Am Scheideweg. Die Akte Miriel II.

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von Hauptgefreiter Ettark Bergig (SEALS)
Online seit 24. 02. 2013
Zeitmönche haben die Geschichte auf den 24. 06. 2012 datiert
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 Außerdem kommen vor: Ophelia ZiegenbergerMenélaos Schmelz

Einen Kollegen zu verlieren ist immer schlimm, doch gerade als Wächter in der Zwillingsstadt gewöhnt man sich viel zu schnell an diese Tatsache.
Doch wie überall sind einem manche Kollegen näher als andere und wenn Freunde sterben, muss jeder Wächter für sich entscheiden, ob er weiterhin 'Dienst nach Vorschrift' machen kann.
Wer das nicht kann, dem bleiben nur wenig Möglichkeiten. Einige quitieren den Job und suchen sich friedliche Beschäftigungen, einige werden paranoid und einige machen sich auf einen Kreuzug, um ihre Freunde zu rächen.
Letzteres ist in dieser Geschichte der Fall.
All jene jedoch, die während des Dienstes sterben, stören sich wohl kaum daran, was die Hinterbliebenen machen, doch folgendes Lied ist für sie, die geheimen Helden und Retter der Ordnung in der so großartigen und gleichzeitig schrecklichen Stadt Ankh-Morpork:

Das Lied des toten Wächters:
(Melodie "Bella ciao", frei nach Hannes Wader)

Eines Morgens, während der Streife
(Oh) Gebt gut Acht, gebt gut Acht, treue Wächterschaft
In den Straßen von Ankh Morpork (2x)
Traf ich im Dunkeln auf den Tod (2x)

Und wenn ich sterbe, oh ihr Kollegen
(Oh) Gebt gut Acht, gebt gut Acht, treue Wächterschaft
Und wenn ich sterbe, oh ihr Kollegen (2x)
Dann will ich's nur als Wächter tun (2x)

Tragt mich weiter, ihr treuen Wächter
(Oh) Gebt gut Acht, gebt gut Acht, treue Wächterschaft
Über Straßen und enge Gassen (2x)
Bis zu meiner letzten Ruh (2x)

Auf den Friedhof, dort hinterm Tempel
(Oh) Gebt gut Acht, gebt gut Acht, treue Wächterschaft
Bei dem Tempel, der kleinen Götter (2x)
Dort will ich begraben sein (2x)

Bei Kollegen und lieben Freunden
(Oh) Gebt gut Acht, gebt gut Acht, treue Wächterschaft
Bei allen denen, die vorher gingen (2x)
Auf das ich sie (bald) wieder seh' (2x)

Auf meinem Grabstein, sei zu lesen
(Oh) Gebt gut Acht, gebt gut Acht, treue Wächterschaft
Auf meinem Grabstein, in großen Lettern (2x)
Das hier ein toter Wächter liegt (2x)

Und die Leute, die dort gehen
(Oh) Gebt gut Acht, gebt gut Acht, treue Wächterschaft
Und die Leute, die dort gehen (2x)
Sollen diese Worte seh'n (2x)

In diesem Grab hier, so sagen alle
(Oh) Gebt gut Acht, gebt gut Acht, treue Wächterschaft
Liegt ein Wächter, der im Kampfe(2x)
gegen Mord und Diebstahl starb(2x)

Dafür vergebene Note: 14

Neue Spuren


Einzelne Sonnenstrahlen quälten sich durch die dichte Wolkendecke, die den früh abendlichen Himmel über Ankh-Morpork bedeckte, als Ettark und Menélaos aus dem Wachhaus traten und ihre Streife begannen. Stumm verließen die beiden Wächter in Zivilkleidung die Götterinsel, überquerten den Schnitt und betraten die Königsstraße. Beide waren schweigsam und in ihre eigenen Gedanken vertieft, während ihre Augen routiniert die Umgebung musterten und sie nach Gefahren oder sonstigen Situationen durchsuchten, welche ein Eingreifen unumgänglich gemacht hätten.
Wie die meisten Streifenwächter hatte der große Halb-Ephebe schon als Gefreiter gelernt, dass Ettark während der Patrouille nur ungern mehr als das Notwendige besprach und wenn er sich mal zu mehr als kurzen Bemerkungen herabließ, das Gespräch für den anderen meistens nicht sehr angenehm verlief. So versuchte der Szenekenner gar nicht erst, seinen Streifenpartner in ein Gespräch zu verwickeln und nutze die gemeinsamen Gänge durch die Straßen stattdessen lieber dazu, die Gedanken um all die Dinge schweifen zu lassen, die im sonstigen Wache-Alltag zu kurz kamen.
Das Schnauben des Kontakters riss ihn aus den Gedanken um seine letzten Trainingserfolge und erst als er auf den Bergiger herunter schaute und sah, dass dieser die Nase kraus gezogen hatte, bemerkte er, dass die Luft um sie herum mit einem starken Pfefferminzgeruch geschwängert war, der schlagartig erst mit Himbeer-Aromen gemischt und dann, als Ettark genervt mit dem Kopf schüttelte, von konzentriertem Zitronengeruch überlagert wurde.
Sollte der Bergiger sich halt die Nase zuhalten, wenn ihn etwas an den Gerüchen störte!
Dieser seufzte und nickte leicht nach links, woraufhin die beiden Wächter die Hauptstraße verließen und eine Gasse irgendwo zwischen der Gutschnellstraße und der Langen Mauer betraten.
Inzwischen war die Wolkendecke aufgerissen, doch die tiefstehende Wintersonne sorgte weiterhin dafür, dass der schmale Weg zwischen den Häuserzeilen nur im Zwielicht lag.
Dadurch von seinen Gedanken abgelenkt, beobachtete Menélaos deutlich aufmerksamer und wunderte sich über den Weg, den sie heute gingen.
Der dienstältere Wächter hielt nicht viel von den festgelegten Strecken, welche die Abteilungsleitung für die Streifen vorschlug, das wusste jeder in der Abteilung, doch warum er nicht wie jeder halbwegs vernünftige Wächter auf den großen Straßen bleiben konnte, war Menélaos noch immer ein Rätsel.
Er beobachtete einige zwielichtig aussehende Gestalten, die Kisten von der Ladefläche eines Eselskarren durch die Tür ins Innere eines Hauses trugen. Ein weiterer Blick zeigte ihm, dass die Tür den Durchgang in ein Ladenlokal gewährte, an dessen Rückseite sie offensichtlich entlang gingen. Mit eingezogenen Schultern passierten die beiden Wächter die Engstelle, die der schmale Karren in der Gasse bildeten. Kaum hatten sie den Karren passiert, wurden die Schritte des Hauptgefreiten scheinbar unwillkürlich kürzer, während er kurze Blicke über die Schulter zu den Arbeitern warf.
Als diese mit einer weiteren Ladung im Inneren das Hauses verschwanden, blieb er vor einem zugemauerten Fenster stehen, blickte sich noch einmal um und fasste dann unter die weit auskragende Fensterbank.
Erst als der Bergiger einen zusammengefalteten Zettel hervorzog und ungelesen im Mantel verschwinden ließ, bemerkte Menélaos die unauffällige Kreidewelle neben dem Fenster, die Ettark mit dem Ärmel seines Mantels verwischte.
Ein toter Briefkasten! Das erklärte natürlich den Weg durch diese Gasse. Doch seit wann hatte der Informantenkontakter so fern von seinem normalen Gebiet Informanten? Er überlegte kurz, einfach zu fragen, doch Ettark hatte sich schon wieder abgewandt und ging mit gewohnt großen Schritten die Gasse in Richtung Parkweg entlang, so dass der Halb-Ephebe sich beeilen musste, mit ihm Schritt zu halten. Er bezweifelte sowieso, dass er eine (halbwegs vernünftige) Antwort bekommen hätte.
Sie folgten der Gasse, bis sie den Parkweg erreichten, wandten sich nach rechts, passierten das Denkmal und bogen von der Hochkantstraße auf den Grünmarkt, bis dieser zur Ankhstraße wurde. Dort bogen sie erneut in eine der sich windenden Gasse ein, die schließlich am Hafen endete, in welchem viele der von Ettark geführten Streifen mündeten. Dies war bekanntermaßen das Gebiet, in dem sich das Gros seiner Kontakte und Informanten konzentriert.
Nach einigen weiteren toten Briefkästen und unauffällig geführten Gesprächen mit Straßenverkäufern und scheinbar zufälligen Passanten blieb Ettark am Becken des Innenhafens stehen und Menélaos beobachtete das Treiben um sie herum.
Er ahnte, dass sie hier auf einen weiteren Informanten warteten und als sein Blick auf eine kleinere Konditorei fiel, deutete er mit einem kurzen Heben des Kinns auf das Gebäude.
Es konnte nie schaden, zu sehen, an welchen Ideen die Anderen des Faches arbeiten und so betrat er den Laden und begutachtete die Auslagen der Leckereien.
Anders als von außen, machte der Laden jedoch im Inneren nicht sehr viel her und statt neue Kreationen oder wenigstens Ideen zu entdecken, verzog der Szenenkenner das Gesicht, ob der einfallslosen Machwerke des hiesigen Konditors. Die deutlich mangelnde Hygiene war ihm ein Dorn im Auge. So verdarb man nicht nur den Kunden den Appetit sondern auch den Ruf des gesamten Konditorhandwerks.
Als er wenig später mit angesäuerter Miene wieder auf die Straße trat, sah er Ettark mit einem kräftig gebauten Mann reden, der sowohl dem Aussehen als auch der Gestik nach mit ziemlicher Sicherheit normalerweise auf den Wellen zuhause war. Er hielt Abstand, bis Ettark seinem Gesprächspartner mit einem Nicken die Hand reichte.
Nur dank seiner geschulten Augen bemerkte der Kondichemiker die Münzen, die der Matrose nach dem Händedruck unauffällig in der Hosentasche verschwinden ließ. Während er sich von dem Wächter entfernte, schloss Menélaos mit einigen großen Schritten wieder zu Ettark auf.
Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck schlenderte dieser am Hafenbecken entlang und bog an dessen Ende wieder in eine der engen Gassen ein.
Sie folgten der Straße, als der Halb-Ephebe im Augenwinkel etwas Seltsames bemerkte. Zögernd blieb er stehen und davon offenbar in seinen Gedanken unterbrochen, stockte auch sein Kollege.
Er legte den Kopf schief und warf dem Szenekenner einen fragenden Blick zu, doch dieser ignorierte ihn und ging wieder einige Schritte zurück.
Wirklich! Dort, in einer kleinen Seitengasse und halb hinter einigen alten Fässern verborgen, ragte ein bleicher Arm hervor.
'Wieder einer, der seine Grenzen nicht einschätzen konnte.', dachte er sich mit einem kurzen Gefühl von Scham, als er an die Schweinachtsnacht zurückdachte. In diesem Gedanken gefangen, trat er in etwas Glitschiges.
Mit den Reflexen des echten Morporkianers zog er den Fuß zurück, als Ettark neben ihm erschien und mit einem Blick zum Boden erstarrte. Grob schob er den größeren Mann zur Seite und kniete neben dem Arm nieder, während Menélaos noch erstaunt auf die Blutlache starrte, in die er soeben getreten war.
"Der hat's hinter sich!" knurrte Ettark, nachdem er bei dem verborgenen Besitzer des Armes kurz nach Lebenszeichen gesucht hatte. Dann sog er scharf die Luft ein, als sein Blick auf etwas fiel, was Menélaos dank der Fässer nicht erkennen konnte.
"Obergefreiter! Los, benachrichtige den Pseudopolisplatz, wir brauchen die SuSis hier!"
Ob des groben Tons erfüllte die Gasse kurz ein leichter Geruch von Melisse, der den des Todes, den beide nun deutlich riechen konnten, jedoch nicht überdecken konnte.
Menélaos zog wütend die Augenbrauen zusammen, räusperte sich und zuckte innerlich mit den Schultern.
Dann drehte er sich um und lief im leichten Laufschritt los. Was dachte Ettark eigentlich, wer er war? Natürlich hatte er Recht, aber so was konnte man schließlich auch freundlich sagen, oder? Blödmann!

Als der Szenekenner verschwunden war, zog Ettark einen Bleistift aus der rechten Innentasche und schob mit dem stumpfen Ende den blutigen Jackenaufschlag des Toten zur Seite.
Ein leises, fast triumphierendes Grunzen erklang, als er seine Vermutung bestätigt sah. Nicht nur die dünne Befiederung des Bolzens kam ihm vertraut vor, auch der Schaft war von selber Machart, wie der, dessen Ikonographie er seit Wochen bei den lokalen Waffenschmieden und -narren herumgezeigt hatte.
Das konnte nur eins bedeuten: Miriels Mörder hatte wieder zu geschlagen!
Sein Blick folgte dem Schaft bis zu dem Punkt, an dem dieser in die Brust des unbekannten Toten eingedrungen war, als der Informantenkontakter plötzlich die Augenbrauen zusammen zog.
Dort, genau an der Stelle, wo der Bolzen das dünne Hemd des Opfers durchschlagen hatte, war ein kleiner Streifen Haut zu erkennen, doch diese schien viel dunkler, als die sonst sichtbare.
Vorsichtig, um keine falschen Spuren zu erzeugen, schob er mit dem Bleistift auch das Hemd leicht zur Seite und entdeckte, dass rund um den Bolzen die sonst bleiche Haut beinahe schwarz verbrannt war, er meinte sogar, einige kleinere Blasen zu erkennen. Aber wenn der Bolzen vor dem Abschuss erhitzt worden wäre, wäre doch auch das helle Holz verkohlt worden. Es sei denn...
Ettark stutzte und sein Blick verharrte misstrauisch auf dem Mund des Opfers. Jetzt, wo Menélaos verschwunden war, konnte er da vielleicht einen neuen Geruch wahrnehmen? Er zog einige Male prüfend Luft durch die Nase, doch der Geruch des Todes überdeckte, zusammen mit dem typischen Geruch der Zwillingsstadt, jeden anderen olfaktorischen Hinweis.
Aber im Bericht hatte doch nichts von Silber gestanden, oder? Mühsam versuchte er sich an den Bericht des Gutachters zu erinnern, doch nach einigen Minuten schüttelte er entnervt den Kopf.
Es kribbelte ihn in den Fingern, den Bolzen einfach heraus zu ziehen um seinen Verdacht bestätigt zu finden, doch das wäre dann vermutlich doch zu auffällig gewesen.
Mit knackenden Rückenwirbeln stand der SEALS-Wächter auf und ließ den Blick durch die Gasse wandern. Nun half wohl nur noch, auf die Fachidioten von SuSi zu warten.

Recherche und Archiv


Es wurde dunkel, als Ettark schließlich wieder am Pseudopolisplatz ankam und sich in seinen Schreibtischstuhl fallen ließ.
SuSi war nur mit einer Notbesetzung am Tatort angekommen und so hatte Ettark mit Menélaos warten müssen, bis die eilig zur Hilfe gerufenen Rekruten den Tatort absperren und bewachen konnten, während Sillybos sich zusammen mit seiner Auszubildenden um die Spurensicherung kümmerte. Normalerweise hätte der Infokon sich nicht mit solch einer Aufgabe abgegeben. Vor allem nicht, wo die Nähe zum Hafen seine Identität gefährdete. Doch dieses Mal hatte er gespannt auf das Ergebnis der Tatortsicherer gewartet. So hatte er, selbst nachdem die Rekruten endlich eingetroffen waren, im Schatten am Tatort gewartet, bis Sillybos ihm schließlich die Spezies des Toten einwandfrei bestätigen konnte.
Mit dem Finger fuhr Ettark die schiefen Aktenstapel auf seinem Schreibtisch ab, bis er zwischen zwei besonders hohen zögerte und schließlich bestimmt auf den kleineren der beiden zeigte.
Es dauerte einige Minuten, bis der Infokon sich durch den Stapel gearbeitet hatte, doch schließlich fand er den gesuchten Ordner als einen der untersten. Nach einem schnellen Blick zur geschlossenen Bürotür schlug er den dünnen Ordner auf und überflog das oberste Blatt mit routiniertem Blick, fand den gesuchten Hinweis jedoch nicht. Auch auf der zweiten Seite der Expertise entdeckte er keinen Hinweis darauf, dass die Bolzenspitze, welche Miriel das viel zu kurze Leben gekostet hatte, genaueren metallurgischen Untersuchungen unterzogen worden wäre.
Er seufzte enttäuscht, doch eigentlich war das auch nicht zu erwarten gewesen. Schließlich war seine Auszubildende sehr offensichtlich ein Mensch gewesen. Wer nutzte für einen solchen Mord schon eine Spitze mit Silberlegierung?
Auf einmal stockte er und klopfte dann beinahe hektisch seinen Mantel ab.
Wie hatte er das Vergessen können?
Triumphierend zog er den blass-gelben Zettel aus einer speziellen, versteckten Innentasche und faltete ihn auseinander.
Erst vor wenigen Tagen hatte er einen selbst ernannten "Lignumologen" [1] gefunden, der von sich behauptete, sämtliche Holzsorten der Scheibe zu kennen. Oder zumindest zu wissen, wo er nach Informationen zu ihnen zu suchen hätte. Die Holzsorte, welche Ettark ihm nannte, gehörte wohl zur zweiten Rubrik und so hatte der Infokon ihm den toten Briefkasten nicht weit der Langen Mauer nahegelegt.
Neugierig entfaltete er den kleinen Zettel und starte auf den eng beschriebenen Wisch, dessen Aussage der Holzfachmann scheinbar aus einem Buch abgeschrieben hatte.
"Die Sorbus Cashmiriana, oder auch der Kaschmir-Baum, wächst hauptsächlich an den drehwärts gewandten Hängen des Cori Celesti. Aufgrund ihrer ausladenden Krone und auffallenden Färbung im Herbst werden diese Bäume in einigen nahen Reichen gerne als Parkbäume genutzt. Die Früchte dieser Gattung sind für die meisten höheren Lebewesen (Menschen, Zwerge und die meisten Untoten) ungenießbar."
Er starrte den Zettel an. Und für so etwas benutzte der Typ einen gelben Zettel? Hier stand nichts, was er nicht schon aus der Expertise in Miriels Akte erfahren hatte. Wütend drehte er den Zettel in den Händen, als er noch eine kleine Notiz auf der Rückseite entdeckte.
"Das ist alles, was ich in der einschlägigen Fachliteratur gefunden habe, jedoch habe ich in einem etwas verruchteren Buch noch eine kleine Fußnote gefunden, dass der Sorbus Cashmiriana eng mit der Pyrus Aucuparia oder auch Vogelbeere/Eberesche verwandt ist und daher auch für die selben, reinigenden Zwecke nutzbar ist... was auch immer damit gemeint sein mag. Dass man mit Eberesche säubern kann, wäre mir neu, bisher kannte ich diesen Baum nur als Färbehilfe. Ich hoffe, damit ist Ihnen geholfen und sie müssen mich nicht mehr in meinem Laden besuchen. Ich verspreche auch, kein Sägemehl mehr an die Plattepanscher zu verkaufen."
Ettark las das die kurze Mitteilung noch einige Male und war mit jedem Mal verwirrter.
Sillybos hatte doch bestätigt, dass der Tote ein Werwolf gewesen war.
Als Kind der Bergiger wusste er natürlich ziemlich genau, von welcher 'reinigenden' Wirkung der Autor des Buches gesprochen hatte. Jeder, der in dieser Gemeinschaft der Vampirhasser aufgewachsen war, wusste, was Eberesche mit einem Blutsauger anrichten konnte. Aber Werwölfe hatten seines Wissens kein Problem mit diesem Holz. Verwirrt saß der Wächter an seinem Schreibtisch und versuchte, die Hinweise in einen logischen Zusammenhang zu bringen.

Die Nacht war angebrochen, als es an der Bürotür mit der Nummer 103 klopfte.
Ettark, der die letzten Stunden beinahe unablässig in seinem Büro auf und ab gegangen war und versucht hatte, die Morde irgendwie miteinander in Verbindung zu bringen, schrak auf und brauchte einige Sekunden, um das zögerliche Pochen am zerkratzten Holz zuzuordnen.
Auf seine Aufforderung, einzutreten, öffnete sich die Tür nur langsam und ein junger Rekrut streckte den Kopf durch den Spalt.
"Herr Bergig?", fragte dieser mit piepsiger Stimme und schaute nervös zum wartenden Hauptgefreiten hoch. Ettark hob aufgrund der Anrede fragend die Augenbrauen.
"Steht doch draußen am Büro oder? Wer soll ich wohl sonst sein?", entgegnete er ziemlich schroff. Das stundenlange Rätseln hatte aus seinem Kopf einen brummenden Bienenstock gemacht, sich jetzt noch mit schüchternen Neulingen rumzuschlagen war nichts, auf was er besonders erpicht gewesen wäre.
Der Rekrut zuckte zusammen, schien sich dann aber zu fassen und schob die Tür weit genug auf, um den Raum wenigstens einige Schritte weit zu betreten. Wie einen Schild hielt er in beiden Händen eine dünne Mappe mit krakeliger Aufschrift vor sich.
"IchhabhiereineAktefürdenHauptgefreitenEttarkBergigausderGerichtsmedizin. Mirwurdegesagt,dassSiedaraufwarten!", sprudelte es dann aus ihm heraus, ohne dass er auch nur einmal Luft geholt hätte.
Aufgrund des plötzlichen Redestroms kurzzeitig aus dem Konzept gebracht, schnaubte Ettark genervt.
"Na, dann gib schon her!", brummte er dann und nahm dem schlaksigen jungen Mann die Akte aus der Hand.
Er klappte die Akte auf und entdeckte in ihrem Inneren zwei eng beschriebene, handschriftliche Obduktionsberichte und eine weitere Seite, mit der Analyse der Bolzenspitze.
Als er wieder aufblickte, stand der Rekrut immer noch vor ihm und betrachtete ihn mit beinahe neugierigem Blick.
"Watis? Wartest du auf'n Trinkgeld oder wie?", fuhr der Bergiger ihn an und der Rekrut taumelte einige Schritte zurück, als hätte der Ranghöhere ihn geschlagen. Dann drehte er sich um und rannte aus dem Büro, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Offenen Mundes blickte Ettark dem Flüchtling hinterher, bis er sich nach einigen Augenblicken dazu aufraffte, die paar Schritte zur Tür zu gehen und sie hinter dem Rekruten zu schließen. Natürlich wusste er nicht, was man dem Neuling über ihn erzählt hatte. Aber wenn so Etwas neuerdings in die Wache gelassen wurde, konnte es noch heiter werden.
Neugierig ließ Ettark sich zum ersten Mal seit Stunden in seinen Stuhl fallen und überflog die beiden Berichte.
Der Obduktionsbericht offenbarte nicht wirklich Neues. Der Tote war Werwolf gewesen, körperlich in recht gutem Zustand. Die SuSis hatten keine körperlichen Gebrechen erkannt, wenn man von dem Bolzen und dem von ihm erzeugten, verbrannten Einschussloch einmal absah.
Der zweite Bericht war da schon interessanter, denn auf Ettarks Anregung hin hatte man nicht nur diesen Bolzen sondern auch den, den man aus Miriels Brust gezogen hatte, nochmals einer näheren Betrachtung unterzogen.
Das Holz war offensichtlich das selbe. Wieder hing hier der kurze Aufsatz an, der schon in Miriels Akte gewesen war, doch interessant war, wie vermutet, die metallurgische Untersuchung der Spitze. Diese bestand zwar auf den ersten Blick aus völlig normalem, wenn auch gefaltetem Stahl [2], der zweite Blick offenbarte aber etwas, dessen Ettark sich nach dem verbrannten Einschussloch schon ziemlich sicher gewesen war: Um die Spitze herum waren in dünnen, konzentrisch gewundenen Ebenen, mit dem Auge kaum zu erkennende aber nichts desto trotz tiefe Rillen gezogen worden, welche vor dem Treffer vermutlich bis zum Rand mit feinem Silberstaub gefüllt gewesen waren.
Ettark stockte der Atem, als er die tödliche Perfektion dieser Waffe erkannte. Wenn der Bolzen in einen Körper eindrang, löste das Blut den Silberstaub aus den Rillen und ein Werwolf bekam seine persönliche Dosis Silber ab. Zwar war die dadurch freigesetzte Menge, wie der Experte schrieb, äußerst gering, doch durch den Blutkreislauf gelangte diese sehr schnell zu lebenswichtigen Organen und zerstörte diese von Innen ebenso sicher, wie es die hundertfache Dosis an Silber von außen getan hätte. Normalerweise währe dieses Silber am Bolzen nur schwer nachzuweisen, doch bei diesem Bolzen sei in der äußersten Rille scheinbar eine salzhaltige Lösung eingedrungen und hätte etwas Silber im Bolzen gehalten. Das erklärte dann seiner Meinung auch die verbrannte Einschussstelle, die ansonsten seiner Meinung nach nicht aufgetreten wäre.
Mit immer noch brummendem Schädel verschränkte Ettark die Hände hinterm Kopf und lehnte sich zurück. Während er die dunklen Flecken an der Decke betrachtete, überlegte er, inwieweit ihn diese neuen Informationen voran brachten. Diese Bolzen waren scheinbar als eine umfassende Untoten-Lösung gedacht. Weder Werwolf, noch Vampir würden einen direkten Treffer mit ihnen überleben. Doch die Frage, warum Miriel mit einem solchen Bolzen ermordet wurde, ließ sich damit noch immer nicht klären. Er war sich ziemlich sicher, dass jeder dieser Bolzen ein kleines Vermögen kostete. Warum sollte jemand so etwas für einen Menschen verschwenden [3], bei dem ein einfacher, billiger Holzbolzen den selben Effekt gehabt hätte? Hatte der Mörder sie für einen Vampir gehalten?
Ettark bezweifelte das, denn trotz ihrer roten Haare war sie nicht bleich genug gewesen, um eine solche Verwechslung wahrscheinlich zu machen. Vielleicht war sie einfach den falschen Menschen auf die Pelle gerückt? Der Name 'Silberblech' hallte in Ettarks Kopf.
Er seufzte schwer.
Wenigstens war teilweise geklärt, warum der Mörder die Bolzen trotz ihres materiellen Wertes am Tatort zurück lies. Nach einmaliger Benutzung wären sie ohne aufwändige Aufbereitung, zumindest gegen Werwölfe, nicht mehr zu gebrauchen.

Nachdem Ettark beinahe die ganze Nacht im Archiv gesessen und sich durch einen großen Teil derjenigen aktuellen Akten, welche Fälle von ungeklärten Morden an Untoten behandelten, ohne neuere Ergebnisse durchgearbeitet hatte, floh er vor den seltsamen Blicken der dort Arbeitenden und der schlechten Luft und tat das, was er immer tat, wenn er mit einem Problem nicht weiter kam. Eine große Rund-Streife und über eine Stunde später erreichte er, wie so oft, den Hafen und setzte sich dort auf einen großen Stein auf der Kaimauer, das Gesicht dem Sonnenaufgang zu gewendet.
Für solche Ermittlungen war er nicht ausgebildet und die vorliegenden Informationen wollten in seinem Kopf einfach keinen Sinn ergeben.
Nun, wenigstens eine der anderen Abteilungen dürfte für solche Fälle kompetent genug sein, vielleicht sollte er nach der heutigen Streife einfach irgendeinen RuM'ler abfangen und ihm die vorliegenden Informationen übergeben? Für ihn selber schien die Überführung von Miriels Mörder in weite Ferne gerückt zu sein.
Er fluchte verhalten und schlug mit der Faust gegen den Stein.
Hoffentlich würden sich ihm die RuM'ler, und vor allem ihre stellvertretende Abteilungsleiterin, nicht in den Weg stellen, wenn er ihnen seine neuesten Informationen übergab. Das war sein Fall, Miriels Mörder gehörte ihm!
Doch zunächst wartete sein Bett auf ihn.

Leben und Sterben


Der Tag hatte gut begonnen, zumindest nachdem er wieder aufgewacht war. Noch eine kurze Streife mit dem Gefreiten stand an, dann würde er, so hatte er es sich fest vorgenommen, die Kollegen der Abteilung für Raub und Mord um Hilfe bitten. Und das, soviel war klar, würde ihn viele Nerven kosten und ihm mit Sicherheit keinerlei Vergnügen bereiten.
Er seufzte leise, als er den seltsamen Begleiter seines Streifenpartners bemerkte... zum wiederholten Male an diesem Tag! Haustiere schön und gut aber es wäre einfacher, wenn der Hund auf seinen Herrn hören würde.
"Michael!", knurrte er genervt. [4]

Mit einer unbändigen Wut im Bauch beobachtete er, wie die Freiwilligen Retter den Hafen stürmten und Rogi sich um Michael kümmerte. Schon wieder ein verletzter Wächter unter seinem Schutz. Aber Rogi würde das schon richten und dann würde er diesen Neunmalklug zurechtstutzen. Was fiel dem eigentlich ein? Am liebsten würde er jetzt sofort darunter gehen, den Gefreiten am Kragen packen und kräftig durchschütteln. Aber daran war natürlich nicht zu denken. Vorsichtig streifte er die Decke wieder über den altertümlichen Klacker und machte sich an den Abstieg. Völlig verdreckt und beinahe so außer Atem wie nach dem Aufstieg, erreichte er schließlich wieder die enge Gasse und schwor sich, in nächster Zeit seine Fassedenkletterkünste wieder mehr zu trainieren. Vor wenigen Jahren hätte er über solch eine Übung noch gelacht.
Vorsichtig, damit ihn weder Wächter noch Schattenbewohner bemerkten, schlich er sich, sobald er wieder ruhig atmen konnte, aus dem verruchten Stadtviertel und schlug, nach einigen Umwegen, den Weg zum Pseudopolisplatz ein.

Er erreichte das Wachhaus erst am späten Abend, wo ihn eine bedrückte Stimmung erwartete.
Mit festem Schritt betrat er, ohne zu klopfen, das Büro der Hexe, die niedergeschlagen hinter ihrem Schreibtisch saß und einen mehrseitigen Bericht durchblätterte, offensichtlich, ohne dem Inhalt wirklich ihre Aufmerksamkeit zu schenken.
Als der Bergiger das Büro betrat, sprang sie beinahe aus ihrem Bürostuhl auf, so dass ihr kleiner Teewärmer sich vor Schreck hinter einem Papierstapel versteckte.
"Ettark! Du warst heute mit Michael eingeteilt! Was ist da draußen passiert, verdammt noch mal?"
"Was ist mit ihm? Wird er's überleben?", stellte der Szenekenner eine Gegenfrage, ohne auch nur im Geringsten auf die ihre einzugehen. Doch schon bevor sie den Mund aufgemacht hatte, konnte er die Antwort an ihrem Gesichtsausdruck ablesen und er sank, aller Hoffnungen beraubt, in einen der bereit stehenden Stühle. Dann begann er kurz und knapp alles zu berichten, was sie seiner Meinung nach wissen musste. Als sie ihm im Gegenzug die wenigen Informationen mitteilte, die sie bisher erfahren hatte, blieb ein Name in Ettarks Gedächtnis hängen: HIRN!

