Holzbalken, Bretter und abenteuerlich anmutende Holzfiguren zu erkennen. Der Anblick erschlug ihn förmlich und mit der Zeit spürte er ein Kitzeln in der Nase. Er nieste, woraufhin dem Mann ein Lachen entfuhr.
"Ja, das sind die Späne. Vater hatte nie erwartet, dass das hier wahr werden würde, weißt du noch? Aber die Zeiten sind wirklich gut. Immer mehr Leute legen sich Pferde und Kutschen zu. Besonders in Überwald ist die Nachfrage dieses Jahr wieder sehr gestiegen. Gute Zeiten, wirklich gute Zeiten.", sinnierte er und schaute fast verträumt um sich.
Überwald... dieses Wort war ihm fremd.
"Ja.", sagte Altrouis. Ihm war wohl bewusst, dass er sich zurückhalten musste. Scheinbar kannte ihn dieser jemand und konnte ihm wohlmöglich etwas über seine Vergangenheit erzählen. Doch er war vorsichtig, denn er wagte es nicht jemandem zu vertrauen, den er nicht kannte.
Vater und Mutter, hatte der Mann gesagt. Allem Anschein nach waren sie verwandt miteinander, um genau zu sein mussten sie Brüder gewesen sein. Altrouis reflektierte, entschied sich jedoch nach wie vor sich unauffällig zu verhalten.
"Ich hätte nicht gedacht, dass du noch lebst um ehrlich zu sein.", lachte der Mann.
"Die Zeiten waren schwer." Altrouis wusste nicht im Geringsten, ob das, was er sagte, zu der Person passt, die dein Bruder kannte, doch er musste reagieren.
Er schien überrascht. "Das klingt nach Einsicht. Früher hast du so was nie gesagt."
Verdammt, am liebsten hätte er auf den Tisch, der sich neben ihm befand und auf dem ein mächtiger Brieföffner glitzerte, geschlagen.
"Dinge ändern sich.", sagte er und ließ sich nichts anmerken.
"Ja, da hast du wohl recht.", sagte er und lachte kurze Zeit wieder. "Früher bist du durch die Stadt gelaufen und hast allen gezeigt, wie sehr du sie mochtest. Und das ändert sich so plötzlich?"
Altrouis fühlte sich ertappt. Ganz klar, lag in der Bemerkung keinerlei Ironie- er musste mehr erfahren.
"Heute ist es nicht anders. Aber hättest du mich unterstützt, wäre es gewiss leichter..."
"Unterstützt?", fragte der Bruder nach. "Wobei? Du wolltest den Menschen helfen, hast immer davon geredet, dass alles besser wäre, wenn die Leute so wie du handeln würden. Hast alles und jeden akzeptiert und bist nie sauer geworden. Ich hab' dich nie richtig verstanden. Du hattest schon immer eine andere Auffassung vom Leben und nun ja...", er blickte um sich, "... das hier ist nun mal meine."
Altrouis schwieg erneut. Er konnte sich nicht vorstellen jemals so gewesen zu sein. An den Menschen war nichts gutes zu finden, sie würden sich nie ändern und man selbst würde daran nichts ändern können, würde man nicht radikaler durchgreifen als die Person, die der Bruder gerade beschrieben hatte. Akzeptanz? Rücksichtslose Akzeptanz von allen und jedem? Wie sollte sich so etwas ändern? Wie konnte sich so etwas bessern?
Es war ihm unverständlich und plötzlich wuchs ein schier unstillbarer Tatendrang in ihm heran.
"Altrouis?", unterbrach ihn sein Bruder zögerlich und suchte seine Blicke. "Du siehst nicht gut aus. Brauchst du Geld?"
Altrouis setzte zur Antwort an, doch wieder unterbrach ihn sein Bruder, als er aufstand und in den Verkaufsraum ging, um in seiner Kasse herum zu suchen. "Es ist mir egal, was du damit machst, nur behalt auch einen kleinen Teil für dich."
"Nein.", sagte Altrouis. "Danke, ich brauche kein Geld. Mir geht es gut." Diese Antwort kam automatisch über seine Lippen. Fast gedankenlos sprach er die Worte aus.
"Ich verstehe. Du willst kein Geld. Also schön..." Er kam wieder in das Hinterzimmer und nahm aus einem der unzähligen Regale einen Arm voller Taue.
"Die kannst du haben. Mach damit was du willst, verkaufe sie, verschenke sie. Aber lass mich dir helfen. Das ist es doch, was du wolltest, oder?"
Er legte die Stricke auf den Tisch und blickte betrübt auf selbigen.
"Mutter und Vater...", begann er. "...du hast auch keine Neuigkeiten, richtig?"
Altrouis schwieg. Es bereitete ihm Unbehagen, dass eine völlig fremde Person von anderen fremden Personen sprach und damit diejenigen Menschen meinte, die ihn gezeugt und aufgezogen hatten, woran er sich jedoch nicht im Geringsten erinnerte.
"Verstehe."
Jemand betrat den Laden und der Bruder blickte erfreut auf, als er in den Verkaufsraum ging.
"Willkommen, was... oh. Du bist es."
Eine Frau stellte sich vor die Theke und sofort fiel Altrouis, der sie von hier aus genaustens beobachten konnte ohne, dass sie ihn sah, der Ansatz eines Bauches auf, der davon erzählte, wie ein Leben entstand.
Ihr rotes auffälliges Haar fiel in einem wallenden Strom von ihrem Kopf und reichte ihr bis zu Brust. Das taillierte Kleid schmiegte sich so geschickt an ihren Körper, dass von ihrer Schwangerschaft auf den ersten Blick abgelenkt wurde. Sie schien nicht anders zu sein, als all die anderen, die er in dieser Stadt bis jetzt gesehen hatte.
"Was willst du?", fragte der Bruder und kritzelte dabei etwas auf einen Zettel.
"Ich...", begann sie. Immer wieder schaute Altrouis verächtlich auf die Wölbung unter dem Kleid, um sich dann wieder abzuwenden. Die Bilder dessen, was in der Gasse passiert, zuckten auf wie Blitze und vergifteten seinen Geist.
"Du hast noch meine Skizzen und ein paar Sachen." Es schien ihr schwer zu fallen zu sprechen, ohne dabei in Tränen auszubrechen. Altrouis fiel auf, dass sich die Sau dabei wacker schlug.
Der Bruder nickte und drehte sich um, ließ sich jedoch die Gelegenheit nicht nehmen schnell einen "ich-bin-eigentlich-viel-zu-beschäftigt"-Blick zu Boden zu werfen, den sie dennoch unvermeidlich wahrgenommen haben musste.
Nach einiger Zeit kam er aus dem Hinterzimmer wieder und drückte ihr eine Mappe in die Hand.
Hoffnungsvoll blickte sie ihn an, als sie die Mappe über die Brust legte, um die Arme vor ihr so zu verschränken, dass die Hände nach oben zeigten.
Ihre Körpersprache war interessant. Entweder wollte sie sich schützen, oder etwas verbergen. Natürlich musste es sich zweifellos um letzteres gehandelt haben. Er begann sie zu hassen. Genau genommen hasste er ihre Unverantwortlichkeit einfach ein Leben in diese Stadt zu werfen, die eigentlich keinen Platz mehr für noch ein Schwein hatte.
Er hasste auch ihre Zügellosigkeit. Ihren Trieb. Ihre Schwäche und ihre pure Lust, die sie ohne Zweifel zum Tier machte. Niemand konnte sich hier wirklich ein Kind wünschen.
Er spürte, wie das Blut in seine Hände und den Kopf schoss um zu pulsieren und ein Gefühl freizusetzen, das erstmalig wie sinnlose Wut erschien.
"Ich..."
"Verschwinde.", unterbrach er sie und stütze sich mit beiden Händen am Tresen auf, den Blick auf die Tischplatte richtend.
"Es würde viel besser zu dir passen, wenn du die Sachen, die du entwirfst auch nähen würdest.", presste er durch die bebenden Lippen.
Plötzlich verengten sich ihre Augen zu roten Schlitzen und mit einer schwungvollen Drehung lief sie aus dem Geschäft.
"Wer war sie?", fragte Altrouis um mehr zu erfahren. Fragen wie Wo wohnt sie?, Ist sie kräftig? und Ist das Kind von dir? schossen ihm durch den Kopf, doch er wusste, dass es nicht sinnvoll war diese Gedanken jetzt auszusprechen. Es lag wohl an ihm, alles einzuleiten.
"Eine Betrügerin. Weiter nichts. Alt, ich finde es wirklich toll, dass du wieder da bist, aber..."
Er begriff - unzufrieden - und erhob sich um sich zum Ausgang zu bewegen.
"Danke, dass du vorbei gekommen bist.", sagte der Bruder, als er ihn bis zur Tür begleiten hatte. "Vergiss die Seile nicht."
Altrouis nickte und schwankte kurz unter dem Gewicht, das für seinen Bruder keinerlei Besonderheiten darzustellen schien.
"Bis... bald." Es war nicht leicht die richtigen Worte zu finden. Immerhin wusste er nicht, wie man einen Bruder zu verabschieden pflegte.
Verdammt, lass mich los! Ich darf sie nicht verlieren!, fluchte er, als sich Arme um ihn schlangen.
"Komm bald wieder vorbei."
Er nickte wieder und ging aus dem Laden. Dann lief er ein paar Schritte und entdeckte an der Häuserwand ein paar Fässer, die er als vorläufiges Lager für die Taue nutzen konnte.
Altrouis folgte ihr, denn zu seinem Glück, war sie den ganzen langen Weg die Straße hinab gelaufen, um erst später an einer Häuserwand links einzubiegen.
Nach einer langen Strecke, die er sich genauestens einprägte kam sie an eine Tür und er stellte sich so an die Häuserwand, dass man ihn im dunklen Schatten nicht erkennen konnte. Sie klopfte und bald öffnete jemand, der sie erfreut empfing.
Er grinste. Er hatte nicht vor es jetzt zu tun. Nur ein Idiot, hätte ohne genaue Planung begonnen.

