Der Raub der Rosaroten Brille

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von Gefreiter Septimus Ebel (RUM)
Online seit 13. 08. 2007
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 Außerdem kommt vor: Ayure Namida

Carlos Altgenug ist ein Waisenkind. Nun versucht er, die Identität seiner Eltern herauszufinden. Mit der Hilfe von Ayure Namida und Septimus Ebel gelingt es ihm, eine Spur zu finden. Gerade im richtigen Moment für den neuen Papa.

Dafür vergebene Note: 11

Das Spin ist eines der jämmerlichsten Casinos in Ankh-Morpork. Dies ist ohne Zweifel auf die kleine Spielpalette, den unterdurchschnittlichen Kundenservice und die Auszahlungen, auf die man sehr lange warten kann, zurückzuführen. Auch die Küche und die Ausstattung erreichen nur mühsam einen ausreichenden Standard, was die Gäste weder bemerken noch zu schätzen wissen.
Ein Casino gilt als schlecht, wenn der Besucher immer leer ausgeht. Die Besitzerin des Spins sieht das anders. Das Einzige, was sie ihren Gästen schenkt, sind die kleinen Salzgebäcke an der Theke und das auch nur, weil sie den Spielern Durst machen. Mehr könnte sie sich auch nicht leisten, schließlich muss sie sich mit ihrem Keller-Casino irgendwie über Wasser halten. Trotz der geringen Erfolgschancen kommen immer wieder Kunden. Der rauchgeschwängerte Raum ist Aufenthaltsort für viele Zwerge, Trolle und Menschen geworden, die an der Bar sitzen, spielen oder ziellos umherschlendern. Auf der Tanzfläche verrenken sich einige Wagemutige bei Tänzen, von deren Namen sie nie gehört haben und die sie auch nicht beherrschen. Der Barkeeper sieht desinteressiert in der Gegend herum, und wischt teilnahmslos den Tresen. Eigentlich ist alles so, wie es sich gehört. Abgesehen von einer ... die Besitzerin des Spins sucht nach dem passenden Ausdruck ... eine Kleinigkeit ist es nicht. Eine Schweinigkeit ... ja, das gefällt ihr. Ein unwissender Beobachter hätte es ein asmatisches Röcheln genannt, aber die Dame lacht, sie lacht über ihre unglaublich ausgeklügelte Wortneuschöpfung. Dann verstummt sie und zieht energisch an ihrer Zigarette. Nein, es geht um etwas Ernsthaftes, es geht um Geld.

An einem ihrer Spieltische sitzt George Gammel und gibt schmierige Karten aus. Es ist eine warme Nacht, sein ärmelloses Hemd, das ursprünglich mal die Farbe weiß hatte, spannt sich feucht über seinen Bauch. Über das Hemd hat er ein löchriges graues Jackett geworfen, das der Schweißproduktion nicht besonders gut entgegenwirkt. Der Schweiß tröpfelt seine lange Nase herunter und sammelt sich in dem Schnurrbart. Auch die wenigen grauen, an den Seiten seines Kopfes übrig gebliebenen Haare, lässt das salzige Wasser an der Kopfhaut pappen. Die Kunden stört sein Auftreten wenig, sie sind damit beschäftigt, herauszufinden, warum sie immer verlieren.
"Ich lös dich ab." Hauer tippt George unsanft auf die Schulter. Er ist Frau Abziehers Sicherheitsmann. Eigentlich weiß niemand wirklich viel über Hauer. Er ist ziemlich jung für diesen Job, etwa Mitte zwanzig, und behauptet viele Bücher über Anatomie gelesen zu haben, um sich auf seinen Job vorzubereiten. Seine Haare widerstehen der Hitze und kleben nicht an seinem Nacken, sie sind lang, lockig und hellbraun. Unter Frauen gilt Hauer als Schönling. Allerdings verbringt keine Frau mehr als eine Nacht mit ihm, da er sich grundsätzlich als sadistisches Sensibelchen herausstellt. Hauer ist für die grobe Arbeit zuständig, die in Frau Abziehers Betrieb schon mal anfällt. Es ist kein guter Hinweis auf eine blühende Zukunft, wenn Hauer einem auf die Schulter tippt.
"Jetzt schon?" George sitzt erst eine halbe Stunde am Tisch. Dass er schon abgelöst werden soll, ist ebenfalls kein gutes Zeichen.
"Frau Abzieher will dich sehen", antwortet Hauer und grinst schadenfroh.

*


Ayure Namida betrat das Büro und schlug abwesend die Türe hinter sich zu. Sie bahnte sich einen Weg durch das Dickicht von Papieren auf dem Boden, ohne von ihrem Buch, das sie in der rechten Hand trug, auch nur einen Augenblick lang aufzusehen. Ein wenig traumwandlerisch, automatisiert, wirkten ihre Bewegungen auf den Gnom, der sie beobachtete. Er fand es faszinierend, dass diese Frau gebundenes Papier fast schon verehrte, während sie kein Problem damit hatte auf losen Blättern herumzutrampeln. Eigentlich wartete er den Moment ab, in dem er sich dafür bedanken konnte, dass sie ihn aus seinem mühevoll erarbeiteten Schreibfluss herausgerissen hatte. Das meinte er selbstverständlich ironisch. Er wusste, dass es keinen günstigen Moment gab, um Ayure beim Lesen zu unterbrechen. Es machte keinen Unterschied, welchen Moment man erwischte, sie waren alle ungünstig.
"Hey, Ayure!"
Das war der erste Versuch, der klappte nie. Die Antwort war dann immer ein geistesabwesendes Mh.Mh.
"Mh.Mh."
Da hilft nur eins. Augenkontakt unterbrechen. Septimus nahm einen Notizblock und warf ihn genau auf das ausgeklappte Buch in Ayures Hand.
"Ey!" Sie blickte empört auf.
"Ach", sagte Septimus. "Hallo, übrigens."
"Ja. Hallo. Und Guten Tag und alles. Tut mir Leid", antwortete sie. "Ich hab hier was Wichtiges, weißt du?"
Septimus sah sie strafend an.
Sie beschloss sich auf ein kurzes Gespräch einzulassen und dann weiter zu lesen. "Na? Was gibts Neues?"
"Ich schreibe gerade einen Brief an den Patrizier."
"Schon wieder?"
"Ja, schon wieder."
"Und worum geht es diesmal?"
"Ich fordere ihn in dem Brief auf, einen Luftreinhalteplan aufzustellen."
"Aha."
"Willst du mehr darüber wissen?"
Nein.
"Ja." Die Frage zu verneinen hätte überhaupt keinen Sinn gehabt, er hätte ohnehin nicht aufgehört zu sprechen.
"Ich lese es dir vor." Stolz hob der Gnom den Brief auf und holte tief Luft. "Höchst geehrter Lord Veterinari, die Umweltschutzorganisation B.A.U.M. fordert schärfere Grenzwerte von schädlichen Ämissionen."
"Was meinst du mit Ämissionen?", fragte die Gefreite nach. Ihre Augen wanderten unwillkürlich wieder in Richtung des Buches.
"Abstoßungen", erklärte Septimus. "Äh. Ausstoßungen. Schädliche Gase und so. In dieser Stadt wird daran so einiges produziert. Die verbrennen hier ja alles!" Dann fuhr er fort zu lesen. "Um das zu erreichen, sind Eure Lordschaft aufgefordert einen Luftreinhalteplan zu verabschieden. Denn zum Schutz der Gesundheit und der Natur wird von B.A.U.M. ein Stickstockoxid der Ein-Stunden-Grenzwert von 200 Mikrogramm pro Kubikmeter vorgeschlagen, der nicht öfter als 20 mal im Jahr überschritten werden darf. Insbesondere beinhaltet so ein Luftreinhalteplan die Einrichtung einer Umweltzone, welchen bestimmten Gewerben mit hoher Beteiligung an den schädlichen Dämpfen der Aufenthalt verweigert wird. Vielen Dank im Voraus. Ihr B.A.U.M.[1]"
"Sehr höflich", kommentierte Ayure.
"Ja, nicht?"
"Glaubst du wirklich, du hast Erfolg damit?" In ihrer Stimme lag kein Spott.
Der engagierte Umweltschützer fragte sich schon lange, wie der Patrizier es zulassen konnte, Gangstertypen, zwielichtige Tagelöhner, die Proleten der Fabrikwelt und die Zahltagssäufer in die Stadt zu lassen, die wie ein Rattenschwanz die Aufmerksamkeit der Wache nach sich zogen. Die Antwort war selbstverständlich Geld. Ein unverstellter Blick auf die Welt, wie sie war - öde, finster, hässlich und gnadenlos. Was treibt mich eigentlich an? Seine Gedanken wie von Furien gehetzt, sein Ziel unerreichbar. Er wusste, dass er sich mit Arbeit betäubte - wie sonst sollte er diese steinerne Wüste ohne jedes Grün vergessen? Nein, er streckte sein Rückrat. Es war wichtig, was er hier machte. Sein Kampf gegen die egoistisch Missachtung der Existenzgrundlage des Lebens war weder töricht noch sinnlos.
"Nein." Er zuckte die Schultern. "Aber probieren muss ich es." Er wechselte schnell das Thema. Mit Ablehnung konnte er umgehen, auch mit Spott. Die Leute lachten. Na und? Aber Mitleid war ihm unerträglich und Mitgleid war es, was in Ayus Stimme gelegen hatte. "Und was gibt es bei dir so Wichtiges?"
"Mir geht ein Fall nicht aus dem Kopf."
"Deswegen liest du dieses Buch?"
"Nein. Ähm. Ja. Sozusagen als Extra-Recherche."
"Worum geht es? Raub oder Mord?"
"Raub. Aber die Sache ist schon erledigt. Eigentlich ein kleiner Fall."
"Wo ist das Problem?"
"Ich will ihm helfen."
"Wem?"
"Dem Täter."
Der Gnom stutzte. Aus seinem umfassenden Vokabular wählte er den Ausdruck: "Aha."
"Es ist ein Junge. Na, eher ein Halbwüchsiger."
"Ein Zwerg?"
"Nein, ein Vierzehnjähriger. Er hat vor zwei Tagen eine Akte aus dem Kinderheim "Krähennest" gestohlen. Hat sie der Bürohilfe einfach aus der Hand gerissen und bei der Flucht einen Wärter leicht verletzt. Er war nicht besonders schwer zu finden. Die Dame an der Rezeption, Michaela Abt-Frommherz, konnte sich an ihn erinnern. Er hat acht Jahre seines Lebens in diesem Loch verbracht."
"Was wollte er mit dieser Akte?"
"Seine Eltern finden."
"Mh." Der Gefreite nickte nachdenklich. Er hielt sich für einen praktisch veranlagten Gnom, der mehr klaren Verstand als Herz besaß und eher wachsam war als zu Träumereien aufgelegt. Dementsprechend schätzte er die Chance auf einen Erfolg der Suche sehr gering ein.
Ayure seufzte und legte das Buch auf ihren Schreibtisch. "Ich habe beschlossen ihm zu helfen", verkündete sie.
"Warum das?", fragte Septimus.
"Weiß nicht. Er ist ziemlich bockig und so. Aber ich glaube irgendwie, er hat es verdient und allein wird er das nicht schaffen."
"Mh."
Eine kurze Weile schwiegen sie.
Septimus faltete seinen Brief und verfrachtete ihn in einen Umschlag. "Wahrscheinlich gibt es keine Hinweise auf die Eltern, oder? Sonst würdest du nicht hier sitzen, sondern bereits getrennte Familien wieder glücklich vereinen."
"Sehr witzig." Es gab Tage, da ließ sie sich auf die Provokationen des Gefreiten ein. Heute war nicht so ein Tag. Andere Dinge waren wichtiger. Sie beachtete seine Bemerkung nicht weiter. "An die Akte aus dem Heim komm selbst ich nicht dran. Recherchiere ja auch eher privat. Die Informationen sind für Nicht-Angehörige und den Betreffenden selbst, bis er volljährig ist, nicht zugänglich. Der Junge, er heißt Carlos Altgenug, konnte nur einen Blick in die Dokumente werfen. Er hat den Namen seiner Mutter gefunden: Johanna Altgenug. Ich habe sonst nichts."
"Immerhin." Er griff tief in einen Papierstapel und fische eine Briefmarke hervor, die er ausführlich mit Speichel benetzte.
"Ach, das bringt mich überhaupt nicht weiter. Bis jetzt hat niemand, den ich gefragt hab, von ihr gehört."
"Na ja", machte Septimus und wollte dabei aufmunternd klingen. "Probieren musst du es." Er pappte die Briefmarke auf den Brief und seufzte auch. "Rede doch noch mal mit dem Kleinen", schlug er vor. "Vielleicht erinnert er sich an irgendwas."
"Mh", machte diesmal Ayure. "Ich hatte gehofft, du könntest das für mich machen."
"Was? Wie kommst du darauf?", der Gnom sah sie überrascht an. "Und warum überhaupt?"
Sie wich seinem Blick aus. "Du bist mir noch so einige Gefallen schuldig", verteidigte sie ihr Anliegen. "Oder muss ich dich an die Situation in der Kantine erinnern, als die anderen kurz davor waren dich zu ..." [2]
"Nein, musst du nicht!", unterbrach er sie schnell. "Ich mach es ja." Septimus wollte, aber konnte nicht ablehnen. So etwas hätte seine eigene moralische Autorität untergraben.
Sie hatte gehofft, dass er nicht weiter auf das Warum eingehen würde.