Betäubt schlurfte der Bergiger Richtung Keller, in der Hoffnung, beim Verhör des Joram-Bruders zugegen sein zu können. Auf der Treppe kam ihm ein zitternder Jargon entgegen. Als dieser ihm mit vor Entsetzen noch weit aufgerissenen Augen berichtete, was im Keller geschehen war, war es für Ettark, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen.
Rogi tot? Das war einfach unmöglich. Rogi war immer da gewesen, sie war für ihn ebenso Bestandteil der Wache, wie es dieses Gebäude war.
Der Weg zu Joram war ihm heute versperrt. Und leider auch der Weg zu diesem Igor, der Rogi auf dem Gewissen hatte. Nun gab es nur noch einen Ort, an dem er sein wollte. Er dachte an lange rote Haare, die ein fein geschnittenes Gesicht umrahmten und machte sich benommen auf den Weg in Richtung Hafen. [5]

Rauchfänger


Der Tag war gerade erst angebrochen, als Ettark die kleine Straße am Grünmarkt betrat und so war er nahezu unbeobachtet, als er vor dem Haus mit der Nummer 7 stehen blieb und sich unauffällig umblickte. Nur das leichte Zittern des fadenscheinigen Vorhangs im Fenster des zweiten Stocks verriet, dass sein Kommen nicht unbemerkt geblieben war.
Er drückte die unverschlossene Tür auf und betrat das dunkle Treppenhaus. Erst nachdem er die Tür sorgsam wieder zugezogen hatte, blickte er sich um und fand den engen Flur so vor, wie er es erwartet hatte: ordentlich und erstaunlich sauber für eine Gegend, die ihren Glanz schon vor langer Zeit verloren hatte.
Vorsichtig, um nicht auszurutschen, ging er die schmalen Stufen herauf, die offensichtlich nicht für seine Schuhgröße konzipiert worden waren, bis er im zweiten Stock sein Ziel erreicht hatte. Die Treppe endete nur einen halben Schritt vor der Tür und der Wächter musste Kopf und Schultern einziehen, um trotz der hier niedrigen Decke halbwegs gerade stehen zu können.
"Komm schon rein! Aber lass die elende Schwüle draußen!", erklang eine Stimme durch die massive Tür, die man eher auf einem Schlachtfeld oder vielleicht noch in einem Opernhaus erwartet hätte. Es war eine Stimme, die einem Mann sowohl Mut als auch Angst einflößen konnte, die aber, da war Ettark sich sicher, auch schon so manche Frau hatte dahinschmelzen lassen.
Er schob die schwere Tür auf und verschloss sie hinter sich, bevor er sie mit einem massiven Riegel zusätzlich sicherte.
Die Wohnung bestand aus zwei Zimmern, einer kleinen Küche und einem eigenen Badezimmer. Gerade letztes war, wie er wusste, einer der Gründe dafür gewesen, warum ihr Bewohner genau hierher gezogen war, obschon es für ihn nicht ganz ungefährlich war. Außerdem war sie, anders als das Treppenhaus, mit einer recht hohen Decke ausgestattet, so dass Ettark aufrecht stehen konnte.
Er fand Patrick Schwarz wie erwartet in dem kleinen Wohnzimmer, wo dieser in einem stabil aussehenden Lehnstuhl saß, auf dem Schoß ein abgegriffenes Magazin.
"Guten Morgen, Wachtmeister! Wie kann ich heute dienen?", fragte der vierschrötige Mann und salutierte ironisch mit der linken Hand.
Ettark sah sich um und zog schließlich einen nicht besonders vertrauenerweckenden Hocker aus einer Zimmerdecke, wischte ihn mit dem Ärmel ab und setzte sich Schwarz gegenüber, bevor er ihn musterte.
Patrick Schwarz, oder der Schwarze Pat, wie er einst in den Gassen der Stadt genannt worden war, war ein vom Leben gezeichneter Mann. Vor langer Zeit, lange bevor der Bergiger das Licht der Welt erblickt hatte, war Patrick in der gesamten Zwillingsstadt bekannt gewesen, schließlich galt er, trotz damals noch junger Jahre, schon als einer der mächtigsten Männer der Unterwelt. Doch dann kam die Revolution und Patrick hatte sich verrechnet. Er hatte die alten Machthaber unterstützt, um sich ihre Sympathie zu erkaufen, doch als der Mob das System zum Wackeln gebracht hatte und Vetinari zu seinem Erstaunen die Macht an sich gerissen hatte, war das Leben des einst so angesehenen Schwarz keinen Pfifferling mehr wert gewesen. Während den ersten Tagen der neuen Ordnung hatte er seinen rechten Arm gegen das Leben eines selbsternannten Kopfgeldjägers tauschen müssen und, nur kurze Zeit später, den linken Fuß an einen inkompetenten Arzt verloren, noch während er von der ersten Wunde geschwächt ans Bett gefesselt war. Den Schnitt quer über sein Gesicht, der ihm sowohl ein Auge als auch einen Teil seiner Rübennase gekostet hatte, hatte er nach eigener Angabe einem der besten Assassinen der Stadt zu verdanken, der seitdem die Ankkschlammplanken von unten beobachtete. Nach diesen Geschehnissen und der bitteren Erkenntnis, dass die meisten seiner sogenannten Freunde sich von ihm abgewandt hatten, kratzte Schwarz zusammen, was ihm noch an Vermögen geblieben war, tauchte unter und zog jahrelang von einer billigen Absteige in die nächste. Bis er sich schließlich traute, eine feste Wohnung zu kaufen. Hauptgrund dafür war gewesen, dass auch der rechte Fuß scheinbar nicht unverletzt davon gekommen war, was dem ehemals stolzen Mann das Laufen immer mehr erschwerte.
Und hier hatte Ettark ihn aufgetrieben.
Nachdem Schwarz den Schreck überwunden hatte, gefunden worden zu sein, ging er schnell auf Ettarks Angebot ein, dieses Mal für die richtige Seite zu arbeiten. Und welche Seite das wäre, daran hatte der Wächter keinen Zweifel gelassen. Zwar hatten sich viele von Schwarz' Freunden abgewandt aber trotzdem war er teilweise überraschend gut informiert, was sich in der Unterwelt der Zwillingsstadt tat. Schwierig war es hingegen gewesen, eine passende Gegenleistung für seine Auskünfte zu finden. An finanziellen Mitteln mangelte es Schwarz nicht und keiner von beiden machte sich Illusionen, dass der Patrizier nicht inzwischen genau wusste, wo sich seine ehemaligen Widersacher aufhielten, selbst, wenn es sich nur um einen vergleichsweise kleinen Fisch wie den Schwarzen Pat handelte. Schließlich war es eine junge Frau gewesen, die Ettark auf die zündende Idee gebracht hatte. Jene Frau, die die Abteilungsleitung von Seals ihm erst wenige Tage zuvor aufs Auge gedrückt hatte. Aber woher hatte der Bergiger auch wissen sollen, dass jene leere Pralinenverpackung, welche Schwarz scheinbar schon seit längerer Zeit in seinem Regal verstauben ließ, nicht nur eine Erinnerung an bessere Zeiten gewesen war? Dass deren Inhalt eine ganz bestimmte, sehr seltene Geschmackssorte aus dem fernen Klatsch darstellte? Ganz zu schweigen davon, wie schwer es in Ankh Morpork war, ohne die richtigen Kontakte an diese spezielle Sorte heran zu kommen! Seitdem ging ein stolzer Teil der monatlichen Informantenspesen von Seals an einige zwielichtige Gestalten, die über verschlungene Wege mit den Kameltreibern bekannt waren und dem Bergiger jene kleinen, rot-goldenen Kartons beschafften.
Von welchen dieser nun einen aus einer Manteltasche zog.
Die Augen des Informanten leuchteten auf, als er die Spezialmischung in den Händen des Wächters sah.
"Na, was will die ehrenhafte Stadtwache heute von mir erfahren? Die neuen Plattewege über das Mittelwärtige Tor? Oder wie wäre es mit den Stark&Burlich-Fälschern im Nilpferd? Oder die Sache mit dem gekauften Schiedsrichter beim letzten großen Spiel der Mobilien gegen die Götterinseln?" Pat grinste und zog ein dünnes Büchlein aus einer Schublade. Schachtel und Buch tauschten ihre Besitzer und während Pat die Schachtel öffnete und eine einzelne Praline nahm, steckte Ettark das Buch in eine leere Innentasche seines Mantels. Er hatte momentan keinen offiziellen Fall aber die Abteilungsleitung würde mit den Informationen sicher etwas anfangen können. Er würde es später auswerten. Heute suchte er schließlich spezielle Informationen.
"Vielen Dank, Pat! Aber heute hätte ich eine... etwas allgemeinere Frage."
Die Lippen des Informanten deuteten ein Lächeln an. Er liebte es, mit seinem Wissen prahlen zu können.
"Sagt dir 'HIRN' etwas? Die...", er blickte in sein aufgeschlagenes Notizbuch, "...Heimlichen Infragesteller Rücksichtsvoller Neuordnung?"
"Hmmm..." Patrick kratze sich an der Stirn und warf dem Wächter einen längeren Blick zu. "HIRN... HIRN... ja, doch, da klingelt was... waren das nicht diese Extremisten, die alle Untoten killen wollen? 'Ankh Morpork den Menschen' oder so was?"
Ettark nickte. "Jap, eben jene."
"Ne, das tut mir leid. Mit solchen Leuten hab ich echt nix am Hut. Ich mein, dass nicht jeder Vampire mag, ist schon logisch. Aber die Schwarzbandler sind doch echt sehr bemüht, sich zu integrieren und warum sollte man die Werwölfe und so verjagen? Die tun doch nix!" Pat seufzte. "Tut mir leid, ich weiß echt nur das, was allgemein bekannt ist. Aber ich werd' mich mal umhören."
Ettark nickte. Das war ungefähr die Antwort, welche er erwartet hatte. Die meisten seiner Informanten hatten bisher ähnlich reagiert. HIRN war einfach nicht aufzutreiben. Zwar hatten die meisten schon von der Gruppe gehört und einige waren mit ihren Zielen sogar einverstanden aber Genaueres wusste keiner. Diese verfluchte Organisation war wie Rauch! Es gab nirgendwo Punkte, an denen sie zu greifen gewesen wäre.

Auch der restliche Tag verging, ohne dass Ettark in seinen Nachforschungen weitergekommen wäre und so kam er am frühen Abend vergleichsweise frustriert in der Fleißigen Straße an. Vor dem Haus mit der Nummer 6 stand Frau Honigkuchen, seine Vermieterin und unterbrach das Gespräch mit Frau Eich, der Nachbarin, um Ettark zu begrüßen.
Er nickte ihr zu und betrat durch die offene Tür das kühle Haus. Mehrere Stufen gleichzeitig nehmend stieg er in den ersten Stock und schloss die Tür seiner Wohnung auf.
Kaum war die Tür geöffnet, stieg ihm der köstliche Duft von Kaffee in die Nase und wie erwartet saß Hasko, verstaubt und mindestens genau so müde wie Ettark, am Küchentisch vor einer großen, dampfenden Tasse.
"Willkommen Zuhause, Bruder!", prostete er Ettark zu.

Hasko war nicht wirklich Ettarks Bruder. Keiner der beiden hatte Geschwister. Trotzdem hatten beide in gewissem Sinne die gleichen Eltern und hatten bis zu ihrem 14. Geburtstag so ziemlich die gleiche Kindheit erlebt. Nur in unterschiedlichen Hosenbeinen der Zeit. Während Ettark jedoch mit 14 einen Lehrer vorgesetzt bekommen hatte, der ihn nichts lehren wollte, wurde Hasko [6] von einem Lehrer unterrichtet, der seinem Schüler alles beibrachte, was er wusste. Und der dabei offensichtlich noch sehr viel Spaß hatte.
Wo Ettark einen Feind hatte, der ihm schnell das Vergnügen an der Assassinengilde genommen hatte, wurde Hasko von einem Freund zu einem der besten Attentäter der Zwillingsstadt ausgebildet. Doch eines Tages, noch während Ettarks Ausbildung zum Szenekenner, brachte der missglückte Spruch eines offensichtlich verrückten Zauberers Hasko in dieses Bein der Zeithose. Da der Zauberer kurze Zeit später in der Zelle starb, saß Hasko nun hier fest. Er kam nach anfänglichen Schwierigkeiten recht gut mit der Situation klar, zog in das Dachgeschoß von Frau Honigkuchen, schaffte es, auch hier bei der Assassinengilde angenommen zu werden und war dort ziemlich erfolgreich. Inzwischen war er zum Experten für die Inhumierung von Vampiren aufgestiegen und war dementsprechend gefragt.
Was die unterschiedliche Entwicklung aus ihnen gemacht hatte, war schon auf den ersten Blick zu erkennen.
Wo Ettark sarkastisch und böse war, war Hasko freundlich, ständig gut gelaunt und konnte die meiste Zeit einfach nicht die Klappe halten.
Wo Ettark sich den Kopf rasiert und den Bart hatte wuchern lassen, waren Haskos lange Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden und sein Bart ordentlich getrimmt.
Wo Ettark Muskeln und inzwischen einen kleinen Bauch angesetzt hatte, war Hasko sehnig.

"Hasko, schon wieder zurück? Ich dachte, du wolltest nach Überwald?"
"Joh, hab das Ziel aber schon in Kleinkohlfeld erwischt." Er tippte mit dem Finger auf ein Einmachglas auf dem Frühstückstisch, welches mit einer grauen Masse gefüllt war.
"Du hast ihn mit gebracht? Ist das nicht gegen die Regeln?"
"Nah, eigentlich wollten die Auftraggeber die Überreste selber haben. Aber so wie es aussieht, haben sie es sich nun doch anders überlegt und weigern sich zu zahlen..."
Ettark lachte auf. Einen Vertrag mit der Gilde brechen? Doofe Idee.
"Joh, sind auch Blutsauger... bin also demnächst noch mal unterwegs... dieses Mal wirklich in die alte Heimat."
Er schob das Glas zu Ettark rüber.
"Hier, schenk ich dir. Sind auch noch 'nen paar Zähne drin. Und irgendwo auch noch die Quittung, falls jemand dumme Fragen stellt."
Ettark nahm das Glas in die Hand und hielt es gegen das Licht.
"Hübsch... danke! Womit hast du ihn fixiert? Ankh?"
"Nö, hab von 'nem befreundeten Alchi was Interessantes bekommen. Nennt sich Phosphor. Wenn der Vamp sich regenerieren will, entzündet die entstehende Hitze das Phosphor und HUSCH... wieder Asche."
Ettark pfiff beeindruckt.
"Nett! Danke! Aber ich muss jetzt ins Bett, ich fall gleich um. Und morgen ist die Beerdigung. Nacht, Bruder."
"Gute Nacht!"

Trauer


Die Sonne schien auf den langen Zug von Wächtern herunter, als diese, den Palast hinter sich lassend, in die Straße der Geringen Götter einbogen. Sie folgten dem mit Blumen geschmückten Karren, auf dem in stiller Einkunft die beiden Särge nebeneinander lagen. Über dem Zug hing eine getragene Melodie, doch die meisten Wächter bewegten nur stumm die Lippen zum Text. So war die alte Weise nur für die wenigen Passanten verständlich, die den Trauernden nahe kamen. Es war das Lied des toten Wächters.
Der Karren bog linkerhand des Tempels zum Friedhof ein und erreichte schließlich das verwahrloste Stück Erde hinter dem Tempel der geringen Götter. Dort übernahmen einige Wächter die Last der Toten um sie auf den letzten Metern ihres Weges persönlich zu begleiten[7]. Das Gewicht der beiden schweren Holzkisten drückte schnell schwer auf die Schultern der jeweils sechs Träger, die nun mit gemäßigtem Schritt an der Spitze des Zuges schritten.
Ettark rückte das grobe Holz einige Zentimeter weiter und hinterließ so eine Spur Sägespähne auf dem Umhang seiner sonst kaum genutzten Uniform.
Während der erste Sarg in der Reihe beinahe schon luxuriös aussah, hatte sich nur noch wenig Geld für die Totenkiste des großgewachsenen Gefreiten gefunden. Hauptsächlich SEALS-Wächter hatten ihr Erspartes gegeben, um einem der Ihren ein angemessenes Bett für die Ewigkeit zu finanzieren. Zum Glück für die Träger war zumindest der Weg frei von pflanzlichen Stolperfallen, so dass der Zug, und vor allem die Särge, unbeschadet den gepflegten Teil des Götterackers erreichten, wo schon zwei frisch ausgehobene Löcher das traurige Ziel des Zuges markierten.
Ein unrasierter Priester mit dreckiger Robe wartete dort neben den Erdhügeln und versteckte schnell den abgewetzten Flachmann, als er den langen Zug der Trauernden erblickte. Er straffte seine Haltung, was jedoch den heruntergekommenen Eindruck, den er sich mit dem Friedhof teilte, eher verstärkte.
Erst jetzt verstummten auch die letzten, leisen Sänger und schweigend erreichten die Träger die Gräber.
Vorsichtig ließen die Wächter die beiden Särge auf die über die Löcher gelegten Planken und stellten sich in Habacht-Stellung beidseitig der frischen Gräber. Nach und nach erreichte der gesamte Zug die Gräber und es bildete sich eine erstaunlich große Gruppe Trauernder auf dem schmalen Stück winter-braunen Grases, welches sich zwischen den Gräbern und dem schlammigen Kiesweg erstreckte.
Ettark warf einen Blick über den Friedhof und verglich die Szenerie unwillkürlich mit einer anderen Beerdigung, die vor viel zu kurzer Zeit stattgefunden hatte.
Miriels Begräbnis war ein anderes Kaliber gewesen. Der Friedhof hatte von weiß glänzenden Marmormausoleen, gepflegten Blumenbeeten und akkurat geschnittenen Zierbäumen nur so gestrotzt und kaum einer der Besucher war zu Fuß gekommen. Hier gab es hingegen nicht viel mehr als eine Ansammlung alter Grabsteine, die selten mehr als einen Namen oder ein Datum trugen und meist durch Moos und Algenbewuchs kaum noch von natürlich gewachsenen Steinen zu unterscheiden waren. Auch fehlten hier die reich verzierten Kutschen des Geld-Adels. Nur der schlichte Karren wartete am Rand des Ackers auf das Ende der Zeremonie.
Dann schweifte sein Blick über die Trauernden, Wächter und Kollegen, die sich zur Ehre der Gefallenen in erstaunlich gepflegte und, bei einigen, inzwischen zu enge Uniformen gezwängt hatten. Anders als die Freunde von Freunden von Miriels Eltern zeigten sie wirkliche Anteilnahme am Schicksal der Toten.
Er musste nicht lange überlegen, welche der beiden letzten Ruhestätten er bevorzugen würde.
Der Priester hatte inzwischen mit gesenktem Kopf und leiser Stimme eine, den meisten Wächtern nur zu bekannte, Litanei begonnen und Ettark sah viele der älteren Kollegen die letzten Worte des Priesters stumm mitsprechen. Als der alte Mann geendet hatte trat er einige Schritte zurück und zog wieder die verkratzte Metallflasche aus seinem Ärmel, aus der er einige hastige Schlucke nahm.
Schweigen breitete sich über der Gemeinde aus und nur einige Vögel und die Betriebsamkeit der nahen Kunsthandwerkerstraße störten die Ruhe.
Schließlich trat der Kommandeur der Wache vor und zog, nach einigem Kramen, einen Zettel aus der Uniformtasche, der aussah, als wäre er in den letzten Tagen und Stunden viele dutzend Male auseinander und wieder zusammen gefaltet worden. Sein Räuspern beendete die Stille und mit lauter, nur selten stockender Stimme begann er, über die beiden Toten zu reden, ihre Leben, ihre geschätzten Qualitäten, ihre Opferbereitschaft und, vor allem bei Rogi, über ihre Verdienste für die Wache und die Stadt.
Es war eine gute, wenn auch kurze Rede, fand Ettark und wieder ließ er seinen Blick über die Trauernden schweifen - als sich die anderen Sargträger plötzlich bewegten.
Verdammt, hatte er das Zeichen übersehen? Schnell bückte auch er sich und zog das dicke Tau, welches Ruppert ihm unterhalb des Sarges reichte, auf seine Seite. Das selbe geschah am Kopf des Sarges und auch Rogis Sargträger taten dasselbe. Auf ein Nicken Breguyars hob der Bergiger zusammen mit den anderen sieben Trägern an Kopf und Fuß der Erdlöcher die Särge an den Seilen empor, während die mittig stehenden Wächter die massiven Holzbretter von den Löchern entfernten. Wieder gab der Kommandeur mit traurigem Blick ein Zeichen und unter dem lang gezogenen Pfiff einer Wächter-Pfeife, ließen sie die Kisten langsam in die Löcher sinken.
Als diese beinahe zeitgleich und mit einem dumpfen Geräusch am Boden der Löcher ankamen, kam plötzlich Bewegung in die Reihen der Trauernden und als Ettark aufblickte, sah er, wie die sehr bleiche Verdeckte Ermittlerin von RuM, Ophelia, erinnerte er sich mit einem bitteren Geschmack im Mund an ihren Namen, in den Armen ihres Abteilungsleiters zusammengebrochen war.
Und wieder zeigt sie ihre Unfähigkeit zu wächtergerechtem Verhalten, dachte Ettark, der Schwäche für ein Gefühl hielt, welches ein Beschützer der Stadt in der Öffentlichkeit niemals zeigen sollte. Aber was sollte man von einer Verräterin auch erwarten?
Das Ende der Beerdigung war denkbar unzeremoniell. Während Breguyar noch ein paar Worte sprach und einige Wächter traditionsgemäß eine handvoll Erde oder einige Schnittblumen auf die Särge warfen, kamen die ersten leise geführten Gespräche auf, bis schließlich die Sargträger nach den bereitgestellten Spaten griffen und die Toten in den Schoß der Erde betteten. Nach und nach verteilten sich die Trauernden, einige mit Tränen in den Augen. Andere entfernten mit schuldbewusstem Blick Moos von alten Grabsteinen oder gingen langsamen Schrittes in Richtung Ausgang.
Ettark genoss die körperliche Arbeit, als er mit dem groben Spaten die feuchte Erde in das Loch fallen ließ.
Dies war nicht der letzte Dienst, den er Michael und Rogi erweisen konnte. Morgen früh würde er den Schuldigen dieses Ereignisses auf die Pelle rücken!

Der Rächer


Die schwarze Kapuze tief in in die Stirn gezogen, stand Ettark im Schatten eines halb zerfallenen Lagerhauses und beobachtete das Gebäude am anderen Ende der Seilstraße. Seit er heute Mittag mit der Observierung des Hauses begonnen hatte, war nichts passiert, was auch nur bedingt interessant gewesen wäre und langsam verlor er die Geduld. Die Sonne war schon beinahe hinter den umliegenden Gebäuden verschwunden und die Schatten im Dunkeln waren eine Gegend, die er gerne mied. Dass die Straßen heute auffällig leer waren, beruhigte ihn nicht unbedingt. Diejenigen, die hier überleben wollten, entwickelten schnell einen sechsten Sinn für Gefahren. Wenn sich also die Straßen der Schatten zu einer Zeit, wo die meisten ihrer Bewohner ihr Tagewerk [7a] begannen, auf solch dramatische Art leerten, hatte das selten etwas Gutes zu bedeuten. Irgendwas zog herauf und er wollte sicher nicht mehr hier sein, wenn dieses Etwas passierte.
Er grummelte und wollte seinen Posten gerade aufgeben, als eine heruntergekommen aussehende Gestalt von den Perlendocks aus an seinem Versteck vorbei hastete und auf das geheime Quartier der Joram-Bande zuhielt.
"Na endlich!", murmelte der Wächter grinsend und vergaß seine Bedenken schlagartig. Während er wartete, bis er sich des Zieles der Gestalt sicher sein konnte, zog er ein schwarzes Tuch aus der Manteltasche und band es sich um den unteren Teil des Gesichtes, so dass es auch die Kapuze fixierte. Dann sprintete er geduckt los und erreichte die zierliche Gestalt nur wenige Sekunden, bevor deren erhobene Hand an der Tür des Gebäudes klopfen konnte. Die linke Hand fest auf ihren Mund gedrückt, zog er sie in die schmale Seitengasse, die er für diesen Zweck schon am Mittag genau überprüft hatte. Hier würde ihn niemand überraschen und dank der leeren Straßen durfte er sich auch ziemlich sicher sein, dass die Aktion unbemerkt geblieben war. Zwar hätten die meisten Schattenbewohner ihn nicht weiter beachtet aber man wusste ja nie. Noch immer die Hand auf den Mund der Gestalt gepresst, fixierte er sie mit dem Rücken zur Wand und zog mit der Rechten das Schwert. Er wartete, bis er in den ängstlich geweiteten Augen der Gestalt erkannte, dass diese das blanke Schwert gesehen hatte und zog dann die Hand ganz langsam von ihrem Gesicht. Erst jetzt erkannte er, was sowohl die diffusen Lichtverhältnisse als auch die weite Kleidung bisher verborgen hatten und er stockte.
Vor ihm stand keiner der üblichen Spießgesellen, mit denen sich die Jorams sonst immer umgaben, sondern eine junge Frau. Sie zitterte und eine plötzliche Windböe blies ihr das kurz geschnittene, dunkelbraune Haar in die Stirn. Sie beobachtete ihn weiter voller Angst, während sie sich flach gegen die Wand drückte, als könne sie mit dieser verschmelzen.
Ettark seufzte. Er konnte sich ziemlich genau denken, was das Mädchen befürchtete und das war kein Eindruck, den er erwecken wollte, selbst wenn er sich bei der geplanten Befragung vermutlich als hilfreich erweisen könnte. In seinem Selbstverständnis gab es gewisse Grenzen, die er nicht überschreiten wollte.
"Keine Angst, ich werde dir nichts tun.", versuchte er, seine Stimme beruhigend klingen zu lassen. "Ich will dir nur ein paar Fragen stellen." Es dauerte einige Sekunden aber dann meinte er, so etwas wie Hoffnung in den Augen seines Gegenübers zu erkennen. Nun, das musste erst einmal reichen. "Zu wem willst du?", fragte er dann mit einem leichten Kopfnicken auf den Ausgang der Gasse, ohne sich zu bemühen, seine Stimme weiter freundlich klingen zu lassen.
Der Blick der braunen Augen flackerte kurz, dann antwortete das Mädchen zögernd.
"Zu Mattes, 'nem Freund von menem Bruder. I' soll dem 'nen Brief bringen.", sagte sie mit zitternder Stimme und wollte in die Tasche der löchrigen Jacke greifen, bevor Ettark sie mit einem schnalzenden Geräusch und dem kurzen Zucken der Schwertspitze daran hinderte.
Er war hier in den Schatten, hier konnte sich selbst ein hübsches kleines Mädchen als routinierte Verbrecherin erweisen, auch wenn sie in diesem Fall zusätzlich noch eine wirklich überzeugende Schauspielerin sein müsste.
Statt dessen griff Ettark selbst vorsichtig in ihre Tasche und zog ein schmutziges Kuvert heraus, bevor er wieder einen halben Schritt zurück trat.
"Weißt du, wer da außer Mattes noch drinnen ist?", fragte er dann und ließ den Brief in seinem eigenen Mantel verschwinden.
Wieder flackerten die Augen des Mädchens, doch diesmal glaubte Ettark, Zorn zu erkennen.
"Ja, dieser Joram! Det abartige Arschloch!", erwiderte es dann heftig.
Ettark musste sich ein Grinsen verkneifen, ob der plötzlich veränderten Situation.
"Du magst ihn nicht sonderlich?", fragte er dann vorsichtig.
"Das is'n Perversling und seit die Wache seinen Bruder hopsgenommen hat dreht der völlig am Rad. Lässt nur noch seine besten Freunde in seine Nähe. Deswegen muss ich auch hier hin. Meinem Bruder traut der nicht. Aber so wie der mich immer anguckt! Als würde ich nackt vor ihm stehen!" Dem Mädchen schien es kalt den Rücken runter zu laufen, doch dann bemerkte sie mit einem Mal wieder, in welcher Situation sie sich befand und ihr Mund klappte zu.
"Das heißt also...", Ettark überlegte kurz, "...Sebb ist da ohne seine üblichen Schlägertrupps drin?"
Das Mädchen nickte.
"In letzter Zeit sin' die da höchstens zu fünft oder sechst drin. Glauben wohl, keener weiß von dem Versteck. Dabei zwitschern die Vögel dat doch schon von die Dächer."
Sie lachte leise und warf Ettark dann einen verschlagenen Blick zu.
"Se' wollen dem Wichser an' Kragen, oder? Na meinen Segen ham' se auf jeden Fall. Sind' se von der Wache?"
Ettark zog die Augenbraun hoch.
"Seh' ich etwa so aus?"
"Näh, net wirklich. Un' wat passiert nu mit mir?"
Ettark zögerte einen Moment. Eigentlich hatte er vorgehabt, seinen Gefangen als Eintrittskarte in das Gebäude zu nehmen. Aber sein Plan hatte einen wertlosen Schläger vorausgesetzt. Ein junges Mädchen, ein halbes Kind, dabei zu gefährden, kam nicht in Frage.
"Du verschwindest jetzt und lässt dich hier die nächste Zeit nicht mehr blicken. Kannst deinem Bruder ja erzählen, hier wär' keiner Zuhause gewesen."
Er nahm das Schwert runter und zeigte mit dem Daumen Richtung Perlendocks.
"Zack, zack, bevor ich' s mir anders überlege!"
Das Mädchen ließ sich nicht zweimal bitte und nahm die Beine in die Hand.
"Nun gut...", seufzte Ettark und betrachtete die Fassade des Gebäudes. Dann musste er wohl umdisponieren.

Sebastian Joram der Ältere, von seinen Freunden einfach nur Sebb genannt, saß auf einem groben Stuhl mit hoher Lehne und beriet sich mit dem inneren Kreis seiner Bande. Seit sein Bruder verhaftet worden war, hatte er das Versteck kaum noch verlassen und die Nachricht, dass der Patrizier Basti hatte hängen lassen, war ihm bis ins tiefste Mark gefahren. Nun saß er hier und plante Rache.
Natürlich wusste er von HIRN, der Organisation, von der sein Bruder in den letzten Monaten immer mehr vereinnahmt worden war. Schließlich hatte er selbst den Kontakt zu ihnen hergestellt, wenn auch unter Bastis Namen. Diese Leute waren unglaublich mächtig. Was sie alleine für die Beschaffung des Sprengstoffes hatten locker machen können, ging über den Jahresverdienst der meisten ehrlichen Arbeiter. Nicht, dass die Jorams sich selber jemals zu solchen gezählt hatten. Aber als Basti verhaftet und anschließend umgebracht worden war, hatten diese ach so mächtigen Leute keinen Finger gekrümmt, um einen der ihren zu retten! Sebb schäumte vor Wut aber er wusste einfach nicht, was er machen sollte. Die wirklichen Oberbosse der Organisation hatte er natürlich nie zu Gesicht bekommen. Es waren immer Laufburschen von Laufburschen gewesen, die an ihn und seinen Bruder heran getreten waren. Und die Idee, sich am Patrizier zu rächen, war beinahe noch lächerlicher. Blieb nur noch die Wache. Seine Bande hatte sich gerade in den letzten Stunden immer mehr für die Idee begeistert, sich bei der Wache zu revanchieren. Schließlich war die aufgeflogene Sprengstofflieferung nicht die erste gewesen und Sebb hatte jedes Mal ein kleines Bisschen für den Eigengebrauch abgezweigt. Die Menge reichte zwar nicht für wirklich große Ziele aber für das kleine Ausbildungszentrum am Viehmarkt, dafür würde es schon reichen.
Er lachte laut und die drei anderen Männer im Raum fielen in das Lachen ein. Denen würden sie schon zeigen, was es bedeutete, es sich mit den Jorams zu verscherzen! Morgen würde die Wache ihr blaues Wunder erleben.
Mitten in das befreiende Lachen krachte es plötzlich und eins der Fenster wurde von einem Windstoß aufgerissen. Die Kerzen auf den Tischen um sie herum erloschen und nur noch eine einzelne Öllampe neben dem Stuhl spendete den Männern flackerndes Licht.
Die erschrockene Stille wurde von Sebbs Lachen durchbrochen.
"Ihr Feiglinge, habt ihr etwa Angst vor einem kleinen Unwetter? Los, Mattes, mach das Fenster wieder zu! Thomas, zünde die Kerzen wieder an!", befahl er und die beiden breitschultrigen Männer standen von ihren Plätzen auf, um ihm Folge zu leisten. Ein blendend heller Blitz erhellte den großen Raum und der Donner, der ihm nur Augenblicke später folgte, ließ sogar den Boden erzittern. Mit einem vernehmlichen Knacken gab der kleine Beistelltisch unter dem Gewicht der Öllampe nach und mit einem splitternden Geräusch wurde es dunkel.
"Ok, das 'klein' nehme ich zurück.", lachte Seb, dem jetzt doch etwas unwohl wurde. "Los, zündet die Kerzen endlich wieder an!"
Doch da flammte schon der nächste Blitz auf und der ältere der Joram-Zwillinge keuchte auf.
Selbst, als der folgende Donner das Gebäude wieder erzittern lies, brannte auf seiner Netzhaut noch jenes Bild, welches er in dem kurzen Augenblick des Lichtes gesehen hatte.
Die Tür zu seinem Versteck war aus den Angel gerissen worden und in ihrem Rahmen stand ein großer Mann, dessen dunkler Mantel hinter ihm im Wind des aufziehenden Sturmes flatterte. Obwohl die Gestalt nur schemenhaft zu erkennen gewesen war, war das schwarze Loch, welches an der Stelle des Gesichtes gewesen war, sofort ins Auge gesprungen. Dies und das lange, im Licht des Blitzes wie Feuer flackernde Schwert in seiner Hand!
Sebb erzitterte, denn alles an diesem Anblick erinnerte an die alten Kindergeschichten, die auf den Straßen der Schatten erzählt wurden. Geschichten über den Gesichtslosen Rächer, der die Bösen und die Ehrlosen bestrafte!
Bevor er auch nur krächzen konnte, blitzte es erneut. Die offene Tür war leer.
Hatte er sich etwa getäuscht?
In den folgenden Donner mischte sich ein Schmerzensschrei und als Sebb automatisch die Quelle des Geräusches suchte, flackerte eine der Kerzen auf und erleuchtete den Raum in einem zwielichtigen Licht. Sebbs umherirrende Augen erblickten Mattes, der kurz vor dem offenen Fenster zusammengebrochen schien, Klas und Hein, die wie große Puppen auf ihren Stühlen zusammen gesunken waren und als sein Blick zu Thomas schoss, konnte er gerade noch den Gesichtslosen sehen, wie er auch den letzten seiner Kameraden mit scheinbar manifestierter Dunkelheit niederschlug. Die Kerze flackerte noch einmal und wurde dann mit einer schnellen Bewegung vom Tisch gefegt. Wieder wurde Sebb von Dunkelheit umfangen.
Er drückte sich in den hohen Stuhl und wollte sein Schwert ziehen, doch seine Hände krallten sich nur unkontrolliert und panisch in die Armstützen.
Der nächste Blitz blendete ihn kurz, doch er erkannte den Rächer, der nur wenige Schritte vor ihm stand, das flackernde Schwert auf seine Brust gerichtet und das Gesicht noch immer nur ein waberndes Loch aus Schatten. Das Licht verschwand und nur einen Sekundenbruchteil später, bevor er ein Stoßgebet zu den Göttern seiner Eltern sprechen konnte, verspürte der Bandenanführer einen stumpfen Schmerz und fiel ins bodenlose Dunkel.