Der Raum war so sehr vernebelt, dass der Dunst sich fest auf die Augen zu legen schien und einen unangenehmen Druck verursachte.
Er kniff sie zusammen und trotzdem schafften es ein paar Tränen, ihm den Blick verschwimmen zu lassen.
Schnell hatte er den düsteren Raum überblickt und er bewegte sich zum Fenster, nachdem er die Taue achtlos auf den Boden geworfen hatte, um das dicke Laken herunter zu reißen und das Fenster zu öffnen. Dabei wirbelte der Staub so stark auf, dass er hustend und keuchend zurückweichen musste.
Mit einem Quietschen trat das Sonnenlicht majestätisch durch den Raum und fochte für kurze Zeit einen Kampf mit dem Dunst aus. Schneller als erwartet hatte das Licht gewonnen und flutete das Zimmer vollends.
Wieder blickte er um sich, diesmal etwas intensiver.
Die Wände waren aus dunklem Holz und der Boden war so schmutzig wie die Fensterscheiben. Doch der Staub hatte nicht viele Möglichkeiten sich abzulagern, denn das einzige, was sich noch hier befand, war ein Bett, welches aus verschiedenen Eisenstangen zusammengesetzt schien. Er ignorierte den Schmutz, warf sich in das Bett, was ein wenig nachgab, und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Das Gefühl der Ruhe kam langsam in ihm auf und das aufgewühlte Meer aus Nadeln und spitzem Eis in ihm beruhigte sich allmählich und umklammerte dein Herz nun weniger intensiv als zuvor.
Er starre der Decke entgegen und beobachtete eine Spinne, wie sie auf etwas Essbares lauerte.
Es ist so dreckig und stickig. Ich will hier nicht sein. Ich gehöre hier nicht her. Niemand tut das.
Es waren jene Worte, die in ihm aufhallten und ihm fast wie eine Erinnerung, die man nicht los wird, erschienen. Plötzlich fühlte er Verachtung.
Verachtung, gegenüber all den anderen, die hier lebten, krauchten und Kinder gebaren.
Im selben Moment jedoch, kroch das Gefühl in ihm auf, dass er die Stadt besser machen könnte. Irgendetwas musste sich ändern. War er kurz zuvor noch sicher gewesen, was er tun würde, kamen nun Zweifel in ihm auf.
Die Spinne hatte etwas entdeckt und eilte zu einem dicken Klumpen, der sich im Netz wandte.
Bilder durchfluteten seinen Kopf, die gekoppelt waren an verschiedenste Situationen. Aus einer scheinbar a priori gegeben Logik schloss er, dass diese Sequenzen seine Vergangenheit widerspiegeln mussten. Doch erkannte er keine Situation auch nur im entferntesten wieder. Immer und immer wieder gab er Leuten etwas und jedes Mal fühlte er dabei eine unbekannte, wohlige Wärme.
Nie bekam er etwas dafür, was ihn jedoch nicht zu stören schien. Manchmal waren es Dollar, mach mal waren es Lebensmittel, manchmal war es ein Lächeln oder Beachtung, die er gutmütig verschenkte.
Er drehte sich zur Seite und fixierte die Tür, als die Spinne das Opfer einwickelte und damit in einer Ecke des Netzes verschwand.
Er sah sich durch eine Gasse gehen, wie er Gesichter fixierte und lächelte, sich dabei gut fühlte. Dann schaute er an sich hinab und erkannte dieselbe schmutzige Kleidung, die er im Moment auch trug.
Schwarze, das weiße Licht des eigenen Bewusstseins reflektierende Kugeln, tanzten nun plötzlich vor seinen Augen und für den Bruchteil einer Sekunde spürte er einen betäubenden Schmerz am Kopf.
Dann war es zu Ende, und er öffnete die Augen um festzustellen, dass er sich immer noch in diesem Elend befand. Die Verachtung und Unsicherheit wichen allmählich einem wachsenden Hass, der sich genauso schnell wieder zu Trauer wandelte. Konnte er noch etwas tun, hier?
Etwas leuchtet in seinem Kopf und er war sich sicher die Antwort gefunden zu haben, wie er die Stadt besser machen konnte.
Nicht er war es der Hilfe brauchte, sondern die anderen.
Altrouis stand auf. Er wusste, wem er zuerst helfen würde.


II Therapie

Immerzu dieser Staub in meinem Mund. Und immer zu diese dreckigen Sonnenpartikel, die sich in meinen Haaren verfangen und dann einen schimmelnden Film auf meinem Kopf bilden, so, dass es der Haut unmöglich wird Wärme abzustrahlen.
Diese Stadt zerfällt. Sie ist taub, angeschwollen, zum Zerplatzen gespannt, wonach sich gelber Eiter in die Eingeweide der Steine pressen würde. Man möchte sich darauf erbrechen und das Elend darunter begraben. Zerschlagen muss man sie.
Und immerzu dieser Staub in meinem Mund, die Rastlosigkeit der jämmerlichen Seelen, die nicht erkennen, dass diese Umwelt synthetisch, so schädlich und infektiös für den Geist ist, an dem sie gegenseitig herumnagen und sich beklagen es gäbe nicht genug.
Er spuckte verächtlich auf den Boden.
Man kann ihnen nichts recht machen. Sie schlagen und treten und schlagen und hämmern doch nur auf meinen Schädel ein, als wären sie alle Regen.
Und du?
Er blickte zur Leiche, die direkt vor ihm am Boden lag.
Du konntest doch nichts dafür? Doch, das konntest du. Du hast hier existiert, du hast geschlagen, getreten, geschlagen und gehämmert, bis der Nagel sich verbog.
Manchmal ahnt man nicht wie schnell es dich zermalmt.
Und dieser Staub in meinem Mund, zermürbt meine Zähne.
Er jammerte. Dieser Schmerz, dieser schreckliche Schmerz der Stadt liegt doch auf mir! Wie soll ich denn noch atmen mit Blei in den Lungen? Wie ich kann denn leben? Er blickte sie an.

Amok öffnete vorsichtig die Tür des Wachehauses am Pseudopolisplatz und blickte in den Vorraum. Er hatte es nicht erwartet, doch irgendwie überkam ihn ein wohliges Gefühl, als er hinein trat und die Tür wieder hinter sich schloss. Vor ihm befand sich der Tresen und eine arme Gestalt schaute schüchtern darüber hinweg. Der Anwerber musterte den Menschen und schloss aus seinem Auftreten, dass er wohl zu G.R.U.N.D gehören musste.
Ein paar Wächter aus allen möglichen Abteilungen zogen an ihm vorbei, rissen die Tür auf und liefen eilig nach draußen auf die Straße.
Der etwas modrige Geruch, den der Anwerber hier vernahm erinnerte ihn an vergangene Episoden seiner Karriere als Wächter und entlockte ihm ein zögerliches Lächeln. An die Zeiten während seiner G.R.U.N.D.- Ausbildung dachte er gern zurück, denn das waren die einzigen Zeiten in seinem kurzen Leben gewesen, die er nicht als negativ betrachtete.
"Ähm, Entschuldigung.", sprach plötzlich eine freundliche weibliche Stimme, als Amok den Thresen passieren wollte.
"Kann ich ihnen helfen? Wenn sie ein Problem haben wenden sie sich besser zuerst an mich."
Amok musterte die Rekrutin. Sie war relativ klein und das kurze blonde Haar brachten ihre auffallend blassgrünen Augen zum Vorschein. Er stellte den Kopf leicht schräg und las den Namen 'Fantine Angrod Haderlump' von ihrer Dienstmarke.
Dann fixierte er wieder ihre Augen und holte mit einer Hand die Dienstmarke aus seiner Hosentasche hervor.
"Oh.", stammelte sie und lächelte, was eine sanfte Röte auf ihre Wangen brachte.
"Danke.", sagte Amok trocken und ging in den ersten Stock, wo sich sein Büro befand.

Ein paar Augen starrten ihn an. Kolumbini saß gerade über einem Häufchen von Zetteln, die er zu sortieren schien.
"Ja?", fragte er. Amok blickte unauffällig um sich. Er musste gemeint sein.
"Amok Laufen.", stieß er hervor. "Wir kennen uns wohl nicht."
Dann ging er zu seinem Schreibtisch. Der übliche, überquellende Haufen schlug ihm mit einem Fausthieb in den Magen und machte es unmöglich ihn zu ignorieren.
"Hat sich wohl einiges angesammelt.", warf der R.U.M.-Ermittler ein.
Der Anwerber reagierte mit einem zustimmenden Brummen, denn mit flinken Blicken maß er ab, wie er den Haufen berühren sollte, ohne ihn umzuwerfen.
Also gut., dachte er. Schaffen wir Ordnung.

Die Leiche der Frau war noch warm. Er musste schnell handeln, dessen war er sich bewusst. Seiner Taten sicher, knotete er aus den Tauen eine Schlinge und legte den Kopf der Toten hinein.
Dann zog er den Strick fester und betrachtete sein Werk. Noch einmal ging er den Plan in seinem Kopf durch Hatte er etwas vergessen? Es durfte ihm einfach kein Fehler unterlaufen.
Er würde sie aufhängen- hier.
Er blickte sich um. Das Bett hatte er erst einmal benutzt. Es würden Spuren von ihm zurückgeblieben sein, auf die die Wache sicher stoßen würde, auch wenn er nicht wusste, über welche Methoden zur Identifikation von Personen sie verfügten. Zudem deutete zu viel darauf hin, dass jemand hier gelebt hatte. Für seinen Plan eignete sich diese Wohnung allerdings nur, als Abort für eine Leiche.
Er legte die Frau sanft auf die Boden und riss die Decke vom Bett, um sie so zu falten, dass er mit den restlichen Tauen später ein kompaktes Bündel herstellen konnte.
Was war mit dem Boden? Haare. Überall verteilt leuchtete sein braunes Haar. Verdammt. Es würde auffallen, würde er nun alles wegfegen. Doch machte das einen Unterschied?
Machte es die Tatsache offensichtlich, dass sich jemand Gedanken über die Entsorgung gemacht hatte?
Seine Gedanken rasten weiter.
Konnte das ihn belasten? Wenn er es sich genau überlegte konnte sich das nur als ein Vorteil für ihn herausstellen.
Was, wenn Haare von ihm auf die Boden fielen? Und was, wenn der erste Hinweis, den er hinterlassen würde nicht genug wäre, um sie auf die Spur zu führen, die er legen wollte?
Hektisch rannte er zu den Tauen und suchte sie ab. Nirgends war etwas zu finden. Nirgends ein- und plötzlich entdeckte er erst eins dann zwei Haare, die zweifelsohne nicht seine eigenen waren, dazu waren sie zu sehr gewellt. Er wusste, zu wem die Haare gehören mussten und lachte überlegen.
Fingerabdrücke? Das alles war komplizierter, als er gedacht hatte. Arbeitete die Wache überhaupt mit dieser Art von Beweisen? Hatte sie Methoden Fingerabdrücke zu analysieren und wenn ja, welchen Nutzen hätten sie daraus ziehen können. Er durfte einfach kein Risiko eingehen und begann mit der Decke, die er wieder entfalteten, die Fenster und das Bettgestell zu säubern.
Nun wandte er sich der Toten zu und untersuchte die Fingernägel. Er hatte Glück, denn sie hatte sich nicht sehr gewehrt im Gegenteil, sie schien ihn zu kennen und lächelte ihn glücklich an, als er ihr entgegentrat.
Er griff nach dem anderen Ende des Taus und überprüfte noch ein mal das Siegel, auf welchem sich Name und Adresse des Geschäftes befanden. Dann warf er es über den Deckenbalken, von dem die Spinne flüchtete, ganz so, als würde sie nicht Teil der abscheulichen Tat werden wollen.
Altrouis wusste, das die nun schwierigste Aufgabe bevorstand. Mit all seiner Kraft zog am Seil, doch zu seiner Überraschung war die Frau leichter, als erwartet und es gelang ihm mit ein wenig Kraftanstrengung sie zu hängen.
Er schwang das Seil um einen anderen Balken, der die Decke von der Wand aus in schräger Lage stütze und wickelte das Tau so oft wie möglich um das Holz. Als es aufgebraucht war, machte er einen Knoten und stieß kurz ein Gebet aus, als er das Seil losließ. "Ja!", zischte er, als er sie in der Luft schwanken sah. Doch ein packender Gedanke blies die diabolische Freude aus seinem Gefühlsnetz, als ihm etwas in den Sinn kam: Die Fenster!
Erschrocken sah er hinüber und war beruhigt, als er bemerkte, dass er wie geplant gearbeitet hatte und die Fenster zu allererst geschlossen und mit Vorhängen blickdicht gemacht hatte.
Er untersuchte die Frau auf Haare und sortierte sie von ihrem Körper, was ihm sehr viel Zeit kostete. Plötzlich hielt er inne. Das Risiko war einfach zu hoch.
Zielsicher nahm er sich ein Messer, dass er sich zwischenzeitlich besorgt hatte, und stieg auf sein Bett. Dann begann er, das Kleid vom Halse an auf zu schneiden. Als er unten angekommen war, konnte er es mühelos von ihrem nackten Körper ziehen.
Es war fast geschafft.
Nach einer Weile hatte er den Boden gefegt und den Schmutz in seine Hosentasche gekippt. Er würde ihn später entsorgen.
Wieder und wieder untersuchte er den kleinen Raum nach Haaren, Fingerabdrücken, Fettrückständen und allen weiteren erdenklichen Spuren, die ihn hätten verraten können. Es kostete ihn weitere Stunden, die Fenster und das Bettgestell mehrere Male zu putzen.
Noch war er unsicher, doch das Ende war in Sicht.
Alles war, wie er es haben wollte.
Auf den ersten Blick schien es wie Selbsttötung (selbst er wusste, dass es unmöglich war eine Selbsttötung zu inszenieren so, dass der Betrug nicht auffiel, nur deswegen musste er von sich selbst ablenken- die Wache musste genau das tun, was er wollte), doch die Wache würde schnell erkennen, dass es sich um Mord handeln musste. Sie war nackt, trug Würgemale und er hatte den Raum zu auffällig gesäubert. Der letzte Schritt war gekommen und er wusste, dass er diesen Raum nie wieder betreten konnte. Es durfte einfach kein Fehler geschehen.
Zum letzten Mal fegte er den Schmutz, von dem schon längst keiner mehr übrig war, in Richtung Tür, während er mit der freien Hand die gefundenen Haare seines Bruders auf dem Boden verteilte.