*


George blieb keine andere Wahl. Er ging in die Ecke des Raumes neben der Bar, in der die Casinobesitzerin in einem Samtsessel saß, der genau so rot war wie ihr abstehendes lockiges Haar. Hauer war ihm gefolgt und positionierte sich hinter dem Sessel. George setzte sich auf einen im Vergleich karg wirkenden Holzstuhl.
"Besorg dir was zu trinken, George", sagte Frau Abzieher ruhig.
"Ich trinke nicht während der Arbeit am Tisch, Frau Abzieher", erwiderte George.
"Du arbeitest nicht mehr am Tisch, George."
"Du meinst den Typ von gestern Abend? Das war wirklich nur eine Glückssträhne." George rutschte nervös auf dem Stuhl herum.
"50.000 Dollar auf meine Kosten sind keine Glückssträhne", sie blieb immer noch ruhig, nicht einmal ein Zittern lag in ihrer Stimme. Lediglich das übliche Krächzen. "Hauer, erklär ihm die Regeln. Fang gleich mit der ersten an."
"Niemand geht hier raus mit dem Geld von Frau Abzieher", Hauer grinste. In seinen Augen blitzte es auf.
"Er hat mich die ganze Zeit genau beobachtet", verteidigte sich Gammel, "Ich konnte die Würfel nicht tauschen."
"Vielleicht wolltest du das auch gar nicht, vielleicht war er ja ein Freund von dir", warf ihm Frau Abzieher vor und es hörte sich nicht so an, als könnte irgendwer auf der Welt das Gegenteil behaupten. Zumindest nicht ein zweites Mal.
"Du kennst mich doch besser", lächelte George verunsichert, "Ich habe keine Freunde, für die ich so etwas tun würde."
"Oh. Wie schade für dich. Wir glauben dir nämlich nicht." Sie zog an ihrer Zigarette. "Sag ihm, warum wir ihm nicht glauben, Hauer."
"Der Abzocker von gestern Abend ist verschwunden. Einfach so. Hat sich nicht mal in seinem Hotel ausgecheckt."
"So ein Schweinehund![3]", entfuhr es George.
"Mh.Mh." Frau Abzieher nickte. Nach Gammels verräterischer Reaktion wurde ihre Stimme wesentlich unsanfter. "Wenn du mit ihm zusammengearbeitet hast, ist er auch dir entschlüpft. Klär ihn über seine Pflichten auf, Hauer."
Hauer machte einen Schritt an dem Sessel vorbei. "Die 50 Riesen gehen auf deine Kappe, denn du bist für deinen Tisch verantwortlich."
George schluckte. Seine Augen wurden groß.
"Das heißt, du schuldest mir ein bisschen was", erläuterte die Dame.
"50.000 Dollar sind ne Menge", presste Gammel hervor.
"Ja, darum geht es, George. Ich seh schon, du hast mich verstanden." Sie lächelte künstlich. Hauer begann George drohend zu umkreisen.
"Ich ... Ich brauche etwas Zeit."
"Ja, klar, das versteh ich auch. Sag ihm, wie viel Zeit er hat, Hauer."
"Kannst du bis fünf zählen?" Er packte Georges Hand und hielt sie ihm vor das Gesicht. Gammel nickte panisch. Hauer deutete nacheinander auf jeden Finger und zählte genüsslich bis fünf. "Du hast fünf Tage."