Als er wieder zu sich kam, dröhnte sein Schädel wie nach einer Zechtour und die Arme waren ihm schmerzhaft nach hinten gebunden. Um in herum herrschte verschwommene Helligkeit, doch es fiel ihm schwer, den Blick zu fixieren. Da traf ihn ein eiskalter Wasserschwall und als er vor Schreck aufkeuchte, wurde ihm mit einem mal klar, das dies nicht der erste war, sondern dass er durch eben jenes Gefühl erst aufgewacht war. Er stöhnte und riss die Augen soweit auf, wie er konnte und langsam gewann die Szenerie an Schärfe.
Er saß noch immer auf seinem thronähnlichen Lieblingsstuhl, die Arme hinter der hohen Lehne fixiert und auch seine Füße waren scheinbar an den Stuhl gebunden.
Direkt vor ihm stand auf dem, nun nur noch dreibeinigen, Beistelltisch eine einzelne, tropfende Kerze und daneben... daneben stand der Rächer!
"Ah, du bist wach.", ertönte eine dumpfe Stimme aus den Schatten der Kapuze und der Mann setzte sich auf einen Stuhl, so dass der Beistelltisch mit der Kerze zwischen ihnen stand. Der schwarze Fleck an der Stelle, wo unter der Kapuze das Gesicht des Schattenmanns hätte sein sollen, zog Sebbs Blick wie Magisch an, doch er konnte nichts erkennen. Nichts außer scheinbar grenzenlosen, wabernden Schatten.
"Lass uns reden!", erklang erneut die unheimliche Stimme und Sebb lief es kalt den Rücken hinunter, als sein Gegenüber die Fingerknöchel knacken ließ.

Das Verhör dauerte nicht lange, doch schnell wurde Sebb klar, dass der Schattenmann nicht so wirklich an ihm interessiert war. Vielmehr schien es um seinen Bruder oder vor allem dessen Kontakte zu HIRN zu gehen. Sebb, vor Angst vor der Schreckensgestalt, die geradewegs aus den Alpträumen seiner Kindheit gekommen zu sein schien, beinahe paralysiert, ließ kein Detail aus, nannte Namen und Treffpunkte der wenigen Kontakte, sprach über Vermutungen und Fakten, bis der Gesichtslose endlich zufrieden schien. Er stand auf, klappte das kleine Büchlein zu, in welches er sich während des Gespräches Notizen gemacht hatte und verließ wortlos den kleinen Lichtkreis, den die herunter gebrannte Kerze schuf.
Draußen heulte weiterhin der Sturm und Sebb verharrte lange Zeit, bis er sich sicher war, dass der Schattenmann wirklich fort war. Erst dann wagte er es, den Blick vom nun leeren Stuhl hinter der Kerze zu lösen und den Kopf zu wenden.
Dort, am linken Rand des erleuchteten Bereiches lagen seine Freunde, gefesselt und geknebelt und bedachten ihn mit vorwurfsvollen Blicken.
"Guckt nicht so dämlich! Befreit euch lieber!", schrie Sebb, ssen Wut sich allmählich in kalte Wut wandelte. Er rüttelte an seinen Fesseln und schaffte es schließlich, jene an seinem rechten Bein zu lockern. Er spannte die Muskeln und drückte mit aller Kraft gegen den Widerstand. Wenn er diese Fessel löste, würde er es vielleicht schaffen, den Stuhl... mit einem Knall rissen die strapazierten Fasern des Seils und sein Bein schoss unkontrolliert nach vorne. Als der Fuß so mit aller aufgestauten Kraft gegen den Beistelltisch krachte, schien die Zeit vor Sebbs Augen wie in Zeitlupe zu fließen.
Der Kerze flog beinahe senkrecht nach oben, drehte sich am Scheitelpunkt des Fluges um sich selbst und landete schließlich nicht weit von Sebb in einer Pfütze. Eben jener Pfütze, die die zerbrochene Öllampe vor gar nicht langer Zeit hinterlassen hatte.
Sebb hielt den Atem an, als der Docht in die brennbare Flüssigkeit tauchte, doch wie durch ein Wunder passierte nichts. Die Flamme wurde kleiner, flackerte. Doch gerade, als Sebb die angehaltene Luft entweichen lassen wollte, gab es einen kleinen Lichtblitz. Die Pfütze um die Kerze herum begann unheilvoll zu leuchten, dann entflammte sie mit einem puffenden Geräusch. Zischend rannte die Flamme entlang des verteilten Öls auf eine unscheinbare Kiste zu. Jene Kiste, die Mattes vor wenigen Stunden dort abgestellt hatte, bereit für den morgigen Tag, bereit für die Vergeltung an der Wache!

Der Sturm


Ettark ging bis zum Ende der Gasse, bevor er sich das Tuch vom Gesicht riss und tief durchatmete. Er hasste es, sein Gesicht zu vermummen, denn durch das feuchte Tuch hatte er das Gefühl, erstickt zu werden. Doch es hatte sich gelohnt. Der sonst so harte Verbrecher hatte vor Angst geschlottert und ihn "Rächer" oder "Schattenmann" genannt [9] und ihm alles erzählt, was er wissen wollte. Die meisten der taffsten Schläger fürchteten sich vor den Schrecken ihrer Kindheit, etwas, was der Wächter schon früh für sich zu nutzen gelernt hatte.
Auch wenn ihm selbst solche Geschichten nie erzählt worden waren. In seiner frühen Kindheit waren die echten Monster vor der Haustür weit schrecklicher und vor allem realer gewesen, als alles, was sich die Amme ausdenken hätte können. Auch die Ausbilder in der Gilde waren für die Jungen immer Schrecken genug gewesen. Doch er verstand die Macht solcher Wesen über den Geist anderer.
Mit Sebbs Reaktion hatte er trotzdem nicht rechnen können.
Der Bergiger grinste.
Er würde sich diese Rolle merken. Wer wusste schon, wann man sie nochmal gebrauchen können würde.

Als er aus der engen Gasse trat, die ihn bisher vor dem Wetter geschützt hatte, traf ihn der Wind wie eine Wand. Nur mit Mühe blieb er auf den Beinen und taumelte zurück in den Schutz des nächsten Hauseingangs. Der Regen, der bisher brav von oben gekommen war, ignorierte im offenen Hafengebiet direkt am Fluss scheinbar die Naturgesetze und prasselte beinahe waagerecht. Fluchend zog Ettark seine Kapuze noch tiefer ins Gesicht und kauerte sich in den Eingang, darauf wartend, dass der Wind abflaute. Wie sollte er es bei dem Wetter je bis zur Wache schaffen? Aber die Kollegen sollten erfahren, wo sich Sebb aufhielt, schließlich wartete der Strang mit Sicherheit auch auf den zweiten Bruder.
Als das Heulen des Sturmes leiser zu werden schien, lief er geduckt entlang des Hafenbeckens an der Affenstraße, als plötzlich ein gewaltiges Krachen das Rauschen des Regens und den beinahe anhaltenden Donner übertönte.
Erschrocken warf der Bergiger sich herum, bereit, jeder Gefahr ins Auge zu blicken, als er die auflodernden Flammen sah.
Die Seilstraße schien ein einziger Hexenkessel zu sein und im Zentrum der im Regen wabernden Rauchsäule wusste er das Haus, welches er nur wenige Minuten zuvor verlassen hatte!
Offensichtlich waren die Götter von Sebb nicht sehr begeistert gewesen. Einen solch gewaltigen Blitzeinschlag gab es selbst in dieser Stadt, in der viele Bürger hölzerne Besenstiele oder Entenfüße für effektive Blitzableiter hielten, eher im Ausnahmefall.
Nun ja, damit konnte er sich den Gang zu RuM auf jeden Fall sparen.
Er orientierte sich kurz, um zu überlegen, welchen Weg er stattdessen einschlagen wollte, als es nur wenige Meter von ihm entfernt klirrte. Sein Blick zuckte zu dem zersplitterten Ziegel, als weitere tönerne Schindeln in nächster Umgebung auf dem nassen Straßenpflaster zerplatzten.
"Verfluchte...", zischte der Bergiger und rannte im Spurt zur nahen Ankh-Brücke, wo er sich unter einem Vordach vor dem tödlichen Bombardement in Sicherheit brachte. Das musste wirklich ein gewaltiger Einschlag gewesen sein, wenn die Dachteile bei diesem Wetter eine solche Entfernung zurück legten. Aber wer wusste schon, was die Jorams in ihrem Versteck so alles gelagert gehabt hatten.
Es dauerte einige Zeit, bis nur noch Wasser vom Himmel fiel und Ettark sich wieder aus seiner Deckung hervortraute. Er hatte entschlossen, den Ankh hier zu überqueren und auf der anderen Seite, im Schutz der engen Gassen, nach Hause zu gehen. Bei diesem Wetter konnte er schließlich schlecht weiter arbeiten.
Die Kapuze so tief ins Gesicht gezogen, dass er kaum etwas sah, wagte er sich weiter über das gewölbte Pflaster der Brücke, doch der Wind, der durch diese Häuserschlucht fegte, machte es ihm schwierig, immer Stoff zwischen sich und das Wetter zu bringen.
So war er, schon bevor er die andere Flussseite erreicht hatte, so nass, als wäre er durch den Ankh geschwommen. Was dank des Regens momentan wirklich möglich gewesen wäre, wie ihm ein Blick in die schäumenden Fluten des sonst so gemächlichen 'Gewässers' bewies. Nun, das war wirklich lange nicht mehr geschehen.
Er hatte gerade den Galgen passiert und war in die Unvergleichliche Straße eingebogen, als der Wind mit einem Mal nachließ. Verwundert blickte er nach oben. Dieser kurze Augenblick der Unaufmerksamkeit reichte den Göttern schon. Wie, als hätte er nur kurz Luft holen müssen, setzte der Wind wieder ein, doch weitaus stärker, als Ettark dies je erlebt hatte. Er wurde von den Beinen gerissen und schlidderte mehrere Meter zurück. Und dann begann es wieder, Dachpfannen zu regnen. Überall um den Wächter herum riss der Wind die schützenden Schindeln von den Dächern und schleuderte sie weiter, als der Bergiger sie hätte werfen können, nur um sie auf dem nassen Pflaster der Straßen zu zerschmettern.
Fluchend robbte der sonst so stolze Wächter in den Schutz eines Holzverschlags, der sonst vermutlich als Verkaufsstand diente und wie durch ein Wunder dem Wind trotzte. Zitternd vor Kälte ging er unter dem fadenscheinig erscheinenden Holzdach in Deckung und betrachtete beinahe ungläubig, mit welcher Macht der Wind durch den nahen Hide Park fegte und alles Grün, welches der Frühling hervorgelockt hatte, in den Himmel riss. Eine gefühlte Ewigkeit kauerte Ettark in diesem zweifelhaften Schutz, bis der Wind schließlich etwas abflaute und der tönerne Regen endete.
Bis nach Hause würde er es heute nicht mehr schaffen, zumindest nicht in einem Stück.
Also wendete sich Ettark dem einzigen Ort in der Nähe zu, wo er sich sicher war, mit offenen Armen empfangen zu werden.

Frieden


Das Feuer prasselte behaglich im offenen Kamin der Maats und die nassen Kleidungstücke, die um den gemauerten Abzug verteilt waren, dampften ob der Hitze. Der Besitzer der nassen Kleidung saß, mit einem großen Becher heißen Weines bedacht und in einen viel zu großen Bademantel gekleidet, in einem gemütlichen Ohrensessel und genoss die Hitze des Feuers, die allmälich die Kälte aus seinen Gliedern trieb.
Völlig durchnässt und zerschlagen hatte er an der Tür des Hauses angeklopft, in dem er sich nun befand und war dann vor den Füßen der schönen Frau zusammengebrochen, kaum dass diese die Tür geöffnet hatte.
Sven Maat, der Besitzer des Bademantels, kam breit grinsend aus der Küche herüber und wischte seine Finger an der fleckigen Schürze ab, die sich bedenklich über seinem Bauch spannte.
"So, min Jung, das Essen is‘ gleich fertich. Ich hoffe, du hast dich ordentlich aufjewärmt?"
Grinsend hob Ettark seinen Becher zur Bestätigung und lehnte sich entspannt zurück.
Es gab nur wenige Orte in dieser Stadt, an denen er sich sicher und wohl fühlte. Doch dieses Haus stand ganz oben auf der kurzen Liste. Einer der Hauptgründe dafür betrat in diesem Moment das Wohnzimmer und betrachtete kopfschüttelnd die Dampfwolken, welche aus den aufgehängten Kleidern entwichen. Dann warf sie Ettark ein vergilbtes Hemd und eine ausgebeulte Hose auf den Schoß.
"Die hat Jörn hiergelassen. Ich denke sie sollten dir ungefähr passen. Du musst die Beine und Ärmel vielleicht etwas umschlagen."
Jörn war das zweite Kind der Maats und ihr einziger Sohn, doch da Miriels ältere Schwester die Kneipe ihres Vaters erben würde, hatte er schon vor einigen Jahren als Matrose angeheuert und befuhr seitdem alle Meere der Scheibe. Ettark hatte ihn bisher noch nicht kennengelernt, doch aus den Beschreibungen ging hervor, dass er ein sehr großer und kräftiger Mann war. Die Hose, die der Bergiger nun hoch hielt, bestätigte dies nur allzu deutlich. 'Etwas umschlagen' würde noch nicht helfen, damit die Hose dem Wächter passte. Und als klein hatte er sich eigentlich nie betrachtet.
"Danke!", sagte Ettark und das Lächeln, welches ihm von dem Gesicht der Frau entgegenleuchtete, ließ ihn dankbar dafür sein, dass er schon saß.
Sven grinste die Beiden an, zwinkerte und verließ dann betont lässig das Zimmer. Kaum war ihr Vater verschwunden, kam Lena auf Ettark zu und packte ihn am Kragen des Bademantels. Für die zarte Frau, die sie war, besaß sie beeindruckende Körperkräfte, was schon so mancher übermütiger Zecher in der Schankenden Galleone zu spüren bekommen hatte.
"Wenn du mir noch einmal so einen Schrecken einjagst, wie vorhin...", zischte sie. Doch ihr Gesichtsausdruck nahm der unausgesprochenen Drohung die Schärfe. Dann, bevor Ettark sich auch nur versah, drückte sie ihre Lippen auf die seinen, lachte hell auf und verschwand mit einem "Zieh dich an, Essen ist sicher gleich fertig!", sowie fliegenden Rockschößen in die Küche.
Der Bergiger hingegen blieb wie vom Donner gerührt sitzen, nur langsam hob sich seine Hand zum Gesicht. Mit den Fingerspitzen fuhr er sich über den Mund, dort, wo er die weichen Lippen Lenas noch spürte.

Die nächsten Tage vergingen für Ettark wie im Flug. Jegliche Zeit, die er nicht in der Nähe Lenas verbrachte, schien ihm vergeudete Zeit und es fiel ihm schwer, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Er ging weiterhin seine Streifen, sammelte Inforamtionen und erledigte die verhasste Schreibarbeit, doch anders als sonst, arbeitete er nun nach Vorschrift. Sobald er seine Arbeit getan hatte, legte er sämtliche Verantwortung ab und vergaß die Probleme des Tages.
Warum sollte er seine freie Zeit damit verschwenden, weiterhin Überstunden zu sammeln, wenn er sie auch in den Armen Lenas verbringen konnte?
Und auch, wenn er weiterhin an dem Fall "Miriel" arbeitete, so tat er dies doch mit deutlich weniger Elan als vorher.
Kurz gefasst: All jene Fälle, die er sonst nach seinem offiziellen Dienst verfolgt hatte, lagen nun auf Eis.
Beinahe zwei Wochen verbrachte er so in einer hellen, weichen Welt, bevor ihn jemand in die Wirklichkeit zurückriss, mit dem er nun wirklich nicht hatte rechnen können.

Kontaktaufnahme


Der Abend war angebrochen und Ettark hatte die Runden durch seine Straßen beendet, ohne beim Fall wirklich vorangekommen zu sein. Nun saß er, wie fast jeden Abend, in der Schwankenden Galeone, einen Krug Starkbier vor sich. Er hörte sich mit halbem Ohr das Geschwafel eines seiner nervöseren Informanten an, einem kleinen Tier der örtlichen Muffia, über dessen Meinung nach äußerst wichtige Geschehnisse in seiner Familia. Luigi war im Allgemeinen keine sehr ergiebige Quelle wirklich wichtiger Informationen aber man konnte ja nie wissen. Außerdem war es weitaus unauffälliger, mit einem bekannten Bandenmitglied hier zu sitzen, als ganz alleine. Während er sein Bestes tat, nicht völlig desinteressiert auszusehen, ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen und beobachtete die typische Kundschaft der Galeone in dem Versuch, nicht allzu auffällig Blick mit Lena auszutauschen, die neben ihrem Vater an der Theke arbeitete.
Als die Tür sich vorsichtig öffnete, betrachtete Ettark den Neuankömmling in der Hoffnung, einen wirklichen Informanten zu sehen. Doch die zart gebaute junge Frau gehörte nicht zu seinen üblichen Verdächtigen. Genau im Gegenteil. Sie passte so überhaupt nicht in diesen Raum.
Er folgte der gehetzt wirkenden, in einen schwarzen Umhang gekleideten, eleganten Frau mit den Augen, als sie sich, ständig umblickend, durch den vollen Schankraum drängte. Womit er deutlich nicht der Einzige war. Als sie schließlich am Tresen ankam und Sven auf sie aufmerksam geworden war, schien sie ihm etwas Amüsantes zu erzählen, denn trotz des hohen Geräuschpegels drang das tiefe Lachen des Wirtes bis zu Ettarks abgelegenem Tisch. Scheinbar verzweifelt redete sie weiter auf den breit gebauten Mann ein und schließlich verschwand der Schalk aus dessen Augen. Er warf einen unauffälligen, fragenden Blick in Ettarks Ecke und nachdem dieser kurz genickt hatte, erwiderte der Wirt etwas auf die Frage der jungen Frau und zeigte dann auf den Tisch. Die Frau blickte zu Ettark und plötzlich sah er Erkennen in ihrem Gesicht.
Kannte er sie? Irgendwie kamen ihm die Gesichtszüge bekannt vor aber...
Entschlossen trat sie hinter Luigi.
"Ich muss mit Dir reden. Sofort!"
Diese Stimme... die Kerze auf seinem Tisch warf einen scharfen Schatten auf das Gesicht der Stehenden und plötzlich erkannte er sein Gegenüber.
Luigi war, wütend aufgrund der Unterbrechung seines Redeflusses, herum gefahren. Doch bevor er die Frau anfahren konnte, fuhr Ettark ihm über den Mund.
"Verschwinde, Luigi!"
Was wollte diese... Person an diesem Ort? War sie wahnsinnig, sich hier mit ihm zu treffen? Nun, zumindest versprach dieses Gespräch weit interessanter zu werden, als der Monolog seines Kontaktes.
Letzterer warf dem Bergiger einen verletzten Blick zu und wollte protestieren, doch dessen Blick unterbrach ihn erneut.
"Ich wiederhol' das nicht!"
Wütend sprang der Muffiosi auf, blickte die Frau vorwurfsvoll an und verschwand Richtung Theke.
Ettark sortierte seine Gedanke und hoffte, dass die Sorge nicht von seinem Gesicht ablesbar sein würde, bevor er das Wort an die Frau richtete.
"Na, sieh mal an..." Was will denn die Klassenpetze bei mir?
Auch wenn er den letzten Teil des Satzes nicht laut aussprach, er schien sich in seinem Gesicht widerzuspiegeln, denn Ophelia setzte sich unaufgefordert auf den frei gewordenen Stuhl.
Nun, wenigstens war sie intelligent genug gewesen, nicht in Uniform zu kommen. Aber ihrer beider Identität zu gefährden, soviel Dummheit hatte er selbst ihr nicht zugetraut.
Sie beugte sich über den Tisch und zischte: "Du musst eine Nachricht weiterleiten!"
Er musste? Wie kam diese... Person dazu ihm hier Befehle erteilen zu wollen?
Er kniff die Augen zusammen und knurrte leise.
"Ach, sagt wer?"
Den Aufruhr, den diese kurze Antwort in den Gedanken der Verdeckten Ermittlerin auslöste, war für Ettark deutlich zu erkennen. Was ihn fast noch mehr überraschte, als die Antwort, die sie nach einem lautlosen Seufzer gab.
"Die Vernunft."
Er öffnete den Mund, ohne wirklich zu wissen, was er erwidern konnte, als sie ihn anfuhr.
"Wir haben keine Zeit für solche Spielchen. Wirst Du zuhören und handeln oder muss ich meine... Möglichkeiten gefährden, indem ich nach Alternativen suche, wo mir die Zeit durch die Finger rinnt?"
Die Dringlichkeit in ihrer Stimme ließ Ettark innehalten. Was konnte denn so wichtig sein, dass sie, offensichtlich in Rolle, ihn hier aufsuchte. Gerade ihn? Die Neugier packte den Bergiger.
"Was willst du?"
Mit wenigen Worten schilderte sie ihm von dem angeblichen Anschlagsziel eines 'Barons von Hopfenhauff', scheinbar eines hohen Tieres bei der HIRN. Ettark wurde hellhörig. Hatte sie heraus gefunden, dass er in diese Richtung ermittelte und wollte ihn verarschen? Doch sowohl Stimmlage als auch Details überzeugten den Bergiger bald vom Wahrheitsgehalt der Geschichte und er begann, sich Notizen in sein Notizheft zu machen, welches wie immer unauffällig unter dem Tisch auf seinem Bein lag. Nachdem er ihr versichert hatte, FROG zu informieren, sprang die Ermittlerin beinahe ebenso hektisch auf, wie zuvor Luigi. Weiter von der Neugier übermannt, hielt Ettark sie zurück.
"Du bist reingekommen?"
Sie sah ihn an und zögerte.
"Wenn Du die Heimlichen Infragesteller meinst... ja."
Da war es. HIRN. Die helle Welt löste sich um den Bergiger auf.
Dass Ophelia in die selbe Richtung wie er ermittelte, überraschte ihn zwar, jedoch nicht so sehr, wie dass sie schon in der Organisation war, während er noch verzweifelt versuchte, einen Kontakt in den niedrigeren Rängen zu etablieren.
Um sich die Frustration nicht anmerken zu lassen, fragte er sie weiter aus.
"Und der alte Haudegen hat sein OK dazu gegeben?"
Sie blickte zur Seite und Ettarks zum Kontakter geschulte Instinkte schrillten laut auf, als sie dies bestätigte.
Das ach so edle Fräulein log ihn offen an? Er unterdrückte ein Grinsen. Mehr würde er in ihrem Zustand, und an diesem Ort, wohl nicht mehr aus ihr heraus bekommen, aber immerhin hatte er den Namen eines offensichtlich hohen Tiers bei der HIRN erfahren. Schon alleine dafür hätte es sich gelohnt, ihr zuzuhören. Wenn er das Rudel Pelzkneule retten konnte, wäre das ein weiterer Bonus.
Sie schien der Meinung zu sein, nun verschwinden zu können und Ettark war das nur recht.
Doch hatte er nicht was vergessen? Wenn sein Ruf als Informationensammler gewahrt bleiben sollte, musste er zeigen, dass er dafür auch bezahlte. Mal sehen, wie das IA-Häschen darauf reagierte.
Das "Stopp!" schien sie zu erschrecken. Er konnte sich das Grinsen nicht mehr verkneifen, als er ihr eine große Münze aus seinem Spesenbeutel zuschnippte.
"Nette Info. Vielleicht sogar brauchbar. Hast Du dir verdient."
Irritiert starrte sie ihn an und kurze Zeit erwartete Ettark, dass sie ihm die Münze zurück ins Gesicht schleudern würde. Schließlich steckte sie das Geld jedoch ein und verließ dann fluchtartig die Galeone.
Der Bergiger blieb noch einige Zeit sitzen und wälzte das eben Geschehene in seinem Kopf, doch schließlich musste er die Chaostruppe von FROG noch vor dem Sonnenaufgang aus ihren Betten jagen.

Krieg


Die letzten Sterne verblassten, als Uileam a'Briuis den Geldfallenweg aus einer Seitengasse heraus betrat, seinem Verlauf einige Meter folgte und dann im dunklen Schatten der Mauer stehen blieb. Er zog seine Taschenuhr aus der Innentasche der abgewetzten Weste und überprüfte dabei unauffällig, ob die Wurfmesser an Ort und Stelle waren.
Seit Tagen beobachtete seine Bande nun schon das längliche Haus nahe seiner jetzigen Position. Heute Nacht sollte es endlich soweit sein! Ihr Auftraggeber hatte ihm vor wenigen Stunden einen Boten geschickt und seitdem hatten er und seine Leute das Zielhaus nicht mehr aus den Augen gelassen.
Er lehnte sich im Schatten der kleinen Gasse an die Hauswand und beobachtete die dunklen Fenster, während er seine Uhr aufzog.
Vor etwas über zwei Wochen hatte sich der kleine Mann mit Uileam in einem Pub in den Tollen Schwestern getroffen. Er war dabei in einen dunklen Umhang gehüllt gewesen und hatte dessen schwarze Kapuze so tief ins Gesicht gezogen gehabt, dass der Bandenanführer nur ein Doppelkinn hatte erahnen können. Der kleine Mann hatte Uileam nach einem kurzen Gespräch einen Beutel voller klimpernder Münzen und einen Brief überreicht, in welchem die Adresse des Ziels, präzise Anweisungen und ein Codewort genannt wurde, auf welches die Bande vor der Aktion hatte warten sollen. Seitdem hatten die 'Söhne des Regens', wie sie sich selber nannten, das Haus observiert, die Routen der Wachen verfolgt und gewartet. Doch nun war endlich der Bote mit dem Codewort angekommen. Noch vor dem Morgengrauen würden sie losschlagen.
Er steckte die Taschenuhr wieder zurück in die Weste und ging über Umwege zu einem Nachbarhaus. Dort stieg über die Außentreppe in den Zweiten Stock, von dessen mittelwärtigen Fenstern man problemlos in den Innenhof des Zielanwesens blicken konnte.
Im Schatten eines der Fenster stand Miles und betrachtete zwei der Wachposten beim Rauchen.
"Alles bereit?", raunte Uileam seinem Stellvertreter zu, als er sich zu ihm in die Schatten stellte.
"Die Idioten werden immer unaufmerksamer. Seit über 'ner Stunde sind sie nicht mehr aus dem Lichtkreis ihrer kleinen Laterne gekommen. Solange man im Dunkeln bleibt, könnte man vermutlich 'n Elefanten dabei haben, ohne dass se' uns sehen würden.", antwortete der vierschrötige Mann und schüttelte verärgert den Kopf. Der ehemalige Offizier der llamedonischen Armee verabscheute jegliche Inkompetenz und ärgerte sich sogar über die Fehler seiner Gegner, selbst wenn diese ihm zupass kamen.
"So, wie die sich momentan verhalten, könnten wir sie vermutlich einfach mit 'nem Hauruckmanöver niedermachen, deinen tollen Plan würden wir nicht mal brauchen."
Uileam, der seinen Stellvertreter seit über einem Jahrzehnt kannte und dem dessen Macken bestens vertraut waren, grinste. Miles würde sich selbst noch dann an den Plan halten, wenn der Himmel über ihnen zusammen brechen würde. Dies war einer der Gründe, warum er hochkant aus der Armee geflogen war. Ihm fehlte einfach die Flexibilität, einen einmal gefassten Entschluss erneut zu überdenken. Selbst, wenn er den Befehl dazu bekam.
"Die Anderen sind auch bereit. Sobald ich das Zeichen gebe, beginnen wir mit..."
In diesem Moment bog eine offensichtlich schwer beladene Kutsche in den Geldfallenweg ein und kam ratternd vor dem eisernen Tor zum Stehen.
"Was zum...", murmelte der Bandenanführer, als ein groß gewachsener Mann mit Augenklappe aus der Kutsche sprang. Weitere Personen stiegen aus dem Gefährt und während zuletzt ein Zwerg die Kutsche verließ, machte sich der Kutscher daran, die auf dem Dach befestigten Kisten und Koffer abzuladen.
"Der einäugige Mann... den kenn' ich doch irgendwoher.", murmelte Miles und Uileam nickte.
"Das ist der Kommandeur der Wache... war letztens noch 'nen Bild von dem in der Times. Verdammte Scheiße!"
"'Nen halbes dutzend Wächter? Die machen den Braten auch nicht mehr fett.", grummelte Miles, doch dem Bandenanführer der Söhne des Regens war deutlich anzusehen, dass er diese Meinung nicht teilte. Während der Kommandeur lautstark Einlass verlangte und in den vorher dunklen Fenstern des Anwesens nach und nach Lichter entflammten, zog er seinen Stellvertreter weiter ins Innere des Raumes.
"'Nen halbes dutzend Wächter plus die Wölfe! Und schlafen werden die heute bestimmt nicht mehr gehen, bei dem Lärm, den das Arschloch da unten macht. Dafür wurden wir definitiv nicht bezahlt! Dieses mistige fette Kapuzenschweinchen hat uns verraten, darauf wette ich! Wir verziehen uns!"
Miles blickte ihn entsetzt an, doch der Ausdruck im Gesicht seines Freundes machte jeglichen Widerspruch zunichte. Fluchend folgte er a'Briuis, als dieser das Gebäude verließ.