Amok blickte stolz auf sein Werk. Alle Blätter und Akten waren geordnet. Alphabetisch stapelte sich der eine Teil, während die restlichen Blätter sorgfältig auf dem Boden lagen und dazu bereit waren im Müll zu verschwinden. Der Anwerber lehnte sich zurück. Die Arbeit hatte ihn tatsächlich abgelenkt und zu seinem Überraschen fühlte er sich wohl, wenn um ihn herum eine gewisse Ordnung herrschte. Alles war nun so viel überschaubarer und abschätzbarer.
Ein kaum zu bemerkendes Lächeln tänzelte flüchtig über seine Lippen. Frän würde es sicher begrüßen, dass er nun begann sein Leben zu ordnen, auch, wenn man sich bei ihr eigentlich nie sicher war, was sie gerade dachte oder fühlte. Sie schien nicht die Art Vampir zu sein, die gern ihre Gefühle äußerten, sofern sie welche besaßen.
Amoks Blick glitt noch einmal über sein Werk und plötzlich erspähte er den Haufen, an den er das Zettelchen mit dem Wort "Müll" geklebt hatte. Vielleichte wäre es besser, wenn man darauf achten würden welchen Müll man da vor sich hatte. Es war Papier, keine Frage, doch irgendetwas stimmte nicht.
Er hockte sich auf den Boden und verteilte die Blätter, um sie nach Größen zu sortieren. Amok hielt es nicht für wichtig das besonders gründlich zu machen. Schließlich war es Müll. Aber er verspürte das Bedürfnis Ordnung in dem Müll zu schaffen, denn er hatte nicht vor ihn sofort zu entfernen und musste somit noch eine Weile damit Leben.
Er blickte kurz nach draußen und sah die dreckigen Dächer der Stadt, die ihn an Blätter erinnerten.
"Könntest du deine Arbeit da unten endlich mal beenden?", fragte der Ermittler genervt, mit dem Amok sich das Büro teilte.
Hm Hm, dachte Amok und stellte fest, dass genau diese Art von Verhalten ein schlechtes Licht auf ihn warf, glaubte man den Grundlagen zwischenmenschlichen Verhaltens. Für einen kurzen Moment sinnierte er darüber, ob er sich nicht noch vor kurzem gefragt hatte, ob er sich nicht selbst sein Glück verstellte.
"Ich bin sofort fertig... Sir.", sagte er so freundlich wie möglich, was ihm misslang, für ihn jedoch schon ein Fortschritt war, auf den er später sicher stolz zurück schauen würde.
Kolumbini warf sich in seinen Stuhl zurück und starrte auf ein Stück Papier.
"Was machst du da überhaupt!", fuhr er nach einiger Zeit wiederholt auf.
Der Anwerber tendierte dazu nicht zu reagieren, doch ertappte sich erneut. "Ich sortiere den Müll."
Der Ermittler schien gereizt, was Amok jedoch nicht sonderlich interessierte. An diesem Punkt war er noch nicht angelangt.
Es klopfte an der offen stehenden Tür, doch weder Amok noch Kolumbini schauten auf die verängstigte Rekrutin im Türrahmen.
"Hallo?", fragte sie vorsichtig. Die erwartete Reaktion blieb jedoch abermals aus.
Sie holte Luft und schluckte.
"Ähm, ich habe hier einen Fall und..."
"...Fall?" Schlagartig stand die Rekrutin nun im Fokus der Aufmerksamkeit und grinste zufrieden, als der Ermittler die Akte fixierte, die sie in der Hand hielt.
"Nun ähm... ja."
"Um was geht es?", unterbrach Kolumbini erneut und sprang auf, einem kleinen Schulmädchen gleich, das kurz davor ist ein neues, rosafarbenes Kleid geschenkt bekommen hatte und die Vorfreude nicht mehr zurückhalten konnte.
Schweigend streckte die Wächterin ihm die Akte entgegen, um nach einiger Zeit ihre Stimme wieder zu finden.
"Ich soll sie nur abgeben meinte Rum... Rom... ähm euer Abteilungsleiter."
"Romulus", warf Amok ein, der nach wie vor am Boden kniete. Natürlich hatte er die Stimme wiedererkannt, die eindeutig zu der Wächtern am Tresen gehörte.
"Ja. Genau.", stimmte sie mehr oder weniger überzeugt zu.
"Das sind zwei.", merkte der Ermittler skeptisch an. Die Wächterin nickte. "Die eine ist für den Anwerber. Ich vermute, das ist der auf dem Boden."
"Ich weiß, wer das ist."
Amok indes erstarrte und blickte paralysiert nach vorn an die Wand.
Auf dem Boden verharrend mochte man ihn vielleicht für ein kleines Eichhörnchen halten, welches durch stilles Hocken darauf hoffte, nicht jeden Moment von einem Raubvogel in die Luft gehoben zu werden.
Ein Fall? Jetzt schon? Er war gerade erst zurückgekehrt, wie konnte Romulus schon davon ausgehen, dass er wieder arbeiten würde?
Vielleicht war es eine Art Test. Würde er den Fall nicht annehmen, würde das wohlmöglich bedeuten, dass man ihn nicht mehr brauchen würde und obwohl er zu seinem Beruf eine Beziehung pflegte, die sich mehr auf Objektivität beschränkte, als in Begeisterung und Lebenserfüllung aufzublühen, lag ihm etwas daran den Job nicht zu verlieren.
Er schob noch ein paar kleinere Blättchen zur Seite, als er sich drehend aufrichtete um sich die Unterlagen zu nehmen.
"Wir werden doch nicht zusammenarbeiten müssen, oder?", fragte Kolumbini, als die Wächterin schweigend aus dem Raum getreten war.
"Ich glaube nicht."
Der Ermittler atmete beruhigt auf und ging wieder zu seinem Platz, um sich der Mappe zu widmen.

Ayure starrte auf die Leiche, die von einem Balken hing. Ihr Gesicht wurde bleich und obwohl sie sich nachdem Studieren der Akten schon auf so etwas vorbereitet hatte, hatte sich trotzdem ein Kloß in ihrem Hals gebildet, der aus Nägeln zu bestehen schien.
Die Frau war nackt und das Zimmer aufgeräumt. Mehr war der Szenerie auf den ersten Blick nicht zu entnehmen.
"Ich halte es immer noch für übertrieben gleich zwei Ermittler an dem Fall arbeiten zu lassen.", sagte Kolumbini bockig.
Ayure verdrehte die Augen. "Was sagen die..."
"...es gibt keine Zeugen", unterbrach er sie. "Niemand hat irgendetwas gesehen. Dieses Haus steht schon Jahre hier und scheinbar hat sich nie wieder jemand darum gekümmert. Eigentlich ein guter Ort um sich umzubringen."
"Was sie aber nicht tat.", ergänzte Ayure.
"Ich habe die Akten auch gelesen."
Die Gerichtsmedizin von SUSI hatte bereits festgestellt, dass es sich nicht um Suizid handelte. Eindeutige Abdrücke zweier Hände verrieten den Täten als jemanden, der diese Frau erwürgt hatte und ganz offensichtlich hatte dieser jemand auch versucht den Mord als einen Selbstmord zu tarnen.
"Hat er sich dabei nicht ein bisschen dumm angestellt?", fragte die Ermittlerin kühl und legte sich eine Hand auf die Schulter.
"Es ist viel zu ordentlich.", stimmte Kolumbini zu.
"Ja." Ayure nickte. "Dieses Haus steht schon ewig leer und trotzdem hat jemand geputzt."
"Natürlich, der Mörder wollte nicht, dass wir ihn identifizieren können. Die Kollegen haben weder Fingerabdrücke noch irgendetwas anderes gefunden."
"Also muss er hier gewohnt haben."
Der Ermittler stockte. Sie hatte Recht.
"Dann war dieser Mord also entweder lange geplant..."
"...oder eine Kurzschlusshandlung von jemandem ohne ein zu Hause."
Für eine Weile, in der jeder der beiden den eigenen Gedanken nachging, schwiegen sie verbissen.
"Das bringt uns rein gar nichts.", schlussfolgerte Ayure schließlich.
"Noch nicht."
"Also haben wir praktisch nichts."
"Nicht ganz." Eine unscheinbare Figur näherte sich. Sie trug eine Brille und die Uniformierung kennzeichnete sie eindeutig als SUSI.
"Wir- das heißt, ich habe einen Namen des Geschäftes, aus dem das Seil stammt, mit dem die Frau ermordet wurde.", Olga-Maria konnte nicht verbergen, dass sie etwas stolz darauf war.
"Dreherei Verliert."
"Was?", harkte Kolumbini scharfsinnig nach, woraufhin ihn die Tatörtwächterin skeptisch ansah.
"So heißt der Laden. Verliert. Wahrscheinlich ein Familienbetrieb."
"Wer ist die Frau eigentlich?", wollte Ayure wissen.
"Hedoa Nist", entgegnete Olga-Maria.
"Wieso weißt du mehr als wir?" Kolumbini schien es nicht zu gefallen erst zum Schluss über die wichtigen Sachen informiert zu werden.
"Weil ich Tatortwächterin bin. Da bekommt man so einiges mit, wenn man den halben Tag am Tatort verbringt." Es schien, als würde sie ihre Aussage selbst verwundern.
"Jedenfalls befindet sich ihr Bruder in einer anderen Wohnung hier im Haus. Er hat seine Schwester vor kurzem als vermisst gemeldet und sie identifiziert."