*


Ayure organisierte noch am gleichen Tag ein Treffen zwischen dem Verdeckten Ermittlerin und dem Jungen. Der Treffpunkt war der Hier-Gibts-Alles-Platz. Der Kleine [4] kam zu spät. Er entpuppte sich aus Sicht des Gnoms als 1 Meter 60 großer Rotzbengel mit kurzen blonden Locken, blauen schelmisch blitzenden Augen und einem frech hervorstehenden Kinn. Da stand er, die große Nummer - einer, der von sich dachte, dass ihn keiner aufhalten könne, dass er sich alles erlauben könne. Doch da war noch etwas. Etwas, dass der Junge niemals eingestanden hätte. Unter seinem selbstsicheren Gehabe trug er, ob bewusst oder unbewusst, eine ungenierte Hilflosigkeit mit sich herum. Das war es, was Ayure gemeint hatte. Er wird es nicht alleine schaffen.
"Hi", sagte Carlos und blickte auf Septimus herunter. "Bist du der Kerl, den Gefreite Namida schicken wollte?"
"Ich bin Gefreiter Septimus Ebel. Nicht irgendein Kerl", entgegnete der Gnom trocken.
"Was ist das?", der Junge deutete auf die Begleitung von Septimus.
"Hast du in der Schule keinen Biologie-Unterricht? Er ist klar als Frosch zu identifizieren. Dieser Frosch hat eine Hirnspruktur, die deiner nicht unähnlich ist. Also behandle ihn mit ein wenig Respekt!"
"Ich bin nicht so oft in der Schule", antwortete Carlos stolz. Von den Dingen, die er im Heim gelernt hatte, war ein kleiner Teil trockener Schulstoff, der Rest war das Leben selbst.
"Das ist nicht gut!", wies der Gnom ihn zurecht. "Ich wäre lieber ein kluger Mönch als ein dummer Patrizier."
"Warum bist du dann kein kluger Mönch?"
Septimus Lippen wurden etwas schmaler. "Das ist eine andere Geschichte", wehrte er ab und wusste selbst nur ansatzweise, was er damit meinte.
"Haben wir etwa schlechte Laune?", fragte der große Kleine neugierig.
"Grundsätzlich", konstatierte der Gnom.
"Ja, schon klar", Carlos sah sich unruhig um, als sei er ein sehr beschäftigter Mensch und könne sich nur wenig Zeit für eine so unwichtige Konversation nehmen. Diesem Zeitdruck, ein kognitiver Irrtum, schien auch sein Sprachtempo zu unterliegen. Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. "Wirst du mir helfen, mh?"
"Wäre ich sonst hier?" Der Gefreite hob eine Braue abschätzend hoch. Er wollte den "Kleinen" direkt in seine Schranken weisen. "Du musst mir ein paar Fragen beantworten. Wir brauchen mehr Anhaltspunkte, wenn wir deine Eltern finden wollen."
"Von mir aus", Carlos zuckte die Schulter, als würde er sich wenig dafür interessieren, schielte aber gleichzeitig interessiert auf den Notizblock, den der Gnom aus der Tasche zog.
"Wo wohnst du?", fing Septimus an.
"Überall und Nirgendwo", antwortete der Junge und grinste frech. Nach einem Leben ganz unten auf der gesellschaftlichen Karriereleiter, hatte Carlos sich einen Panzer aus Dreistigkeit und Verachtung für die Meinung anderer zugelegt.
"Von mir aus." Der Gnom seufzte. Er warf den Kopf in den Nacken und starrte in den grauen Himmel, als fände er dort die Worte, mit denen er sich verständlich machen konnte. Langsam, jedes Wort betonend, sagte er: "Wo kann man dich finden, wenn man dich sucht?"
"Ich häng ziemlich oft bei den Makks rum. Die haben einen Antitiquäten-Laden in der Ankh-Straße. Sehr korrekte Leute."
"Hausnummer?"
"Neun."
"Stand irgendetwas in dieser Akte, was du noch nicht wusstest?", erkundigte sich der momentan unverdeckte Verdeckte Ermittler.
"Das weiß ich nicht!", antwortete Carlos motzig. "Ich konnte sie nur überfliegen. Da stand nur: Johanna Altgenug. Verstorben."
"Und du glaubst, das war deine Mutter?"
"Das weiß ich nicht." Der Junge atmete schwerer, das Thema fiel ihm nicht leicht. "Ich wusste nur, dass sie tot war. Ich kann mich erinnern ... ich war noch ganz klein." Seine Stimme klang plötzlich verträumt, als hätten seine Gedanken kurz die Brücke zur Gegenwart zerschlagen. Dann sprangen sie wieder ins Jetzt und wurden zornig: "Verdammt, in dieser Akte stand so viel über meinen Vater! Aber dieser Wächter ist mir ja dazwischen gekommen."
"Was weißt du denn über deinen Vater?", forschte Septimus nach.
Jahr für Jahr sehnte sich Carlos nach seinem Vater und bettelte Frau Abt-Frommherz immer wieder an, ihn besuchen zu dürfen. "Willst du wohl still sein?", bekam er immer als Antwort. "Und wann kommt er wieder?", fragte er ein ums andere Mal. "Ach, er ist nichts wert, Kleiner. Überhaupt nichts. Geh jetzt spielen", entgegnete sie ihm. Das tat er auch, aber immer hielt er Ausschau. Er musste ja nur warten.
"Na, ja. Er war noch verheiratet mit ...", er zögerte kurz ihren Namen auszusprechen, als handele es sich dann tatsächlich, unwiderruflich, um seine Mutter. "Johanna ... als sie starb. Das heißt wohl, dass dieser Mann mein Vater ist."
"Wenn es so wäre, hätte er nicht schon längst mit dir Kontakt aufgenommen?"
Das darauf folgende Schweigen kann als ein erneuter Beweis für das fehlende Einfühlungsvermögen des Gefreiten angeführt werden. Der Rückzug eines Vaters ist schmerzlich für jeden, schmerzlich wie eine verebbende Welle, die am Strand leere Muscheln und Tang zurücklässt, Vergangenheit und Zukunft, verwischt und unleserlich. Wer außer der Flut hätte ihm beibringen können, was der Unterschied zwischen einem starken und einem gesunden Willen, zwischen den Selbstgerechten und den Gerechten ist?
"Ich hab dich nicht um Hilfe gebeten, ja?", Carlos verschränkte die Arme vor dem Brustkorb.
"Schon gut." Der Gnom zuckte gleichgültig mit den Schultern. Gleichgültigkeit fiel ihm, was Menschen anging, nicht schwer. Er bluffte und wandte sich zum Gehen.
"Schon gut." Der Junge lenkte ein. "Ich, ich brauche immer ne Weile bis ich jemanden um Hilfe bitte", erklärte er in entschuldigendem Tonfall. "Verdammt." Er trat nach einem Kiesel. "Vielleicht hat er ja versucht mich zu finden. Keine Ahnung. Is doch auch egal. Jeder sollte das Glück haben, seinen Vater zu kennen."
"Nicht immer ist das ein Glück." Der Gefreite drehte sich seinem Gesprächspartner wieder zu. "Ich kenne einige Menschen, die gern darauf versichtet hätten, ihren Vater kennen zu lernen", unterwies er ihn.
Carlos nickte. "Du meinst, es könnte mir nicht gefallen, was ich finde. Ich muss es trotzdem probieren. Das Risiko geh ich ein. Ich bin schließlich alt genug."
Septimus wollte dem Jungen keine zu großen Hoffnungen machen. "Es muss einen Grund geben, warum dein Vater noch nie Kontakt zu dir aufgenommen hat."
"Jaha", macht Carlos und dehnte die Laute, um zu betonen, dass der Gnom Salz in eine metaphorische offene Wunde streute.
Dieser überging den Hinweis und fragte weiter: "Erinnerst du dich an irgendetwas aus der Zeit bevor du ins Waisenhaus gekommen bist?"
Der Junge überlegte einen Moment lang. "Nein", schloss er aus der Wartung seines inneren Archivs, "Gar nichts. Nur bruchstückhaft an eine Frau."
"Deine Mutter? Johanna Altgenug?"
"Keine Ahnung ... aber ... das wird sie wohl gewesen sein. Seltsam ... ich kann mich nicht an ihr Gesicht erinnern, aber daran, dass wir oft zur Post gegangen sind. Und wie sie roch."
"Warum hast du dir die Post so gut gemerkt?", fragte der Gnom.
"Mh", wieder dachte er nach. "Ich weiß noch, dass es nebenan direkt im Laden Süßigkeiten gab. Der Ladenbesitzer war ein netter alter Mann. Er hieß ... Greifzu. Das weiß ich, weil ich immer Probleme hatte, den Namen auszusprechen und er das wahnsinnig witzig fand. Meine Mutter kaufte mir Süßigkeiten und Herr Greifzu schenkte mir so kleine Heftchen, obwohl ich gar nicht lesen konnte."
"Warum erinnerst du dich so gut an gerade diesen Süßigkeiten-Laden?"
Der Blick des großen Kleinen schweifte weit in die Ferne. "Irgendwann einmal fiel Mama auf dem Boden, als wir bei Herr Greifzu waren. Sie hat kurz gezuckt. Dann hat sie sich nicht mehr bewegt. Nie mehr. Als ich sie verlor ... das war, als würde jemand aus dem Grab nach ihr greifen und sie reinziehen, aus reiner Bosheit." Er war fünf, als er das erste Mal erfuhr wie plötzlich und wie bodenlos Einsamkeit sein kann.
Septimus schluckte schwer. Dann fragte er unbeirrt weiter: "In welcher Straße lag dieser Laden?"
"Da fragst du mich zuviel!"
Der Ermittler schrieb sich Herr Greifzu. Süßwaren-Handel auf seinen Block.
Carlos las die Zeile und schüttelte den Kopf. "Der war damals schon ziemlich alt", sagte er. "Müsste längst den Löffel abgegeben haben."
"Wir werden sehen", antwortete Septimus. "Du sagtest, dein Laden war in der Nähe einer Post."