Brotkrumen


Der Name 'Baron von Hopfenhauff' hatte dem Informantenkontakter einige Stunden Recherche im Archiv der Wache beschert. Nun saß er endlich wieder an seinem eigenen Schreibtisch, einen Stapel staubiger Bücher vor sich, mit beginnenden Kopfschmerzen.
Zumindest begann er zu verstehen, warum seine normalen Kontakte keine nützlichen Informationen über diese Organisation hatten ausspucken können. Diese Kerle spielten einfach in einer anderen Gewichtsklasse, in einer gesellschaftlichen Schicht in welcher, wie er einsehen musste, Ziegenberger die weitaus besseren Chancen hatte, an Informationen zu kommen.
Die aufgeschlagene Seite des Adelsverzeichnis von Twurp zeigte einen weit verzweigten Familienstammbaum, in welchen die verschiedensten Geschlechter von Sto bis Überwald eingeheiratet hatten. Für letztere hatte Ettark im gothischen Almanach nachschlagen müssen, doch darin war klar vermerkt, dass die Urgroßmutter des Barons die jüngste Tochter eines Grafen von Dunkelwald gewesen war. Interessante Herkunft für einen Vampir- und Werwolfhasser. Er speicherte diese Informationen mit einem leichten Grinsen ab. Wer wusste schon, wann er diese nutzen würde können? Er machte sich eine kleine Information in seinem Notizheft und überflog die Ergebnisse des Tages.
Von Hopfenhauffs Familiensitz lag an der Chrononhothhologenstraße. Er war bekannt für seinen ausgefallen Geschmack, der sich oft an den Moden von Städten orientierte, die den meisten Bewohnern der Zwillingsstadt höchstens aus Meldungen der AM-Times bekannt waren. Außerdem hatte irgendjemand an der enttäuschend dünnen Akte des Mannes eine Notiz hinterlassen, dass er seine zum Teil äußerst jungen Begleiterinnen deutlich häufiger wechselte, als die meisten Bürger ihre Unterwäsche. Weiterhin hatte er wohl bei mehreren öffentlichen Veranstaltungen abfällige Bemerkungen zu den 'Nichtmenschen' fallen lassen und wohin sich diese seiner Meinung trollen sollten, wie Ettark aus einigen älteren Artikeln des Klatschblattes 'Behrümt' entnehmen konnte.
Nun, das passte.
Und, ja, er hatte wirklich 'trollen' gesagt!
Mehr war für den Informantenkontakter aus den Archiv der Wache nicht herauszuholen, zumindest nicht ohne eine vermutlich mehrjährige Ausbildung als Bibliothekar. Damit stand der Bergiger vor einem weiteren Problem.
Keiner seiner Kontakte bewegte sich in den richtigen Kreisen, um ihm direkte Informationen aus der Umgebung des Barons zu beschaffen, geschweige denn aus dessen Freundeskreis, in welchem er die Mitglieder von HIRN vermutete. Überhaupt... dort sichere Kontakte zu finden, durfte ihm schwer fallen. Trotz seiner Kindheit und seiner Ausbildung bei der Assassinengilde würde er dort auffallen wie ein bunter Hund. Er hatte sich halt nie etwas aus Blaublütern machen können. Selbes Problem dürften seine Abteilungs-Kollegen haben. Zudem war dies sein Fall! Er wollte nicht, dass die Abteilungs-oder Wacheleitung zu viel von seinen Recherchen mitbekam. Dann bliebe ihm wohl nur noch der Versuch, einen Informanten bei den Bediensteten des Barons zu finden. Doch auch das würde wohl nicht die leichteste Übung werden.
Er blickte aus dem Fenster, wo die Sonne sich schon wieder auf den Weg Richtung Scheibe gemacht hatte.
Zuerst würde er sich mal das Haus des Hopfenhauffs ansehen, vielleicht ergab sich ja eine unverhoffte Gelegenheit.

Seit beinahe einer Woche nutze Ettark nun schon jede sich bietende Möglichkeit, das großzügige Anwesen an der Kreuzung zu beobachten. Doch sämtliche Versuche, Informationen von den Bediensteten zu bekommen, waren gescheitert. Sobald er versuchte, das Gespräch auf ihren Arbeitgeber zu lenken, waren sie verstummt. Entweder waren das die treuesten Diener, die der Bergiger je erlebt hatte, oder sie hatten Angst. Und bei den meisten, vor allem den durchweg jungen und hübschen Dienerinnen, hätte Ettark seinen rechten Arm auf Letzteres verwettet[10]. Bei einigen jedoch, vor allem bei den älteren Stallburschen und den persönlichen Wachen des Barons, war er sich beinahe sicher, dass sie auf ihren Herren eingeschworen waren. Auch noch nach mehreren Krügen des besten Starkbiers, einer Methode, bei der selbst so mancher trinkfeste Seemann anfing aus dem Nähkästchen zu plaudern, ließen sie kein schlechtes Wort über ihren Herrn ungesühnt. Genau so wenig, wie sie selber über ihn reden wollten. Ettark begann langsam zu verzweifeln und so saß er nun, am späten Nachmittag des sechsten Tages seiner Ermittlung gegen den Baron, in einer nobel ausgestatteten Gaststätte und beobachtete eine kleine Gruppe Diener, die hier, wie jeden Tag, ihr Feierabendbier zu sich nahm. Das war die zäheste Truppe. Keiner von ihnen diente Hopfenhauff nur aus Angst, da war Ettark sich ziemlich sicher. Zumindest teilweise lag hier wohl wirklich empfundene Treue vor. Also waren dies vermutlich auch die Personen, die die wirklich interessanten Informationen hüteten. Nur dumm, dass sie die nicht einfach so ausplaudern würden.
Er malte mit dem Zeigefinger Muster in eine Bierpfütze auf seinem Tisch und summte die Melodie des Toten-Wächter Liedes. Während er sich weiter umblickte begann er unbewusst eine leicht abgeänderte Version zu singen:

Das zeigt deutlich, so sagen alle
Gebt gut Acht, gebt gut Acht, treue Wächterschaft
Das zeigt deutlich, so sagen alle
dass nur ein Dummkopf Wächter wird.
Das zeigt deutlich, so sagen alle
dass nur ein Dummkopf Wächter wird...


Er schüttelte leicht mit dem Kopf und grinste vor sich hin, während er die Anwesenden musterte.
Die Gäste waren ein deutlich gehobeneres Publikum als in den Kneipen, in denen er für gewöhnlich residierte, jedoch noch nicht so gehoben, als dass er aufgefallen wäre. Was Anderes galt jedoch für den blonden Mann an dem Tisch direkt neben dem Eingang. Den hatte er doch schon mal gesehen?
Er betrachtete den Mann, der sein schulterlanges Haar mit einem einfachen Lederstrick zu einem Zopf gebunden hatte und vergeblich versuchte, unauffällig zu wirken. Was ihm jedoch gleich von mehreren Aspekten her gründlich misslang. Zum Einen waren da das auffällige Benehmen, die hektischen Blicke und die Tatsache, dass er schon seit über einer Stunde am selben Bier nippte. Viel wichtiger war jedoch die Hose: Deren kariertes Muster mochte im Hochland von Llamedos als unauffällig gelten aber in der Zwillingstadt sah man, zumindest außerhalb der Tollen Schwestern, kaum jemanden solcherart gekleidet herumlaufen. Nicht in einem Etablissement wie diesem. An der Grenze zur Langen Mauer schon gar nicht.
Und bei dem Gedanken an die Hose fiel Ettark auch wieder ein, wo er den Mann schonmal gesehen hatte. Vor nur wenigen Tagen in der Nähe des Anwesens, als er die tägliche Routine eines der Diener verfolgt hatte. Da hatte der Mann zwar noch einen Rock getragen aber ähnlich gemustert wie die Hose, dazu eine alte Lederweste.
Das konnte wohl kaum ein Zufall sein!
Und wirklich, genau in dem Moment blickte der Llamedone zu dem Tisch mit den Bediensteten und betrachtete einen der drei ganz genau.
Dieses Interesse war eindeutig. So wie es aussah, gab es also eine weitere Partei in diesem kleinen Spiel? Mal sehen, auf welcher Seite des Spielfeldes sich diese befand!
Es dauerte nicht mehr lange, bis die Diener ihr Bier ausgetrunken hatten und sich zurück auf den Weg zum Anwesen machten. Noch bevor die drei Männer den Raum verlassen hatten, sprang auch schon ihr llamedonischer Beobachter auf, warf einige Münzen auf den Tresen und folgte ihnen.
Anfänger, dachte Ettark.
Wenn die drei nicht so in ihr Gespräch über die neuesten Fußballergebnisse vertieft gewesen wären, hätten sie ihren Verfolger sofort bemerkt.
Ettark hingegen wartete, bis alle vier die Taverne verlassen hatten, bevor er gemächlich aufstand, dem Kellner ein saftiges Trinkgeld auf dem Tisch liegen ließ und dann zur Tür schlenderte. Kaum, dass er das Gebäude verlassen hatte, entdeckte er auch schon den blonden Mann, der an einer nahen Kreuzung stehen geblieben war und scheinbar die Diener um die Ecke herum beobachtete. Betont lässig verfolgte er den Verfolger und musste grinsen, als ihm das Motto von IA einfiel.
Ob die Verräter sich jemals auf eine so offene Ermittlungsarbeit einlassen würden? Vermutlich nicht, solange man sich auf Gerüchte und Hörensagen verlassen konnte, hatte man solch ehrliche Ermittlungen vermutlich nicht nötig.
Nur wenige hundert Meter weiter erreichten die Diener das schwere, gusseiserne Tor des Anwesens und ließen ihre beiden Verfolger zurück.
Im Schatten einer engen Gasse blieb Ettark stehen und beobachtete den Llamedonen, als dieser sich entschied, genau jene Gasse selber zu benutzen.
Dann war es wohl Zeit für ein Gespräch unter vier Augen.
Er zog sich noch einige Meter tiefer in die Gasse zurück und hockte sich hinter einige alte Holzkisten. Als der blonde Mann ihn passiert hatte, stand er auf und räusperte sich.
Der Llamedone zuckte zusammen und seine Hand fuhr zum Gürtel, als er sich, des Angriffs gewahr, bereits umdrehte.
Ganz klar kein Neuankömmling in der Stadt. Für diese Reflexe musste man schon beinahe ein Bürger Ankh-Morporks sein. Aber ein wahrer Bürger hätte sein Schwert am Gürtel gelassen, auch wenn er damit etwas auffälliger gewesen wäre. So jedoch fuhr die rechte Hand ins Leere. Bevor der Mann sich daran erinnern konnte, warum dem so war, hatte er schon Ettarks Faust im Genick und das Schwert des Wächters kitzelte ihn nur knapp unterhalb seines Rippenbogens.
"Guten Abend, Freund!", begrüßte ihn Ettark mit so viel falscher Freundlichkeit, dass er den Schleim beinahe tropfen hörte. "So wie es aussieht, teilen wir beide uns ein Hobby. Wir sollten uns darüber unterhalten, findest du nicht?"
Der Llamedoner krächzte. Seine Augen blitzten auf und ein Grinsen stahl sich über sein Gesicht.
Dann wurde es dunkel um Ettark.

Der Feind meines Feindes...


Der Wächter wurde wach, als ihn ein eiskalter Wasserschwall traf. Als er vor Schreck aufkeuchte, überkam ihn kurz der Gedanke, dass er diese Szene schon einmal erlebt hatte - nur aus einem anderen Blickwinkel heraus betrachtet.
Seine Arme waren hinter der Rückenlehne eines Stuhls zusammen gebunden, sein Schädel brummte und vor ihm stand ein groß gewachsener Mann mit einem nun leeren Ledereimer. Hier endete glücklicherweise das Déja-vu-Erlebnis, denn der Raum war kleiner, hell erleuchtet und von einem Unwetter war auch nichts zu hören.
Noch bevor seine Sicht wirklich klar geworden war, drehte sich sein Wecker um und rief zur offenen Tür. "Briuis, der twllt din ist aufgewacht." Dann warf er den Eimer in eine Ecke und ließ die Schultern kreisen.
Ettark betrachtete den grobschlächtigen Mann. Er war ähnlich gekleidet, wie der Mann, den er verfolgt hatte. Er trug einen Rock und dazu ein ärmelloses Hemd, die dunklen Harre waren jedoch kurz geschnitten und über die nackten Oberarme zogen sich verschlungene Tätowierungen.
Es dauerte keine Minute, bis ein zweiter Mann den Raum betrat, kleiner als Ettarks Wecker. Auch dieser trug den typischen, karierten Rock und ein dunkles Hemd. Auch er war mit llamedonischen Mustern geschmückt, selbst wenn sich bei ihm die Muster nur über den unteren Teil der Arme erstreckten. Die hellblonden Haare waren in mehrere kleine Flechtzöpfe unterteilt, die an seiner Stirn begannen und ihm bis tief in den Nacken reichten.
"Danke, Llain. Hol doch bitte Miles, ich vermute, er wäre gerne dabei."
Der Dunkelhaarige verließ den kleinen Raum und Briuis zog sich einen Stuhl aus der Zimmerecke heran. Er setze sich Ettark gegenüber, legte seine Handflächen vor dem Gesicht zusammen und stützte das Kinn auf die ausgestreckten Daumen.
"Wer zum...", wollte Ettark fragen, doch sein Gegenüber schüttelte den Kopf.
"Es wäre unhöflich, ohne meinen Stellvertreter zu beginnen. Schließlich war er es, der dich mitgebracht hat."
Beide musterten sich schweigend, bis schließlich ein Mann den Raum betrat, dessen Vorfahren zumindest teilweise aus Trollen bestanden haben mussten. Seine Schultern berührten beinahe den Türrahmen und die Decke war nur wenige Handbreit höher als der Kopf des Giganten.
"Ist der górachgobhar endlich wach?", grollte er mit einer Stimme, die Ettarks Vermutung erhärtete. Dabei schüttelte er seine rechte Hand.
"Dann können wir wohl anfangen. Dieser Ausbund von Freundlichkeit ist Miles tarbh O'Brien und meine Wenigkeit wird Uileam a'Briuis gerufen. Willkommen in unserem... Quartier. Könnten wir wohl deinen Namen und den Grund dafür, warum du unseren balach überfallen hast erfahren?"
Die Freundlichkeit im Ausdruck wurde nur durch den drohenden Unterton in der Stimme gedämpft. Im Gesicht des Mannes konnte Ettark keinerlei Drohung oder Misstrauen erkennen.
Beeindruckend! Von diesem Mann könnte er noch Einiges lernen. Anders als bei dem Halbtroll, aus dessen Gesicht selbst ein Blinder die nicht unbedingt positiven Gefühle ihm gegenüber hätte ablesen können. Er hatte immerhin Einen der Ihren überfallen!
Ettarks Augen schossen durch den Raum, während er über seine Antwort nachdachte. Er entdeckte einen schmalen Tisch auf neun Uhr. Darauf war, großzügig verteilt, der Inhalt seiner Manteltaschen entleert worden. Der Mantel selber hing über einem weiteren Stuhl. Wer auch immer die Taschen entleert hatte, war äußerst gründlich gewesen. Sogar seine beiden Notizbücher waren offensichtlich durchblättert worden und lagen jetzt offen auf dem Tisch. Nur eine Sache hatte derjenige scheinbar übersehen. Die kleine, gut versteckte Innentasche auf Herzhöhe war noch sorgsam verschlossen und kaum zu erkennen.
Innerlich atmete Ettark auf.
"Du siehst, wir haben alle deine kleinen Verstecke gefunden. Interessant, was du alles dabei hast. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich aus deinen Notizen nicht schlau geworden bin. Welche Sprache soll das sein?"
Ettark ignorierte die Frage und richtete sich, soweit es seine Fesseln erlaubten, auf. Die Bewegung ließ die Nackenwirbel knacken.
"Mein Name ist... Ettark, ich arbeite für eine... recht wohlhabende Organisation und bin damit betraut, Informationen zu sammeln, die für meine Auftraggeber von Nutzen sein könnten." Er räusperte sich. "Momentan bin ich auf der Suche nach... intimeren Geheimnissen eines Barons von Hopfenhauff und während dieser Suche fiel mir ihr junger Freund...", er zögerte, "...Balack auf, der scheinbar einen der Bediensteten des Barons verfolgte. Also dachte ich, er würde seine Erkenntnisse vielleicht mit mir teilen. Denn, unter uns: Die Bediensteten des Barons sind echt harte Brocken."
A'Briuis nickte bedächtig und beobachtete Ettark genau. Nun hieß es, die Fassade bloß nicht fallen zu lassen. Doch diese Rolle spielte er nun schon seit Jahren. Nach einigen Augenblicken seufzte der Mann.
"Balach heißt soviel wie 'Junge' und so wie es aussieht, ist der Name passend. Wenn er dir aufgefallen ist, kann er auch anderen aufgefallen sein. Ich werde ihn von solchen Dschobs erst einmal abziehen." Er nickte und drehte sich dann zu O'Brien um. "Was meinst du?"
"Klingt plausibel. Aber die Frage bleibt: Was machen wir jetzt mit ihm?"
"Das ist allerdings eine gute Frage."
Wieder legte der Mann seine Handflächen vor dem Gesicht zusammen und betrachtete Ettark.
"Nun ja, wenn wir ein gemeinsames Interesse an der selben Person haben, wäre eine Zusammenarbeit möglicherweise für beide Seiten profitabel.", schlug der Gefangene vor und grinste.
"Ja. Auch wir sind an dem Baron interessiert, denn... sagen wir es so: Er schuldet uns etwas. Oder vielleicht schulden vielmehr wir ihm etwas. Aber ich habe schon 28 Männer unter mir. Was kannst du bieten, was ich nicht schon habe?"
"Wenn alle diese Männer eine ähnliche Ausbildung wie euer 'Junge' genossen haben, sind sie bestimmt ganz tolle Soldaten. Aber unter uns: Selbst eine Bande Trolle auf Platte wäre bei einer Beschattung unauffälliger."
O'Brien fing an zu gröhlen und schlug seinem Chef mit einer Wucht auf die Schulter, dass der Stuhl unter diesem knackte. Aus dem leicht amüsierten Lächeln a'Briuis' wurde eine schmerzverzerrte Grimasse.
"Der Bursche gefällt mir. Selbst an 'nen Stuhl gefesselt hat der noch 'ne größere Klappe als Enairyn!"
Kopfschüttelnd rieb a'Briuis sich die Schulter und seufzte.
"Miles' Humor triffst du schon mal. Das schaffen sonst nur kleine Kinder und Betrunkene. Aber du hast recht. 'n par unauffälligere Leute könnte ich schon gebrauchen. Die meisten meiner Männer benehmen sich, als hätten sie 'nen Stock im tòn, sobald sie Hosen tragen müssen." Er rieb sich mit den Handballen über die Augen und seufzte erneut. "Und wenn du einer von den Leuten vom Hopfenhauff gewesen wärst, dann wärest du vermutlich nicht alleine gekommen."
"...und hättest wenigstens für Rückendeckung gesorgt, bevor du wie der wild gewordene gobhar, der du bist, auf unseren balach losgegangen wärst!", vollendete O'Brien den Satz, in dessen Gesicht nun wieder deutliches Missfallen mit seiner Belustigung rang.
"Ich hoffe, ich werde dass nicht bereuen.", sagte a'Briuis kopfschüttelnd und stand auf. "Bind ihn los, Miles! Ich denke mal, Weiteres besprechen wir besser im seòmar-suidhe"
"Aye, Sir!", salutierte der Riese und zog ein Messer aus dem Gürtel, das so mancher Mensch gut und gerne als Schwert hätte benutzen können. Doch so grobschlächtig der Mann auch aussah, er zerschnitt die dicken Taue hinter Ettarks Rücken, ohne die Haut auch nur zu ritzen und während Ettark aufstand und sich die wunden Handgelenke rieb, verließ er schon, den Kopf einziehend, den Raum.
"Komm mit gobhar, unten gibbet gemütlichere Stühle und 'nen guten uisge-beatha kannse sicher auch vertragen!" Wieder saß Ettark in der Gaststätte und wartete auf die kleine Gruppe Diener, die hier, wie jeden Tag, in etwa zehn Minuten auftauchen würden, um ihren Feierabend zu begießen. Seit gut einer Woche arbeitete er jetzt schon mit den 'Söhnen des Regens' zusammen und das Ergebnis konnte sich wirklich sehen lassen. Zusammen hatten sie den Tagesablauf beinahe jedes Haushaltsmitgliedes des Barons penibel nachverfolgt und überprüft, O'Brien war da sehr genau, und jede mögliche Schwachstelle war herausgefunden. Sogar Teile des Freundeskreises hatten sie indentifiziert, doch weiterhin war Hopfenhauff die beste Spur in Bezug auf die HIRN. Scheinbar gehörte er zu den oberen Kreisen, denn Uileam hatte ihm die erwähnten Schulden erklärt. Dass der Baron sie selber angeworben und offensichtlich auch den Diener mit dem Codewort geschickt hatte war für den Llamedoner sicher, auch wenn er das Gesicht seines Auftraggebers nicht gesehen hatte, Figur und Benehmen sprachen seiner Aussage nach für sich. Wer genau der Kopf von HIRN war, hatten sie jedoch immer noch nicht herausgefunden und Ettark bezweifelte, dass dieser aufgeplusterte Geck eine solche Organisation führen konnte. Der Wächter hatte seine neuen Mitstreiter davon überzeugt, dass ihre Rache nicht dem Lakaien Hopfenhauffs gelten sollte, sondern vielmehr seinem Anführer, der schließlich für die Taten des Barons verantwortlich war. So beobachteten die 'Söhne' momentan die Freunde des Barons, während Ettark sich entschlossen hatte, heute einen direkteren Weg zu gehen. Er hatte das Herumsitzen satt und es wurmte ihn, dass er nun schon seit bald einem Jahr hinter Miriels Mörder herjagte, ohne eine wirkliche Spur zu haben. Dass Hopfenhauff Mitglied oder zumindest Sympathisant der Bewegung sein musste, dessen war Ettark sich aufgrund der anderen Opfer und der speziellen Machart der Waffe sicher und wenn er an ihn heran kommen wollte, musste er wohl bei den obersten der HIRNis persönlich 'nachfragen'.
Endlich betraten die drei Diener das Lokal und setzten sich, während der Kellner ihnen ihr Bier brachte, ohne dass sie es bestellen hätten müssen. Man kannte sie hier und offensichtlich hatten sie recht feste Angewohnheiten, denn zusätzlich zu ihrem Bier bekamen sie jeweils ein kleines Glas mit einer klaren Flüssigkeit. Wie jeden Abend tranken sie erst schweigend einen Schluck Bier, bevor sie das kleine Glas mit einem Schluck leerten.
Routine war etwas Schönes. Vor allem, wenn man Menschen verfolgte. Es gab Nichts, was eine erfolgreiche Beschattung schneller unterband, als unwillkürliches Verhalten. Und Nichts war besser, als feste Routinen.
Ettark grinste in sein fast leeres Glas und beobachtete die drei Bediensteten weiterhin unauffällig. Er wartete noch einige Minuten, bis sie in ein Gespräch vertieft waren, bevor er aufstand und gemessenen Schrittes zur Theke schlenderte, sein leeres Glas auf das lackierte Holz stellte und dem Wirt vier Finger zeigte. Dieser nickte und begann damit, die Gläser zu füllten, während Ettark sich mit dem Rücken an den Tresen lehnte und die drei Bediensteten weiter beobachtete, dieses Mal jedoch völlig offen. Es dauerte nicht lange, bis einer der Drei seinen Blick bemerkte und zurückstarrte. Bevor er wirklich beunruhigt werden konnte, wurden die vier gefüllten Bierkrüge auf die Holzplatte neben Ettark gestellt und nachdem er das abgezählte Geld daneben gelegt hatte, nahm er die Krüge und schlenderte auf den Tisch zu, von welchem aus ihn inzwischen alle drei Männer beobachteten.
"Einen schönen guten Abend wünsch' ich den Herrn.", sagte er und schob drei der Krüge auf den Tisch. "Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setzte?", sagte er und ließ sich, ohne auf eine Antwort zu warten, auf den letzten freien Stuhl fallen.
Die Männer musterten ihn misstrauisch, doch in keinem der sechs Augen konnte er das Aufblitzen des Wiedererkennens feststellen.
Sehr schön! Offensichtlich war beim letzten Gespräch genug Alkohol geflossen, so dass sie sich nicht an ihn erinnerten. Er lächelte ihnen zu, bis schließlich einer von ihnen das Wort ergriff.
"Aber natürlich, setzen Sie sich doch, Herr...?"
"Oh, entschuldigung, wo bleiben nur meine Manieren? Mein Name ist Ettark und ich hatte gehofft, mich ein Wenig mit den Herren unterhalten zu können. Ich vermute, sie haben Informationen, die mir wirklich sehr helfen könnten."
Der Größte von ihnen, eben jener Mann, der den 'Söhnen des Regens' das Codewort gebracht hatte, blickte von dem dunkel gekleideten Mann zu den drei vollen Bierkrügen und zuckte mit den Schultern.
"Für solch vorzügliche Verkostung könnten wir wohl ein paar Fragen beantworten, soweit es uns möglich ist."
Mit diesen Worten nahm er den Krug auf und stieß mit Ettark an, seine beiden Kollegen taten es ihm nach kurzem Zögern nach.
Ettark jubelte innerlich, erlaubte sich nach Außen hin jedoch nur ein erfreutes Grinsen, welches weitestgehend hinter seinem Bierkrug verschwand.

"Nun...", begann der offensichtliche Anführer des Trios, nachdem er den Krug abgesetzt hatte. Er wischte sich mit einer gekonnten Bewegung den Schaum vom bartlosen Gesicht und verschränkte dann seine Hände auf dem Tisch. "Das sind Peter und Charles und ich bin Friedrich. Wie können wir unserem edlen Spender denn behilflich sein?"
Ettark zögerte kurz, während er sich die sorgsam zurechtgelegten Worte noch einmal durch den Kopf gehen ließ.
"Es ist so: Ich lebe nun schon einige Zeit in dieser schönen Stadt, doch dabei ist mir ein...", er senkte die Stimme, so dass die Männer sich zu ihm hinüber beugen mussten, "...schwerer Fehler der Stadtführung aufgefallen." Er nahm einen kleinen Schluck aus dem Krug, bevor er fortfuhr. "Überall in dieser Stadt wimmelt es von... Ungeziefer. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Ich sehe ja ein, dass gewisse Nicht-Menschen für die Wirtschaft einige Vorteile bringen können. Aber ich sehe zum Beispiel nicht, was die abartigen zweibeinigen Köter der Stadt bringen könnten, von diesen elenden Zecken überall mal ganz abgesehen."
In den Augen der Diener flackerte es und Ettark meinte, Verständnis zu erkennen.
Der Anführer nickte langsam und erwiderte dann mit gesenkter Stimme: "Ja, dieses Problem besteht durchaus. Aber ich sehe nicht, wie drei einfache Bedienstete wie wir Ihnen helfen könnten, Herr Ettark."
Jetzt begann der schwierige Teil. Der Wächter holte noch einmal Luft und widerstand dem Reflex, erneut zum Bierkrug zu greifen.
"Nun... ich habe gewisse... Gerüchte gehört, dass eine Organisation existiert, die… die Dinge ähnlich sieht. Und vor einigen Tagen sagte man mir, dass ich mich am Besten an Sie wenden sollte, wenn ich in Kontakt mit dieser Gruppe treten wolle."
Schon bevor er den Satz beendet hatte, wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte. Die Gesichter der drei wurden abweisend.
"Nein, da können wir Ihnen leider nicht helfen. Wir wissen nicht, wovon Sie reden.", sagte Friedrich und schob den Bierkrug demonstrativ von sich, als wolle er damit jegliche weitere Frage unterbinden.
"Nun, ich meine die Organisation HIRN...", brachte Ettark hervor, bevor er sich auf die Zunge biss. Das war jetzt definitiv zu viel gewesen, denn die Männer erhoben sich von ihren Stühlen, warfen Ettark feindliche Blicke zu und verließen dann die Bar. "Verdammte...", fluchte Ettark vor sich hin und schüttelte, wütend über sich selbst, den Kopf. Was musste er auch so vorstürmen? Nach ein, zwei weiteren Bieren wäre das Gespräch sicher anders verlaufen. "Diese Jungs waren echt zäh!" Er trank sein Bier aus, nickte dem Kellner zu und verließ dann ebenfalls das Gebäude. Was nicht sein sollte, sollte wohl nicht sein. Ab jetzt musste wohl wieder einer der 'Söhne' die Beschattung übernehmen. Er selber würde versuchen müssen, über einen der Freunde des Barons an ihn heranzukommen.
Aber nicht mehr heute Abend. Er sah sich schon in der Schwankenden Galeone sitzen und, während er Lena beim Servieren zuguckte, sein eigenes Feierabendbier trinken. Als sich vor ihm plötzlich ein Schatten aus dem Dunkel einer Hauswand löste.
"Nicht so schnell, Herr Ettark.", sprach ihn der Schatten mit der Stimme Friedrichs an. In seiner Hand hielt dieser einen länglichen Gegenstand und Ettark knurrte, als er einen Sklavenfänger erkannte. Diese länglichen Stoffbeutel waren, ähnlich wie Totschläger, mit schweren Eisenkugeln gefüllt. Jedoch waren diese im Sklavenfänger mit Sand vermengt, so dass der Knüppel zwar weniger tödlich war, durch sein geringeres Gewicht aber auch sehr viel schneller gehandhabt werden konnte.
Ettark zog sein Schwert aus der Scheide und beugte die Knie leicht, um schneller ausweichen zu können, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Aus einer kleinen Gasse waren die anderen beiden Diener getreten und auch in ihren Händen schwangen sie die gefährlichen Stoffknüppel. Er war umzingelt und hatte schon wieder keine Rückendeckung. O'Brien würde sich fürchterlich über seine Unfähigkeit aufregen, dachte er noch, als die beiden Diener auf ihn zugesprungen kamen. Bevor er seinen Mühlsteinhebel aus dem Ärmel ziehen konnte, wurde er von hinten getroffen. Doch Friedrich verfehlte seinen Kopf und traf stattdessen die linke Schulter. Sämtliches Gefühl wich aus seinem Arm. Er schlug mit dem Schwert um sich. Die schartige Klinge traf Charles' Arm, wurde jedoch von dessen Sklavenfänger abgefälscht und Ettark aus der Hand geprellt. Charles wich fluchend zurück und hielt sich den blutenden Arm, doch Ettark war nun unbewaffnet, einer seiner eigenen Arme war taub und er hatte zwei wütende Männer vor sich. An Ausbildung mochte es ihnen fehlen, doch Ettark erkannte, dass seine Chancen nicht zum Besten standen. Als er hörte, wie Friedrich sich bewegte, fuhr er herum und trat dem Anführer der Bande mit einem Fußfeger selbige unter dem Körper weg. Doch schon stürmte von hinten der Dritte im Bunde auf ihn zu.
Wieder drehte er sich, um ihn zu empfangen. Er rutschte jedoch aus und fiel so genau in den Sklavenfänger.
Ein fürchterliches Krachen ließ seinen Kopf nachhallen. Der beschwerte Beutel war gegen seine rechte Gesichtshälfte getroffen und er schmeckte Blut. Dann wurde es, wieder einmal, dunkel um ihn herum.

Gefangen


Als er wieder aufwachte, brummte sein Schädel und der Geschmack von Blut war noch nicht aus seinem Mund verschwunden. Er lag mit dem Bauch auf dem Boden und konnte Kopfsteinpflaster unter sich fühlen. Hatten sie ihn in der Straße liegen lassen?
Irgendwoher kamen Stimmen und er versuchte den Kopf zu drehen, um die Sprechenden zu sehen, als er die Stimme von Friedrich erkannte.
"...hat ziemlich viele Fragen gestellt und kannte den Namen Ihrer Gruppe, Herr."
"Hat er seinen Namen genannt oder gesagt, für wen er arbeitet?", fragte eine unbekannte Stimme.
"Er behauptete, sein Name sei Ettark und er würde sie aus persönlichen Gründen suchen."
"Das ist mir zu heikel, das selber zu erledigen. Van Barrik soll sich..."
"Er wacht auf, Herr!", unterbrach eine Stimme und der Sprecher verstummte. Dann hörte Ettark schwere Schritte auf sich zukommen. Die Stiefel blieben genau vor seinem Gesicht stehen und das letzte was Ettark sah, bevor er das Bewusstsein wieder verlor, war eine eisenbeschlagene Schuhspitze, die sich seinem Gesicht in beunruhigender Geschwindigkeit näherte.