Ihre Blicke trafen sich und Glas zerbrach in der Luft, um kleine Splitter in ihre Seelen treiben zu können.
"Amok!", sagte Ayure überrascht und lächelte. Auch wenn er sie verletzt hatte, damit, wie er sie behandelt hatte, als die beiden sich noch eine Wohnung teilten, erfüllte sie eine wohlige Wärme bei seinem Anblick. Sie war über ihren Streit hinweg, zumindest ging es ihr wieder gut und sie hatte mittlerweile gelernt, ihn wieder anzusehen und keinen tiefen Hass zu empfinden.
Der Anwerber erstarrte in seiner Bewegung, machte einen entsetzten Gesichtsausdruck und drehte dann um. Er eilte die Treppe hinab, denn er war sich sicher, dass er dafür im Moment noch nicht breit war.
In seinem Herzen wob das Glas ein feines Netz.

"Kommst du?", fragte Kolumbini ungeduldig. Er wusste schon, warum er lieber allein arbeitete. Es war wesentlich leichter und ging schneller.
"Äh- ja.", stotterte Ayure irritierte und folgte dem Ermittler in die gegenüberliegende Wohnung.
Eine Vampirin saß mit dem Bruder an einem kleinen Tisch und machte sich Notizen, während sie mit ihm sprach. Als sie die beiden Ermittler erblickte nickte sie und stand auf.
"Er ist relativ stabil.", berichtete Frän den beiden trocken.
"Natürlich noch etwas labil, aber ich denke eine Befragung wird er überstehen."
"Danke.", sagte Ayure und gerade, als die Püschologin den Raum verlassen wollte hielt die Ermittlerin sie noch einmal auf.
"Weißt du was Amok hier macht?"
"Er war hier?", fragte Frän und ihre Betonung schwankte zwischen Staunen und Skepsis.
Ayure nickte.
"Wahrscheinlich arbeitet er wieder.", nahm die Püschologin an.
"Er hat zwischenzeitlich nicht gearbeitet?", wollte Ayure wissen, was Frän schwer atmen ließ.
"Das alles hat ihn mehr mitgenommen, als du vielleicht denkst. Aber er übersteht es. Du weißt ja wie er ist."
Frän lächelte ihr zu und verließ den Raum.
Genau das war das Problem., dachte Ayure und ging in den Raum hinein.

Amok hatte die Knie an die Brust gezogen, die Arme um die Beine geschlungen, und saß nun auf dem Fensterbrett seines Büros, während es sich Kolumbini an seinem Schreibtisch bequem gemacht hatte. Gelangweilt drehte er einen Stift in seiner Hand und blickte von Zeit zu Zeit gedankenvoll in die Luft, als würde er einer fixen Idee hinterherlaufen, die er in den meisten Fällen jedoch wieder verwarf.
Frän hatte nach einer langen Diskussion mit Amok an dessen Schreibtisch Platz genommen und hatte den Kopf auf der Hand aufgestützt.
Eine matte Stille lag in der Luft und sie fühlte sich an, wie eine zähe Masse, durch die alle Bewegungen nur sehr langsam ausgeführt wurden konnten und sie dazu noch größter Anstrengung bedurften.
Plötzlich flog die Tür auf und die Ermittlerin Ayure Namida traf endlich ein.
"Ah.", merkte Kolumbini genervt an.
"Tut mir leid, dass ich später komme.", sagte Ayure und steckte ein Buch in die Tasche.
Die Worte schnitten in Amoks Augen und so blickte er rasch zu Boden.
Es würde nichts ändern, jedoch befand er es im Moment für besser nicht direkt mit Ayure in Kontakt zu treten.
"Hallo Ayure.", begrüßte Frän ihre Kollegin als einzige.
"Da wir ja nun vollzählig sind", Kolumbini bemühte sich nicht vorwurfsvoll zu klingen, was ihm jedoch außerordentlich gut misslang, "fangen wir gleich an würde ich sagen."
Der Ermittler stand auf und ging mit auf dem Rücken verschränkten Armen (Frän erschrak, erkannte jedoch schnell, dass er nicht gefesselt war) durch den Raum, vorbei er bei jedem Schritt genauestens auf den Boden starrte. Scheinbar würde er die Führung übernehmen.
Es musste immer jemanden geben, der die Führung übernahm. Ohne so jemanden waren die Menschen und alle anderen Wesen verloren und zu noch weniger zu gebrauchen, als es ohnehin in ihrer Natur lag.
Das Denken fiel dann leichter, weil man entweder allem widersprechen oder sich irgendetwas anschließen konnte. Nachdenken war in den seltensten Fällen gefragt, irgendwie kam man auch ganz gut auf die Lösung, wenn man selbst eigentlich nichts tat und es wenigsten einen in der Runde gab, der den richtigen Impuls gab.
Dieser Raum jedoch zitterte fast ehrfürchtig vor den fähigen Wächter, die allesamt selbst ihren Verstand zu gebrauchen verstanden.
Amok grinste und überlegte, ob die Wache anders war, als die Welt dort draußen. Eine Antwort fand er nicht.
"Name?", fragte Kolumbini fast bestimmend. Natürlich wusste er, dass fünfzig Prozent der sich im Raum befindenden Personen den Namen kannte, doch es war wichtig, dass auch die anderen wussten, um wen es ging.
"Ayure Namida.", reagierte die Ermittlerin trotzig. Sie hatte nicht vor sich herumkommandieren zu lassen. Besonders nicht, nachdem sie kürzlich zur Obergefreiten befördert worden war. Die Tatsache, dass es sich hier um ihrem Vorgesetzten handelte ließ sie außer Acht.
"Das weiß ich- ich meine...", sagte er und schien zu begreifen.
"Die Tote hieß Hedoa Nist.", begann Ayure und wandte sich dabei besonders an Frän und Amok, der aus dem Fenster schaute und abwesend wirkte jedoch jedes Wort verstand.
"Sie war 22 Jahre alt und lebte bei ihrem Bruder. Zuvor hatte sie Jahre lang als Schneiderin gearbeitet, bis sie kündigte, als sie ihren Mann kennenlernte, der in einem Geschäft für Taue, Leinen und... Holz arbeitet."
"Von diesem Laden stammt auch das Tau, mit dem sich die Frau- äh, mit dem der Tod der Frau inszeniert wurde.", ergänzte Kolumbini.
"Laut dem Bruder haben sich die beiden aber getrennt."
"Warum?", wollte Amok wissen, seinen Blick nicht von der Straße abwendend. Es begann zu regnen.
"Sie hat ihn betrogen."
Eine Stille erfüllte den Raum und die Gedanken der Gruppe schienen sich zu kollektivieren.
"Ich denke wir denken alle dasselbe.", stellte Frän nach einiger Zeit fest.
"Es muss nicht bedeuten, dass der Besitzer Schuld trägt.", warf Kolumbini ein.
"Nein natürlich nicht.", antwortete die Ermittlerin, "aber es ist dennoch nicht auszuschließen. Wir müssen ihn genauso in den Verdächtigenkreis aufnehmen, wie seine Kunden. Und mal ehrlich, wer kauft denn extra ein Seil, um den Mord an jemandem zu tarnen?"
"Das ist wahr.", stimmte Frän zu. "Gewöhnlicher weise meiden Täter den Kontakt mit anderen, wenn sie so etwas machen. Andererseits wäre es genauso riskant, wenn man etwas aus dem eigenen Laden dafür nehmen würde."
"Und es wäre dumm.", sagte Kolumbini.
"Wenn es doch aber schnell gehen musste.", gab Ayure zu bedenken.
"Also schön.", entschied nach einiger Zeit Kolumbini. "Ich schlage folgendes vor: Ayure und ich werden zu dem Geschäft gehen und uns einmal mit dem Besitzer unterhalten. Und Amok, du... ähm- Amok?"
Immer noch stierte er aus dem Fenster und sagte in Gedanken ja.
"Ich werde sehen, wen ich vor dem Laden so finde. Wenn der Täter noch einmal zuschlägt, sollten wir wahrscheinlich vorbereitet sein."

Regen rann von seiner Stirn und lief ihm in die Augen, die schon schmerzten vor Kälte. Immer wieder lachte er, denn im strömenden Regen war es unmöglich ihn zu hören. Jeder Laut wurde von den Wassermassen sofort erbarmungslos auf den Steinboden gerissen, wo er zerbrach wie eine Tonscheibe.
Alles hatte funktioniert. Alles.
Er durfte keinen Fehler machen. Die Ermittlungen hatten gerade erst begonnen, zumindest folgerte er das daraus, dass die Stadtwache erst vor kurzem in seiner ehemaligen Unterkunft war. Es war das einzige und letzte Mal gewesen, dass er sich seiner Wohnung genähert hatte. Noch einmal dort hinzugehen wäre sinnlos und zugleich riskant.
Es ärgerte ihn etwas, dass er nicht bedacht hatte, dass er nun keine Unterkunft mehr hatte, denn er wusste, dass die Stadtwache früher oder später Kontakt mit ihm aufnehmen würde. Zumindest schätze er sie dermaßen intelligent ein.
Er durfte daher also keinesfalls einen falschen Eindruck machen. Altrouis musste stets ausgeruht und wie ein durchschnittlicher Bewohner wirken. Alles andere, würde ihn zweifelsohne verdächtig machen.
Je mehr es regnete und je länger er hier draußen war, desto mehr trieb der Wind die Nässe in den Beutel, den er aus dem Bettzeug, dem Kleid der Frau und den Tauen geformt hatte.
Seinen eigentlichen Plan, alles zu verbrennen, musste er also vorerst verwerfen.
Doch er durfte sich nicht länger Zeit lassen, alles zu vernichten und so blieb ihm nur noch ein Möglichkeit, auch, wenn ihm diese eigentlich viel zu unsicher erschien.
Er hatte keine andere Wahl. Er musste schnell handeln, um bereit für die nächsten Schritte zu sein, die nun jeden Tag mehr und mehr zu einem Plan heranreiften.
Es regnete etwas weniger, als er einer Postkutsche hinterher schaute und begann zu lachen.