*


Dies wäre eine geeignete Stelle, um ausführlich die Suche der drei zu beschreiben. Doch, da der Leser nicht mit dieser antiquierten Erzählweise gelangweilt werden soll, macht die Geschichte hier einen Zeitsprung von 1 1/2 Tagen. Die Figuren, wüssten sie davon, wäre empört ihr Leid auf eine solche Weise übergangen zu sehen. Sie haben schließlich ziemlich viele Stunden dafür geopfert, Herrn Greifzus Spur hinterherzuhecheln. Ihre wunden Füße seien mit dieser Erwähnung honoriert. Aber ... fahren wir fort:
Carlos hat inzwischen Herrn Greifzu gefunden. Auf einer Bank im Hide Park sitzend, in ein Schachspiel vertieft. Das Gespräch lief folgendermaßen ab:

Carlos sprach den alten dünnen Herrn an: "Herr Greifzu?"
"Jawohl, mein Sohn", antwortete der Alte gut gelaunt. Er war kurz davor zu gewinnen. Aber das hatte Zeit. Er blickte auf.
"Mein Name ist Carlos Altgenug", stellte Carlos Altegnug sich vor.
"Erfreut, dich kennen zu lernen."
Der Junge setzte sich.
"Du hattest früher einmal einen Süßwarenladen am Mondweg, nicht wahr Herr Greifzu?"
"Jaha", verkündete Herr Greifzu stolz. "Dreizig Jahre lang. Habe ihn letztes Jahr verkauft. Jetzt ist es so eine Art Spielhölle."
"Ich erinnere mich an ihren Laden, bin als Kind oft dagewesen."
Herr Greifzu lächelte.
"Sagt dir der Name Johanna Altgenug etwas, Herr Greifzu?"
"Johanna? Ja, natürlich." Der Alte blickte wieder ernst, er schien berührt. "Das ist schon ziemlich lange her." Dann zeigte er mit dem Zeigefinger auf Carlos. "Plombenzieher!!" Er erinnerte sich. "Du hast Plombenzieher geliebt, oder?"
"Ja."
"Du warst ein süßer kleiner Junge."
Carlos wurde rot.
"Johanna hat jeden Freitag bei mir eingekauft."
"Du hast ein sehr gutes Gedächtnis, Herr Greifzu." Wenn Carlos eines in der Informationsbeschaffung gelernt hatte, dann, dass Schmeicheleien die Gedächtnisse von Erwachsenen in einen extrem abrufbereiten Zustand bringen konnten. Was das anging, hatte er sich seinen Gästebucheintrag im Hotel Heuchelei bereits mehrmals verdient.
"Ja ja", schwadronierte Herr Greifzu. "Damals wurde Kundenfreundlichkeit noch groß geschrieben. Der Stammkunde war bei mir immer König. So habe ich Geschäfte gemacht." Sein Zeigefinger deutete auf sich selbst. "Ich erinnere mich an Johanna, als wäre es gestern gewesen. Sie ist vor mir zusammengeklappt, in meinem Laden. Sie hatte eine Krankheit im Gehirn." Er deutete auf seine Schläfe. "Sie war gerade erst dreißig Jahre alt."
Schweigen.
"Tja, mein Junge. "Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass sie dich in ein Waisenhaus gesteckt haben."
"Gab es auch einen Herrn Altgenug?", traute Carlos sich zu fragen.
"Oh." Der Alte hob eine Braue. "Natürlich. Aber die beiden hatten sich getrennt. Ich sehe Herbert noch ab und zu."
Carlos sprang auf. "Er lebt? In dieser Stadt?"
"Soviel ich weiß, ja. Er hat im Hotel Zum-Faulen-Horst gewohnt, an der Billig-Straße."

*


Während Septimus sich wieder auf den Weg ins Wachhaus gemacht hatte [5], hatten Ayure und Carlos das Hotel Zum-faulen-Horst ausfindig gemacht. Der Tag neigte sich seiner lichtloseren Hälfte zu. Trotzdem war die Billig-Straße hell erleuchtet. Die Planer hatten wohl gedacht, dass man die Bewohner von dunklen Machenschaften abhalten müsse, indem man die Zahl der Straßenlaternen verdoppelte. Das Hotel-Gebäude sah ungepflegt, heruntergekommen und irgendwie schmierig aus.
"Das riecht nach Ärger", kommentierte Carlos, der sich mittlerweile für einen Hilfspolizisten hielt, in gespielt dunkler Tonlage. Er setzte eine profesorenmäßige Miene auf und erklärte: "Sieht verdammt unauffällig aus."
Ayure spielte mit. "Unauffälliger gehts gar nicht mehr." Sie seufzte. Der Tag war lang gewesen. "Na, komm. Gehen wir rein."
"Nein", sagte Carlos plötzlich und seine Stimme schwoll an mit Heldenstolz. "Er ist mein Vater. Ich sollte das allein erledigen. Ich bin schließlich - "
"Alt genug?", vollendete die Ermittlerin den Satz und in ihrer Stimme klang ein leichter Zynismus mit. Carlos, so dachte sie, hatte keine Wurzeln, keine Vergangenheit außer seiner eigenen. Das Reich all dessen, was ihm unbekannt war, wovon er nie gehört hatte, war grenzenlos. Gleichzeitig war er fähig, das, was er wusste, äußerst gekonnt umzusetzen; auch wenn es meist eine sehr eigene Interpretation der Dinge war. Er war zu vielem fähig. Aber gerade das war das Überzeugende an ihm. Und man musste jedes junge Ding bewundern, das auf der Straße überlebte, ohne eine andere Waffe als den Verstand zu besitzen. Sein mutiger Blick, sein etwas hinterhältiges Lächeln, seine Bereitschaft sich jeder Schwierigkeit zu stellen, nahmen sie für ihn ein. Obwohl sie Kinder eigentlich nicht besonders gut leiden konnte. und da gab es noch eine Parallele ... "Tja, es liegt an dir."
Der Kleine überlegte.
"Ähm, Gefreite Namida?"
"Ja, Carlos."
"Ich hätte dich gerne dabei, Mäm. Aber könntest du dich im Hintergrund halten?"
"Du bist ein Rotzbengel, Carlos", antwortete sie kühl. Dann lächelte sie warm, ohne zu wissen, wo sie die Kraft dafür hernahm. "Geh schon."


*


Vor seinem Miniatur-Gewächshaus stehend kicherte Septimus im Licht der untergehenden Sonne leise in sich hinein. Sein Vorstellungsvermögen war mal wieder in Höchstform. Vor seinen Augen veränderten sich die zarten Pflanzen. Er fand sich in einem Wald wieder, der ihn vor Begeisterung sabbern ließ: Pacabäume, wie man sie mächtiger nie gesehen hatte, Ahornstämme, die sich in fünf oder sechs Äste teilten, von denen jeder an Umfang einem ganzen Baum gleichkam, Robinien, Walnussbäume, Eschen und Zypressen, Tannen und Eichen. Es blühte in allen Farben und ein spielerischer Wind fuhr durch die Kronen. Während sein stillvergnügtes Glucksen zu einem gedämpften Lachen anwuchs, dachte er, eigentlich solle er sich schämen. Hier in Träumereien zu sitzen anstatt den täglichen Brief an den Patrizier zu schreiben. Die Bäume brachen zusammen und stürzten wie jähe Opfer eines Herzanfalls, kupferfarbenes Mehl ergoss sich aus ihren Wunden. Septimus sprang zu seinem Sitzkissen, grabschte nach Stift und Papier und begann mit dem gleichen Eifer, den junge Dobermänner beim Training zeigen, zu schreiben.
Als er fertig war, stand der Mond bereits über der Zwillingsstadt. Ihre Lichter ließen ihn verblassen. Selbst der strahlende Vollmond wurde von diesem Ort ruiniert. Er schrumpfte zusammen, hatte nichts mehr gemein mit der silbernen Scheibe, die einst über Septimus und der Bretterbude seiner Kindheit gestrahlt hatte, um ihm das Geheimnis dieser Welt zu zeigen - ihn glauben zu machen, sie wäre sein. Die Welt, wie er sie jetzt kannte, war ständig im Zerfall begriffen, sein Platz darin niemals sicher. Sie wurde belagert, besetzt, verwüstet. Ohne Wachsamkeit, ohne ständige Verteidigung entglitt sie ihm vollends. So nahm er den Krieg, der ihm erklärt worden war, an und kämpfte ihn alleine. Er wünschte sich seinen eigenen Mond.

*


Ayure folgte Carlos mit etwa zwei Metern Abstand. Sie betraten das marode Hotel. Niemand saß an der Rezeption, also beschlossen sie, sich selbst umzusehen. Eine fast lebensgefährlich morsche Treppe führte sie in einen dunklen Gang auf der ersten Etage. Bei jedem Schritt winselten die Dielen wie Welpen. Die Wände waren mit den verschiedensten bunten Mustern und farbenfrohen Kraftausdrücken bekritzelt. Es stank nach inkontinenten Katzen. Ein Mann schlurfte gerade auf das gegenüberliegende Ende des Flurs zu.
Carlos nutzte die Gelegenheit sofort und lief hinter ihm her. "Entschuldige", machte er auf sich aufmerksam.
Der Mann blieb stehen und seufzte auf eine Weise, die deutliche Ablehnung gegen jede Art von Konversation zum Ausdruck brachte.
"Ich suche einen gewissen Herbert Altgenug", beeilte der Junge sich zu sagen.
"Nie von ihm gehört", sagte der Mann träge und drehte sich zu ihm um. Er hatte rechts und links am Schädel noch ein wenig graues strähniges Haar, seine Augen waren von einem nebligen Blau, und sein Schnurrbart ungepflegt. Jetzt bemerkte er Ayure im Hintergrund. "Aber ich lebe erst seit ein paar Monaten hier. Vielleicht hat er vor mir hier gewohnt."
"Ja, schon möglich", sagte Carlos in seinem typisch ungeduldigen Ton. "Kann es sein, dass er dem Vermieter seine neue Adresse hinterlassen hat?"
"Bist du verrückt, Junge? Wenn du hier wohnst, wirfst du deine Miete in den Briefkasten. Die Leute wollen nicht gestört werden, kapierst du?" Der Mann sah ihn eindringlich über seine lange Nase hinweg an.
Ja, Carlos verstand diesen subtilen Hinweis. "Schon klar", antwortete er enttäuscht. "Du kennst ihn also nicht."
"Du bist zu jung, um ein Schnüffler von der Wache zu sein", überlegte der Mann laut. "Was willst du denn von diesem Altgenug?"
"Ich glaube, er ist vielleicht mein ... äh ... Vater", sagte der Kleine.
"Vielleicht?", fragte der Mann kritisch.
"Ich habe meine Eltern nie kennen gelernt", sagte Carlos traurig und hoffte auf lukratives Mitleid. Er benutzte seinen Schmerz wie eine Sammelbüchse.
"Ich sag dir was, Junge", antwortete der Mann. "Ich kannte meinen Vater. Ich würde alles dafür geben, wenn ich dieses Schwein nie gesehen hätte. Vielleicht besser, wenn du deinen nie kennen lernen wirst."
Er fummelte einen Schlüssel aus seinem grauen Jackett und machte sich daran seine Zimmertür aufzuschließen. Plötzlich schrie er wild auf vor Schmerz. Dann fluchte er in einer sehr unanständigen Art und Weise und blickte verärgert auf seine rechte Hand. Der kleine Finger war notdürftig geschient und mit einem vergilbten Verband versehen.
"Was ist denn mit deinem Finger?", fragte Carlos neugierig.
"Hab ihm mir beim Wäschewaschen gebrochen", antwortete der Mann grimmig, während er einen neuen vorsichtigeren Versuch machte, die Tür zu öffnen.
"Sehr witzig." Ayure konnte es sich nicht verkneifen. Es lag bestimmt an einer anderen Art von Drecksarbeit als Wäschewaschen, dass seine Hand so aussah. Entweder er hatte jemanden geschlagen oder jemand hatte ihm den Finger gebrochen.
Bevor der Mann das Zimmer betrat, reichte Carlos ihm noch einen Zettel auf dem stand, wo man ihn erreichen konnte. "Wenn dir Herbert Altgenug über den Weg läuft, dann sag mir Bescheid."
Der Mann warf einen Blick auf die Karte. Sie weckte sein Interesse. "Antiquitäten?", las er. "Ich halte meine Ohren offen."
"Danke. Sag, wie heißt du eigentlich?"
Aber die Tür war schon geschlossen.