Immer noch lag er auf dem Boden, doch hier waren die Steine enger gefugt. Außerdem war es deutlich kälter und feuchter. Die Kopfschmerzen waren schlimmer geworden und beide Gesichtshälften brannten, als hätte man ihm die Haut abgezogen. Er versuchte, sich zu bewegen und erkannte erleichtert, dass er zumindest nicht gefesselt war. Ohne aufzustehen begann er, seinen Körper nach schwereren Verletzungen abzutasten. Im nächsten Moment krümmte er sich keuchend zusammen. Die noch vom Kampf mit dem IA-Zwerg geprellte Rippe hatte offensichtlich einen weiteren Schlag abgekommen und drückte nun unangenehm auf die Lunge. Jeder Atemzug schickte schmerzende Wellen durch den gesamten Brustkorb. Er atmete flach, bis die Schmerzen halbwegs abgeklungen waren und versuchte dann vorsichtig, sich aufzusetzen.
Er befand sich in einen dunklen Raum. Die kleinen Fenster im Bereich direkt unter der Decke legten die Vermutung nahe, dass er entweder in einem Keller oder einem Kerker saß, doch alles schien verschwommen. Er schüttelte den Kopf, bis der Blick klarer wurde und sah sich dann weiter im Raum um. Dieser war größer, als zuerst vermutet, jedoch durch Gitterstangen in mehrere käfigartige Areale unterteilt. Der einzig momentan belegte Käfig war der seine und der Raum war durch eine massiv aussehende Tür verschlossen.
Weiter so flach wie möglich atmend zog er sich an an den Gitterstangen hoch, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Nichts was er sah, erhöhte seine Chancen, diesen Käfig zu verlassen, vom Kellerraum ganz abgesehen.
Er dachte über seine weiteren Möglichkeiten nach, während er sich vorsichtig wieder auf den kalten Boden gleiten ließ.
Niemand wusste, wo er war. Weder die Wache, noch die 'Söhne des Regens'. Keine gute Voraussetzung, wenn man hoffte, befreit zu werden. Zumindest seinen Mantel hatten sie ihm gelassen und er kauerte sich auf dem Boden so klein wie möglich zusammen, um den dicken Stoff sowohl als Matratze, als auch als Decke nutzen zu können. Bevor er auch nur an Ausbrechen denken konnte, musste er einen klaren Kopf bekommen. Wenn er die Stimme [11] richtig verstanden hatte, war er nun unter Aufsicht dieses Van Barrik. Der Name sagte ihm zwar nichts aber die Vermutung lag nahe, dass es sich bei diesem um den Anführer der HIRN-Organisation handelte. Da läge vielleicht die Möglichkeit, hier mehr oder weniger unbeschadet herauszukommen. Es gab da etwas, was einen notorischen Vampirhasser bestimmt interessierte. Etwas, was selbst bei der Wache kaum jemandem bekannt war.
Bevor sich der Gedanke festigen konnte, hörte er Stimmen und im nächsten Augenblick erklang das metallische Geräusch eines Schlüssels, der in ein Schloss geschoben wurde.
Ettark holte so tief Luft, wie es ihm möglich war und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Wenn das funktionieren sollte, brauchte er einen klaren Kopf.

Beinahe lautlos öffnete sich die Tür.
Natürlich, Igors hatte er in solch einem Haus auch nicht erwartet.
Mehrere Schritte passierten den Zugang und kamen in seine Richtung. Er konzentrierte sich und versuchte, die Schritte zu zählen. Er kam auf drei Personen, von denen mindestens eine weiblich war.
Ein Verhör, während eine Frau dabei war? Er hatte HIRN anders eingeschätzt.
Plötzlich schienen die Schritte der Frau ins Stocken zu geraten und eine bekannte Stimme erklang zitternd.
"Er wurde schon... befragt?"
"Ja, seitens Christians Männer, bevor er zu uns geschickt wurde. Sie haben ihn wohl nicht groß zu Wort kommen lassen, als sie ihn ertappten und dann sind sie nervös geworden.", antwortete eine deutlich tiefere Stimme.
Die Frau... konnte das etwa...
Ettark biss die Zähne zusammen und zwang sich auf die Beine.
Vor ihm stand Ophelia Ziegenberger!

Er hielt sich an einer der Gitterstangen fest und richtete sich weiter auf. Die Anwesenheit dieser... Person, konnte nur Eines bedeuten: Er war wirklich von HIRN gefangen genommen worden! Außerdem war das IA-Häschen deutlich tiefer in die Organisation vorgedrungen, als er ihr zugetraut hatte. Wenn sie beim Erstverhör von Gefangenen hinzugezogen wurde, mussten die Obersten ihr schon sehr viel Vertrauen schenken. Wie hatte sie das nur in so kurzer Zeit geschafft?
Ein hässlicher Verdacht keimte in Ettark auf.
Aber, nein, soweit würde selbst Ophelia nicht gehen... oder? Nein!
Er schob den Gedanken ganz tief in sein Unterbewusstsein und konzentrierte sich. Wenn er das hier überleben wollte, musste er in seine neue Rolle schlüpfen und zu dem werden, was er schon seit Langem beerdigt geglaubt hatte. Wenn nur die Ziegenberger nicht...
Sein Blick wanderte zu den beiden Begleitern der Wächterin und blieb schließlich bei dem Älteren der beiden hängen.
Der kurz gewachsene, schlanke Mann, in dem Ettark sofort den Anführer vermutete, war gut betucht. Denn seine Kleidung war offensichtlich maßgeschneidert und sauber. Andererseits war der graue Stoff nicht durch Rüschen oder sonstigen Schnickschnack verunziert, wie sie Baron Hopfenhauff so gerne trug. Auch die kurzen, graumelierten Haare des Mannes bildeten einen deutlichen Kontrast zu den sonst in reichen Kreisen üblichen Wollbergen.
Mit so einem Mann auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen würde sicher deutlich einfacher werden, als mit einem Modegimpen, wie der Baron einer gewesen war.
Als ihm auffiel, dass der Mann seinen Arm der RuM-Wächterin zum Unterhaken geboten hatte, begann die leise Stimme in seinem Kopf den anfänglichen Verdacht zu wiederholen. Ettark schob sie wieder nach hinten und richtete sich noch etwas weiter auf, als er versuchte, einen gewissen Stolz zu zeigen, wie er ihn in frühester Kindheit gelernt hatte. Geprellte Rippen und ein zügig zuschwellendes linkes Auge waren bei diesem Versuch jedoch ein merkliche Behinderung.
Beide Männer musterten sich einige Zeit, bis der Ältere schließlich das Wort ergriff.
"Es scheint, dass wir Besuch haben.", sagte er mit leicht ironischem Unterton zu seinen Begleitern und ließ Ettark dabei keine Sekunde aus den Augen. Dieser wollte auflachen, doch der brennende Schmerz, der durch seinen Brustkorb fuhr, verwandelte das Auflachen in ein schmerzhaftes Husten.
"Und zwar einen von der neugierigen Sorte.", ergänzte der zweite von Ettarks Besuchern, ein deutlich massiver gebauter Mann.
Während der Wächter den Anführer weiterhin betrachtete, um auch nicht den kleinsten Hinweis zu verpassen, sah er aus dem Augenwinkel, wie Ophelia das Ganze mit wachsender Nervosität betrachtete. Hoffentlich hatte sie sich wenigstens genug im Griff, sie beide hier nicht zu verraten.
Euch beide? Oder nur dich, fragte die leise Stimme in Ettarks Kopf, als der Anführer mit Ophelia näher auf das Gitter zu ging. Nah genug, um Ettark mit bloßen Händen zu erreichen.
Auch nah genug, um die elende Verräterin mitzunehmen, falls sie dich auffliegen lässt, flüsterte die Stimme.
"Ich habe erfahren, dass du Fragen stellst. Viele Fragen.", richtete der Alte schließlich das Wort direkt an seinen Gefangenen.
Das aufkommende Lachen verkam wieder zu einem unangenehmen Husten, bevor Ettark antworten konnte.
"Naja, so viele waren das eigentlich gar nicht. Eigentlich wollte ich nur wissen, wie ich mit einer Organisation namens 'HIRN' in Kontakt treten kann." Er blickte sich unter dem leichten Lächeln des Anführers demonstrativ um und endete dann grinsend: "Offensichtlich ist mir das gelungen."
"Zumindest ausreichend viele, um die Diener meines werten Bekannten nervös zu machen."
Der Mann lächelte weiterhin und Ettarks Grinsen wurde breiter. Doch das zuschwellende Gesicht machte auch dies zu einer schmerzhaften Erfahrung. Jetzt nur nicht aus der Rolle fallen!
"Oh, ja. Ein paar sehr nervöse Gesellen. Dafür, dass ich ihnen 'nen Bier spendiert habe, waren sie gar nicht gut auf mich zu sprechen.", antwortete er mit beinahe schon tropfender Ironie in der Stimme, bemühte sich jedoch, das Ganze so überheblich klingen zu lassen, wie es seiner Rolle zustand.
Sein 'Gastgeber' blickte zu ihm hoch und musterte ihn erneut eingehend. Ettarks Hand fuhr wie von selber zu den schmerzenden Rippen, als wollte er sich vor weiteren Schmerzen schützen und er fluchte innerlich. Haltung bewahren! Hatte er denn alles verlernt? Schließlich beendete der alte Mann seine Begutachtung des Gefangenen.
"Vielleicht sollten wir von Neuem beginnen. Freundlicher. Zumindest vorerst..."
Das klang doch zumindest vielversprechend.
"Habe ich momentan Nichts gegen einzuwenden.", erwiderte er.
"Mit wem habe ich das Vergnügen? Herr..."
Ettark räusperte sich und war bemüht, das Grinsen im Gesicht festzufrieren, während er vollends in seine Rolle schlüpfte und sich mit einer leichten Verbeugung vorstellte.
"Meine Name", er atmete ein, "...ist Ettark von Bergigen." Als er sich wieder aufrichtete, fiel sein Blick auf Ophelias gerunzelte Stirn und er presste die Kiefer zusammen.
Sei still, sei still, sei still! Wir kennen uns nicht!
Der dritte Besucher schien bei der Nennung des Namens unruhig zu werden. Kannte er ihn? Oder machte ihn nur der deutlich adelige Name nervös?
Der Infokon wendete sich wieder dem Anführer zu.
"Und mit wem habe ich das Vergnügen?"
Sein Gegenüber senkte weiterhin lächelnd den Kopf und erwiderte dann:
"Mit einem Freund."
Scherzkeks. Ettark sah sich betont langsam und mit ironischem Blick im Keller um.
"Interessante Gästezimmer haben Sie... Freund.", erwiderte er und betrachtete sein Gegenüber mit hochgezogenen Augenbrauen.
"Sicherheitsvorkehrungen. Zu deinem eigenen Besten."
Dieses arrogante, kleine...
Ettark biss die Zähne zusammen, bevor er sich ob der offenen Arroganz seines Gegenübers verriet und zählte innerlich bis fünf.
"Ich verstehe. Zu freundlich.", erwiderte er dann betont gelassen.
"Nun denn, Ettark von Bergigen. Gesetzt den Fall, mir würde dein Begehr' irgendetwas bedeuten... Wie kommt es, dass du dich nach einer... ja, was soll man dazu sagen? Nicht sonderlich populären Organisation erkundigst?"
Ettark achtete genau auf das Gesicht seines Gegenübers, während er herauszufinden versuchte, ob der Name von Bergigen irgendetwas in diesem auslöste. Doch er schien ihm nichts zu sagen.
Wäre ja auch zu einfach gewesen.
Er rollte mit den Schultern.
"Und was brachte dich zu der Annahme, dass die Dienerschaft meines Bekannten dir in dieser Frage weiterhelfen hätte können?"
"Nun ja, ich bin erst seit... einiger Zeit Gast eurer wunderschönen Stadt aber es ist mir doch recht schnell aufgefallen, dass hier etwas nicht ganz stimmig ist.", wiederholte er die selbe Geschichte, die er schon den erwähnten Dienern aufgetischt hatte. Wer wusste denn, was sie alles weitergegeben hatten, da war es klug, einmal erzählte Lügen beizubehalten.
"So? Ist es das?"
"Verstehen Sie mich nicht falsch, mir gefällt sie wirklich. Aber überall dieses... Geschmeiß! Ich meine, Zwerge und Trolle sind ja schon schlimm genug aber es wundert mich doch sehr, wie die Stadtführung zulassen kann, dass sich eine solche Menge an Kläffern und Zecken hier rumtreibt. Selbst in den besten Vierteln in der Stadt!"
Ihn erstaunte, wie leicht ihm diese Geschichte über die Lippen kam. Empfand er wirklich so?
Der dritte Besucher blickte zu seinem Chef, als Ettark fortfuhr.
"Also habe ich mich erkundigt, warum niemand etwas dagegen unternimmt und bin dabei auf ihre Organisation gestoßen. Relativ schnell war mir klar, dass dieser Hoffenpoff damit zu tun hat, also habe ich versucht, direkt mit ihm in Kontakt zu kommen und als mir das misslang, habe ich mich halt an seine Bediensteten gewandt. Sie reagierten nicht sehr... zuvorkommend aber immerhin bin ich jetzt hier."
Der Ältere grinste zwar kurz, wurde dann aber schlagartig ernst.
"Ich wüsste nicht, von welcher Organisation Du redest, die mir gehören sollte. Da muss es sich um ein Missverständnis handeln. Oder weißt Du, wovon er redet?" Mit dem letzten Satz wendete er sich an seinen kräftigen Begleiter.
Natürlich machte es ihm dieser Schnösel nicht leicht und wieder machte sich die leise Stimme in ihm bemerkbar, wie Ophelia es wohl so schnell geschafft haben mochte, so weit aufzusteigen. Nun gut, dann musste er wohl mal wieder auf Risiko spielen. Er hatte ja noch ein paar heile Rippen übrig.
"Hören Sie, Herr...? Ich vermute, dass ich mit Van Barrik nicht ganz falsch liege?"
Sein Gegenüber schien zu erstarren und Ettark musste sich sehr zusammenreißen, um den triumphierenden Blick zu unterdrücken.
Plötzlich klackerte es neben ihm und der breit gebaute Begleiter Van Barriks hatte die glänzende Klinge eines Messers in der Hand.
"Soso... einer von der ganz schlauen Sorte.", sagte Van Barrik tragend, während er Ettark misstrauisch betrachtete, der sich hastig darum bemühte, seinen Satz zu beenden.
"Ich vermute, Sie haben noch nicht von denen von Bergigen gehört? Dann sollten Sie sich besser schnell erkundigen, bevor Sie einen Fehler machen, den Sie mit Sicherheit bereuen würden."
So, der Köder war ausgeworfen, mal sehen, was nun passierte.
"Bitte! Wenn Du etwas zu sagen hast...", forderte sein Gastgeber ihn mit einer Geste seines Armes auf, fortzufahren.
Na, na! So leicht werde ich es dir nicht machen, Arschloch.
Der Bergiger warf einen mitleidsvollen Blick auf die Klinge und zog die Augenbrauen hoch.
So nicht!
Barrik folgte seinem Blick und nach einem kurzen Zögern steckte der Bewaffnete sein Messer wieder weg.
Schon besser.
"Vielen Dank! Ist doch gleich eine viel freundlichere Atmosphäre.", sagte Ettark lächelnd, während er sich kurz sammelte. "Wenn Ihnen der Name nichts sagt, sollten sie sich wirklich dringendst erkundigen. Vor allem, wenn Sie etwas gegen das Geschmeiß in dieser Stadt unternehmen wollen. Aber ich kann soviel verraten, dass meine Familie schon Vampire getötet hat, als Ihr Vater noch in den Windeln lag." Innerlich gratulierte er sich. Wenn schon angeben, dann richtig, das gehörte zum guten Ton in Gesellschaftsschichten wie diesen. "Und wenn Sie mich wirklich beeindrucken wollen, müssen sie schon mehr auffahren, als ihr kleines Taschenmesser.", setzte er mit einem Blick auf den Handlanger hinterher.
"Ich bezweifle deine Aussage."
Dieser kurze Satz war alles, was Van Barrik sagte, doch Ettark musste sich zusammenreißen, um ihn nicht anzuschreien.
Soll ich dir gleich noch den Arsch abwischen, du Flachwichser?
"Das bleibt natürlich ganz bei... dir.", erwiderte er, als er sich wieder gefangen hatte. "Aber wenn wir in der selben Branche arbeiten, sollte es nicht schwer fallen, Unterlagen über das Königreich Bergigen zu finden. Ich bin sicher, jemand mit so einem... vorzüglich ausgestatteten Keller, wird auch eine Bibliothek haben."
Und jetzt spring gefälligst selber, Blödmann!
Da erklang mit einem Mal ein Geräusch, welches die kleine Stimme in Ettarks Kopf triumphierend aufheulen ließ.
"Timotheus, er ist so ein Angeber."
Diese kleine Verräterin! Würde sie ihn jetzt wirklich den Hunden zum Fraß vorwerfen?
"Ja, das ist er. Aber das bedeutet nicht, dass man ihm kein Gehör zu schenken braucht. Lass ihn ausreden!"
Ettark atmete kurz auf, als Ophelia wieder den Mund aufmachte.
"Er will sich nur wichtig machen."
Das hier machst du mir nicht kaputt! Pass' auf, dass du dir deine zarten Fingerchen nicht verbrennst. Ein paar Trümpfe hab ich noch, Kleine!
"Ich habe alles gesagt, was ich zu sagen habe. Wenn ihr meinem Wort nicht glaubt, werdet ihr hoffentlich dem von Van Dunkelsinn glauben. Er hat dem Reich in seiner Abhandlung über Überwald ein recht interessantes Kapitel gewidmet." Er lächelte gezwungen und wartete.
Nach einigen Augenblicken wendete sich Barrik an seinen Handlanger.
"Alec! Bitte sei doch so nett und bringe mir Van Dunkelsinns Abhandlung. Sie steht in dem hohen Regal rechterhand meines Schreibtischs. Zweites Fach von oben."
Alec zögerte misstrauisch.
"Ähm... soll nicht lieber sie... Ich meine, falls er..."
"Werd nicht albern.", erwiderte sein Chef deutlich ungeduldig.
Ettark klopfte mit den Fingerstäben gegen die massiven Eisenstangen, die seine Zelle umgaben und sagte mit süffisanter Stimme:
"Keine Angst, ich werde die Gitterstäbe heute nicht verbiegen. Schließlich sind sie ja zu meiner eigenen Sicherheit."
Mit einem Geräusch der Unzufriedenheit drehte sich Alec um und verließ den Raum.
"Ein sehr nervöser Mann... keine guten Voraussetzungen für einen Jäger.", ließ Ettark fallen und verkniff sich im letzten Moment das breite Grinsen. Er brauchte dringend diese abschwellende Salbe von Frau Honigkuchen, sein Gesicht fühlte sich langsam wie ein großes Kissen an. Ein großes, schmerzendes Kissen.
Barrik überhörte den Humor offensichtlich mit voller Absicht, als er sich zu einer Antwort herabließ.
"Man könnte auch 'aufmerksam' sagen. Eine Eigenschaft, die einem engen Mitarbeiter, der mit der Sicherheit betraut wurde, gut zu Gesicht steht, meinst Du nicht auch? Derweil könnten wir uns ja etwas besser kennenlernen... Herr von Bergigen."
Au ja! Kennenlerngespräche mit dem Zellmeister, was gab es Schöneres?
Er nickte vorsichtig, um weiteren Schmerzen weitgehend auszuweichen. Dann blickte er sich um und fiel zurück in seine Rolle.
"Ich würde euch ja gerne einen Stuhl oder ein Getränk anbieten aber..." Er zuckte mit den Schultern. "Die sind scheinbar momentan alle belegt."
Barrik ignorierte den Kommentar und wendete sich Ophelia zu.
"Das könnte etwas länger dauern, meine Liebe. Es tut mir leid, dass die Einrichtung hier unten zu wünschen übrig lässt. Ich hoffe, das ist dennoch akzeptabel für Dich?"
Meine Liebe? Für wen verdammt hielt dieser Typ die Wächterin? Oder viel wichtiger: Für wen hielt die Wächterin sich, flüsterte die leise Stimme.
Er übersah fast ihren Blick und war überrascht, als er in ihren Augen Unsicherheit zu sehen glaubte. Unsicherheit passte nicht zu dieser Frau. War sie eine so grandiose Schauspielerin oder war sie doch nicht so kalt, wie er vermutete? Ersteres schloss er fast kategorisch aus, nach dem, was er die letzten Minuten an ihr beobachtet hatte. Aber Zweiteres? Er musste sich geirrt haben.
"Das ist in Ordnung für mich. Mach Dir keine Gedanken.", beschwichtigte sie Van Barrik schließlich.
Während der Anführer die Wächterin betrachtete, ging Ettark die wenigen Schritte, die die Zelle ihm gönnte, auf und ab und wischte sich unauffällig den kalten Schweiß aus dem Gesicht.
Das hier war nichts für ihn. All diese Halbwahrheiten und Halblügen. Und dann diese Rolle, die er spielte, die er nie wieder hatte spielen wollen!
Er schluckte, doch in diesem Moment drehte sich sein Gastgeber wieder zu ihm um und aus Ettark dem Wächter wurde wieder Ettark von Bergigen.
"Wenn ich dich richtig verstanden habe, wünschst du eine Möglichkeit, dein aggressives Potential zu entfalten? Gegen... 'das Geschmeiß'?"
Er stockte. Wollte der Pisser ihn auf die Probe stellen? 'Aggressives Potential'? So sprach kein Vampirjäger. Die sahen das alles in anderem Licht. Schließlich waren sie die Opfer.
Und ist das nicht so? Guck dir an, was mit deiner Familie passiert ist, flüsterte die leise Stimme.
"Mit Aggressionen hat das nun wirklich wenig zu tun. Es geht hier schließlich um Selbstverteidigung! Schließlich heißt es entweder sie oder wir und ich würde ungern aufwachen, wenn so 'nen Gewürm an meinem Hals hockt und mich aussaugt. So wie die sich ausbreiten, wird es nicht mehr lange dauern, bis sie uns ehrliche Menschen von unseren angestammten Plätzen vertreiben.", dozierte Ettark mit, so hoffte er zumindest, dem Brustton der Überzeugung.
"Es gibt Personen, die Selbstverteidigungsmaßnahmen erst dann als angemessen ansehen würden, wenn die genannte Situation bereits akut eingetroffen ist."
Mit solchen philosophischen Kinderrätseln war Ettark aufgewachsen, da konnte ihm dieser Möchtegern nicht das Wasser reichen.
"Ja und es gibt Menschen, denen es gegeben ist, vorausschauend zu leben. Glaub mir, die Situation ist schon lange eingetroffen.", zitierte er ungewollt seinen Vater, um dann, etwas leiser hinzuzufügen: "Meine Heimat kann ein Lied davon singen."
Er fühlte sich zurückgeworfen in das Haus seiner Kindheit. Vor dem großen Kamin im Speisesaal saßen sein Vater und die heutigen Gäste und man sprach, wie so oft, über Vampire und das Recht der Selbstverteidigung. Zwischendurch stellten die Erwachsenen Ettark Fragen, auf die er die Antworten schon kannte. Jeder in Bergigen kannte diese Antworten.
"Ich mag mich zwar irren aber ich sehe hier keine Vampire in diesem Raum.", riss ihn Barrik aus seinen Gedanken.
"Los, Kleiner, zeig ihm deinen rechten Haken!", flüsterte die Stimme jetzt und klang plötzlich beinahe wie sein Vater.
"Was wohl meine anfängliche These stützt, dass hier solch vorausschauende Menschen leben."
Sein Gastgeber lachte und Ettark grinste. Endlich hatte einer seiner dummen Scherze gezündet.
In diesem Moment betrat Alec wieder den Keller, in den Händen das dunkle, ledergebundene Buch, welches Ettark sofort erkannte. Van Dunkelsinn hatte ihm persönlich ein Exemplar in die Assassinengilde gebracht, nachdem es endlich erschienen war. "In Erinnerung an deine Familie und ihren großartigen Traum!", hatte er gesagt und war auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Der senile Narr!
"Ich danke Dir, Alec! Herr Ettark von Bergigen, möchtest Du meine Suche nach den von dir genannten Informationen verkürzen?"
Natürlich konnte er das. In den einsamen Nächten seiner Kindheit hatte er die betreffenden Seiten immer und immer wieder gelesen. Sie bestanden nur aus Übertreibungen und Schönmalerei, doch genau das was es, was er jetzt brauchte! Er lehnte sich an das metallene Gitter und presste dabei möglichst unauffällig die Hand auf die schmerzenden Rippen. Er musste dringendst hier raus.
"Es müsste auf Seite 325 Verso beginnen, wenn ich mich nicht irre."
Irren! Wie könnte er sich dabei irren?
Der alte Mann blätterte vorsichtig durch die dünnen Pergamentseiten, während Ettark sich gegen das Gitter lehnte und versuchte, Schmerzen und seine Rolle in den Griff zu bekommen. Er betrachtete seine drei Besucher. Wie Van Barrik und Ophelia sich in die großspurigen Worte Dunkelsinns vertieften und wie der Mann namens Alec ihn die ganze Zeit über nicht aus den Augen ließ. Ein aufmerksamer Mann, das konnte man wohl sagen. Sein Misstrauen gegen Ettark stand dem Sicherheitsbeauftragten auf die Stirn geschrieben und er wartete vermutlich nur auf den Befehl seines Herrn, um Ettark zu beseitigen.
Nun, dieses Vergnügens werde ich dich wohl berauben müssen.
Ettark wandte sich wieder Van Barrik zu, als dieser offensichtlich ans Ende des Kapitels gelangt war. Barriks Blick richtete sich auf seinen Gefangenen und er lächelte verschlagen.
"Hmmm..."
Die Worte Van Dunkelsinns gingen an niemandem spurlos vorüber, egal ob Vampirfreund oder Vampirjäger. Wenn dieser Mann eines konnte, dann war es, Weniges in viele und Kleines in große Worte zu fassen. Ein wahrer Meister seines Fachs, hatte Ettarks Vater immer betont. Eigentlich sollten die Geschichten Dunkelsinns dafür Sorgen, weitere Vampirjäger nach Bergigen zu bringen, wo sie im Kampf gegen die Blutsauger dringendst gebraucht worden waren. Doch es kam anders. Bergigen wurde vom Erdboden getilgt und Dunkelsinn brauchte noch ganze zwei weitere Jahre, um sein Buch endlich drucken zu lassen.
Ettark holte tief Luft und stieß sich von den Gittern seiner Zelle ab.
"Bestätigt Van Dunkelsinn meine Worte ausreichend?"
Der alte Mann lächelte weiter, während er scheinbar nachdachte, als Ettark Ophelias Blick einfing.
Verwunderung, Erstaunen und Entsetzen mischten sich in den Augen der jungen Ermittlerin und schnell wandte er den Blick ab.
Von allen Wächtern musste gerade sie dabei sein! Seine Vergangenheit war seit Langem sein wohlbehütetes Geheimnis, kaum jemand im der Zwillingsstadt kannte sie. Selbst in der Wache hatte er sich nicht als 'von Bergig' eingetragen. Er fühlte sich verletzlich, wie lange nicht mehr und ausgerechnet Ophelia Ziegenberger war Zeugin dieses Augenblickes. Selbst Lena kannte diese Geschichte nur in Bruchstücken. Bald würde es vermutlich die gesamte Wache erfahren haben.
Da öffnete die Wächterin den Mund, zu einem stummen 'O', bevor sie stammelte:
"Wenn das stimmt..."
In ihm kochte der Zorn hoch.
"An Dunkelsinn wird in diesem Haus doch hoffentlich nicht gezweifelt?"
Wenn es einen wirklichen Verehrer der jagenden Zunft gegeben hatte, dann war das Dunkelsinn gewesen. Niemand von Diesen würde an Dunkelsinn zweifeln. Zumindest war das in Ettarks Kindheit noch so gewesen.
"Nein, an ihm nicht."
Ettark nickte.
Natürlich! Er musste sich schon ganz ausziehen, damit man ihm glaubte. Dann wurde es wohl Zeit für den letzten Trumpf. Wenn dieser nicht saß, säße er ziemlich in der Scheiße.
"Die Frage, die bleibt, ist vielmehr: Jeder könnte dies nachgeschlagen und es als willkommene Identität angenommen haben. Vorschläge, Herr Bergiger?"
"Das habe ich befürchtet."
Plötzlich überkam ihn eine Panikattacke. Wenn dieser Alec ihn durchsucht und sie genommen haben sollte...
Vorsichtig tastete er seinen Mantel ab. Die Marke war noch an ihrem Platz, das war das erste, was er kontrolliert hatte, als er aufgewacht war. Doch direkt darunter... er atmete aus, als er die scharfen Kanten ertastete. Mit etwas mehr Selbstbewusstsein griff er langsam in die Innentasche seines Mantels, während er sich lächelnd an Van Barrik wandte.
"Ihr habt das wunderschöne Bild von der Kette meines Großvaters gesehen?"
"Dieses feine Unikat? Durchaus... es war kaum zu übersehen."
Da richtete sich Alec mit alarmiertem Blick auf.
"Welche Kette? Die, die der Kerl bei sich hat?"
Also doch, er hatte sie gesehen!
Mit fragendem Blick wandte sich Van Barrik an seinen Angestellten. "Er hat...", wurde jedoch sofort von diesem unterbrochen.
"Ich habe seine Taschen natürlich kontrolliert aber ich habe sie als ungefährlich angesehen. Ist sie das nicht?"
Du elender Narr, wenn du gewusst hättest, was du da in deinen schmutzigen Pranken gehalten hast!
"Das... das..." Ettark atmete tief ein und nutzte die Zeit, um wieder in seine Rolle zu finden. "Ich hoffe, du hast sie nicht angefasst! Das ist ein sehr wichtiges Erbstück!" Innerlich atmete er auf, als er die glatte Oberfläche in der Tasche ertastete und schließlich den dünnen Faden zwischen die Finger bekam. Er zog den Faden aus der Tasche und präsentierte Van Barrik die vier runengeschmückten Zähne, die an ihm aufgezogen waren.
"Du hast es nicht für nötig befunden, mir davon zu berichten, Alec?"
Van Barrik trat näher an den Käfig und streckte seine Hand aus. Vorsichtig ließ Ettark die seine sinken, bis die Zähne die Handfläche seines Gegenübers berührten. Das Entsetzen darüber, dass der grobschlächtige Sicherheitsmann die Zähne angefasst hatte, mochte teilweise gespielt gewesen sein, doch dieses Erbstück bedeutete Ettark weit mehr, als er sich selber einzugestehen bereit war. Diese vier Zähne, Stücke aus der berühmten Kette seines Großvaters, waren das einzige, was ihn noch mit seiner Kindheit verband. Das und vielleicht Hasko, der exakt das selbe Schmuckstück hatte, eine perfekte Kopie. Nun, Inzwischen waren bei ihm noch einige Zähne hinzu gekommen.
"Tut mir leid, Sör! Sie sah so dermaßen weibisch aus. Ich dachte, sie wäre eine Fälschung."
Van Barrik schwieg, bis er seine Hand schließlich senkte und einige Schritte zurück trat. Innerlich fiel eine unbegründete Angst von Ettark ab und er beeilte sich, die Zähne wieder in die Sicherheit seines Mantels zu bringen. Mit wirklich beeindrucktem Blick nickte Van Barrik Ettark zu.
"Nein. Das ist sie nicht."
"Dann ist er..." Ophelia mischte sich voller Erstaunen in das Gespräch ein.
"Entweder ein sehr geschickter Betrüger. Oder ein Jäger aus Tradition."
Van Barrik betonte die letzten Worte und zeigte damit deutlich, woran er glaubte. Ettarks Geschichte war ihm offensichtlich abgekauft worden.
Ophelia schien diese Aussage zu erschrecken.
"Was bedeutet das? Für ihn... für uns?"
Entweder bemerkte Van Barrik den schockierten Unterton nicht oder er überhörte ihn schlicht, denn seine Antwort ging nicht wirklich darauf ein.
"Eine gute Frage. Herr Bergiger... gesetzt den Fall, Du hättest jene fragwürdige Organisation gefunden. Was hätte dies zur Folge?"
Ettark stutzte. Mit der Frage hatte er nicht gerechnet und in seinem Kopf bauten sich die verschiedensten Antwortmöglichkeiten auf und fielen wieder in sich zusammen. Um Zeit zu gewinnen, entschied er sich erst einmal schlicht für eine simple Aufzählung, auch wenn er nicht wusste, was Punkt zwei sein könnte.
"Nun, zuerst würde ich dem... Leiter dieser Organisation gratulieren."
Das Schmunzeln seines Gegenübers zeigte, dass die Schmeichelei nicht auf taube Ohren stieß und Ettark gratulierte sich selber.
"Eine überflüssige, wenn auch noble Geste. Weiter! Was würde folgen?"
"Als zweites würde ich... zumindest temporär, meine Hilfe anbieten, diese Stadt zu... reinigen. Es darf nicht sein, dass sich hier ein Nest entwickelt, während tapfere Streiter an anderen Fronten für das Überleben unserer Spezies kämpfen. Einen Zweifrontenkrieg können wir uns wirklich nicht leisten, dafür sind wir zu wenige." Damit war ein plausibler Grund gefunden, warum er überhaupt nach HIRN gefragt hatte, ebenso dafür, warum er die Hilfe für nötig hielt. Aber er musste tiefer in die Organisation vordringen. Schließlich war er hier, um nach Miriels Mörder zu suchen und dafür musste er möglichst nah an Van Barrik herankommen. Außerdem wollte er Ophelia im Auge behalten und herausfinden, was sie vorhatte.
"Drittens würde ich um eine gemütlichere Unterbringung bitten, der Boden in diesem Zimmer ist doch etwas hart."
"Gestatte mir eine Frage!"
Weitere Fragen? Hatte er einen Fehler gemacht? Vielleicht hätte er langsamer vorgehen sollen? Er machte eine auffordernde Geste und erwartete das Schlimmste.
"Du kommst nicht von hier. Warum sollte Dir an 'dieser Stadt' gelegen sein?"
Das hatte er doch gerade eben erklärt... reichte das nicht als Motivation? Er zögerte kurz, bevor er antwortete.
"Wie schon gesagt, es liegt mir nicht viel an der Stadt. Zuerst war ich hier, auf der Suche nach... einem Freund. Aber als ich sah, was sich hier entwickelt..." Er schüttelte langsam den Kopf. "Dies ist die größte Stadt der ganzen Welt. Wenn wir hier verlieren, welche Chancen hätten wir in Überwald?" So, das sollte doch jetzt reichen, oder?
"Trägst Du deine Gefühle immer so offen zur Schau?"
Ettark unterdrückte ein Knurren. Was sollten all diese Fragen? Wenn die Situation eine andere gewesen wäre, hätte er seinem Gastgeber das selbstgefällige Grinsen längst aus dem Gesicht gewischt. Aber er musste in der Rolle bleiben!
Sei Arrogant!
"Nun ja, jemand sagte mir, ich wäre hier unter Freunden."
"Es gibt verschiedene Arten von Kampf, verschiedene Fronten. Und einigen von diesen täte ein dezenteres Vorgehen gut."
Für einen solchen Kommentar wäre Barrik in Bergigen am nächsten Baum aufgeknüpft worden. Feiger Bastard!
Er senkte seinen Kopf, damit Barrik den Zorn in seinen Augen nicht sah und atmete zweimal langsam ein und aus.
"Da seid Ihr mir zweifellos überlegen. Meine Methoden sind wohl offener, als es eine Stadt wie diese vertragen würde."
Plötzlich ein helles Lachen. Machte sich diese kleine Verräterin etwa über ihn lustig?
Wenn du wüsstest! Die Methoden des Reiches mochten offener gewesen sein, als es diese Memmen hier handhabten...
"...aber normalerweise auch deutlich effektiver!", flüsterte er, ohne es wirklich zu wollen.
"Hmmm... Ich möchte Dich um einen Gefallen bitten... Freund Ettark."
Ettark blickte hoch und sah, dass Van Barrik die Hände hinter dem Rücken verschränkt hatte.
Aber natürlich, einen Gefallen. War es nicht immer so?
"Wir sind eine kleine Familie. Und wie es in Familien üblich ist, oder sein sollte, ist jeder von uns von Bedeutung. Jeder hat seinen Platz. Es gibt in einer gut funktionierenden Familie jemanden, der sich um die Seinen sorgt und ein schützendes Auge auf alle hat. Der sagt, was zu tun ist. Und dem es wichtig ist, dass es allen gut geht.“ Mit einer kleinen Verbeugung zeigte er, dass er diese Rolle offensichtlich sich selber zugedacht hatte.
Es war beinahe klar, was jetzt kommen würde.
Mit einer Hand deutete Barrik auf seinen Handlanger, als er weiter redete.
"Dann gibt es diejenigen, denen wir vertrauen, weil sie sich nicht scheuen, zum Wohle der Familie kräftig mit anzupacken."
Er atmete ein und Ettark stutzte.
Er wollte mit seiner Aufzählung fortfahren? Was gab es in einer solchen Organisation denn noch für wichtige Posten?
Die Antwort auf diese ungestellte Frage verschlug ihm erst einmal die Worte.
"Es gibt in einer Familie auch die kostbaren Menschen, denen wir Einsicht verdanken, weil sie Prüfungen auf sich genommen und diese mit Würde überstanden haben. Vorbilder!" Bei diesen Worten trat er zu Ophelia und nahm sie bei der Hand.
Einsicht? Prüfungen? Vorbild? Was hatte diese... diese... Ettark fiel beim besten Willen kein passendes Wort ein. Was hatte diese Frau dem Anführer der Organisation erzählt, wer sie sei? Was sie erlebt habe? Für wen, verdammt, hielt er sie?
Er nahm sich vor, ihr diese Frage zu stellen, sobald er sie irgendwo unter vier Augen erwischte. Irgendwas ging hier vor und er war sich überhaupt nicht sicher, dass es ihm gefallen würde.
Ohne den Schrecken in Ettarks Augen zu sehen fuhr Barrik fort.
"Zu welcher Kategorie würdest Du dich zählen? Wie möchtest Du ein Teil solch einer Familie sein?"
Gab es hier überhaupt eine Wahl?
"In den letzten zwanzig Jahren bestand meine Familie hauptsächlich aus zwei Typen von Menschen: Jenen, die Vampire töten. Und jene, welche bei dem Versuch umkommen.", sagte er langsam, während er weiterhin versuchte, sich darüber klar zu werden, was die RuM-Ermittlerin hier spielte.
Diese fing seinen Blick auf und schlagartig verlor sie an Farbe.
Was war hier los?
Er zwang diese Gedanken beiseite, um nicht aus seiner Rolle zu fallen.
"Aber wenn Sie mir diese Auswahl geben... Prüfungen hatte ich für zwei, drei Leben vermutlich genügend. Ob es deswegen bei mir an Würde für ein Vorbild reicht? Vermutlich nicht. Die Rolle des Anführers sagt mir auch nich' sonderlich zu. Es reicht mir, Verantwortung für mich selber zu tragen."
"Zumal diese Rolle auch nicht so furchtbar häufig zu vergeben sein dürfte.", unterbrach Barrik ihn. Doch Ettark ignorierte diesen Einwurf. Nun, da er die beiden Vorschläge, die offensichtlich eher rhetorisch gemeint gewesen waren, ausgeschlossen hatte, konnte er sich wohl der dritten Möglichkeit zuwenden. Der einzigen, die seiner Ansicht nach ernst gemeint gewesen war.
"Ich mag es zwar nicht sonderlich gewöhnt sein, Befehlen zu gehorchen. Aber der exekutive Arm scheint mir in diesem Gefüge das Passendste für mich zu sein."
Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie die Mundwinkel Alecs nach unten wanderten.
Fürchtest du etwa Konkurrenz, mein Freund?
"Nun ist es leider so, dass Vertrauen gut ist... Kontrolle aber besser. Daran ändern auch verwandtschaftliche Bande nichts."
Ettark biss die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien. Dieser Mann liebte seine Stimme offensichtlich.
"Unser Kennenlernen war nicht optimal. Ich hoffe, dass Du dies nicht nachträgst?"
Oh, wenn du wüsstest!
Auf der Liste in Ettarks Kopf waren Barrik und sein Handlanger in der Zeit hier im Keller immer weiter nach oben gerückt. Außerdem war da ja noch die Person, der er die geprellte Rippe und das geschwollene Gesicht zu verdanken hatte.
"Mit Friedrich würde ich mich schon gerne noch mal unterhalten.", grummelte er leise, ohne wirklich Barrik damit anzusprechen.
"Die Diener meines guten Freundes waren nervös, übereifrig... auf das Wohl der Familie bedacht."
Oh ja, übereifrig!
Ettark setzte Friedrichs Namen direkt unter den von Barrik. Aber vorerst musste er hier raus und das forderte von ihm, das Vertrauen seines Gegenübers zu gewinnen.
"Nein, Missverständnisse passieren, vermutlich hätte ich es geschickter angehen sollen."
Barrik musterte ihn einige Zeit lang mit nachdenklichem Gesichtsausdruck, bevor er sich an Alec wandte.
"Alec... öffne seine Unterbringung und lass ihn frei!"
Frei! Na endlich!
Inzwischen schmerzte sein gesamter Körper und die pochenden Kopfschmerzen waren beinahe unerträglich. Zumindest die leise Stimme hatte sich seit Längerem nicht mehr gemeldet.
Mit wütendem Schritt stapfte Alec auf die Tür der Zelle zu und sperrte sie mit einem mächtigen Schlüsselbund auf.
Ettark biss die Zähne zusammen und richtete sich soweit auf, wie es ihm möglich war, bevor er gemessenen Schrittes die Zelle verließ. Barrik und Ophelia unterhielten sich, doch in Ettarks Ohren summte es plötzlich und vor seinen Augen flackerten weiße Punkte. Er musste einige Male ein- und ausatmen, bevor er sich den beiden zuwenden konnte. Irgendetwas lief zwischen den beiden.
"Schön, schön! Herr Bergiger, mein Interesse hast Du geweckt. Mein Vertrauen verdient sich hingegen nicht ganz so leicht. Ich werde Dir eine Aufgabe geben, die es Dir erleichtern sollte. Doch sei gewarnt!"
Herr Bergiger? Korrekt sollte es 'Von Bergigen' heißen und vermutlich müsste die Ansprache auch irgendwas weniger Bürgerliches als 'Herr' sein. Aber Ettark war zu froh, endlich aus dieser Zelle zu sein, um soweit in seiner Rolle aufzugehen. Zudem hatte er mit einer solchen Aufgabe gerechnet und wartete nun gespannt, was der alte Mann von ihm erwartete.
"Diese Aufgabe ist zwar geeignet, mein Vertrauen zu erlangen. Sie ist jedoch nicht geeignet, große Töne zu spucken... für die mir dein Naturell gar zu empfänglich scheint. Sollte es sich, aus welchem Grunde auch immer, herumsprechen, dass Du dich ihrer angenommen hast, so würde ich jeglichen Zusammenhang leugnen. Und Du würdest dich über einen freundschaftlichen Besuch deiner neuen Verwandtschaft erfreuen dürfen. Wenn auch nur kurz."
Ohje. Jetzt hatte er aber Angst.
"So, wie ich jegliche Zusammenarbeit mit Dir leugnen würde, falls mich jemand fragen sollte."
Jaja, die berühmte Gauner-Ehre. Er grinste.
"Welche Zusammenarbeit?"
Ettarks Grinsen wurde zu einem sachten Lächeln. Waren solche Sprüche wirklich nötig? Er kam sich vor, wie in irgendeinem dieser Gähngsta-Filme von Jonathan Goldzublei.
"Ist das dein Ernst, Chef? Dieses... Bürschchen?"
Alecs Stimme war voller Empörung.
Bürschchen?
Ettark ignorierte die Schmerzen und baute sich knurrend vor dem Handlanger auf.
"Das 'Bürschchen' können wir gerne da besprechen, wo etwas mehr Platz ist."
Zu seiner Erleichterung unterbrach Barrik ihn.
"Bringe mir die Reste eines ausgelöschten Vampirs!"
Ausgelöschter Vampir? Wo sollte er denn auf die Schnelle einen Vamp...
Da fiel ihm etwas ein und er triumphierte innerlich. Er holte ein und klatschte Alec einen rosa Schleimbatzen vor die Füße, bevor er sich lächelnd zu Barrik drehte.
"Was hättest Du denn gerne? Zähne, Asche, Muss? Soll er endgültig tot sein oder hättest du gerne... einen gefüllteren Keller?" Er kannte die Antwort, bevor er die Frage gestellt hatte.
"Sehe ich wie der Halter einer exotischen Menagerie aus, Bergiger?"
"Wie erwartet. Nun denn… Asche? Dann werde ich Dir sobald wie möglich ein Glas voller wunderschöner Asche bringen, wenn es recht ist?"
"Meine Männer verstehen sich gut darauf, Kaminkehricht von echtem Egel zu unterscheiden. Und ich werde in den Registern nachprüfen lassen, welchen Namen es zu streichen gilt."
Register? Ob das gut ging? Aber er konnte nicht nach Hause zurückkehren. Wenn Barrik ihm Jemanden hinterherschickte, würde er sofort alles über ihn heraus finden. Zudem wollte er sich ja noch mit Ophelia unterhalten.
"Düfte ich denn um einen Gegengefallen bitten? Die Herberge, in der ich momentan untergekommen bin, ist zwar recht ansehnlich aber so wie es aussieht, hat der Herbergsvater weniger Bedenken damit, aus seinem Haus einen Zoo zu machen. Der Gedanke, nur eine dünne Ziegelmauer von einem räudigen Köter entfernt zu schlafen, behagt mir nicht sonderlich."
Alec fuhr auf, doch Barrik unterbrach ihn fast sofort.
"Mein lieber Freund... ich bedauere, von deiner Misere zu hören. Aber es ist eben auch nicht mehr als dies: die deine! Erfülle deine Aufgabe und wir werden weiter sehen."
Verdammt! In seinem Zustand konnte er unmöglich einem Verfolger entkommen. In seinem Kopf überschlugen sich die verschiedenen Ideen, doch die immer stärker werdenden Schmerzen machten es zunehmend schwer, sich zu konzentrieren. Er musste hier raus!
"Dann zeigt mir doch bitte den Ausgang. Bei meinem Weg hierher war ich wohl... abwesend."
"Alec, bitte geleite den Herrn zum Hinterausgang!"
Der Handlanger blickte Ettark wütend an und deutete auf die Tür.
"Komm mit!", befahl er herrisch.
Der Wächter warf Ophelia noch einen langen Blick zu und versuchte, ein letztes Mal zu erfassen, was sie vorhatte. Doch ihr Gesichtsausdruck war nicht lesbar. Dann drehte er sich zur Tür und konzentrierte sich ganz darauf, nicht zu humpeln. Er durfte keine Schwäche zeigen.
"Und wehe, Du machst was Dummes! Ich sehe das nicht so lax, wie der Chef." Alec flüsterte, so dass Barrik ihn nicht hören konnte und Ettark grinste. Er blieb stehen, drehte sich um und blickte dem Handlanger voller Ernst ins Gesicht.
"Bawuff!" Grinsend drehte er sich um und ignorierte den Stoß des Handlangers.