Allmählich kam sich die Ermittlerin vor wie ein lästiges Anhängsel und das gefiel ihr ganz und gar nicht. Sicherlich hatte ihr Kollege wesentlich mehr Erfahrung, was das Lösen von Fällen anging und so weit sie wusste, war er auch ziemlich gut in dem was er tat, doch ihr Charakter verbot es ihr jemandem gegenüber Obedienz zu demonstrieren, den sie nicht einmal kannte. Andererseits wusste sie, dass es niemanden weiterbringen würde, würde sie den Weg der Konfrontation einschlagen und so entschied sie sich vorerst abzuwarten. Zudem war er Korporal und somit eindeutig ihr Vorgesetzter.
Ein Bimmeln ertönte, als die beiden die Ladentür öffneten.
"Guten Tag." Ein Mann strahlte sie an.
"Herr Verliert?", fragte Kolumbini und bekam ein zögerliches Nicken zur Antwort.
"Guten Tag. Wir sind von der Stadtwache. Ich bin Korporal Kolumbini und das ist meine Kollegin Obergefreite Namida. Wir würden ihnen gern ein paar Fragen stellen.", begann der Ermittler und je mehr Worte aus seinem Mund hervor schlüpften, desto blasser wurde das freundliche Lächeln des Verkäufers.
Der Mann war sichtlich verwirrt und blickte erschrocken von einem Gesicht in das andere.
Erst nach einigen Momenten, in denen ihm das Herz so stark schlug, dass es die Luft in Schwingungen versetze, ging er schnell zur Ladentür - Myriaden von Blicken den Boden entgegenwerfend - , drehte das Schild auf dem "Geschlossen" stand um und schloss die Tür ab.
"Natürlich.", sagte er, als er sich wieder den Wächtern zuwandte. "Wenn sie mir folgen würden."
Es war offensichtlich, dass er ihre Blicke mied, als er an den beiden vorüber ging und sie ihm in das Hinterzimmer folgten, das ganz scheinbar als Lagerraum diente. Gerade noch passten vier Stühle und ein winziger Tisch hinein, den man von dem Verkaufsraum noch gut erkennen konnte und als sich die drei gesetzt hatten, baumelten ihnen verschiedene Taue vor dem Gesicht herum.
Ein großer Brieföffner steckte in einem prunkvollem etwas, was Ayures Aufmerksamkeit für einige Augenblicke auf sich zog. Scheinbar war dieser Brieföffner auch das einzige, was ein Dieb gestohlen hätte, wäre er in den Laden eingebrochen.
"Worum geht es.", sagte Herr Verliert, nachdem er einen tiefen Atemzug nahm.
"Um ihre Ex-Frau."
Plötzlich weiteten sich seine Augen.
"Was ist mit Hedoa?", fragte er eindringlich.
"Es tut mir leid, Herr Verliert, doch sie ist tot." Ayure übernahm diesen Teil des Gespräches.
Der Verkäufer stockte und hatte man zuvor noch ein schniefendes Atmen gehört, herrschte nun eine grausame Stille. Die Ermittler kannten das Gefühl, wenn man jemanden mitteilen musste, dass eine geliebte Person gestorben war und sie wusste auch, wie es sich anfühlte, wenn jemand nur vorgab zu trauern. Es lag eindeutig eine drückende Kälte in der Luft und der Kloß, der sich im Halse des Mannes bildete übertrug sich durch die Luft an die beiden Ermittler. Doch Gefühle, durften in ihrem Beruf nicht über ihre letztliche Entscheidung bestimmen. Sie brauchten Fakten.
"Aber...", begann er plötzlich und seine Augen füllten sich mit Nässe. Er stoppte und biss sich auf dem Fingernagel des Daumens herum, während er apathisch nach vorn schaute.
"... sie war doch hier!" Immer wieder stockte er. "Noch vor ein paar Tagen. Genau da. Vor meinem Tresen stand sie. Sie kann nicht..."
Ayure wechselte schnelle Blicke mit Kolumbini, der das Gefühl der Betroffenheit weniger an sein Herz ließ, als seine Kollegin im ersten Moment.
"Herr Verliert. Es tut uns wirklich leid.", begann sie noch einmal. "Aber wir müssen ihnen einfach ein paar Fragen stellen, um das alles zu klären."
Wieder atmete Herr Verliert tief ein und schloss sie Augen, während er seine Gefühle herunterzuschlucken schien.
"Ich verstehe.", sagte er und schaute die beiden dann. "Wenn die Stadtwache hier ist, kann es nichts natürliches gewesen sein, habe ich recht?"
"So ist es.", führte Ayure die Befragung fort und erkannte, dass der Mann verstand und sie nicht weiter darauf eingehen musste, dass man sie getötet hatte.
Kolumbini indes beobachtete und analysierte die Situation genau. Zu blöd, dass Frän nicht hier war und noch viel blöder war es, dass er die grundlegenden Techniken der Püschologie nicht mehr so gut beherrschte. Die Körpersprache des Mannes deutete auf große Anspannung hin, doch konnte der Ermittler nicht sagen, was der Grund dafür war. Er entschied sich weiter zu beobachten und Ayure die Befragung übernehmen zu lassen, auch, wenn ihm das nicht leicht fiel.
"Wann haben sie Frau Nist das letzte mal gesehen?"
"Vor zwei oder drei Tagen. Da war sie hier und hat ihre Sachen abgeholt.", antwortete er und obwohl ihm das sprechen Anfangs noch schwer fiel, gelang es ihm nach einiger Zeit die Fassung einigermaßen zurückzuerlangen.
"Welche Sachen?"
"Sie hat mit mir hier gearbeitet."
"Gut. Und wieso haben sie ihre Zusammenarbeit beendet?"
"Weil wir unsere Beziehung beendet haben."
Ayure blickte unauffällig zu Kolumbini. Sie hoffte, er würde gut zuhören, denn gleich würde sie eine wichtige Frage stellen, deren Antwort über einiges entscheiden würde.
"Entschuldigen sie diese Frage, aber wieso haben sie sich getrennt?"
Diese eine Antwort entschied darüber, ob sie ihn verdächtigen würden oder nicht. War er unschuldig, würde er mit der Wahrheit antworten.
Seine Blicke flogen von einem Punkt zu anderen und er kratze sich flüchtig an der Oberlippe. Genug um dem Ermittler seine Unsicherheit zu demonstrieren.
"Wir hatten Meinungsverschiedenheiten."
Ayure schnaufte und lehnte sich zurück, als sie ihre Stirn in Falten legte.
"Wissen sie, wo ihre Ex-Frau wohnte, nachdem sie sich getrennt hatten?"
"Ich vermute bei ihrem Freund."
Mit jeder Antwort wurde die Sache für Ayure klarer.
"Kenne sie seinen Namen?"
"Nein, sie?", er schien angespannt und antwortete plump.
Die Ermittlerin schwieg. Sie konnte dazu nichts sagen, denn wenn das hier wirklich der Mörder war, wäre vielleicht auch der Bruder der Verstorbenen, den der Verdächtige offensichtlich für den Geliebte der Frau hielt, in Gefahr.
Sie lenkte das Gespräch in eine andere Richtung.
"Wie viele von diesen Tauen..." Sie deutete auf das, was dem am nächsten kam, womit man die Frau aufgehangen hatte "...verkaufen sie ungefähr am Tag?"
"Das kann ich schwer sagen.", meinte er und dachte nach. "Das Geschäft läuft recht gut. Sechs bis sieben am Tag."
"Und- wozu braucht man die, Herr Verliert?"
"Zu allem Möglichen. Man kann Bretter damit nach oben ziehen. Keine Ahnung, ich verkaufe diese Sachen nur. Aber was hat das mit der ganzen Sache überhaupt zu tun?"
"Wo waren sie vorgestern Nacht?", frage Ayure plötzlich und mit wesentlich mehr Nachdruck in der Stimme und sie verfehlte ihr Ziel den Verdächtigen zu überraschen und aus der Bahn zu lenken nicht. Diese Frage war darüber hinaus nicht weniger wichtig, als die vorangegangene bezüglich des Grundes der Trennung, denn die Obduktion hatte ergeben, dass die Frau ungefähr zu dem Zeitpunkt getötet wurde, wonach sich die Ermittler gerade erkundigte.
"Wieso fragen sie das?", wollte er wissen, und seine Stimme begann zu beben- ein Zeichen dafür, dass er seine Wut, die daraus resultierte, dass er ahnte, was die beiden Ermittler über ihn und seine Rolle in diesem Fall dachten, offensichtlich unterdrücken musste.
"Natürlich oben in meiner Wohnung!"
"Kann das jemand bezeugen?"
Wieder hielt er kurz inne. Scheinbar dachte er nach.
"Natürlich nicht! Wollen sie etwas sagen, dass ich meine..."
"Wir wollen vorerst gar nichts sagen.", unterbrach Kolumbini, bevor sich der Mann weiter in die Sache hineinsteigern konnte, was die Zusammenarbeit unweigerlich erschwert hätte. "Wir wollen lediglich diesen Fall aufzuklären. Das dürfte doch auch in ihrem Sinne sein."
Fast bockig lehnte er sich zurück.
"Wieso sollte ich meine eigene Frau... Ex-Frau töten?"
"Herr Verliert.", sagte die Ermittlerin. "Würden sie uns für einen Moment entschuldigen?"
Er nickte widerwillig und Ayure und Kolumbini verschwanden in den Verkaufsraum.
"Was meinst du?", frage sie ihn.
"Ich meine, dass das noch nicht genügend Beweise sind."
"Nicht genügend?", fragte Ayure in lautem Flüsterton ungläubig.
"Ich fürchte nicht. Das alles macht ihn zwar verdächtig, aber wir können ihn deswegen nicht einfach einsperren."
"Er hat täglich mit Tauen zu tun. Er macht sie. Seine Hände wären durchaus kräftig genug, um jemanden zu erwürgen. Niemand kann Bezeugen, dass er an dem Abend zu Hause war und er hat auch gelogen, als wir ihn wegen der Trennung fragten! Was willst du mehr?"
Kolumbini schwieg und die Gedanken, die durch seinen Kopf rasten waren förmlich zu sehen.
"Du hast Recht. Aber irgendetwas sagt mir, dass wir noch warten sollten. Ich bin nicht überzeugt."
Ayure erstarrte. Für sie war die Sache eindeutig. Er hatte seine Frau ermordet, weil sie ihn betrogen hatte.
Sie schnaufte. "Also gut.", gab sie schließlich nach. "Lassen wir ihn hier und warten auf die Ergebnisse, die uns Amoks Informanten geben können.