*


Kurze Zeit später hämmerte es an der Zimmertür von George Gammel. Er fühlte sich extrem gestört. Oh, nein. Wer ist das denn jetzt!? , dachte er zornig, während er zum Eingang latschte. Die Tür öffnete sich.
"Wie geht es deinem Finger, George?", fragte eine Stimme, aus der sich deutliche Vorfreude entnehmen ließ. Hauer grinste. Er gab Gammel einen kräftigen Schubs, trat ungebeten in die Wohnung und schloss die Tür hinter sich.
"Tut verdammt weh", presste George zwischen den Zähnen hervor.
"Na, das macht mich ja richtig glücklich", trällerte Hauer. "Unterhalten wir uns doch ein bisschen." Der Schläger packte sich George und schmiss ihn in einen staubigen Sessel. "Weißt du, welcher Tag es ist, George?"
George nickte. "Tag zwei."
"Und du weißt, was Tag zwei bedeutet?"

*


Zu seinem Glück verfügte der Junge über jenes Geschick, mit dessen Hilfe kluge Kinder für Erwachsene wichtig bleiben. Nämlich nicht, indem sie ihnen gehorchen, sondern indem sie ein Gespür dafür entwickeln, was die Großen wollen. Der Wunsch der Makks war: Sei etwas, für das es sich morgens aufzustehen lohnt. Er bemühte sich, dem nachzukommen, in erster Linie auf eine sehr pragmatische Art. Also erledigte Carlos für die Makks gelegentlich Dinge, die im täglichen Leben anfallen. Er empfand es als Ausgleich dafür, dass er bei ihnen Unterkunft und Essen bekam. Zahlen konnte er noch nicht und er wollte niemandem etwas schuldig bleiben, also tat er, was in seiner Macht stand. Im Heim, wo sich niemand um ihn gekümmert hatte, hatte er sich wie einer der Straßenhunde gefühlt. Eine Meute von vierzig Tieren, führten sie ein Leben zwischen kurzen Ketten und ungehindertem Streunen. Trotz allem, was die Makks für ihn getan hatten, weigerte sich seine innere Windelversion dagegen, sich an einem Morgen, an dem so viele wichtige Fragen beantwortet werden mussten, mit der Reinigung von Schaufenstern zu beschäftigen. Nun, er hatte nie an den freien Willen geglaubt. Der war nichts wert, wenn man nicht auch die Macht hatte.
"Hallo?" Eine Männerstimme erklang hinter Carlos, als der gerade den Schwamm in das Seifenwasser tauchte.
Er drehte sich um und erkannte den Mann, den er am Abend zuvor im Flur des Hotels getroffen hatte. "Hey! Du bists. Hast du schon was raus bekommen?"
"So kann man das nicht sagen", sagte der Mann und blickte schüchtern auf den Boden. Er erschien ganz anders als gestern. Unsicherer. Carlos verstand nicht, was dieser Kerl wollte.
"Und ... was willst du dann hier?"
Sein Gegenüber fummelte nervös an seinem Verband herum. Es waren jetzt zwei geschiente Finger.
"Das ist schwer zu erklären", er wurde leiser und nuschelte ein wenig. "Ich war nie besonders zuverlässig. Wie soll ich sagen? Das Leben ist nicht besonders zuverlässig."
Der Junge fürchtete, sich einen langen biographischen Bericht über das Opferdasein dieses Mannes, dessen Hirn offenbar von der Öde seines Alltags angegriffen war, anhören zu müssen. Er musste ihn los werden. "Willkommen im Club", sagte er und versuchte sich wieder seiner Arbeit zu widmen.
"Ich gehörte in diesem Leben immer zu den Verlieren", teilte der Mann ungefragt mit.
"Es fängt an, mich zu langweilen." Carlos imitierte das gestrige Verhalten des Mannes. "Die Leute wollen ihre Ruhe haben, verstehst du?"
Der Mann schluckte. Und blieb.
"Ich habe dich angelogen", gestand er. "Ich lebe unter falschem Namen. Irgendwie hatte ich den Wunsch, dich zu finden. Aber plötzlich war ich zu alt. Ja, Carlos, ich bin dein Vater."

*


Carlos saß mit seinem neuen Vater in der Küche der Makks. Herbert erzählte. Er erzählte viel. Aber er sagte wenig, schnitt die wichtigen Themen nicht an und stellte keine heiklen Fragen. Nachdem er eine lange Zeit damit verbracht hatte "Onkel Fredericks" Geschäftsideen zu erläutern, unterbrach Carlos ihn endlich. Ein ganzer Berg von Schuld wartete darauf, verteilt zu werden und sein Vater nahm nicht einmal einen Spaten in die Hand. Der Junge starrte ihn ernst an, prüfend und streng.
Herbert bemerkte dies und sagte entschuldigend: "Ich dachte du wolltest etwas über unsere Familie erfahren."
"Warum bist du weg gegangen?" Er sagte es gerade heraus. Seine Stimme war zornig.
Herbert sah sein Gegenüber für eine kleine Ewigkeit an und nickte schließlich. "Darüber habe ich schon viele Jahre nachgedacht." Dann, sich über den Schnurrbart streichend. "Es lag vielleicht an der wilden Zeit. Ich hatte noch so viele Träume."
Carlos sank in seinem Stuhl zurück. "Und ich hätte sie nur zerstört", sagte er enttäuscht. Seine Augen waren hell und doch strömten sie Schmerz aus wie gesprungenes Glas.
"Nein, das stimmt nicht. Ehrlich." Sein Vater gestikulierte als wolle er ihn davon abhalten zu gehen. "Als mein Sohn ... als du geboren wurdest, hatte ich kein Zuhause mehr, ich konnte nicht wieder zurück, verstehst du? Ich saß lange im Knast und in der Zwischenzeit hat deine Mutter mit dir das Weite gesucht. Sprich sie doch mal drauf an."
Carlos war erstaunt. "Sie ist tot" , erklärte er verwundert und dann vorwurfsvoll: "Ich dachte, du wüsstest das."
"Tut mir Leid, das zu hören", er schüttelte traurig den Kopf. "Auf meinem Grabstein wird stehen: Altgenug - nie was kapiert." Er sagte es ernst, nicht als Scherz, sondern weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte.
"Wie war sie?", fragte Carlos jetzt etwas ruhiger. "Mein Mutter?"
Herbert lächelte nostalgisch. "Sie war ein großartiger Mensch. Sie war ... friedlich, witzig. Ja, diese Frau hatte viel Sinn für Humor." Dies wiederum sagte er so ernst, dass es fast zweideutig klang. Dann ergänzte er: "Und sie liebte Kinder. Sie wollte immer eine große Familie. Sie war klug. Zu klug für einen Typen wie mich."
"Aber du hast sie verlassen!" Dem Jungen standen die Tränen in den Augen. Seine Unterlippe zitterte. "Sie war schwanger und du hast sie verlassen. Wie kann man so etwas machen?"
"Ich bin ein schlechtes Vorbild. Ich wollte, dass du den besseren Weg wählst. Ich konnte dir keine Perspektiven bieten. Ich war auch ein Adoptivkind. Und mein Vater auch. Es dreht sich doch alles immer nur um das Eine. Und plötzlich verändert sich dein ganzes Leben. Glaub mir, wenn ich noch einmal von vorne anfangen könnte...", er zuckte mit den Schultern, "...Tja..."