Alec führte ihn durch einige leere Flure, bis sie vor einer weiteren massiven Tür stehen blieben. Der Handlanger schob den massiven Riegel zur Seite und Ettark spürte den wütenden Blick im Rücken, bis er um die nächste Ecke gebogen war.
Dort brach er zusammen. Es dauerte fast eine Minute, bis er genug Kraft fand, sich an der Wand hochzudrücken und den Weg fortzusetzen. Er fühlte sich, als würde er auf Wolken laufen und sein Gesichtsfeld wurde immer kleiner.
Er durfte jetzt nicht in Ohnmacht fallen! Barrik hatte ihm sicher einen Verfolger an die Fersen geheftet, darauf würde er seinen rechten Arm verwetten!
Da wurde er mit einem Mal von den Füßen und in einen dunklen Eingang gerissen. Seine Gegenwehr fiel denkbar schwach aus, bis er bemerkte, dass O'Brien vor ihm stand und ihn vorwurfsvoll ansah.
"Was ist verdammt noch mal passiert Junge, wir warten seit fast einem Tag auf dich... oh Mann, Pursche, wie siehst du denn aus?"
"Miles! Groß A'Tuin sei Dank!" Ettark schluckte und holte tief Luft, um die Sterne vor seinen Augen zu vertreiben. "Ich erklär's euch später, jetzt muss ich erst mal dringendst nach Hause, sonst kipp ich gleich um." Er keuchte und wäre fast zur Bestätigung umgefallen, wenn O'Brien ihn nicht gepackt und wieder auf gerichtet hätte. "Ich werd' verfolgt, könnt ihr euch bitte darum kümmern? Aber bitte unauffällig. Er darf nicht merken, dass ich euch geschickt habe!"
Die Sorge um den Mann, den er erst seit knapp einer Woche kannte, stand O'Brien ins Gesicht geschrieben.
"Deinen Schatten haben wir bemerkt. Keine Angst, Enairyn kümmert sich schon um ihn."
Enairyn war der schmächtigste der 'Söhne des Regens' aber einer der besten Sänger und Schauspieler, den Ettark kannte. Und die Rolle als betrunkener Jüngling spielte er bravourös. Vor allem, weil er sich auf Kommando erbrechen konnte. Niemand würde Verdacht schöpfen.
"Und jetzt bringen wir dich erst einmal nach Hause, Junge...", wollte O'Brien vorschlagen, doch Ettark unterbrach ihn. Er wollte auch den 'Söhnen' noch nicht verraten, wo er wohnte. Soweit vertraute er dieser Gruppe nicht, die schließlich nur des Geldes wegen ein ganzes Werwolfrudel ausgerottet hätten - auch wenn es eine recht beachtliche Summe gewesen wäre.
"Geht schon, danke! Wenn der Schatten weg ist, sollte ich es alleine schaffen.", brachte Ettark hervor und taumelte Richtung Ankh.
Miles blickte ihm kopfschüttelnd hinterher.

Die Jagd beginnt


Zwei Tage lang verließ Ettark das Haus nur noch, um eine Krankmeldung in der Wache abzugeben und kurierte sich so gut es ging aus. Am dritten Tag waren zumindest die schlimmsten Blessuren nicht mehr gelb und grün geschwollen, sondern hatten sich zu einem schwachen blau zurück gebildet. Sie behinderten ihn kaum noch. Auch die Rippen schmerzten, dank eines festen Verbandes, nur noch bei größeren Anstrengungen.
Am dritten Morgen stand er am frühen Vormittag auf, nahm sich einen Besen und ging vor die Tür. Dort fegte er etwas von dem unverwechselbaren Straßenstaub der Zwillingsstadt zusammen und nahm diesen mit in die Küche. Dann ging er in sein Zimmer und nahm das Einmachglas, welches Hasko ihm vor kurzem geschenkt hatte und welches die letzten Wochen als Buchstütze gedient hatte, aus einem Regal und stellte es in der Küche neben den kleinen Haufen Straßendreck. Aus dem Küchenschrank nahm er ein feines Sieb. Er breitete eine alte Zeitung auf dem Küchentisch aus und öffnete das Einmachglas. Zusammen mit dem Straßendreck siebte er die Asche aus dem Glass aus und entfernte sowohl die größeren Steine, als auch Zähne und den kleinen Zettel, welcher als Quittung gedient hatte. Den nun mit feinem Straßendreck versetzen Staub füllte er zurück in das Glas und verschloss es gründlich mit etwas heißem Wachs. Die Quittung wanderte zusammen mit dem groben Straßendreck in den Mülleimer, die Zähne wusch er ab und füllte sie in eine kleine Papiertüte. Nachdem die Zeitung im erloschenen Ofen gelandet war, stellte er Glas und Papiertüte auf den Küchentisch und lächelte zufrieden.
Das sollte erst einmal reichen.
Nachdem er heiß gebadet, sich rasiert und frisch angezogen hatte, verstaute er Glas und Tüte in seinem Mantel und begab sich in die Tollen Schwestern zum Quartier der 'Söhne des Regens', um sie zumindest teilweise in seinen Plan einzuweihen.

Die letzten Sonnenstrahlen strichen über die Stadt, als Ettark die Tollen Schwestern verließ und langsam Richtung Ankh schlenderte. Die letzten Stunden hatte er, teilweise recht hitzig, mit a'Briuis und O'Brien über seinen Plan diskutiert. Die 'Söhne' wollten selber mitmischen und ihre Rache nicht einem Fremden wie Ettark überlassen und es hatte den Wächter sehr viel Überredungskunst gekostet, einen direkten Sturm der Bande auf das Hauptquartier der HIRNis zu verhindern. Schließlich einigten sie sich darauf, dass sich die Söhne zwar zurückhalten würden, wenn Ettark sich aber nicht in spätestens drei Tagen mit einer Erfolgsmeldung bei ihnen melden würde, dann käme der Sprengstoff zum Einsatz, der eigentlich für das Werwolfrudel angedacht gewesen war. Die 'Söhne' nahmen ihre Ehre offensichtlich sehr ernst.
Drei Tage. Drei Tage, um Miriels Mörder zu finden, ihn und die gesamte Organisation auszuschalten. Außerdem durfte er Ophelia nicht vergessen. Er musste herausfinden, was sie für ein Spiel spielte und sie notfalls mit Gewalt da rausbringen. Er hatte sich entschlossen, falls sie wirklich die Seiten gewechselt hätte, sie möglichst unversehrt der Wacheleitung zu übergeben. Damit wollte er sich nicht die Finger dreckig machen.
Ein enger Zeitplan. Aber was wäre das Leben ohne Herausforderungen?
Er überquerte den zähfließenden Fluss über die Wasserbrücke und wandte sich randwärtig.
Sobald es dunkel war, würde er erst einmal seinen großen Auftritt haben. Das würde ein Spaß werden!

Der Mond versteckte sich hinter dunklen Wolken, als Ettark beschloss, dass es Zeit für ihn wurde. Die letzten Stunden hatte er in einem kleinen Pub gesessen und sich auf seine Rolle vorbereitet. Dieses Mal durfte er sich keinen noch so kleinen Fehler erlauben, wenn er herausfinden wollte, wer Miriel auf dem Gewissen hatte. Nur wenn er als einer der Ihrigen aufgenommen werden würde, könnte er die richtigen Fragen stellen, ohne sich verdächtig zu machen.
Gemütlich schlenderte er die Straße zu VanBarriks Anwesen hinauf. Wie selbstverständlich steuerte er das Hauptportal an und bewunderte einen Augenblick lang den massiven Türklopfer, bevor er ihn benutzte.
"Nicht sonderlich diskret.", murmelte er grinsend, den bronzenen Totenschädel betrachtend. Der war zwar präzise gearbeitet, die Eckzähne waren jedoch, zumindest für einen Menschen deutlich, zu groß geraten.
Es dauerte einige Augenblicke, bis sich die Flügeltüren öffneten und ein edel gekleideter Butler vor dem Wächter stand.
"Ja, bitte, Sie wünschen?", fragte er mit näselnder, jedoch präziser Aussprache.
"Bring mich zu Barrik! Ich habe etwas für ihn, nach dem er sich schon schmerzlich sehnt.", antwortete Ettark so arrogant, wie es ihm möglich war.
Die rechte Augenbraue des Butlers schoss nach oben, doch bevor er reagieren konnte, drängte Ettark sich, den Protestschrei des Mannes ignorierend, an ihm vorbei.
Vor ihm öffnete sich eine große Eingangshalle, von der aus zwei Marmortreppen in die oberen Etagen führten und mehrere dutzend Türen abzweigten. Lautes Stimmengemurmel erfüllte das Innere des Hauses. Offenbar war ein Fest im Gange.
Das wurde ja besser und besser!
Grinsend folgte er dem Geräusch mit großen Schritten, als sich plötzlich eine Seitentür öffnete und Alec die Halle betrat.
"Lass gut sein, Charles, ich kümmere mich darum.", rief der dem Butler zu und folgte Ettark mit großen Schritten. Der Wächter hatte sich inzwischen für die mittlere der Türen entschieden und stieß sie auf. Dahinter lag ein hell erleuchteter Gang, dessen Wände mit Portraits streng blickender Männer bedeckt waren.
Hinter sich hörte er die schnellen Schritte des Sicherheitsbeauftragten und im nächsten Moment spürte er die Hand Alecs auf seiner Schulter.
"Hey, Arschloch, immer mit der Ruhe!" Ettark drehte sich um und wischte mit einer lässigen Bewegung die Hand von seiner Schulter.
"Was willst du hier? Hast du, was Herr Barrik von dir verlangt hatte?"
"Was glaubst du, Wachhund? Wäre ich sonst hier?" Ettark wandte sich grinsend ab, jederzeit damit rechnend, dass Alec ihn erneut aufhalten würde. Doch der große Mann ließ ihm einige Meter Vorsprung, bevor er ihm mit gemessenem Schritt folgte.
Das Ende des Ganges wurde durch eine weitere Doppeltür verschlossen. Als Ettark auch diese aufstieß, sah er sich der Quelle der lauten Stimmen gegenüber.
Der große, edel ausgestattete Salon, wurde durch eine große Freitreppe dominiert, die sich aus der oberen Etage in das Herz der Halle schwang. Am Kopf der Halle öffnete diese sich über teuer aussehende Glastüren auf eine säulenumfangene Terrasse. An den Wänden der Halle waren große Tafeln aufgebaut worden, um die sich äußerst bunte Männergruppen tummelten und sich über die Köstlichkeiten hermachten. Weitere Gruppen bevölkerten den gesamten Raum und wo auch immer Ettark hinsah, erkannte er das typische Gehabe selbstverliebter Jäger. Er kannte diesen Typus Mensch aus seiner Kindheit.
Unauffällige Diener gingen von Gruppe zu Gruppe und boten Snacks und Getränke von großen, silbernen Tabletts an. Schnell fiel sein schweifender Blick auf eine besonders herausgeputzte Gruppe in der Nähe der Freitreppe. Da stand Van Barrik mit einigen vernarbten Männern und neben ihm... Ophelia.
Nun denn.
Breit grinsend schritt er durch die Halle und schon nach wenigen Metern erkannte auch die Wächterin, wer die Halle betreten hatte. Für einen Sekundenbruchteil weiteten sich die Augen der kleinen Frau, doch Ettark war noch zu weit entfernt, um ihren Gesichtsausdruck lesen zu können.
War das Überraschung oder Furcht?
Es dauerte einige Augenblicke, bis Van Barrik dem Blick seiner Begleitung folgte und auf seinem Gesicht mischten sich kurzzeitig Misstrauen und Hoffnung, bevor er wieder das nichtssagende Lächeln aufsetzte, das in den höheren Kreisen im Allgemeinen als professionell angesehen wurde.
"Oh, Herr von Bergigen, wie schön, dass Sie es zu unserem kleinen Umtrunk geschafft haben. Darf ich Ihnen ihre Kollegen vorstellen? Dieser Herr ist Morris Drachenauge und dies hier ist der berühmte Fedder Van Hälschen." Er musterte die drei Männer, während sie sich die Hand gaben. "Sie kennen sich nicht...?", fragte er lauernd, wurde jedoch von Morris unterbrochen.
"Von Bergigen? Etwa ein Nachkomme des großen Hasko Von Bergigen? Oh, ich habe ja so viel über ihn gelesen!"
Ettark musste sein stolzes Grinsen nicht spielen, doch nach einigen Momenten befreite er seine Hand aus der Umklammerung des Vampierjägers und wandte sich dem Gastgeber zu.
"Ich habe da etwas für Sie.", sagte er und zog mit der befreiten Hand das wachsverschlossene Glas aus dem Mantel.
Van Barriks Augen leuchteten auf, als er es entgegennahm und lächelnd gegen das Licht hielt.
"Darf ich mal sehen?", fragte Van Hälschen und mit kennendem Blick beobachtete er, wie sich die Asche verhielt, als er das Glas schüttelte.
Ettark griff sich erneut in die Tasche, zog die kleine Papiertüte heraus und überreichte sie ebenfalls Van Barrik.
"Falls Sie noch Zweifel haben..."
Er spürte den brennenden Blick Ophelias beinahe körperlich, als der alte Mann die Papiertüte auf seiner Hand ausschüttelte und den Inhalt voller Bewunderung betrachtete.
"Ich dachte mir, vielleicht wollen Sie sich oder ihrer Begleitung ja auch etwas Schmuck herstellen lassen..."
Van Barrik blickte zu Van Hälschen und als dieser nickte, wandte er sich lächelnd an Ettark.
"Dann darf ich Sie wohl hiermit in unserer Familie willkommen heißen." Er nahm Van Hälschen das Glas wieder aus der Hand und reichte es einem Diener, der plötzlich hinter ihm erschien.
Schon fast igorhaft, dachte Ettark, während er dem Diener hinterherblickte, der den toten Vampir aus dem Saal trug.
Die Zähne ließ Barrik vorsichtig in die Papiertüte zurückgleiten und steckte sie, sorgfältig gefaltet, in seine Hosentasche. Weiterhin fast seelig lächelnd blickte er Ettark an.
"Damit biete ich ihnen natürlich auch ein Zimmer in meinem Hause an. Zumindest solange, bis Sie selber ein sauberes Quartier gefunden oder unsere schöne Stadt wieder verlassen haben."
Ettark senkte dankend den Kopf, als Ophelia plötzlich das Wort ergriff.
"Sie wollen sich sicher... frisch machen, Herr Von Bergig. Kommen sie, ich zeige ihnen die Gästezimmer!", sagte sie mit beinahe unterwürfiger Stimme. "Vielleicht könnten Sie mir dann ja auch etwas über die Jagd erzählen, ich liebe Geschichten."
Völlig überrumpelt folgte Ettark Ophelia, nachdem Van Barrik gönnerhaft zugestimmt hatte.
Sie wollte offensichtlich mit ihm alleine sein. Was hatte sie jetzt schon wieder vor? Nun denn, er würde diese Gelegenheit, sie zur Rede stellen, sicherlich nicht ungenutzt lassen.