Taue waren Gegenstände, an die der Anwerber noch nie einen Gedanken verschwendet hatte. Warum auch? Bis jetzt hatte er nie eines gebraucht.
Die Vorbereitungen gestalteten sich schwieriger, als er erwartet hätte. Aber es war einfach essenziell, dass er bevor er sich an die eigentliche Arbeit machte, genauestens bedachte, wie er alles so einrichten konnte, dass er sein Ziel erreichen konnte, einen Informanten anzuwerben.
Dafür war es jedoch wiederum nötig genau darüber Bescheid zu wissen, womit er seine "Opfer" ködern konnte. Er musste mit ihnen ins Gespräch kommen, musste ihnen Vertrauen suggerieren und ihres gleichermaßen gewinnen.
Er hatte Bücher gewälzt, Papierrollen zerrissen und kam einfach nicht weiter. Wieso hatte auch niemand im Archiv je etwas über Taue vermerkt?
So sah er sich also gezwungen selbst zu überlegen, welche Informationen er brauchte, um ein anregendes Gespräch über diese Gegenstände führen zu können. Dazu hatte er sich einige Notizen gemacht.
- Material
- Dicke
- Farbe
- Belastbarkeit
Das war alles, was ihm zunächst einfiel. Er hasste es so unvorbereitet zu sein und, dass er nicht einmal Zeit hatte den Zielort genau aus zu kundschaften, doch immerhin wusste er bereits, wie er beginnen würde. Es musste einfach klappen, denn das war das einzige, womit er beweisen konnte, dass die Wache ihn brauchte und es war das einzige, was ihn für die nächste Zeit vom Denken abhalten würde.


III Ausweg

Und das einzige, was ihr könnt, ist das Erbrechen nackter Seelen aus euren widerlichen Leibern. Würdet ihr nur ein wenig darüber nachdenken, würdet ihr verstehen, dass es entartetes Mensch sein ist, so etwas in eure Welt zu werfen und verkommen zu lassen. Ihr seid nicht individuell. Ihr seid eine Maschinerie und ihr erschafft mehr Maschinen, als ihr selbst ertragen könnt.

Die Sachen waren schon längt auf den Weg in fernere Länder und es war, als fiele eine Last von Altrouis, den es ärgerte, dass nun die Sonne wieder auf seinen Schädel brannte.
Er hatte in den vergangenen Tagen unterschlupf in einem Gasthaus gefunden, in dem er arbeiten musste, da er kein Geld besaß, womit er sein Zimmer bezahlen konnte.
Alles lief perfekt. Er erschien als gewöhnlicher Bürger, der arbeitete und seinem Alltag nachging.
Doch wo er auch hinsah rann dieser grünliche Schleim von den Wänden, den er seit dem Erlebnis in der Gasse nicht mehr hatte vergessen können. Es gab Abende, da warf er sich gegen die Wände seines Zimmers, um ihn sich vom Körper zu schütteln.
Er hatte auch schon Stunden damit zugebracht seine Arme zu waschen, bis sie fast bluteten und dabei die undefinierbare Substanz nur noch tiefer unter seine Haut getrieben.
Noch hatte ihn die Stadtwache nicht kontaktiert und so beschloss er dem Geschäft seines scheinbaren Bruders einen Besuch abzustatten. Wenn alles geklappt hatte, musste er sich bereits in den Zellen der Stadtwache befinden.
Altrouis bog um die letzte Ecke, näherte sich mit bedachten Schritten dem Geschäft und machte vor dem Schaufenster halt, um hineinzuspähen.
Dort stand er. Hinter der Teke und blätterte durch ein Buch.
In seiner Brust dröhnte ein tiefer Ton immer und immer wieder auf, der anschwoll und sich bald durch den Magen, die Beine und Arme zog, bis sein Körper pulsierte. Er riss die Augen auf und ballte die Hände zu Fäusten, als sein Inneres zu kochen begann und er die Luft nicht mehr tief in den Bauch, sondern schnell und stoßhaft in die Lungen einsog.
Was für Schwachköpfe waren das nur? Er hatte alles geplant und es stimmt alles. Die Beweise waren eindeutig, darüber war er sich sicher. Sie mussten ihn einfach festnehmen! Wieso befand er sich immer noch dort und arbeitete?! Hatten sie mit dem Haar nichts anfangen können?
Hatte er einen Fehler gemacht?
War man schon auf der Suche nach ihm?
Was hatte er vergessen?
Wie weit war die Kutsche bereits weg?
Musste er flüchten?
"Eine wahnsinnige Qualität, finden sie nicht?", unterbrach plötzlich jemand seine Gedanken und als er nach rechts Blickte, schaute er direkt in ein paar blau-graue Augen.

Amok zitterte innerlich und wartete gespannt auf eine Antwort. Er benutzte sonst nie das Wort Wahnsinn zumindest nicht als Adjektiv.
Doch er war sich sicher, dass die Menschen, die in diesem Laden einzukaufen pflegten so sprachen.
Der Mann Antwortete nicht, sondern starrte ihn nur an. Amok wusste nicht, ob er die Sache richtig angegangen war. Bedauerlicherweise war jeder Mensch anders, auch, wenn er sie relativ gut einschätzen konnte, doch dieser hier schien vielleicht doch nicht der geeignete Kandidat zu sein.
Er war verunsichert.

Altrouis war unsicher. Wer war dieser Mensch?
Unmöglich konnte es ein normaler Bewohner der Stadt sein, denn so, wie er diese bis jetzt kennengelernt hatte, waren sie unfreundlich und begannen erst recht nicht eine Unterhaltung einfach so mitten auf der Straße. Es musste sich um eine wichtigere Person handeln. Die Stadtwache? Waren sie ihm bereits auf der Spur. Verdammt!, fluchte er.
Was sollte er tun? Er konnte schlecht weglaufen, denn das wäre definitiv zu auffällig gewesen. Er musste so handeln, wie man es von jemandem erwartete, der einfach nur dastand und sich Taue ansah.

"Ja.", antwortete der Mann schlicht und lächelte nur kurz.
Gut, dachte Amok. Er hält dich nicht für einen Verrückten, vielleicht ist er doch ganz hilfreich. Zumindest antwortet er ohne auf die einzuschlagen. Er beachtete nicht, dass diese Schlussfolgerung weniger einer Logik, als irgendeiner absurden Transendenz unterlag.
Der Anwerber wartete und zählte von zwanzig bis null, erst dann sprach er weiter.

"Kaufen sie oft hier ein?"
Wer war diese Person?
Zweifelsohne warf er Altrouis aus der Bahn, doch er musste antworten. Schnell und spontan, dennoch so bedacht, dass er normal wirkte.
"Einmal."
"Ah, ich verstehe. Ich kaufe öfter hier ein. Die Art und Weise, wie die Taue aufgebaut sind. Wie die Fäden miteinander verzwirbelt sind... so etwas sieht man nicht oft hier."
Altrouis hatte keine Ahnung wovon dieser gebrechlich wirkende Mann Sprach.
"Ja. Ganz besonders die Festigkeit ist bemerkenswert. Halten viel aus diese Dinger."

Amoks Herz hüpfte und meckerte, als sein Brustkorb es festhielt. Er ging darauf ein!

Altrouis konnte leider nur so viel dazu sagen, wie er selbst erfahren hatte. Diese Taue hielten wirklich etwas aus. Das war klar. Anscheinend versuchte dieser Mann Altrouis' Vertrauen zu gewinnen, die Frage war nur, warum er es tat.
Angenommen diese Person stammte tatsächlich von der Stadtwache... welche Aufgabe konnte er dort übernehmen? Hatte die Stadtwache Ermittler, die sich verkleideten, um Verdächtige, wie er wohlmöglich einer war, ausfindig zu machen und zu überführen?
Das war durchaus denkbar. Ob er wollte oder nicht, doch vorerst musste er auf das eingehen, was dieser Mann von ihm wollte, um kooperativ und unauffällig zu erscheinen. Doch wie konnte er sicher herausbekommen, dass es sich hier um ein Mitglied der Stadtwache handelte?
In seinem Kopf arbeitete es. Diese Person wusste sicher von dem Mord, wenn sie zur Wache gehörte. Er musste also nur herausfinden, ob sie etwas mit dem Verbrechen anzufangen wusste oder nicht, ohne dabei zu sagen, dass er selbst davon wusste, denn das würde ihn ganz sicher verdächtig machen.

"Die da hinten sind wirklich gut geeignet, um Steine und Bretter damit hoch zu ziehen. Ganz praktisch, wenn man Häuser baut."
"Sie bauen?", überraschender Weise ging der Mann plötzlich auf das Thema ein.
"Ja. Wo man mich braucht, arbeite ich mit."
"Das ist ja ein Zufall- ich auch.", plötzlich lächelte er herzlich und drehte sich zu Amok, vom Schaufenster weg.
Amok war zufrieden. Zwar hatte er sich nicht intensiv mit dem Bau befasst, doch war er sich sicher, dass er hierzu genug improvisieren konnte.

Scheinbar war der Mann erfreut, dass Altrouis auf das Gespräch einging. Trotzdem war er viel zu freundlich, was ihn immer verdächtiger machte.
Es war einfach für ihn sich zu verstellen und so zu tun, als würde er sich nicht vor der Anwesenheit des Mannes ekeln, der überraschenderweise jedoch keine Schweinenase besaß.
"Wissen sie, was mein Problem ist?", fragte Altrouis. Er brauchte die Gewissheit und Informationen.
"Ich weiß nicht, welches Gewicht diese Dinger genau tragen, ich weiß nur, dass sie eine große Last vertragen. Es ist für mich immer sehr schwer das einzuschätzen."
"Lassen wir doch diese Formalitäten."
Altrouis war sich nicht sicher, was der Mann meinte, doch vielleicht kam er langsam dahinter, dass seine Wortwahl nicht genau der eines Arbeiters entsprach.
"Sag mir mal, wie viel das dort hinten tragen kann." Er deutete auf das, mit welchem er die Frau aufgehangen hatte. Wenn dieser jemand nur oberflächlich über die Sachen bescheid wusste, und das Seil aus Ermittlungen oder dergleichen kannte, würde er das Gewicht mit dem der Frau vergleichen, damit er schnell einen ungefähren Wert angeben konnte.
Tatsächlich überlegte der Mann.
"Um die fünfundfünfzig bis sechzig Kilo."
Diese Antwort hatte er erwartet. Doch das genügte nicht, um sich völlig sicher zu sein.