*


Ayu lugte vom Schreibtisch aus zu ihrem Kollegen herüber. Septimus sah ziemlich finster aus dafür, dass er sich gerade um sein Gewächshaus kümmerte. In der Regel heiterte es ihn sehr auf und von Zeit zu Zeit sah man sogar ein liebevolles Lächeln für das ein oder andere Blatt. Davon war jetzt wenig zu sehen.
"Du siehst schlecht gelaunt aus", bemerkte Ayure.
"Ist der Kerl immer noch bei ihm?" Septimus meinte Herbert. Die Neuigkeit war schnell bei den beiden Wächtern angekommen.
"Sie sind spazieren. Sie werden viel zu besprechen haben. Was hast du denn?"
"Nichts." Der Gnom tippte mit der Fußspitze auf den Boden. Er starrte finster auf die Wasserschale für Frosch, als würde ein Rätsel dort irgendwo herumschwimmen. "Ich geh mal raus", beschloss er.
"Ok." Ayu lächelte verschmitzt und sagte zuckersüß und gleichzeitig drohend. "Du musst mir nichts erzählen."
"Nie wieder", fügte sie hinzu.
"Carlos sucht seinen Vater. Carlos findet seinen Vater. Das ist mir alles zu einfach."
"Warum sollte Herbert das machen? Meinst du er will einen Orden für seine gute Vaterschaft oder was?"
"Vielleicht will er etwas anderes. Ich höre mich mal um."

*


Muchsmäuschenstill und zielsicher knackte der Verdeckte Ermittler das Türschloss zu Herbert Altgenugs Wohnung. Er war überrascht. Es war schon jemand da. Die Tür aber war zugeschlossen gewesen.
In einem Sessel, der zum milchigen Fenster zeigte, saß ein großer Mann mit schulterlangen braunen Locken. "Na", sagte er, ohne sich umzuschauen, "Das war ja richtig gekonnt. Das riecht mir sehr nach einem Profi."
Septimus trat ein und schloss langsam die Tür. "Wer bist du?"
"Ach", sagte der Mann und drehte sich jetzt langsam zu dem Gefreiten um, während er aufstand. Er trug kostbare schwarze Schuhe und eine graue Hose mit makellosen Bügelfalten. "Ich bin auch ein Freund von George."
"Ich dachte, hier wohnt Herbert Altgenug."
"Herbert Altgenug? Vielleicht ist das sein richtiger Name. Namen nutzen sich schnell ab."
"Was willst du von ihm?"
"Eins muss ich dir lassen, für einen Einbrecher fragst du ziemlich viel." Er schritt langsam zur Tür. Gleichzeitig bewegte sich der Gnom in Richtung Fenster. "George, oder Herbert, wollte einige Vorschläge zu seiner finanziellen Zukunft." Er hüstelte. "Vielleicht interessiert es ihn nicht mehr."
Die beiden Anwesenden beschrieben, den anderen wachsam abschätzend, einen Halbkreis. Dann erreichte der Mann die Tür. "Es war mir eine Freude, einen Freund von George, oder Herbert, zu treffen", erklärte er höflich.
"Ganz meinerseits", entgegnete Septimus mit der gleichen selbstsicheren Höflichkeit einer Katze, die gerade eine Maus in die Ecke gedrängt hat. Die Tür schloss sich.
Erleichtert atmete er durch.
Dann sah er sich aufmerksam um. Das Zimmer war einfallslos eingerichtet: Eine schmale Pritsche hinter der Tür, daneben ein kleines Regal mit wenigen Lebensmitteln. Ein schmaler Schreibtisch mit einer Schublade, ein einfacher Holzstuhl, zwei olivgrüne Sessel. Ein trübes Fenster flankiert von schäbigen Vorhängen mit Rosenmotiv. Septimus ging zum Schreibtisch und gelangte über den Stuhl auf die Arbeitsplatte. Einige wenige Zettel, ein Stift, ein Teller mit Essensresten. Separat, auf der linken Seite des Tisches, lag ein Zettel, der mit drei Ausrufezeichen versehen war. In unbeholfener Schrift stand da:

Abzia
Mondweg 43


Er beschloss sich zurück zum Wachhaus zu begeben, um sich mit Ayure auszutauschen und um Pyronekdan eine Nachricht zu schicken.

*


Herbert und Carlos kamen zum Abendbrot wieder in die Ankh-Straße. Frau Makk befand sich in der Küche und war gerade dabei ihren runden Körper sowie das Abendessen um die Einrichtungsgegenstände herum zu manövrieren, als Vater und Sohn eintraten.
"Das war aber ein langer Spaziergang", bemerkte die Frau freundlich.
"Ja. Vater hat mir viel zu erzählen", antwortete Carlos begeistert. "Er kennt viele tolle Geschichten über meine Familie." Er trabte nervös von einen Fuß auf den anderen.
"Rück raus mit der Sprache", sagte Frau Makk lächelnd. Sie kannte den Jungen inzwischen gut genug, um zu sehen, wenn er etwas auf dem Herzen hatte. "Was willst du mir sagen?"
"Es klingt vielleicht verrückt, aber kann er vielleicht für ein paar Tage hier bleiben?"
Frau Makk sah den Jungen verwundert an. Dann sah sie zu Herrn Altgenug. Dann strich sie sich verlegen eine blonde Locke aus der Stirn.
"Wenn es Umstände macht, Mäm, kann ich auch irgendwo anders schlafen", schaltete Herbert sich verlegen ein.
"Was ... was ist denn mit deiner Wohnung, Herr Altgenug?"
"Ich bin mit der Miete in Rückstand", erklärte er und wurde rot. "Mein Vermieter hat das Meiste von meinem Zeug irgendwo eingeschlossen und in mein Zimmer komme ich auch nicht mehr rein. Meine Sachen kann ich eintauschen, wenn ich die Miete bezahle."
"Wird das in absehbarer Zeit sein?", fragte Frau Makk so neutral wie möglich.
"Ja, Mäm."
"In Ordnung."

*


Hauer fand Frau Abzieher an der Bar des Spins.
"Er war nicht da", berichtete er ihr. "Aber dafür ein anderer. Ein Gnom, der behauptet hat, er sucht Herbert Altgenug."
"Möglich, dass er ihn gesucht hat." Sie zog an ihrer Zigarette. "Vielleicht warst du in der falschen Wohnung."
"Vielleicht weiß der etwas, das wir nicht wissen. Vielleicht schuldet er dem Gnom auch Geld und der kassiert vor uns.
Frau Abzieher legte den Kopf leicht in den Nacken und blies den Rauch aus ihrer Lunge.
"Sorg dafür, dass das nicht passiert, Hauer."
Hauer nickte entschlossen und verließ das Casino.
Interessant, dachte ein gewisser Verdeckter Ermittler, der ebenfalls an der Bar des Spins saß und der sehr genau zugehört hatte.

*


Septimus sah auf seine Taschenuhr. Es war allerhöchste Zeit sich etwas Schlaf zu gönnen. Als er in raschem Tempo auf dem Weg nach Hause durch die Straßen schritt, erschien eine durchsichtige Gestalt neben ihm, welche problemlos mit seiner Geschwindigkeit mithalten konnte. Septimus ächzte innerlich. Der Tag war lang gewesen, er war müde. Das Letzte, was er nun gebrauchen konnte, war eine Diskussion mit dem Geist seines Freundes Lunk. Das nun folgende Gespräch spielte sich auf der einen Seite laut und auf der anderen Seite tonlos ab.
"Warum bist du dir so sicher, dass er nicht Herbert Altgenug ist? Er hat Carlos so viel über sein Leben erzählt, auch über seine Mutter", sagte der Geist ohne das Thema eingeleitet zu haben.
"Du hast es ihm auch abgekauft", antwortete Septimus spöttisch und sah sich im Gehen um, ob er beobachtet wurde. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass die meisten Leute seine Unterhaltungen mit Lunk als Selbstgespräche deuteten. "Er ist ein Betrüger. Er will irgendwas."
"Was denn?"
"Denk an die Makks. Er wusste, dass Carlos bei Antiquitätenhändlern wohnt. Er ist auf irgendetwas Wertvollem in diesem Haus aus. Ich habe herausgefunden, dass er Schulden hat bei einem Casino. Er hat sich ne Freikarte besorgt."
"Für dich gibt es keinen anderen Grund, oder?" Lunk konnte sehr schnippisch klingen, wenn er wollte. Das hatte er schon immer gekonnt und gezielt eingesetzt.
"Glaubst du ihm wirklich?"
"Menschen können sich ändern."
"Ja, da geb ich dir Recht. Aber das dauert keine zwei Tage. Er ist zu schnell Vater geworden. Der braucht nur was, um sich zu verstecken."
"Dann musst du mit Carlos sprechen."
"Ja." Septimus gähnte. "Morgen."
"Ja. Morgen.", antwortete Lunk. "Er wird dich nicht gerade mit Dank überschütten, wenn du ihm seinen neuen Papa wegnimmst."
"Ja, ich weiß."