Vertrauen


Die Wächterin führte ihn die große Freitreppe hinauf in den ersten Stock und dort durch einen weiteren, von Gemälden gesäumten Gang. Als Ettark sich schließlich sicher war, weit genug von jeglichen neugierigen Augen zu sein, blieb er stehen und packte Ophelia am unverletzten Arm.
"Ich glaube, wir sollten uns unterhalten, Fräulein 'Ligand'!"
Mit diesen Worten drückte er sie gegen das Bild eines glatzköpfigen Mannes mit walroßartigem Bart.
"Nicht hier!", zischte sie und blickte ihn wütend an.
Die Frau hatte Sorgen! Der Flur war leer und in beide Richtungen leicht zu überblicken, niemand würde ihr Gespräch belauschen können.
Ophelia wehrte sich gegen seinen Griff und als er schließlich einen halben Schritt von ihr zurückwich, um blaue Flecken zu vermeiden, blickte sie sich gehetzt um.
"Was soll das? Lass mich gefälligst los!", flüsterte sie, als wären sie von einer Menschenmenge umgeben.
Er lockerte seinen Griff etwas, jedoch nur gerade so weit, dass sie eine Richtung bestimmen konnte um sie dorthin zu lotsen, wo ihr das Gespräch lieber wäre. Er musste das hier schnell hinter sich bringen. Wer wusste schon, ob Miriels Mörder vielleicht bereits im Gebäude war?
"Hast du Angst, ich könnte dir davonrennen?"
Oho, nein, wie kam sie denn auf den Geistesblitz?
Ettark grinste und flüsterte in gleicher Lautstärke: "Du hast es erfasst!"
Endlich bewegte sich die Ermittlerin in eine bestimmte Richtung und er folgte ihrer Führung.
"Warum sollte mir daran gelegen sein, zu flüchten? Ich wohne hier schließlich."
Aha! So weit war es also schon. Sie sah dieses Haus als ihr Heim an.
"Ich habe viel Mühe und Zeit in diese Tatsache investiert.", sagte sie mit einem fast anklagenden Ton.
Oh ja, das glaubte er gerne. Tief in seinem Unterbewusstsein regte sich wieder jene leise Stimme des Misstrauens.
Sie folgten dem Gang immer weiter und langsam wurde Ettark nervös. Was, wenn sie ihn in eine Falle führte? Hatte sie Barrik vielleicht seine wahre Identität verraten?
Er blickte sich aufmerksam um.
"Wohin willst du?", zischte er. Seine freie Hand wanderte Richtung Schwertgriff.
Als sie das Ende des Flurs endlich erreichten und vor einer Tür stehen blieben, spannte Ettark sich unmerklich an.
Was auch immer sie dahinter erwartete, er wäre vorbereitet!
Er ließ ihr den Vortritt, doch der kleine, äußerst geschmackvoll eingerichtete Raum war, außer einigen Sitzgelegenheiten, leer.
Er ließ die Wächterin los und verschloss die Tür hinter sich.
Ophelia ging schnell einige Schritte in den Raum, bevor sie sich wieder zu ihm umdrehte.
Mit verschränkten Armen stellte er sich vor die Tür, fest entschlossen, sie hier vorerst nicht mehr herauszulassen.
"Was zum Teufel hast du hier vor?", knurrte er schließlich.
"Das Gleiche könnte ich dich fragen! Du gefährdest meinen Einsatz! Was tust du hier?"
"Einsatz?" Er warf einen Blick auf ihren Arm.
Wollte sie ihn verarschen?
Wütend fuhr seine Hand zu seinem Schwert und dieses Mal zog er es gerade so weit, dass sie die Klinge im gedimmten Licht der Gaslampen aufblitzen sah.
"Wie ich das sehe... habe ich hier das Vorrecht auf die Antworten."
Die vor Schreck geweiteten Augen der Wächterin deuteten an, dass sie sich der Situation langsam bewusst wurde.
Er war hier nicht für ein verdammtes Kaffeekränzchen, sondern um Antworten zu kriegen!
"Du weißt, dass ich hier verdeckt ermittle."
Ja klar...
"Ich habe dir von der HIRN erzählt. Als der Werwolf-Clan gewarnt werden musste. Also was erwartest du jetzt von mir? Du solltest nicht hier sein! Es ist so schon schwer genug, Timotheus Vertrauen zu erhalten."
Ettark musste ein ironisches Lachen unterdrücken.
Verdeckter Einsatz? So?
"Du willst mir doch nicht wirklich verklickern, dass die Leitung dich in dem Zustand auf einen solchen Einsatz geschickt hat?"
Er traute den Heinzels in der Wacheleitung ja Einiges zu aber sie würden doch einen dermaßen behinderten Wächter nicht in solche Gefahr bringen.
"In was für einem Zustand?"
Benutzte sie seit ihrem Unfall keinen Spiegel mehr?
Er zeigte auf ihre Narbe und führte seinen Gedanken weiter aus.
"Ich glaube eher, du nimmst das da etwas zu persönlich."
Sie zuckte zusammen und blickte an sich herab, als würde sie ihre Blessuren erst jetzt bemerken.
Stand sie vielleicht unter Drogen? Oder verarschte sie ihn hier nach Strich und Faden?
Die leise Stimme in Ettarks Kopf zumindest war dieser Meinung.
"Und 'ne Ratte kann ich hier wirklich nicht gebrauchen!", sprach er seine Vermutung aus und beobachtete sie genau. Wie reagierte sie auf diesen Vorwurf?
Das Blut wich aus dem Gesicht der Wächterin und er schlug erneut in die selbe Bresche.
"Ich weiß ja, dass du es mit... mit Verrat nicht so ganz eng siehst. Aber das hier hab ich selbst von dir nicht erwartet."
Mit beinahe zitternder Stimme holte sie zum Gegenschlag aus.
"Und das von einem Mörder!"
Oh, das war jetzt aber tief gegriffen.
Beinahe schon amüsiert ging er auf den Vorwurf ein.
"Mörder?"
"Vielleicht ein Schmuckstück für die Begleiterin?", versuchte sie mit verstellter Stimme, seine Aussage von vorhin zu wiederholen.
Er musste ein Lachen unterdrücken. Wer wütend war, verriet sich leicht selber, darauf wartete er. Er musste wissen, wie weit er dieser Frau trauen konnte.
"Das war schon tot.", antwortete er.
"Oh bitte! Das ist ja wohl der älteste Spruch überhaupt, um Mord an ihnen zu rechtfertigen!"
Grinsend schüttelte er den Kopf.
"Nein, nein. Ich meine... endgültig tot." Er betonte das vorletzte Wort nachdrücklich.
"Ich verstehe nicht..."
Das klang ehrlich verwirrt. Dachte sie echt, er wäre auf Barriks dumme Mutprobe eingegangen? Er hätte mal eben so einen Vampir ermordet?
"Ich bin Wächter, verdammt noch mal, ich bring doch kenen um!"
"Ausnahmen bestätigen dann vermutlich die Regel?", zweifelte Ophelia mit spöttischer Stimme.
Wollte sie jetzt ihn reizen? Interessant.
"Ich habe, bis jetzt, noch keine Ausnahme machen müssen.", entgegnete er mit starker Betonung auf dem 'bis jetzt'. Trotzdem ließ er die Klinge wieder zurück in die Scheide gleiten.
"Du kannst hier nicht bleiben!"
Ettark lachte auf.
Scheinbar hatte sie die Situation immer noch nicht begriffen.
"Das hier ist kein Theaterstück, bei dem ich Publikum gebrauchen könnte."
"Nein, das glaube ich gerne. Verrat ist sicher schwer, wenn jemand Anderer einem mit in die Karten schaut, nicht wahr?"
Dieses Mal mischte sich unter den Sarkasmus Wut. 'Schlag sie einfach nieder!', keifte die Stimme in seinem Kopf. Doch dazu war Ettark noch nicht bereit. Noch hoffte er, Ophelia nicht verletzen zu müssen. Trotz Allem war sie Wächterin. Aber er konnte das hier nicht gefährden. Ihm gingen die Möglichkeiten aus.
"Selbst du kannst doch nicht wirklich glauben, dass ich dabei zugucke? Ich werde HIRN ausschalten und Du wirst verschwinden. Sonst bringe ich dich höchstpersönlich zurück zur Wache!"
Sie schüttelte mit zusammengepressten Lippen den Kopf und stellte sich quer.
"Es hat mich zu viel gekostet, es bis hierher zu schaffen. Und, da Breguyar von meinem Einsatz weiß, glaube ich dir nicht, dass er dich auch noch geschickt hat. Da stellt sich doch die Frage, wer von uns beiden eher als Verräter in Frage kommt. Vielleicht hast du etwas zu persönlich genommen?"
Sie log ihn an! Was anderes konnte nicht sein! Breguyar sollte hiervon wissen? Das war lachhaft!
"Der alte Pirat hat dich so...", er deutete auf ihren Arm, "...in eine verdeckte Ermittlung geschickt?"
Sie zögerte fast unmerklich, dann sah sie ihn direkt an.
"Er weiß von meinem Einsatz. Er hat mich fortgeschickt. Ich werde mich also auch weiterhin um diesen Einsatzort kümmern. Und Du wirst gehen!"
Ha, erwischt! Das Zögern hat dich verraten, kleine Lügnerin!
Ettark war von seinem Gedankenschluss so überzeugt, dass er gar nicht realisierte, dass sie 'fort'geschickt gesagt hatte.
Nichtsdestotrotz musste er diese Angelegenheit zu Ende bringen. Miriels Mörder wartete wahrscheinlich unten auf ihn. Oder zumindest jemand, der wusste, wer es war. Dessen war Ettark sich sicher. Was sollte er mit Ophelia machen?
"Ich glaube, du missverstehst die Situation.", sagte er drohend und schloss seine Hand fester um den Schwertgriff. "Ich werde diesen... Verein mit Stumpf und Stiel vernichten. Und du solltest mir dabei besser nicht in die Quere kommen!", knurrte er.
Also verschwinde endlich!
"Du hast nicht das Vorzugsrecht darauf gepachtet, diese Organisation dem Erdboden gleich zu machen. Und du machst es dir zu leicht, wenn du denkst, deine bloße Anwesenheit würde dazu ausreichen."
Das war's! Freiwillig würde sie wohl kaum gehen. Aber welche Möglichkeiten standen noch offen, außer roher Gewalt? Und selbst wenn er sich für diese entschied, wie sollte er sie hier rausschaffen. Ganz zu schweigen davon, ihr plötzliches Fehlen zu erklären! Barrik schien sie als seinen persönlichen Besitz anzusehen.
Angestrengt dachte er nach, doch die kleine Frau unterbrach seinen Gedankenfluss immer wieder und er glaubte, einen hysterischen Unterton in ihrer Stimme zu erkennen.
"Denkst du etwa, ich hätte die Zeit über, in der ich hier bereits ermittle, nichts getan?"
Nein. Bei der Beziehung, die sie unverkennbar zu Barrik aufgebaut hatte, war es klar, dass sie etwas getan hatte. Nur was?
"Oh, ich bin mir sicher, du hast 'so Einiges' getan."
Vielleicht würde sie nach so einem Bugschuss endlich schweigen? Er musste nachdenken!
Doch auch das half nichts.
"Ich habe eigene Pläne und sie stehen bereits kurz vor dem Abschluss."
"Oh, willst du Barrik zu Tode quatschen?"
"Findest du das alles komisch?"
Komisch? Langsam bekam er Kopfschmerzen.
"Siehst du mich lachen?" Jedes Wort stieß er zwischen den Zähnen hervor. "Aber ich traue dir nicht."
Die Wächterin schwieg einige köstliche Augenblicke, bevor sie auf Ettark zuging.
"Ich sehe, es hat keinen Sinn, ein vernünftiges Gespräch mit dir zu erwarten." Mit diesen Worten versuchte sie, sich an ihm vorbeizudrängen.
Völlig verdutzt reagierte Ettark instinktiv und stieß die Ermittlerin zurück.
"Nun, wenn du nicht wie ein Paket vor der Wache landen willst, solltet du es besser versuchen."
Obwohl er nicht wirklich viel Kraft eingesetzt hatte, stolperte Ophelia scheinbar über ihre eigenen Füße und plumpste relativ unsanft auf den Hintern. Wegen ihres unbrauchbaren Armes glückte auch der Versuch, sich selber aufzufangen, nur mangelhaft. Ettark presste die Lippen zusammen. Das hatte schmerzhaft ausgesehen und war nicht beabsichtigt gewesen. Trotzdem blieb er vor der Tür stehen und betrachtete die Wächterin.
Und wenn sie wirklich noch für die Wache arbeitete? Die Chancen dafür standen schlecht...
Aber Ettark war momentan bereit, nach jedem Zahnstocher zu greifen.
"Du arbeitest also weiterhin in Treue für die Wache?", murmelte er halb. Doch sie ignorierte ihn.
Die Stimme in seinem Kopf wurde immer lauter und verlangte penetrant, Ophelia endlich auszuschalten. Ettark rieb sich die Stirn, um die aufsteigenden Kopfschmerzen zu vertreiben.
"Ich habe mir nie Etwas zu Schulden kommen lassen.", murmelte Ophelia.
Was wollte sie damit sagen?
"Alles, was ich jemals getan habe, war meiner Aufgabe und meinem Gewissen geschuldet. Ich kann mir diese Reaktion also nur aus einer... persönlichen Aversion heraus erklären."
Spielte sie jetzt darauf an, dass sie zum Knollenbeißer gerannt war, um sich bei ihm auszuheulen? Damit wollte er sich jetzt sicher nicht auch noch befassen. Er hatte wahrlich Besseres zu tun.
Er wischte mit der Hand durch die Luft, um einen neuerlich Versuch zu starten, sie zur Vernunft zu bringen.
"Hör zu! Ich habe hier Etwas zu erledigen. Ich kann es mir nicht leisten, dich rauszuzerren und damit meine Tarnung zu gefährden. Komm mir also nicht in die Quere und versuche möglichst, dein Mundwerk unter Kontrolle zu halten. Wenn du dich wirklich noch als Wächterin siehst, sollte dir das nicht so schwer fallen. Vielleicht kannst du mir ja sogar behilflich sein?"
Er setzte nicht viel Hoffnung in diese Möglichkeit und so überraschte das Ausschlagen seines Vorschlages durch Ophelia ihn nicht wirklich.
"Hier 'Etwas zu erledigen'? Was nicht zufällig etwas mit dem Nebenerwerb als ruhmreicher Vampirjäger zu tun hat?"
Was ritt sie darauf die ganze Zeit herum? Glaubte sie wirklich, sie würde noch atmen, wenn er sich HIRN angeschlossen hätte?
"Du glaubst wirklich, ich habe innerhalb von drei Tagen einen über hundert Jahre alten Vampir gejagd und getötet, ohne die geringsten Blessuren davonzutragen?"
Die Wächterin stand wieder auf und blickte ihn plötzlich äußerst gelassen an.
"Menschen, die das versuchen, enden meistens wie dein Freund Van Hälschen.", stellte er richtig und dachte kopfschüttelnd an die Narben des so selbstbewussten Jägers.
"Es ist nicht unmöglich."
Der einzige Versuch, sich mit einem Vampir anzulegen, hatte deutlich sichtbare Spuren an ihr hinterlassen. Trotzdem glaubte sie offensichtlich noch die Märchen, die ihr ihre neuen Freunde aufgetischt hatten.
"Sicher nicht. Mit der richtigen Ausrüstung und ein paar kräftigen Freunden."
Warum versuchte er eigentlich noch, sie zur Vernunft zu bringen? Offensichtlich hatte sie ihre Seite gewählt.
Er tastete nach seinem Mühlsteinhebel, bevor er sein Angebot noch ein letztes Mal wiederholte.
"Aber warum sollte ich mich vor dir rechtfertigen? Du hast meinen Vorschlag gehört. Entweder, du stimmst zu. Oder Breguyar wird sich morgen über ein kleines Geschenk freuen."
Sie blickte ihn nur kurz an und schüttelte dann den Kopf.
Dann sollte es wohl nicht sein.
Mit einem Seufzer zog er den Hebel aus der Manschette am rechten Unterarm. Die Stimme in seinem Kopf jubelte auf und schlagartig verschwanden auch die Kopfschmerzen.
Das war es, wofür die Götter ihn geschaffen hatten. Diskussionen war einfach nicht sein Metier.
"Was..."
Die Ermittlerin riss die Augen auf.
Ob sie jetzt endlich den Ernst der Situation erfasste? Die Menschen mochten noch so klug sein, Gewalt war doch die Sprache, die sie am Besten verstanden.
Innerlich wurde Ettark völlig ruhig, wie jedes Mal, wenn er sich auf einen Kampf vorbereitete. Auch wenn hier wohl keine große Gegenwehr zu erwarten war.
"Das wagst du nicht!", rief seine Gegnerin und wich ängstlich zurück.
Wie kam sie darauf?
Darauf achtend, ihr keine Fluchtmöglichkeit zu bieten, drängte er sie langsam in Richtung der Ecke.
"Welche Wahl lässt du mir?" Ettarks Stimme war völlig gelassen.
Mit einem Mal hatte Ophelia eine kurze Klinge in der Hand. Ihre Haltung sprach von einer gründlichen Ausbildung.
Faszinierend!
Neugierig betrachtete er den Dolch. Eine überraschend gute Arbeit. Wobei, schließlich war sie ein Oberklassekind.
Er ließ den Hebel um dessen Achse kreisen und freute sich, dass der Kampf sich scheinbar doch interessanter gestalten würde, als erwartet.
"Wie willst du mein Verschwinden erklären?", stieß sie, weiter zurückweichend, hervor.
Doch Ettark wollte nicht darüber nachdenken, zumindest nicht jetzt.
"Ich werde mir schon was einfallen lassen.", antwortete er achselzuckend. Ein Lächeln kroch auf seine Lippen.
"Warte! Tu das nicht!"
Ihre Bewegungen sahen zu routiniert aus, als dass er ihr den Dolch einfach aus der Hand schlagen könnte. Langsam zog er seinen Mantel aus.
Mal sehen, wie gut ihre Ausbildung gewesen war.
Ophelia fing an zu stammeln, doch Ettark ignorierte es weitgehend. Was interessierte es ihn? Alles, was gesagt werden musste, war gesagt.
"Haben wir denn nicht das selbe Ziel?"
"Das würde ich gerne glauben."
Sie stieß gegen die Wand und er drängte sie weiter in die Ecke.
"Wenn sie etwas davon mitbekommen... dann gefährdest du sogar unsere Leben! Oder ist es das, was du willst?"
Er lächelte.
Sie verstand einfach nicht.
"So, wie ich das sehe, gefährdest du mit deiner Weigerung momentan unsere Leben."
Er schwang probeweise seinen Mantel. Schon durch den dicken Stoff hatte er einiges Gewicht doch dank des Inhalts der verschieden Taschen eignete er sich hervorragend hierfür.
Endlich erreichte Ophelia die Ecke und hatte so keinen Raum mehr um auszuweichen.
Jeder, der mit Waffen trainierte, lernte schon früh, immer auf den Gegner und nicht auf dessen Waffen zu achten. Doch in diesem Fall wäre das ein Fehler.
Und, wie schon einige seiner Gegner zuvor, beging auch Ophelia diesen Fehler. Sie sah den seitwärts geschwungenen Mantel den entscheidenden Sekundenbruchteil zu spät. Bevor sie reagieren konnte, wickelte sich der beschwerte Mantel bereits um ihr Handgelenk und den Dolch und als sie versuchte, die Hand aus der Fessel zu befreien, folgte Ettark der Bewegung und fixierte Hand und Klinge über Ophelias Kopf an der Wand. Die Wächterin keuchte auf, doch bevor sie nach ihm treten konnte, stellte er sein Standbein quer vor sie. Ab jetzt zählte nur reine Körperkraft und nach kurzer Gegenwehr begriff auch die Wächterin, das sie in dieser Disziplin hoffnungslos unterlegen war.
Vorsichtig holte er mit dem Mühlsteinhebel aus. Er wollte sie schließlich nicht ernsthaft verletzen. Zwei, drei Stunden ohne Bewusstsein sollten völlig reichen.
Die Wächterin zitterte und drehte den Kopf zur Seite.
"Es tut mir so leid!"
Ettark zuckte zusammen.
"Leid?" Misstrauen schwang in seiner Stimme mit.
"Ja, es tut mir leid. Ich bin keine Verräterin. Ich... es..."
SIE LÜÜÜGT!, schrie die Stimme in Ettarks Kopf auf und die Kopfschmerzen waren wieder da.
Er ließ den Mühlstein sinken. Während die Stimme ihn dazu bringen wollte zuzuschlagen, kamen ihm erste Zweifel an seinem Handeln.
"Vielleicht hast du aber auch Recht? Ich hätte damals nicht zu IA gehen sollen."
Sie will dich nur ablenken! SCHLAG ZU! Das ist die beste Chance!
Aber ihre Augen logen nicht, da war Ettark sich sicher.
Ophelia gab ihren Verrat zu? Ja, sie entschuldigte sich sogar dafür?
Die Kopfschmerzen gewannen an Intensität.
"Ich meinte es nicht böse. Aber... Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, wäre ich nicht zu ihm gegangen. Aber vermutlich wird das nun nichts mehr ändern, nicht wahr? Du hast in mir seitdem eine Verräterin gesehen."
Sie redete weiter, doch ihre Worte gingen unter in dem Wettstreit in Ettarks Kopf, wer das Sagen haben sollte. Die Stimme des Misstrauens war weiterhin die lauteste, doch sie verlor nach und nach an Boden. Plötzlich vernahm er das Wort 'umbringen', doch bevor er es schaffte, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, schwieg Ophelia wieder. Es dauerte einige Augenblicke, bis er die letzten beiden Sätze der Ermittlerin wieder zusammengefügt hatte.
"Wenn du mich umbringst, wirst du damit nur für einen Ausgleich zwischen Haben und Soll sorgen. Immerhin warst du es damals, der mir gewissermaßen das Leben gerettet hat."
"Umbringen?"
Ettark krächzte das einzige Wort, welches er wirklich aktiv verstanden hatte.
Für was hielt diese Frau ihn eigentlich?
Sie redete weiter, doch Ettarks Gedanken begannen schon wieder zu kreisen. Die Stimme des Misstrauens war weiterhin präsent, doch sie dominierte das Gespräch längst nicht mehr. Schließlich ließ er Ophelia los und warf den in seinen Mantel gewickelten Dolch weit hinter sich.
"Glaubst du wirklich, ich würde einfach so jemanden umbringen? Ich bin Wächter, verdammt noch mal! Ich werde dich doch nicht töten!" Seine Stimme überschlug sich fast.
"Du... hast gesagt, ich wäre dir im Wege, ich müsse "verschwinden" und du würdest mich als Paket verschnürt aus dem Wege räumen...", stammelte Ophelia und presste sich ihre Hand vor die Brust.
"Und dich als Leiche vor das Wachhaus legen?", entgegnete Ettark zwischen Zorn und völliger Fassungslosigkeit.
Sie taumelte leicht und setzte sich schnell in den Liegesessel in der Mitte des Raumes, während Ettark wie paralysiert stehen blieb und versuchte, das eben Geschehene zu verstehen. Langsam setzte der entsprechende Prozess ein, doch dank der inzwischen schneidenden Kopfschmerzen fiel es ihm immer schwerer, sich zu konzentrieren. Er befestigte seinen Mühlsteinhebel mit größter Sorgfalt an dem Geschirr am linken Unterarm und ging dann mit langsamen Schritt um Ophelias Sessel herum und bückte sich zu seinem Mantel. Nachdem er den Dolch aus dem Mantel gewickelt hatte, bemerkte er die langen Schnitte, die die scharfe Klinge im dicken Stoff hinterlassen hatte. Lena wäre mit Sicherheit nicht glücklich darüber, schließlich hatte sie ihm den Mantel zu Schweihnachten geschenkt.
"Soll ich... ich könnte das...", begann Ophelia unsicher, ohne den Satz jedoch zu beenden.
Ettark ignorierte sie. Er warf sich den durchlöcherten Mantel locker über die Schulter, um die Hände frei zu haben und lenkte seine Aufmerksamkeit nun auf den mattglänzenden Dolch. Die routinierte Überprüfung der Waffe half seinen Gedanken, im Hier und Jetzt zu verweilen.
"Darf ich ihn wiederhaben?", fragte Ophelia verunsichert, doch auch diesmal ignorierte er sie. Er brauchte etwas Vertrautes, um sich daran festzuhalten. Er drehte die Klinge in seinen Händen.
"Eine gute Klinge. Zwergenarbeit, wenn ich mich nicht täusche?"
"Dieser Dolch war sein Meisterstück." Leichter Stolz klang in ihrer Stimme, doch Ettark meinte, auch etwas Anderes gehört zu haben. War da Schuld?
Er fuhr mit dem Daumen vorsichtig über die Klinge und merkte gleich, wie sich der Stahl in die dicke Hornhaut biss.
Wirklich ein Meisterstück!
Er war sich sicher, mit dieser Klinge problemlos rasieren zu können. Langsam drehte er die Waffe weiter, überprüfte Schwerpunkt und Griffgefüge, bevor er einen Blick auf Ophelia warf.
Für diese Waffe würde so mancher Assassine seine linke Hand opfern, wie war sie bloß daran gekommen?
Als der Blick auf ihren leblos herabhängenden Arm fiel, musste er sich ein ironisches Grinsen verkneifen.
"Du bist also wirklich anderkaffer hier?"
"Ja, das bin ich. Und du?", antwortete sie nickend.
Ja... und ich?
Er dachte an die Ereignisse der letzten Wochen, bevor er sich für eine Antwort entschied.
"Auch... glaub ich.", zögerte er. Er wusste nicht, warum, doch irgendwie glaubte er ihr, dass sie im Einsatz war. Aber konnte er ihr deshalb vertrauen? Er wusste ja aus leidvoller Erfahrung, dass ihre moralischen Vorstellungen sich von den seinen ganz entschieden abhoben.
"Das, was ich eben gesagt habe... das war kein Ablenkungsmanöver. Nur, falls du das vielleicht gedacht haben solltest. Ich... ich meinte das ernst. Es tut mir wirklich leid."
Eben?
Ettark erinnerte sich kaum noch an das Geschehene, zu sehr beschäftigte ihn der Zwiespalt, mit dem er momentan zu kämpfen hatte.
Meinte sie vielleicht die Entschuldigung?
Er winkte beinahe schon ergeben ab.
"Eigentlich wollte ich gar nicht hierher. Das sollte 'ne einfache Informationsbeschaffung werden. Ich such doch nur dieses blöde Arschloch.", antwortete er leise, die letzten Worte flüsterte er beinahe. Dann riss er sich noch einmal zusammen.
Egal ob er Ophelia vertraute oder nicht, er durfte vor ihr keinesfalls Schwäche zeigen!
"Aber jetzt bin ich hier und ich werde nicht zulassen, dass diese... Organisation so weiter macht!"
"Du suchst jemand Bestimmten? Vielleicht kann ich dir helfen? Es wäre... es wäre sinnvoller, wenn wir... zusammenarbeiten würden.", schlug Ophelia vorsichtig vor.
Irgendwie ironisch, dass sie einen sehr ähnlichen Vorschlag noch vor Kurzem ausgeschlagen hatte.
Ettark blickte sie an und versuchte, in ihr zu lesen.
Sie sah ihn ernst an.
"Ich kann hier nicht weg. Wirklich nicht! Das schulde ich Rogi."
Rogi? Was sollte sie denn Rogi schulden? Scheinbar hatte sie ihr ja nicht mal genügend vertraut, um ihren Arm richten zu lassen.
Vorsichtig bewegte Ettark eben jene Hand, die er der Igorina verdankte.
Er würde Ophelia sicher nicht sagen, wen er suchte. Das war einzig und alleine seine Sache, sie würde sich nur einmischen.
"Aber ich bin schon lange genug hier, um viele Informationen gesammelt zu haben. Vielleicht kann ich dir wirklich helfen? Solche Empfänge wie heute veranstaltet Timotheus regelmäßig. Wenn du eine Person suchst, die ihn aufsucht, dann stehen die Chancen nicht schlecht, dass ich sie vielleicht schon gesehen habe und Näheres zu ihr weiß."
"Um die Schweinehunde auffliegen zu lassen... sicherlich... aber um ihn zu finden? Ich weiß ja nicht mal, wie er aussieht oder heißt!" Er lachte auf.
"Wie willst du ihn dann finden?"
"Ich kenne seine Waffen. Und ich bin mir sicher, dass dein Timotheus Leute wie ihn anzieht, wie das Licht die Motten."
Und diese spezielle Motte würde sich ihre hässlichen Flügel verbrennen, dafür würde er schon sorgen!
"Er ist nicht 'mein' Timotheus.", fauchte sie beinahe schon in typischer Manier, fing sich dann aber schnell wieder, bevor Ettark auch nur grinsen konnte. "Und mit 'Leute wie ihn' meinst Du Jäger?"
"Mörder!" Und auf ihren skeptischen Blick hin präzisierte er: "Mörder mit einem Faible, Andersartige umzubringen... Werwölfe, Vampire... Das sind keine Jäger. Jäger haben einen Ehrenkodex!"
Er wusste, dass es nicht wirklich so stand, doch etwas in ihm weigerte sich standhaft, seine Ahnen mit diesen Bastarden im Saal auf eine Stufe zu stellen.
"Bitte entschuldige meine Verwirrung... aber deine Abstammung ist mehr, als nur eine Rolle. Wenn ich das richtig verstanden habe?"
"Meine Abstammung... meine Abstammung habe ich vor über 10 Jahren hinter mir gelassen." Wieder brachte sie ihn dazu, seine Aussage zu präzisieren. "Und kein Bergiger hätte jemals Unschuldige abgeschlachtet. Keiner hätte Sprengstoff benutzt, um ganze Familien auszurotten!" Jedoch bemerkte er selber das kurze Zögern in seiner Stimme. So sicher war er sich dieser Aussage nicht. Er konnte nur hoffen, dass die Ermittlerin diese Unsicherheit nicht bemerkt hatte. Um wieder auf sicheres Terrain zu kommen, wiederholte er diejenige Aussage, die sein ganzes Selbstbild bildete.
"Außerdem bin ich jetzt Wächter!"
"Das sind wir beide.", antwortete Ophelia nickend und schien endlich mit diesem leidigen Thema abgeschlossen zu haben.
"Ich werde diese Schweinehunde fertig machen und anschließend dem Patrizier überlassen. Der kümmert sich sicher gerne um sie." Er grinste böse. "Was allerdings Miriels Mörder angeht...", dachte er und zuckte innerlich zusammen, als Ophelia plötzlich interessiert aufblickte.
Hatte er laut gedacht?
"Miriels Mörder? Sprichst du von deiner damaligen Kollegin? Sie kam in den Schatten um, wenn ich mich richtig erinnere. Oder?"
Verflucht, er hatte laut gedacht!
Wütend biss er die Zähne zusammen. Kaum hatte er ein Thema umschifft, verquatschte er sich beim nächsten.
"Vielleicht solltest du mir jetzt mein Zimmer zeigen? Sonst vermisst uns Barrik noch."
"Oh, ja, du hast Recht.", schrak die Wächterin zusammen und sprang beinahe auf. Dann warf sie einen vorsichtigen Blick auf die Waffe in seinen Händen, die er weiter gedreht hatte, ohne es zu merken. Das Gewicht hatte etwas Beruhigendes.
Er wirbelte die Waffe im deren Achse, ein Kunststück, und ließ sie dann auf seinem Handteller kreisen, bis der Griff schließlich auf Ophelia zeigend liegen blieb.
Wirklich ein wahres Meisterstück!
Ophelia griff vorsichtig nach der Waffe und hob dann ihren Rocksaum.
Bevor in Ettark die gute Erziehung reagieren und er sich abwenden konnte, blieb sein Blick an dem langen Holzpflock hängen, den die Ermittlerin an ihrem noch viel längeren Bein befestigt hatte.
Er zog erstaunt die Augenbrauen nach oben.
Bevor die gute Erziehung über die Neugier siegen konnte, hatte Ophelia den Dolch schon an seine Position gebracht und sich wieder aufgerichtet. Als sie seinen Blick bemerkte, wurde der ihre herausfordernd und sie strich den Rocksaum wieder glatt.
Ettark schnaubte.
Mochte sie doch von ihm denken, was sie wollte.
"Ich sollte dir lieber wirklich dein Zimmer zeigen. Und du solltest mir die Geschichte erzählen, die zu dem toten Vampir gehören soll. Dann bleibst du vorerst?"
Er nickte, öffnete vorsichtig die Tür und warf einen schnellen Blick in den Flur. Der lange Gang war weiterhin wie leergefegt, doch nun drangen erneut die lauten Stimmen aus dem Festsaal an sein Ohr. Nachdem er einen halben Schritt zurück gemacht hatte, ließ er Ophelia mit einer kleinen Handbewegung den Vortritt. Einerseits, weil es die von ihm sonst verhasste Etikette des Adels so verlangte aber anderseits auch, weil er keine Ahnung hatte, wohin er sich zu wenden hätte.
"Was glaubst du?", beantwortete er dann verspätet ihre Frage.
Mit einem Seufzen ging sie an ihm vorbei und schloss die Tür erneut.
"Dann muss ich dir etwas sagen. Meine Planung sieht vor, dass ich meinen Einsatz hier morgen Vormittag beende. Ich habe alle nötigen Beweise gefunden. Was bedeutet, dass ich das Haus zu einem günstigen Zeitpunkt heimlich mit diesen verlassen muss."
Ein Tag war nun wirklich weniger Zeit, als er geplant hatte.
"Dann hoffen wir mal, dass ich die gesuchte Person bis dahin identifiziert habe. Aber mehr als drei Tage haben wir so oder so nicht.", grummelte er, als er ihr seinen Zeitplan offenbarte, musste dann jedoch grinsen.
"Warum drei Tage?"
"Ich habe verlässliche Informationen, dass hier dann ein ziemliches Feuerwerk losbrechen wird, wenn ich es nicht verhindere."
Sein Grinsen wurde breiter.
Momentan hatte er keine große Lust, es zu verhindern.
"Feuerwerk?"
Ettark zögerte kurz, bevor er sie in alles einweihte, was die 'Söhne des Regens' planten.
Ophelia kam offensichtlich aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.
"Lass mich raten: Breguyar weiß nichts davon, dass du hier ermittelst, richtig? Du arbeitest auf eigene Faust, um Miriels Mörder zu finden? Ohne zu wissen, wen du suchst?"
Dafür, dass sie offensichtlich noch vor wenigen Augenblicken daran gezweifelt hatte, dass er überhaupt noch Wächter war, schaltete sie recht schnell. Ohne weiter auf ihre Frage einzugehen, öffnete er erneut die Tür und trat dieses Mal zuerst hinaus. Der Flur war weiterhin menschenleer.
"Weißt du... die Chancen stehen vielleicht gar nicht so schlecht, die gesuchte Person zu finden. Ich arbeite im Grunde ebenfalls auf eigene Faust. Und ich habe meine Zielperson gefunden, obwohl ich erst ganz genauso im Dunkeln tappte wie du."
Wenn sie ständig so ein Redebedürfnis hatte, war es ein Wunder, dass sie noch nicht aufgeflogen war.
Schließlich folgte sie seinen auffordernden Gesten und trat hinter ihm auf den Flur. Sie ging einige Meter zurück auf dem Wege, den sie schon vorher gegangen waren, bis sie schließlich vor einer Tür stehenblieb und diese öffnete.
Warum war sie nicht gleich mit ihm hier hineingegangen? Das hätte zumindest die Gefahr, erwischt zu werden, deutlich verringert. Frauen!
"Ich mache das, um Rogi zu rächen... und du hattest damit Recht, dass Breguyar alles andere als erfreut darüber war. In Anbetracht 'meines Zustandes'!"
Er verkniff sich ein Lächeln.
Als hätte er das nicht schon längst begriffen.
Nachdem er den Raum ausführlich gemustert hatte, warf er den zerfetzten Mantel auf das samtbezogene Bett und schnallte das Geschirr mit dem Mühlsteinhebel vom Arm. Den zerschnittenen Mantel konnte er wohl kaum noch tragen, wo er doch noch vor wenigen Minuten intakt gewesen wäre. Und den Hebel offen zu tragen wäre auch zu auffällig. Welcher Jäger würde so etwas schon tragen? Also landeten Geschirr und Hebel auf dem Mantel, bevor Ettark sich zu Ophelia umdrehte, die immer noch in der offenen Tür stand.
"Und wenn wir schon mal dabei sind... um des Vertrauens Willen... Ich habe ihn vor vollendete Tatsachen gestellt. Er weiß zwar von dem, was ich hier tue. Aber er hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass ich seinetwegen dieses Mal im Einsatz verrecken könne, falls etwas schief geht."
Nicht schlecht. Wenn das der Wahrheit entsprach, war die zartgebaute Frau doch um einiges taffer, als er ihr zugetraut hatte.
Lächelnd ging er auf die verschnörkelte Frisierkommode zu und tauchte seine Hände in das Wasser in der marmornen Wanne. Mit einem tiefen Einatmen warf er sich die eisige Flüssigkeit ins Gesicht. Das bereitgelegte Handtuch war für seinen Geschmack viel zu flauschig und so dauerte es einige Momente, bis er sich abgetrocknet hatte.
"Nun, dann ist es wohl an uns, das zu verhindern.", erwiderte er schließlich grinsend, als er sich zu Ophelia umdrehte. "Ich schulde HIRN schon zwei Leben. Das reicht! Es wird Zeit, die Schulden zurückzuzahlen."
Er sah an sich herab und strich dann sein Hemd glatt.
Gerade, als er das Zimmer verlassen wollte, erinnerte er sich an etwas Wichtiges und ging schnell zurück zum Bett. Er nahm den Mantel wieder in die Hand. Nach kurzem Kramen zog er sowohl eines der Notizbücher, als auch seine Marke aus den verborgenen Innentaschen und steckte sie sich nach kurzem Zögern in die Hosentaschen. Als er nun endlich zurück zu Ophelia ging, sah sie ihn mit geschocktem Blick entgegen und räusperte sich.
Diese hochwohlgeborenen Attitüden konnte sie sich gefälligst sparen. Wenn sie was wollte, sollte sie damit verdammt noch mal rausrücken.
Genervt schüttelte er den Kopf, als er sich an etwas erinnerte.
Seine Rolle verlangte von ihm ebenfalls 'hochwohlgeborenes' Benehmen. Sich auf die endlosen Stunden in der Gilde besinnend reichte er ihr galant den Arm.
"Ich bin ein edler Spross aus herrschaftlichem Hause, schon vergessen?", erwiderte er auf ihren überraschten Blick hin und verkniff sich ein Lachen.
Mit errötetem Gesicht hakte sie sich vorsichtig unter und räusperte sich.
Wieder musste Ettark sich zusammenreißen, um nicht aufzulachen.
"Und welche Geschichte hast du mir nun erzählt?"
Ettark ging im Kopf die Geschichte durch, die er sich für den heutigen Abend bereitgelegt hatte. Aber warum die Worte an Jemanden verschwenden, der die Lüge eh schon durchblickt hatte? Dafür war vermutlich später noch mehr als genügend Zeit.
"Irgendwas Heldenhaftes und Ruhmreiches vermutlich.", wich er aus und führte sie zurück zur großen Freitreppe.
Der Abend würde lang werden!