So eine Frage hatte Amok nicht erwartet, doch er war zufrieden, dass er schnell eine Antwort darauf gefunden hatte. Zum Glück hatte er sich vorher noch eingehend mit der Akte der Gerichtsmedizin beschäftigt, da er die Frau zuvor nie gesehen hatte, und kannte daher ihr Gewicht. Dieser Mann musste Ahnung haben, wenn er auf dem Bau arbeitete, also konnte Amok ihm unmöglich eine völlig absurde Zahl an den Kopf werfen.
Der Anwerber hatte ein gutes Gefühl und es schien, als wäre dieser Mann ein geeigneter Kontakter. Er verstand Amoks Aufforderung zur Stilumlenkung im Gespräch sofort und wandte die Arbeitersprache unverzüglich an, auch wenn es eigentlich ungewöhnlich war, dass ein Arbeiter vergleichsweise Intelligent war. Aber vielleicht besetzte er ja einen höheren Posten.
Zum Glück wandte der Arbeiter die Gossensprache nur in sofern an, als Amok sie verstehen konnte, denn er hatte noch nicht so oft mit diesem Milieu zu tun gehabt, als dass er sich mit den Ausdrucksformen zuvor schon einmal intensiver hatte beschäftigt müssen. Es störte ihn zwar, dass er darauf nicht vorbereitet war, doch sah er auch ein, dass er momentan daran nichts ändern konnte.
Eine Tür öffnete sich hinter ihm und jemand stürmte mit ein paar Brettern aus dem Laden. Kurz darauf lief auch der Ladenbesitzer nach draußen.
"Verdammt bleib gefälligst stehen und zahle du.. ! So ein Mist!", fluchte der Verkäufer und warf wutentbrannt einen Notizblock auf den Boden.

Als sein Bruder wieder im Laden verschwunden war, atmete Altrouis erleichtert auf, dass dieser ihn nicht gesehen hatte.
Dieser Mann lief dem Dieb nicht hinterher. Er hatte Altrouis also gezielt angesprochen. Das Schicksal war ihm heute scheinbar wirklich gut gesonnen.
"Ich hasse diese Leute.", sagte er und setzte ein enttäuschtes Gesicht auf.
"Was meinst du?", fragt der Mann.
"Wir alle arbeiten für das, was wir bekommen, aber irgendwelche Menschen bilden sich sein, dass sie sich ihre Sachen auch anders beschaffen können und ziehen andere dabei dermaßen in den Dreck."

Nun war Amok sich sicher, dass dieser Mann der perfekte Kontakter sein würde. Er konnte die letzte Phase einleiten.

"Und?", fragte Ayure, als Amok das Büro betrat.
"Wieso kommst du erst jetzt, wir hatten ausgemacht, dass wir uns Nachmittags treffen und nicht Abends."
"Ich habe jemanden. Ich musste dazu nur ein bisschen mehr Zeit investieren das ist alles."
"Wo wart ihr?", fragte Frän ruhig.
"In der Trommel. Er wird jetzt für uns arbeiten."

Der Schaum trat über den Rand des Kruges, als er diesen unter dem Zapfhahn hervorzog und das Bier vor dem Kunden abstellte.
Altrouis grinste in sich hinein. Das alles klappte doch noch viel besser, als er es erwartet hatte, auch, wenn sein eigentlicher Plan nicht ganz aufgegangen war.
Dieser Mann kam tatsächlich von der Stadtwache und arbeitete als 'Anwerber'. Altrouis sollte nun den Spitzel spielen, wenn er es richtig verstanden hatte, was ihn vieles einfacher machte. Erstens konnte er so fast nicht mehr in den Kreis der Verdächtigen rücken und er konnte nun wesentlich einfacher Spuren legen, die zu seinem Bruder führten.
Er durfte nicht sofort handeln. Vielleicht musste er einen Tag warten und dann würde er die letzte Phase einleiten, die die Aufmerksamkeit unweigerlich von ihm lenken musste. Endgültig.

Kolumbini überflog gerade noch einmal seine Aufzeichnungen, als Amok das Büro betrat und sich entsetzt auf seinem Stuhl niederließ
"Er hatte recht.", sagte er fassungslos.
"Wer?"
"Unser Kontakter. Der Bruder ist tot."
"Was?!", der Ermittler traute seinen Ohren nicht.
"Ayure dürfte bald hier sein, sie wollte zum Tatort und sich alle Informationen besorgen."
"Und das habe ich auch.", die Ermittlerin betrat das Zimmer.
"Ayure!", sagte Kolumbini und fuhr auf. "Was ist passiert?"
"Er wurde erstochen. Drei mal hat ihm der Täter eine Art Messer oder so etwas in den Bauch gerammt."
"Wann?"
"Gestern."
Amok schüttelte den Kopf. "Damit haben wir ihn fast."
"Moment, das grenzt den Kreis zwar ein, aber sagt nicht, dass er der Schuldige ist.", gab Kolumbini zu bedenken und betrachtete die Sache gewohnt objektiv.
"Unser Kontakter hat ihn gestern Abend das Haus veranlassen sehen, nach Ladenschluss. Er meinte, dass er erst später wiedergekommen wäre. So hat er es Thask mitgeteilt."
"Wir müssen noch einmal zu ihm.", sprudelte es aus Ayure hervor. "Jetzt."

Wie gewohnt bimmelte die Ladentür und ohne aufzublicken begrüßte der Verkäufer seine potentiellen Kunden mit einen freundlichen Guten Tag.
"Herr Verliert?" Die Stimme riss ihm ein klaffendes Loch in die Brust und für einen Moment hörte er auf zu atmen.
"Sie...", merkte er scharfsinnig an.
"Wir müssen sie bitten mit uns zu kommen. Es besteht ein dringender Tatverdacht gegen sie.", klärte Kolumbini den Mann auf, der aus flehenden Auge aufblickte.
"Aber ich habe nichts getan! Sie können mich nicht so einfach mitnehmen! Sie haben keine Beweise!"
"Deswegen bitten wir sie mit uns zur Wache zu kommen. Wir brauchen ihre Fingerabdrücke."
"Wofür?!", schrie der Mann den beiden mit aller Kraft entgegen und musste sich dabei auf seiner Teke abstützen. "Ich Habe Niemanden Getötet!"
Zufällig ließ Ayure den Blick in den kleinen Abstellraum mit dem Tisch und den vier Stühlen schweifen und erkannte den Ständer wieder, der eigentlich einen Brieföffner hätte halten sollen, so, wie vor ein paar Tagen, bei der ersten Befragung.
"Wo ist ihr Brieföffner?", fragte sie und überraschte damit dem Mann nicht mehr als sie ihren Kollegen überraschte.
"Mein was?!" Was musste er sich eigentlich noch alles anhören?
"Dort auf ihrem Schreibtisch befand sich bei unserer ersten Befragung noch ein großer Brieföffner. Wo ist der?"
Kolumbini verstand.
"Woher soll ich das wissen? Meinen sie den hab ich auch getötet? Vielleicht haben SIE ihn auch geklaut, wo sie mich doch sowieso schon grundlos mitnehmen wollen!"
"Herr Verliert. Beruhigen sie sich, das macht die Sachlage nicht gerade einfacher oder verändert sie zum Positiven für sie.", mahnte Kolumbini.
"ICH SOLL MICH BERUHIGEN?!", schrie Herr Verliert und wirbelte wild mit dem Armen herum. Sein Gesicht hatte inzwischen eine ungesunde rote Färbung angenommen und Ayure wich vorsichtshalber einen Schritt zurück.
Dann schlug er mit den Fäusten auf den Tisch und kurz darauf ertönte ein sanftes Klirren.
Die Zeit, in denen die drei zu Boden blickten dehnte sich aus, wie eine zähe Substanz und Herr Verliert hoffte, dass es nicht das war, wonach es klang.
Eine Klinge schrie immer noch am Boden und das Sonnenlicht, das davon Reflektiert wurde blendete den Verkäufer so, dass er sich die Hände schützend vor die Augen halten musste.
Eine Weile herrschte unfassbare Stille, die Kolumbini nach einiger Zeit unterbrach.
"Herr Verliert. Wir nehmen sie nun mit. Und sie sollten besser kooperieren. "

Und nun war alles so herrlich still, als Altrouis in den Himmel starrte, wo die Sterne wie kleine Glasbläschen zitterten.
Alles war so aufgegangen wie er es geplant hatte. Die Stadtwache hatte ihn nicht einmal verdächtigt, etwas, wofür er sich ebenfalls einen Plan zurechtgelegt hatte.
Es war eigentlich zu einfach gewesen in den Laden einzudringen mit dem Vorwand den Bruder zu besuchen, um dann den Brieföffner zu entwenden. Nach der Tat hatte er ihn einfach gesäubert, jedoch am Schaft ein paar Blutrückstände gelassen und auf den Tresen gelegt, von wo aus ihn sein Bruder einfach berühren musste, wenn er ihn verstauen wollte.
Altrouis wusste nicht, ob die Wache den Laden durchsucht hatte oder, ob sie zufällig darauf gekommen waren, dass es sich hier um die Mordwaffe handelte.
Doch es war auch unwichtig, wie es geschehen war. Die Hauptsache war, dass es geschehen war.
Es war richtig, was er getan hatte. Das spürte er. Er hatte ein Leben gerettet- was konnte schöner sein und wie konnte man selbst besser sein. Er war ein guter Mensch und er war sich sicher, dass er nie ein besserer Mensch gewesen war.
Plötzlich spürte er jemanden neben sich und eine zierliche Gestalt setzte sich nieder.
"Gute Arbeit.", sagte der Anwerber.
"Wir haben ihn dank ihrer Hilfe fassen können."
Altrouis lachte. "Wenn es sie und ihre Kollegen glücklich macht."
Der Gefreite schien irritiert.
"Es gibt nichts anderes wofür sie leben oder? Sie denken, sie wären wichtig in dem, was sie tun. Sie meinen, das hätte einen Sinn. Setzen sich Druck aus, retten Menschen oder helfen ihnen dabei den Tod besser verkraften zu können... und wofür?"
Der Anwerber schien nachzudenken. Altrouis hatte sich des Öfteren mit ihm getroffen und hatte ihn kennengelernt. Hatte gemerkt, dass sich dieser Mensch in einer Phase des Wandels befand, irgendetwas an sich zu ändern versuchte. Auch, wenn der Mann es nie ausgesprochen hatte, war es doch so offensichtlich, dass er unter etwas litt und das ändern wollte, indem er sich selbst ändern wollte.
"Sie wissen genauso gut wie ich, dass diese Stadt es nicht wert ist gerettet zu werden. Sie sollten einfach darauf hören, was ihnen ihre Seele sagt. Ihr Inneres. Sie sollten sich nicht ändern, damit andere sie verstehen oder damit es anderen besser geht. Halten sie es für ihre Aufgabe den Menschen zu helfen?"
"Das tue ich."
"Dann helfen sie ihnen, indem sie ihnen zeigen, wie wertvoll ein Leben ist, auf das sie begreifen, dass Gier, Trieb und Spaß nicht alles ist, was ein Leben in dieser Stadt braucht.
Das fordert Opfer. Unweigerlich."

Plötzlich stand er auf und ging schreitend davon. Amok war wie gelähmt und starrte auf die verkrustete Wunde am Hinterkopf des Mannes. Wer sprach dort eben zu ihm? Es war nicht der Arbeiter, den Amok angeworben hatte und es war nicht der Kontakter, der mit der Wache zusammengearbeitet hatte. Alles drehte sich und sein Verstand schien zu kollabieren. Das fordert Opfer Hatte er das gerade wirklich gesagt? Und was hatte er damit gemeint?
Nachdenklich und betroffen entschloss sich Amok zum Wachehaus zu gehen.