*


Früh am nächsten Morgen wurde der Gnom von der dröhnenden Stimme seiner Mutter geweckt.
"Septiiiiiimus!!!Aufsteeeeheen. Da ist eine Frau für dich an der Tür!"
Er hatte das Gefühl gerade erst eingeschlafen zu sein. Seine Lider wurden schwer als würden Betonblöcke daran baumeln.
Nicht diese Welt, dachte sein Inneres in der Phase zwischen Schlaf und Wachsein. Nicht jetzt.
So schnell er konnte brachte er sein Erscheinungsbild auf ein gesellschaftsfähiges Niveau und rannte die Treppe herunter zum Eingang. Vor der Tür wartete tatsächlich eine Frau. Eine große, runde Frau mit feinen blonden Locken. Sie sah besorgt aus.
"Guten Tag!", sagte sie. "Mein Name ist Alissa Makk. Carlos hat mir von dir erzählt, Herr Ebel."
"Was ist denn passiert?" Septimus war immer noch nicht ganz wach.
"Mir ist etwas entwendet worden. Ein sehr wertvoller Gegenstand. Ich vermute, es war Herr Altgenug."
"Was hat er gestohlen und wie?"
"Er hat gestern bei uns geschlafen. Carlos bat mich darum. Heute morgen haben wir bemerkt, dass die Rosarote Brille fehlt. "
"Mh.Mh."
Er überlegte.
"Ein wertvoller Gegenstand?", fragte er nach.
"In der Tat. Es handelt sich um eine sehr wertvolle Brille. Wer sie trägt, sieht alles in positivem Licht. Seine Zukunft. Sich selbst. Er hält sich für schöner, erfolgreicher und gesünder als die anderen."
"Ein Trick?"
"Auch. Das Erstaunliche aber ist: Der Blick durch die Brille färbt die Wirklichkeit nicht nur schön - sondern verändert sie tatsächlich."
"Mh.Mh."
"Sie stammt aus der Trickkiste der Unsichtbaren Universität und wurde ursprünglich von einem König aus Gennua bestellt. Einigen ist eine Fähigkeit in die Wiege gelegt, andere lernen sie nach und nach und viele nie. Ich spreche von der Zuversicht."
"Dafür bezahlen Leute Geld?"
"Die Veränderungen, die sie bei ihrem Träger auslöst", erklärte Frau Makk, "Stehen in verblüffendem Zusammenhang mit Gesundheit, der eigenen Höchstleistung und einer längeren Lebenserwartung. Viele Quellen sagen, auch mit Glück hätte sie etwas zu tun. Summa sumarum bedeutet dies: Erfolg. Ohne Zuversicht kein Aufbruch, kein Aufschwung, kein Glaube, keine Linderung der Wirklichkeit, kein Lebensmut, keine Träume."
"Verstehe."
Plötzlich schreckte die Frau auf, als habe sie etwas Wichtiges vergessen.
"Ach, lieber Himmel. Ich hab vergessen zu sagen, dass Carlos verschwunden ist, kurz nachdem wir den Raub bemerkten."
Diebstahl, korrigierte Septimus sie innerlich. "Mäm, begib dich bitte ins Wachhaus an der Kröselstraße. Lass dir von dem Rekruten am Eingang weiterhelfen. Es ist wichtig, dass du eine genaue Beschreibung des Gegenstands und des Täters abgibst. Lass Ermittlerin Ayure Namida in den Mondweg 43 schicken und bitte um eine weitere Person, die sie begleiten soll. Ich werde mich auf die Suche nach Carlos machen. Ich denke, ich weiß, wo er ist."

*


Was denkt der eigentlich, wen er hier vor sich hat?, dachte Carlos als er die Treppe des Hotels Zum-faulen-Horst hoch marschierte. Dummkopf! Niete! Abfall! Es war nicht die Tatsache, dass dieser Kerl ihn übers Ohr gehauen hatte. Das hatte er gekonnt erledigt, das musste Carlos ihm lassen. Das Holz der vorletzten Stufe gab splitternd nach und sein Fuß rutschte in ein Loch. Er trieb sich einige Holzstücke in den Knöchel, als er ihn ruckartig heraus riss. Es war die Tatsache, dass er die Leute, die ihm was Gutes im Leben gebracht hatten, beklaute; dass er die Hand biss, die er eigentlich lecken sollte. Er hat das alles über meine Mutter bloß erfunden. Die anfänglichen Stiche von Schuldgefühl, von Wut, Erschöpfung und Verzweiflung wichen einem Hass, der so rein war, dass er sein Inneres heftig aufwühlte. Er rannte zu dem Zimmer und hämmerte an die Tür.
Jemand öffnete. Es war nicht Herbert. Sondern ein großer Mann mit braunen langen Haaren und einem Schlägerkinn. Er grinste. In seinen Augen blitzte etwas auf.

*


Septimus rannte. Das konnte er gut. Der kalte Morgenwind trieb ihm Tränen in die müden Augen. Er hätte es wissen müssen. Hatte es auch gewusst. Als er um die Ecke in die Billig-Straße einbog, sah er plötzlich den gleichen Mann, der sich gestern in Altgenugs Zimmer befunden hatte. Jäh blieb der Gnom stehen und suchte Deckung. Eine Straßenlaterne bot ihm ein wenig Schutz, von dort aus warf er einen Blick auf die Straße. Der Mann drückte gerade einen Jungen, ihn an der Kehle packend, in eine Kutsche. Es war Carlos.

*



"Na? Wen hast du mir denn da mitgebrachte?" Frau Abzieher sah zu, wie Hauer etwas Zappelndes in das leere Casino zerrte.
"Alle suchen sie unseren lieben George", erwiderte Hauer. "Sogar der Kleine hier."
"Ein Freund von dir?", fragte sie den Jungen.
"Nie von ihm gehört", antwortet Carlos. Er ächzte, als Hauer ihm mit der Aufforderung "Sei freundlich zu Frau Abzieher!" das Handgelenk hinter dem Rücken verdrehte. Zu der Frau gewand sagte er: "George hat gesagt, er bekommt Geld von diesem Typen."
"Und du hast dich damit abspeisen lassen? Das ist ein Junge!"
Hauer zuckte zusammen. "Ja. Warum denn nicht?"
"Von mir Geld?", schaltete sich Carlos ein. "Dieser Typ hat meine Freunde beklaut und sich dann aus dem Staub gemacht!"
"Du hälst deine Schnauze", sagte der Schläger und drückte noch fester zu.
"Ich hoffe für dich, dass das nicht wahr ist", sagte Frau Abzieher drohend und zog an ihrer Zigarette.
"Ist es nicht!", ertönte eine Männerstimme. Das Licht, das von draußen durch die Tür in den dunklen Raum quoll, verdunkelte seine Gestalt. Aber Carlos wusste, dass es Herbert war. Er war erleichtert. Frau Abzieher gab Ed, dem Türsteher, ein Zeichen ihn passieren zu lassen.
Gammel schritt näher und hielt den Anwesenden einen Gegenstand entgegen. Es war etwas Kleines, Längliches, das lockend funkelte.
"Das ist zweimal so viel wert wie das, was ich dir schulde."
"Wenn das Ding wirklich so heiß ist, wie ich denke, dann können wir froh sein, wenn wir noch zehn Prozent davon kriegen", sagte Frau Abzieher. "Die Wache ist doch sicher schon informiert über den Diebstahl."
"Dann verkaufe ich es selbst!", rief George. "Ich bekomme viel mehr dafür."
"Solange lässt du uns den Bengel als Pfand da", forderte Hauer.
"Auf gar keinen Fall. Lass den Jungen los. Der wird seinen Mund halten."
"Was bedeutet er dir?", fragte sie lauernd.
"Er ist mein Vater", erklärte Carlos schnell.
Gammel und Carlos sahen sich an. Nur verblüffter Stolz stasnd in ihren Augen, keine Angst, keine Fragen.
Plötzlich setzte sich George in Bewegung. Er stürmte nach vorne und versuchte Hauer umzuschubsen. "Lauf Junge!"
Carlos konnte sich in dem kurzen Moment, in dem Hauer mit dem Angreifer beschäftigt war, befreien und rannte los.

*


Septimus musste nicht lange warten, bis Ayure in Sichtweite war. Sie hatte Waldemar von Silberfang mitgebracht. Das freute den Gnom, denn es war ihm immer lieber mit Wächtern zusammenzuarbeiten, die er schon kannte. Mit dem Wehrwolf hatte Septimus schon einige Fälle bearbeitet.
Kurz informierte er seine Kollegen: "Ich habe gestern in Altgenugs Wohnung einen Typen getroffen. Er ist ein Schuldeneintreiber der Besitzerin dieses Casinos. Herbert Altgenug hat auch den Namen George Gammel, er schuldet der Frau viel Geld. Um ihn zu erpressen, hat ihr Wachhund Carlos entführt. Er ist da drin. Gammel auch. Für gewöhnlich ist immer ein Türsteher anwesend."
"Gehen wir rein", schlug der F.R.O.G.-Späher in Ausbildung vor.

*


Die Tür schwang auf. Im gleißenden Licht standen zwei ... nein, drei Personen. Rechts befand sich ein großer Mann mit Pferdeschwanz, er trug eine Uniform. In der Mitte war eine kleine Gestalt zu erkennen, ein Gnom in einer Art Kutte. Neben ihm stand eine blasse Frau mit langen dunklen Haaren. "Stadtwache Ankh-Morpork", rief jemand. "Niemand bewegt sich!"
Sie kamen in dem Moment herein, in dem Hauer Gammel auf den Boden geschleudert hatte und Carlos fast dem Türsteher in die Arme gelaufen wäre. Doch jetzt drehte Ed sich um, nahm Kampfhaltung ein, zog blitzschnell ein Messer und fuchtelte damit wild vor Ayure herum. Er holte aus. Das Messer schnitt durch die Luft. Ayu tauchte unter seinem Arm hindurch. Gleichzeitig packte sie sein Handgelenk und lenkte die Handfläche in die entgegengesetzte Richtung des Schlagen. Eds Körper folgte seiner Physiognomie. Er wich dem Schmerz aus, beugte sich nach hinten und offenbarte seinen Hals für einen kräftigen Schlag von Ayures Handkante. Ed brach zusammen.
Septimus sah eine Bewegung von Hauer. Fast hektisch griff dieser nach einer Armbrust und schickte sich an auf die Ermittlerin zu zielen. Septimus reagierte sofort, zog seine Pinzette aus dem Gürtel und schleuderte sie Hauer mit viel Kraft entgegen. Der angespitzte Griff bohrte sich in einen Pfeiler und nagelte Hauers Ärmel an das Holz. Verärgert zerrte er daran herum, bis der Stoff schließlich riss. In der Zeit hatte sich Carlos hinter Ayure geflüchtet. Waldemar und Hauer näherten sich einander. Hauer zog ein Messer und grinste. Dann griff er an.
Hauer setzte auf einen Schlitzer, mit der rechten Hand durchgeführt, der von links unten nach rechts oben dem Gegner die Brust aufreißen sollte. Waldemar zog mit dem linken Fuß einen Halbkreis, drehte seinen Körper damit und landete neben dem Angreifer. Während dieser Bewegung griff er nach dem Handgelenk, dessen Fortführungen die Waffe jetzt nicht mehr länger hielten. Er bog Hauers Arm, bis sein Ellbogen im rechten Winkel nach unten zeigte, drehte dann die Handfläche noch weiter nach außen. Hauer schrie auf. Waldemar drehte die Handfläche noch weiter. Um dem Schmerz auszuweichen, war Hauer gezwungen rückwärts im Kreis um den Wehrwolf herum zu laufen.
Das war einfach, dachte Waldemar und ließ ihn noch ein wenig weiter tanzen.
Plötzlich gelang es dem Mann sich durch eine Rückwärtsrolle zu befreien. Sehr schnell kam er wieder auf die Beine und verteilte zwei harte Schläge gegen Waldemars Rippen. Dabei verlagerte er sein Gewicht zu weit nach vorne. Der Wächter fegte souverän das Standbein seines Gegners weg.
"Jetzt ist genug", sagte von Silberfang als würde er mit einem Kind sprechen. Um seinem Entschluss Nachdruck zu verleihen, zog er sein Schwert und hielt es Hauer an die Kehle.
Hauers Augen funkelten bösartig. Aber er bewegte sich nicht.
Septimus fesselte den Türsteher. Hauer ließ sich Handschellen von Waldemar anziehen. Ayure zögerte Gammel festzunehmen.
Tat es aber.
"Hauer?" Frau Abzieher zog resigniert an ihrer Zigarette. "Du bist gefeuert."

*


Einige Tage waren vergangen, als Carlos schließlich in einem gewissen R.U.M-Büro stand, um sich zu bedanken. Das fiel ihm nicht leicht. Aber er brachte es hinter sich, indem er einen Korb mit Aufmerksamkeiten [6] auf Ayures Schreibtisch stellte und "Drrk" nuschelte.
Weder Ayure noch Septimus antworteten, beide nickten nur.
"Ich habe noch einmal mit Herrn Greifzu gesprochen", erzählte Carlos.
In diesem Moment klopfte es an die Tür.
"Herein!", rief der Gnom.
Es war der R.U.M.-Kontakter Korporal Pyronekdan. "Guten Tag zusammen", grüßte er. Kurz musterte er den Jungen, dann reichte er Septimus eine Akte. "Ich hab hier die Informationen über das Spin, die du haben wolltest. Das ist alles, was ich auftreiben konnte."
"Vielen Dank."
"Kein Problem. Ist das der Junge?" Der Zauberer deutete auf Carlos.
"Ja!", sagte Ayu. "Das ist Carlos Altgenug."
"Schön dich kennen zu lernen", sagte Pyro. "Leider bin ich in Eile."
"Lass dich nicht aufhalten", sagte Carlos.
Pyro schaute ein wenig irritiert und verließ den Raum.
"Ich habe noch einmal mit Herr Greifzu geredet", wiederholte der Junge. "Hab ihn besucht, wollte mehr über meine Mutter erfahren. Johanna Altgenug war eine Betreuerin, die für das Krähennest gearbeitet hat. Sie hat wohl sehr viel Zeit mit mir verbracht. Sie hatten keinen Namen für mich, bin auf der Schwelle abgesetzt worden. Sie hat mich nach ihrem Vater benannt." Er seufzte tief. "Ich schätze, ich werde nie erfahren, wo ich herkomme."
"Das tut mir Leid, Carlos", sagte Ayure ernst.
"Dann entscheide dich, wer du sein willst", sagte Septimus und lächelte zuversichtlich.

ENDE


[1] Septimus erwähnte in dem Brief nicht, dass B.A.U.M. für Bringt-Alle-Umweltsünder-uM stand.

[2] Wie an jeder Arbeitsstelle gab es auch in der Wache alte Bündnisse, geheimnisvolle Gegnerschaften und armselige Siege.

[3] Ein Exemplar von der Sorte Der-tut-nichts-Der-will-nur-spielen.

[4] Gemeint ist selbstverständlich der Junge.

[5] Er hatte dort noch einen sehr wichtigen Brief zu schreiben.

[6] Sponsored by Frau Makk




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Feedback:

Von Ophelia Ziegenberger

21.08.2007 21:10

</b><br><br>Du hast in dieser Single ein Talent im sicheren Umgang mit Worten bewiesen, was zu sehr gut vorstellbaren Szenenbeschreibungen führte. Die ungewöhnliche Gegenwartsform, in der Du sie geschrieben hast, hat sicherlich ebenfalls zu diesem unmittelbaren Eindruck beigetragen und hat mir daher gut gefallen. Die Figuren wirkten differenziert ausgearbeitet, wie selbständig, was auch nicht selbstverständlich ist. Zwar war der Plot sehr grandlinig, doch standen sowieso eher die Wächtercharaktere Ayure und Septimus im Vordergrund. Beide kamen mir in deiner Variante näher und gewannen klar an Kontur, so dass es sich allein von daher schon gelohnt hat, die Geschichte zu lesen. Septimus hat etwas von einem tragischen Helden und auch wenn dies eben jenen Eindruck stören würde konnte ich nicht umhin, mir zu wünschen, dass der Empfänger der Briefe sich endlich einmal des kleinen Gnoms erbarmen und ihm zumindest symbolisch einen winzigen Schritt entgegenkommen würde.<br><br><b>

Von Ruppert von Himmelfleck

21.08.2007 21:10

</b><br><br>Die Geschichte hat mir gut gefallen. Ich mag es, wenn eine Geschichte eine andere Wendung nimmt als angenommen. Das fehlende Häppiend passte gut und wahr realistisch.<br>Es gibt einige Passagen die sehr weitschweifig sind und eigentlich nichts aussagen. Sollen sie nur Septimus' Befinden ausdrücken? Dann sind sie (für meinen Geschmack) etwas zu schwülstig ;)

Von Mina von Nachtschatten

21.08.2007 21:10

</b><br><br>Die Single war angenehm zu lesen und stilistisch habe ich nichts großartig zu bemängeln.<br>Was mir etwas gefehlt hat, war der direkte Bezug zum Titel. Die rosarote Brille war zwar das Diebesgut und wird auch recht genau beschrieben, verschwindet dann aber fast vollständig aus der Geschichte. Die Idee mit dem wirklichen Objekt einer "rosaroten Brille" und nicht nur als Metapher war ja gar nicht schlecht, aber vielleicht hättest du sie noch etwas ausbauen können.<br><br><b>

Von Septimus Ebel

22.08.2007 17:13

Ich danke euch allen, dass ihr euch Zeit für die Kritik genommen habt!



Tatsächlich wollte ich bei dieser Geschichte mich hauptsächlich um die Darstellung der Figuren kümmern. Das ging dann auf Kosten des Plots.



Ich hätte nicht gedacht, dass die Brille so interessant für euch ist. Ich habe sie zum einen nicht weiter ausgebaut, weil ich Angst hatte, sie Geschichte wird zu lang. Und zum anderen, weil sie eigentlich doch als Metapher für das Thema Zuversicht (Siehe Septi mit seinen Briefen und Carlos mit der Suche nach seinen Eltern) sein sollte. Wegen dem Titel: Ja, ich weiß, dass es eigentlich Diebstahl heißen müsste. Aber ich hab es nicht übers Herz gebracht auf die Alliteration zu verzichten ;-) Außerdem sollte der Titel auch eher metaphorisch gemeint sein: Carlos wird die Hoffnung genommen, seine Eltern zu finden, während Septi sich gegen den Raub seiner Zuversicht innerlich wehrt.



Bei der nächsten Geschichte werde ich die Dialogszenen auf jeden Fall stärker raffen.



Ach und: Ich habe jetzt nicht auf mehr Kritiken gewartet. Obwohl ich die Erfahrung gemacht habe, dass eine schnelle Antwort weitere Kritiker irgendwie hemmt. Das soll nicht so sein! Bitte schreibt, was euch einfällt!



LG Septi

Von Goldie Kleinaxt

22.08.2007 17:32

Meine hast Du schon per AIM bekommen, deswegen hab ich nichts mehr geschrieben.

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