Seine Augen waren rot, doch scheinbar war er zu kraftlos um noch weiter zu weinen.
Wieso war das alles passiert?
Er hatte nicht nur seine Liebe, sondern auch seinen Laden- sein Leben verloren. Er hatte doch nichts getan! Wieso hatte er gelogen, als er auf die Frage antwortete, wieso er sich von seiner Frau getrennt hatte? Im Nachhinein, hätte ihn das entgegen seiner damaligen Erwartungen nicht verdächtiger gemacht und alles hätte vielleicht noch einen guten Ausgang genommen.
Jammernd öffnete sich die Tür zur Zelle und ein schlaksiger Wächter trat hinein.
"Was willst du?", fragte Herr Verliert in klagendem Ton.
"Du bist schuldig.", sagte Amok und wusste, ob der Wirkung seiner Wörter und dem Risiko, das er einging.
"Ich will meinen Bruder sehen."
Der Anwerber horchte auf.
"Bruder?"
"Ja. Ich will ihm etwas sagen. Hat mich vor ein paar Tagen besucht. Davor war er lange Zeit weg. Aber was erzähl ich dir das überhaupt..."
Amoks Interesse war geweckt und sein Gefühl sagte ihm, dass er mehr erfahren musste. Er gab dem Wächter hinter ihm ein Zeichen, welcher daraufhin die Tür schloss und ging. Dann setze er sich auf das Bett genau gegenüber von Herr Verliert.
"Erzähl mir von ihm.", bat der Anwerber fast.
"Wieso?"
"Weil du genug Zeit hast und sonst niemand mehr mit dir redet."
Das schien einzuleuchten.
"Was soll's, das macht jetzt auch keinen Unterschied mehr. Früher verstanden wir uns fast gar nicht. Er war der Meinung ständig allen Leuten irgendetwas geben zu müssen. Geld, etwas zu Essen. Meistens hatte er letztendlich selbst nichts mehr. Ich habe ihn nie verstanden. Ich hab ihm immer gesagt: Irgendwann wird dich das umbringen. Niemand ist so wie er. Niemand schenkt dir irgendetwas. In dieser Stadt kann man nur überleben, wenn man korrupt und geldgierig ist, andernfalls bringen sie dich um oder rauben dich aus. Oder sperren dich fälschlicherweise ein. Ich habe nie verstanden wie er es ertragen konnte, wenn man ihn ausraubte und wieso er nie ausgerastet ist. Er war einfach ein herzensguter Mensch- jemanden wie ihn habe ich nie wieder getroffen."
"Du sagtest er wäre lange Zeit weg gewesen. Wo war er und wieso war er so plötzlich wieder da?"
"Das weiß ich nicht. Aber er war irgendwie nicht mehr der Alte. Ich weiß nicht wieso, irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ihn etwas verändert hat. Ich hab ihm ein paar Seile gegeben, die er verkaufen sollte, um wenigstens an etwas Geld zu kommen. Aber wie erwartet war er davon nicht besonders begeistert. Aber er hat sie angenommen, das hat er sonst nie gemacht. Er hatte auch eine Wunde am Hinterkopf, ich kam aber nicht mehr dazu ihn zu fragen... wahrscheinlich hat man ihn wieder ausgeraubt."
Amok erstarrte wieder. Das alles war zu verrückt, als dass er gerade die richtigen Schlussfolgerungen ziehen konnte.
"Gab es nichts, war er jemals falsch gemacht hat?"
"Doch.", sagte der Verkäufer und blickte auf den Boden.
"Im Nachhinein, denke ich, dass er derjenige war, mit dem mich meine Frau betrogen hat. Wie er sie angeschaut hat, als die den Laden betrat... es ist mir erst viel später aufgefallen, auch wenn er wahrscheinlich dachte, dass ich ihn nicht sehen konnte. Immerhin hab ich genug Zeit nachzudenken, um seine Blicke jetzt richtig zu deuten. Gibt es noch etwas, was du wissen willst?"

Die Kutsche schoss durch die Nacht und brachte Altrouis weiter weg von der Stadt, die mehr, als nur sein Leben zerstört hatte.
Allerdings war er der einzige, der das nicht wusste.

Und plötzlich, sah Amok keinen Sinn mehr darin sich zu ändern.

*
Druck und Leistung halten meinen Körper von außen zusammen. Die Aufträge türmen sich und ich entkomme dieser zähen Masse nicht, die mir die Seele in der Mitte zuschnürt. Ausführen. Nicht versagen. Das System erdrückt jeden, der sein Wohlbefinden sucht, das System hat vergessen, dass die Gesellschaft nicht schützt, wenn ihr Inneres zerbricht. Ich brauche keine Gesellschaft- noch brauche ich ihren Schutz.
Sie widert mich an.
Ihre Mitglieder widern mich an und die Aufgaben, die sie mir auf den Rücken nageln.
Sprich ruhig mit mir, doch deine Worte zerfallen noch bevor sie mein Ohr erreichen.
Ich
hasse es. Ich hasse den Käfig, der mich umgibt. Ich hasse, dass ich so erscheine wie ihr.
*

Ende

Zählt als Patch-Mission.



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Feedback:

Von Ophelia Ziegenberger

21.02.2008 22:00

Ich fand es sehr schwierig, diese Geschichte zu bewerten. Rein technisch betrachtet, von Schreibstil und -Mitteln her, war sie guter Durchschnitt dessen, was es in der Stadtwache zu lesen gibt. Allerdings konnte ich nicht wirklich "warm" werden mit der Erzählung. Einfach gesagt lag das wohl daran, dass sie mir zu düster, zu zerstörerisch auf psychologischer Ebene erschien, für die dargestellten Figuren. Einerseits fand ich es gut gemacht, wie Du Amoks inneren Disput dargestellt und ihn nur sehr langsam wieder hast Fuß fassen lassen. Andererseits - so logisch und nachvollziehbar diese Entwicklung auch gewesen sein mag und so überraschend für den Beobachter, den neuerlichen Rückzug bzw. Amoks Aufgabe war dann doch etwas zu schwer zu verdauen für mich. Dann mag ich es schlicht und ergreifend nicht, wenn Mörder wahnsinnig und dadurch pro forma schuldig sind. Den grünen Schleim und die Erscheinungen verstand ich zwar als Ausdrücke seiner gestörten Wahrnehmung aber etwas mehr Erklärung hätte da nicht gestört - bei der ersten Erwähnung war ich völlig aus dem Konzept gebracht. Der Anfang zog sich etwas in die Länge. Und schlussendlich hatte ich vor allem bei den poetischen (und die waren wirklich hervorragend formuliert!) Einschüben zu Beginn, Mitte und Schluss den extrem unangenehmen Eindruck, eine überhebliche Person würde auf mich herabsehen und mich als Abschaum klassifizieren. Darin lag wohl auch mein größtes Problem mit der Geschichte; rein vom Verstand her weiß ich natürlich, dass es diese "Person" nicht gibt und ich mich nicht angegriffen fühlen muss bzw. sollte. Meine Gefühle aber widersprechen aller Logik zum Trotz. Das Ende unterstreicht diesen Eindruck dann noch einmal derart heftig, dass ich erst einmal mit gerunzelter Stirn zurück gelehnt vor dem Monitor saß und mir selber klar machen musste, dass das nicht wirklich deine persönliche Meinung als Autor zu mir als deiner Leserin sein konnte, da wir uns ja sehr gut kennen und ich Dich als lieben Kerl kennengelernt habe, der sehr umsichtig mit dem umgeht, was er sagt. Die Diskrepanz zwischen Wissen und Fühlen, die nach dem Lesen blieb, hat mich lange mit mir ringen lassen, eine Kritik zu schreiben. Aber ich hoffe, dass Du sie nicht falsch verstehen wirst. Denn genau diese Diskrepanz zeigt auch, dass Du etwas Unabhängiges geschaffen hast, was für sich spricht. Was ich sehr gut fand, das war die eingearbeitete Idee, des fehlgeleiteten Anwerbers. Du hast es sehr gut geschildert, wie Amok sich auf seine Aufgabe vorzubereiten versucht und wie er von seiner Menschenkenntnis in diesem Fall im Stich gelassen wird - eben jene größte aller Gefahren seines Jobs.Es würde mich sehr freuen, wenn es Amok besser ginge - aber das ist ein Anliegen, was sich bei mir auf viele der hier beheimateten Figuren und Nebencharaktere bezieht; ich mag Eure Schöpfungen nun einmal viel zu sehr, als dass ich sie leiden sehen mag. Bis auf den einen... oder anderen. ;)

Von Frän Fromm

21.02.2008 22:00

Wie die Thematik behandelt wird gefällt mir gut. Dazu passend auch die Formulierung, wodurch ich mir die Situationen/Gefühle/den Blick auf die Gesellschaft bildlich gut vorstellen konnte. Die Charakterdarstellung ist ebenfalls gelungen. Sehr schön :)

Von Septimus Ebel

21.02.2008 22:00

Hallo Amok!Deine Geschichte hat mir wirklich gut gefallen. Du hast dich bei der Beschreibung der Stadt um sprachliche Kreativität und Innovation bemüht, was dazu geführt hat, dass ich die Single gerne gelesen habe und den Ekel deines Protagonisten gut mitfühlen konnte. Dein Schreibtstil macht Lust zum weiterlesen. Außerdem haben mir das Monster und die Sache mit dem grünen Schleim sehr gut gefallen. Vor allem das erste Wort dieses Viehchs. Sehr gelungen fand ich auch die Begegnung zwischen Amok und Altrouis - ein schönes Zwischenspiel. Grundsätzlich glaube ich, deinen Charakter durch diese Single besser kennen gelernt zu haben. Allerdings könntest du versuchen deine nächste Single - auf die ich sehr hoffe - etwas kürzer zu gestalten und vor allem jemanden Korrektur lesen zu lassen.Weiter so!Septimus

Von Kathiopeja

21.02.2008 22:20

Also mir persönlich war es ein Vergnügen deine Single zu lesen und ich habe mich dann doch geärgert, es erst so spät getan zu haben. ;)

Der Schreibstil passte ausgezeichnet zur Thematik und ich möchte Ophelia widersprechen, was den Wahnsinn dieses Charakters angeht. Ich würde ihn nicht direkt als wahnsinnig bezeichnen, er hat eben einfach seine Wahrnehmungsstörungen und der Schlag auf den Kopf hat ihm offensichtlich nicht gut getan.

Es ist auch immer mal wieder schön, wenn die Wache am Ende nicht bekommt, wen sie sucht.

Die Parallelen zwischen Amok und Altrouis hättest du wohl etwas mehr ausbauen können.

Einige Szenen mit Amok ließen mich schmunzeln, zB irgendwie auch die, in der er auf den Mörder trifft. Das hat den doch recht schweren Tobak etwas aufgelockert.

Leider muss auch ich einige Grammatik- und Rechtschreibfehler bemängeln, die mehrmals auftraten und so doch irgendwie störten.

Von Ophelia Ziegenberger

24.02.2008 14:02

:) Ich dachte es mir schon. ;)

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