Pirschjagd


Von oben betrachtet sah die Gesellschaft wie eine Tanzveranstaltung aus. Gruppen bildeten sich scheinbar zufällig, man unterhielt sich und trennte sich, um mit Mitgliedern anderer Gruppen eine neue zu schaffen.
Ettark und Ophelia betrachteten das Geschehen einige Momente von oberhalb der Treppe, bevor sie sich auf den Weg nach unten machten. Kurz bevor sie die Treppe erreicht hatten, schien Ophelia sich innerlich zu straffen. Das leichte Lächeln fiel wie Nebel von ihrem Gesicht und sie bekam den strengen Blick, der offensichtlich zu ihrer Rolle als Theridae gehörte.
Grinsend warf Ettark ihr einen kurzen Blick zu und rollte mit den Schultern.
"Es wird uns niemand vermisst haben. Hannibank erzählt seine unerschöpflichen Überwald-Anekdoten und sie sind schon zu den härteren Drinks übergegangen. Wir können uns unauffällig dazu gesellen.", sagte sie mit starrem Blick auf die tiefer liegende Etage.
Wieder so ein Angeber. Solche Leute hatten sich selten nach Bergigen getraut, wussten sie doch, dass ihre Geschichten dort kaum mehr galten, als ein abendfüllender Witz.
Er betrachtete Ophelia von der Seite her. Für eine Frau aus solch einer hochgeborenen Familie sprach sie erstaunlich viel.
Gemessenen Schrittes begaben sich die beiden Wächter die Treppe hinunter und Ettark versuchte sein Bestes, die Geschichte des selbstverliebten Möchtegern-Jägers zu überhören.
Hoffentlich erwartete Barrik nicht eine ähnliche Geschichte von ihm. Er hatte versucht, eine möglichst realistische Handlung zu stricken.
Um sich abzulenken, betrachtete er die Jäger um sich herum genauer und versuchte herauszufinden, welche dieser meist eher lächerlich gekleideten Gestalten wohl ernstzunehmende Jäger waren. Wirklich erblickte er einige Männer, deren Waffen offensichtlich nicht nur zu Paradezwecken getragen wurden. Doch die meisten der Anwesenden hatten, wenn überhaupt, nur durch viel Glück die Jagd überlebt, aufgrund welcher sie nun hier sein durften.
Lächerlich!
Er wollte sich gerade wieder an Ophelia wenden, als sich die Eingangstür des Saales öffnete und Alec einen kräftig gebauten Mann hereinführte. Der breite Lederhut legte dessen Gesicht in Schatten und nur ein dichter, schwarzer Bart war zu erkennen. Um die Schultern lag ein grünlicher Mantel, darunter trug der Mann ein gräuliches Schnürhemd, welches von einem breiten Waffengurt gekreuzt wurde. Sowohl der breite Gang als auch die hellen Flecken auf dem Mantel ließen einen Verdacht in Ettark keimen und als der Mann den hell erleuchteten Saal schließlich betrat, sah er diesen durch die wettergegerbte Gesichtshaut bestätigt. Ein Seefahrer! Ettark betrachtete den Mann genauer. Schließlich sah er den Hafen als sein Revier. Vielleicht jemand, den er kannte?
Mit großen Schritten fegte der Seemann durch den Saal und aufgrund der schnellen Bewegung schlug sein Mantel auf.
Ettark erstarrte.
Die kurzen Pfeile, die im Waffengurt steckten, kannte er nur zu gut. Die Spitze, die Befiederung; Das waren die Bolzen, nach denen er jetzt schon über ein Jahr suchte, also war der Mann...
Instinktiv setzte sich Ettark in Bewegung, nur noch sein Ziel vor Augen, als er mit dem Arm irgendwo hängen blieb. Er brauchte einige Augenblicke, bis er bemerkte, dass es Ophelia war, die neben ihm stand und ihn festhielt.
Was sollte denn das...
Sie trat einen kleinen Schritt zurück und flüsterte lächelnd:
"Ist er das?"
Dieser kurze Satz und das gekünstelte Lächeln brachte Ettark zurück in die Wirklichkeit.
Er durfte hier nicht auffallen! Miriels Mörder hier zu erledigen, würde nichts bringen. Gegen diese Masse an Jägern konnte er nicht bestehen, selbst wenn die meisten von ihnen nicht viel mehr als Amateure waren. Hatte ihn jemand bemerkt?
Er blickte sich vorsichtig um, doch niemand schien etwas mitbekommen zu haben.
Der Seemann unterhielt sich inzwischen herzhaft mit Van Barrik.
Ophelia wartete immer noch mit fragendem Blick auf seine Antwort, so dass er zwischen den Zähnen eine Bestätigung hervorzischte.
"Da kannst du Gift drauf nehmen. Diese Drecksbolzen sind Spezialanfertigungen und hundertprozentig unverwechselbar. Der Wichser gehört mir!"
Sie wendete sich von Barrik ab und zog ihn zu einer schwerbeladenen Tafel am anderen Ende des Raumes. Und damit von Miriels Mörder weg.
Ettark versteifte sich.
"Was soll das, verdammt? Ich muss genau in die..."
"Nein, musst du nicht. Du musst tief durchatmen und wieder zu Sinnen kommen!"
Zu Sinnen?
"Was gibt es denn da zu..."
"Schschhhhh! Du wirst lauter. Nicht!" Bevor es ihm bewusst war, hatte sie ihn von der Gruppe weggezogen und war vor einem der Tische stehengeblieben. Während sie angestrengt zwischen Weiß-und Rotweingläßern hin und her blickte, sprach sie weiter. "Du denkst noch an das große Ganze? Daran, an welchem Ziel ich hier arbeite?"
Ettark knurrte.
Er hatte nicht einmal daran gedacht, wo er gewesen war. Aber dort stand jene Person, welche Miriel umgebracht hatte, seine Auszubildende, seinen Schützling! Und hier stand diese Person neben ihm - er blickte wütend zu Ophelia - und rieb ihm sein Verhalten auch noch unter die Nase!
Wütend griff er nach den kleinen Zinnbechern auf dem Tisch und nur wenige Sekunden später goss ihm ein Diener ein scharf riechendes Getränk hinein.
Er leerte den Becher in einem Zug und bevor er überhaupt den Geschmack auf der Zunge spürte, goss der Bedienstete nach. Er warf dem Mann einen bösen Blick zu und dienstbeflissen begab sich dieser außer Hörweite.
Beinahe schon abartig, dieses unterwürfige Verhalten…
"Keine Sorge, Ligand. Du wirst es schon nicht dazu kommen lassen, dass ich das vergessen könnte.", brummte er missmutig und warf dem Seemann einen düsternden Blick zu.
Dieser war, unter seiner selbstbewussten Fassade, ein sehr nervöser Mann, das bemerkte Ettark nach nur wenigen Augenblicken. Doch wirklich aufmerksam wirkte er nicht.
"Moment! Miriel war doch aber... warum sollte sie von einem Jäger umgebracht worden...", unterbrach Ophelia Ettarks Gedankengang da flüsternd.
Ja, das hätte er auch gerne gewusst. Aber die Waffen waren identisch. Dieses Rätsel würde er wohl nur lösen können, wenn er den Mörder fragen würde. Aber dafür würde er ihn irgendwo in einer… intimeren Umgebung abpassen müssen.
Er blickte sich um. Trotz der großen Anzahl von Jägern sollte es kein Problem darstellen, den Seemann im Auge zu behalten. Die Halle war groß genug, dass die Menge sich weit verteilte.
In dem Moment setzte Ophelia wieder an, zu reden und Ettark machte sich von ihr los.
Ablenkung von ihrem Geschwätz konnte er jetzt nicht gebrauchen!
"Bitte entschuldige! Aber die Gelegenheit, Kollegen zu treffen und mich umzuhören, was es Neues gibt, die bietet sich nicht so oft. Vielleicht ergibt sich im Laufe des Abends noch eine Gelegenheit, unser Gespräch fortzusetzen. Es war mir auf jeden Fall eine Ehre, dich kennenzulernen."
"Herr von Bergigen, die Ehre war ganz auf meiner Seite. Der Abend verspricht, nicht allzu aufregend zu werden. Ich bin also davon überzeugt, dass wir unser Gespräch wieder aufgreifen können werden."
Er grinste.
Das mit der Aufregung würde sich noch bestätigen müssen, für ihn sah es nach einem sehr gelungenen Abend aus. Es konnte eigentlich nur noch besser werden. Schon in wenigen Stunden hätte er dieses Arschloch in den Fingern und dann würde er diesen Sauhaufen hier aufräumen, egal was die Ermittlerin sagen würde.
Möglichst unauffällig schlenderte er durch den Raum und versuchte dabei, sein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Heute würde die fast ein Jahr dauernde Suche endlich ein Ende finden! Er beobachtete Barrik und den Seemann weiter, ohne jedoch nahe genug heran zu kommen, das Gespräch verfolgen zu können. Jedes Mal, wenn er versuchte in Hörweite zu kommen, drängten sich andere, lärmende Gruppen dazwischen oder er musste wieder Abstand gewinnen, weil der Seemann sich misstrauisch umblickte. Schließlich übernahm Barrik das Gespräch und wollte den Seemann scheinbar in die oberen Etagen leiten, doch dieser wehrte die Einladung gestenreich ab und zeigte mit weit ausladender Bewegung seines Hutes in Richtung Ausgang.
Er wollte schon gehen?
Das ging schneller, als Ettark gehofft hatte.
Schon wurden die Geräusche um ihn herum dumpfer, alle Bewegungen schienen langsamer zu verlaufen.
Gleich hätte er den Mörder Miriels in den Fingern, er musste ihm nur noch folgen.
Alles in ihm bereitete ihn auf den kommenden Kampf vor, da wurde er brutal aus dem traumgleichen Zustand gerissen.
"Herr von Bergigen, mir ist eine Frage zu deiner beeindruckenden Erzählung eingefallen, die mir gar keine Ruhe mehr lässt. Ich hoffe, ich bin nicht zu aufdringlich, wenn ich nochmal nachfrage?", warf jene Stimme ihn zurück in die Realität, die schon den ganzen Abend nichts anders machte, als ihn am Nachdenken zu hindern.
Mit glühendem Blick drehte er sich zu dem Störfaktor um und riss sich erst im letzten Augenblick soweit zusammen, sie nicht anzuschreien.
"Na sowas, die Frau Ligand wieder. Aber nicht doch, meine Werteste, immer raus mit den Fragen!", fauchte er nur knapp über normaler Gesprächslautstärke.
"Ähm... das ist überaus großzügig. Mich beschäftigt die Frage... also, welche Waffe bevorzugst Du bei der Jagd?", stammelte sie, offensichtlich erschrocken über seine Reaktion.
War sie denn jetzt völlig wahnsinnig geworden?
Er blickte sich schnell um und bemerkte dutzende neugierige Blicke, die auf sie beide gerichtet waren.
Was, verdammt, hatte sie vor?
"Meine Lieblingswaffe? Auf der Jagd?", zischte er nun deutlich leiser zurück.
Sie nickte.
"Ja, die Frage habe ich auch vielen deiner Kollegen schon gestellt und ganz unterschiedliche Antworten bekommen. Ich finde das ungemein spannend."
Es reichte!
Er unterdrückte den Reflex, sie zu packen und beugte sich nur nahe genug an sie heran, um trotz des Umgebungslärms flüstern zu können.
"Sag mal, hast du einen an der Klatsche? Willst Du mich verarschen?"
Sie kicherte gekünstelt und blickte zu Boden. Lügner taten das, bevor sie sprachen. Alles in Ettark spannte sich an. Als sie wieder aufblickte, schimmerten ihre Wangen unter der ganzen Schminke feuerrot. Am liebsten hätte er sie in dem Moment kommentarlos stehen lassen, doch er war sich der Blicke um sie beide nur zu deutlich bewusst.
Er durfte nicht auffallen. Nicht, bevor er das Haus verlassen hatte!
Er fluchte innerlich und es dauerte einige Momente, bis er eine passende Entgegnung formuliert hatte. Schließlich klopfte er mit der Linken auf die abgewetzte Schwertscheide an seiner Seite.
"Mein Schwert hat mich noch nie im Stich gelassen. Außerdem halte ich es für feige, irgendwelche Apparate oder sonstigen technischen Scheiß für die Jagd zu benutzen. Wenn ich kämpfe, dann so wie es die Götter vorherbestimmt haben: blanke Klinge gegen Zähne und Krallen!"
Damit sollte er den selbstverliebten Möchtegerns einen Dämpfer versetzt haben. Jetzt könnte er sich wieder auf seine Aufgabe konzentrieren.
Ohne Ophelia weiter zu beachten, drehte er sich um und suchte mit den Augen den Raum nach der markanten Gestalt des Seemannes ab. Als er schließlich Barrik fand, der sich schon der nächsten Besuchergruppe zuwandte, wurde ihm in schneller Abfolge heiß und kalt.
Er war verschwunden! Selbst wenn er jetzt noch hinterher stürmen würde - und das wäre, wie er sich eingestand, eine äußerst dumme Idee - die Chancen, den Mann jetzt noch zu erwischen, waren äußerst gering. Dafür hatte die Ermittlerin ihn zu lange aufgehalten.
Wutentbrannt wirbelte er zu dieser herum und musste sich wortwörtlich auf die Zunge beißen, um sie nicht vor versammeltem Publikum anzubrüllen.
"Vielen Dank, Madam!", knurrte er leise, während er das wutentbrannte Zittern aus seiner Stimme zu verbannen suchte. "Großartig! Einfach phänomenal! Jedes Mal, wenn etwas schief geht, darf ich die reizende Gesellschaft von Fräulein Ligand genießen. Ich beginne zu bedauern, dich dumm… Madame nicht nachhaltiger schlafen geschickt zu haben, als sich mir die Gelegenheit dazu bot. Vielleicht gestattest du mir wenigstens den klitzekleinen Freiraum, mein eigenes Zimmer ohne deine dreimal verfluchte Gegenwart aufzusuchen und die Türen zu verbarrikadieren? Denn dieser Abend ist ja wohl gelaufen! Und ich rate dir, mir lieber nicht zu folgen!"
Mit diesen Worten drehte er ihr den Rücken zu und stampfte auf die Freitreppe zu. Schweigend passierte er einige Dienerinnen, die ihm auf dem langen Flur entgegen kamen, dann betrat er sein Zimmer. Erst dort erlaubte er es sich, ungehemmt loszufluchen.
Diese elende Wichtigtuerin hatte ihm doch tatsächlich sein Ziel direkt vor den Augen entkommen lassen, diese...
Die nächsten Minuten ging der Bergiger vor sich hinmurmelnd in dem großzügig bemessenen Zimmer auf und ab, bis er sich soweit beruhigt hatte, seine Umgebung näher in Augenschein zu nehmen.
In dem offenen Kamin flackerten Flammen, das Wasserbecken war mit frischem Wasser gefüllt und… mit einem weiteren Fluch auf den Lippen hastete er die wenigen Schritte zum Bett. Sein zerschnittener Mantel war verschwunden, genau wie sein Schlag… nein, der Hebel lag auf dem Nachttisch und glänzte auf unvertraute Weise. Vorsichtig nahm er das Metall in die Finger.
Tatsächlich, jemand hatte die glatte Oberfläche offensichtlich poliert! Das konnte doch nicht wahr sein! Niemand fasste seine Waffen an!
Er war kurz davor, den Dienerinnen hinterher zu rennen, riss sich jedoch ein letztes Mal zusammen.
Seine Wut an den beflissenen Arbeitskräften des Hauses auszulassen wäre Zeitverschwendung gewesen. Zudem würde es verdächtig wirken. Sogar noch verdächtiger, als der zerschnittene Mantel.
Da er befürchtete zu platzen, wenn noch irgendetwas Unvorhergesehenes passieren würde, zog er sich aus, legte sich in das viel zu weiche Bett und versuchte Schlaf zu finden. Lange Zeit über warf er sich in den parfümierten Laken umher, während er sich überlegte, wie es nun weitergehen sollte. Bis der Schlaf endlich Einkehr hielt.

Als er am nächsten Morgen aufwachte, fühlte er sich wie gerädert. Ein Blick auf die mechanische Uhr auf dem Nachttisch bestätigte ihm, dass er kaum vier Stunden geschlafen hatte. Einige Zeit wälzte er sich noch im Bett, doch die schmerzenden Rippen hinderten ihn daran, eine gemütliche Position zu finden. Schließlich stand er auf, wusch und rasierte sich und wickelte dann den Verband um den Brustkorb neu. Nachdem er sich angezogen hatte, ließ er sich vom ersten Diener, den er im Flur sah, zum Frühstückszimmer bringen.
Van Barrik saß bereits am großen Tisch. Vor sich hatte er die Times ausgebreitet, während einige Diener um ihn herum das Frühstück auftrugen.
"Ah, guten Morgen, Herr von Bergigen! Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen? Setzen Sie sich, die Eier sind gleich soweit und der Kaffee... ah, da kommt er."
Ettark setzte sich auf den angebotenen Stuhl und nur wenige Augenblicke später stand vor ihm eine große Tasse, aus der es verheißungsvoll dampfte.
Barrik blätterte noch etwas in der Zeitung, während Ettark vorsichtig an dem kochend heißen Getränk nippte. Sofort spürte er, wie die Lebensgeister zurückkehrten.
Schließlich faltete der alte Mann seine Zeitung zusammen und wie aufs Stichwort wurden vor ihn und Ettark Teller gestellt, Platten mit Aufschnitt erschienen fast wie von Geisterhand. Während der Bergiger eine Schüssel voller Rührei vorgesetzt bekam, bevorzugte der Hausherr offensichtlich die intakte Form. Beide frühstückten schweigend und erst nachdem die Teller wieder abgeräumt und Ettarks Kaffeetasse zum dritten Mal gefüllt worden war, richtete Barrik erneut das Wort an seinen Gast.
"Ich glaube, Sie schulden mir noch eine Geschichte." Er schnippste und im nächsten Moment tauchte ein Diener mit einem Bücherwagen neben ihm auf und wuchtete einen schweren Kodex auf den Tisch. Barrik nahm eine Feder aus dem bereitgelegten Lederetui, spitze sie sorgfältig nach und tauchte sie schließlich in ein großes Tintenfass auf dem Bücherwagen. Dann blickte er Ettark an. "Dann erzählen Sie mal von ihrer sicher großartigen Jagd, Herr von Bergigen!"
Ettark lehnte sich zurück und überlegte, wie er beginnen sollte. Eigentlich hatte er sich eine typische Jagdgeschichte zurechtgelegt, wie er sie in seiner Kindheit zu hunderten gehört hatte. Doch nach seinem Auftritt gestern, fielen die meisten natürlich aus. Er musste ohne Ausschmückungen auskommen und auf jede heroische Geste verzichten. Schließlich entschied er sich, die Geschichte wie eine Fallakte vorzutragen, kurz und effizient.
Er zog sein Notizbuch aus der Hosentasche und blätterte auf eine vollgeschriebene Seite, um so tun zu können, als würde er den Bericht ablesen.
"Am Sonntag habe ich mich morgens mit einem Bekannten getroffen, der die lokalen Zeckenkolonien recht gut kennt. Nachdem ich mit ihm die naheliegendsten Ziele besprochen hatte, machte ich mich auf den Weg, um mich mit den Begebenheiten vor Ort vertraut zu machen. Schnell fand ich heraus, dass eines der Ziele zwar momentan in Überwald verweilte, jedoch innerhalb der nächsten zwei Tage zurückerwartet wurde. Da er alleine reisen würde, erschien er mir als das praktikabelste Objekt. Nachdem ich seine Reiseroute herausgefunden hatte, machte ich mich am Oktotag auf den Weg nach Kleinkohlfeld und bereitete mich dort vor. Am frühen Morgen des Montags konnte ich ihn auf dem Weg zu seinem Tagesrastplatzs abfangen und dank seiner Müdigkeit und der ersten Sonnenstrahlen nach nur kurzer Gegenwehr den Kopf vom Rumpf trennen. Anschließend habe ich die Asche zusammen gefegt, ausgesiebt und mit Phosphor den endgültigen Tot herbeigeführt. Wie gewünscht gab es kein Zeugen. Name des Objektes war Bartholomäus von Blutstein, die gut eine Seite füllenden Zweitnamen können Sie ja hoffentlich selber recherchieren."
Er klappte sein Notizheft zu und steckte es zurück in seine Hose. Nachdem er sich an dem Kaffee beinahe die Zunge verbrannt hatte, endete auch das Kratzen von Barriks Feder und jener ließ den Diener die beschriebene Seite mit Sand bestreuen und das Buch wieder aus dem Raum bringen.
"Herr von Bergig, da Sie nun bewiesen haben, dass Sie bereit sind, das Ihre als Teil dieser Gemeinschaft beizutragen... gibt es noch etwas, was sie brauchen?"
Ettark grinste verhalten.
Nun war es soweit, jetzt konnte er Ophelias Fehler von gestern Nacht ausgleichen. Zusammen mit seinem Namen, sollte die gerade erzählte Geschichte ihm genug Gewicht gegeben haben, um an die benötigten Informationen heranzukommen.
"Eine Liste mit Namen wäre hilfreich."
"Namen?"
"Namen von Verbündeten in dieser Stadt. Namen von andern Jägern."
"Ich dachte, Sie arbeiten alleine?"
Verflucht!
Am Gesichtsausdruck seines Gastgebers erkannte Ettark, dass er dabei war, einen Fehler zu machen.
"Das tue ich auch. Aber ich will sicher gehen, dass mir niemand in die Quere kommt, der für die selben Ziele kämpft. Das wäre eine Verschwendung von Menschenleben. Glauben Sie nicht?"
In dem Moment wurde die Tür aufgeschoben und die Blicke der beiden Männer fuhren zu der Dame, die im Türrahmen stand. Während der Diener sie zum Tisch führte, stand Barrik auf und Ettark folgte schnell seinem Beispiel.
"Guten Morgen, Timotheus! Guten Morgen, Herr von Bergigen!"
"Guten Morgen, meine Liebe!", begrüßte Barrik Ophelia und Ettark musste sich schnell ihre Tarnidentität ins Gedächtnis rufen, um sie nicht mit falschem Namen anzusprechen.
"Frau Ligand..."
Alle drei setzten sich wieder und Ettark wandte sich, nach einem mahnenden Blick auf seine Kollegin, wieder dem unterbrochenen Gespräch zu.
"Also wäre eine dementsprechende Liste praktisch. Falls es keine gibt, wären schon die Namen der Gäste der gestrigen Party hilfreich."
Der Köder war ausgeworfen.
Nachdenklich rührte Barrik in seiner Kaffeetasse, bevor er Ettark mit einem leichten Lächeln betrachtete.
"Natürlich arbeiten wir mithilfe gewisser Strukturen. Und es ehrt dich, junger Mann, dass du dich mehr einbringen möchtest, als dir das bisher möglich ist."
Einbringen? Er wollte doch nur den verfluchten Namen!
"Aber?"
"Ja, es gibt ein Aber. Ich habe in den letzten Jahren erfahren müssen, dass gerade viele der enthusiastischen Neuen nicht die nötige Umsicht dafür hatten, mit solchen Informationen umzugehen. Das sollen keine Bedenken gegen dich im Speziellen sein. Es handelt sich lediglich um einen Erfahrungswert, aus welchem ich mir ein Grundprinzip abgeleitet habe. Deinem Auftauchen gestern lag der Zufall zugrunde, ansonsten hättest du zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht einmal den Zugang zu den dort Anwesenden erfahren. Ich bitte dich also um Geduld. Und um Verständnis. Wenn du etwas länger dabei bist, werden sich dir neue Möglichkeiten eröffnen, da bin ich mir in deinem Fall ganz sicher."
Verdammt! Was war dieser Typ für ein paranoides Arschloch! Er war ein Bergiger! Vor zwanzig Jahren wäre es jedem Jäger auf der weiten Welt eine Ehre gewesen, einem der Ihren als Gastgeber zu dienen!
Während er überlegte, wie er weiter vorgehen sollte, schien Barrik seine Enttäuschung nicht zu sehen und wendete sich stattdessen, weiterhin lächelnd, Ophelia zu.
"Theri, wie sehen deine heutigen Pläne aus? Benötigst du etwas?"
Theri! Ettark wollte die Methoden gar nicht wissen, die die verdeckte Ermittlerin genutzt haben mochte, um so tiefes Vertrauen zu begründen. Er bezweifelte, dass sie dabei sonderlich damenhaft vorgegangen war.
"Ich wollte ins Zentrum, vielleicht zum Hier-Gibts-Alles-Platz, ein paar Besorgungen machen. Dann zur Post, ein Paket an meine Familie aufgeben. Ich hab mich lange nicht gemeldet und... na ja... vielleicht, wenn ich ihnen Gewürze und Tabak und solche Dinge schicke... Ins Café wollte ich auch noch. Wenn das in Ordnung geht, würde ich mir die Kutsche ausleihen. Ich brauche sie auch nicht lange. Ich kann sie dann zurückschicken. Gerade im Café werde ich bestimmt etwas länger bleiben."
"Eine schöne Idee. Du kannst die Kutsche gerne nehmen. Sobald die Mahlzeit vorbei ist, lasse ich im Stall Bescheid sagen, dass sie...gegen frühem Nachmittag?" Er blickte sie fragend an und sie nickte beinahe schon euphorisch. "Gut, dass sie die Pferde anspannen, sobald du soweit bist."
Nachdem dieses Thema abgehakt war, wendete er sich wieder an den Bergiger.
"In meinem Haus steht Gästen ein besonders ausgestatteter Trainingsraum zur Verfügung. Falls du ihn nutzen möchtest, kannst du einen meiner Mitarbeiter ansprechen, beispielsweise Alec, den du ja bereits kennst. Er wird dich dann dorthin führen."
Ein Trainingsraum! Das klang doch nach einer guten Idee. Er konnte sich ein wenig an den Trainingsgeräten abarbeiten und bestimmt gab es auch andere Trainingspartner, als nur den misstrauischen Alec. Trainingspartner, die nach einem guten Training redebedürftiger wären, als sein schweigsamer Gastgeber.
Mit neuer Energie ließ er sich von Barrik den Weg erklären, trank seine Tasse leer und machte sich dann auf den Weg.

Wie sein ehemaliges Gefängnis lag auch der Trainingsraum im Keller. Anders als jender war dieser jedoch angenehm geheizt und beleuchtet.
Als Ettark die verzierte Doppeltür aufstieß, war er von der Ausstattung begeistert.
Wie in dem Dojo, in dem er vor Kurzem sein Zusammentreffen mit dem IA-Agenten gehabt hatte, war der Boden des Raumes mit dicken Bambusmatten ausgelegt. An den holzvertäfelten Wänden hingen Bilder verschiedener Ausblicke auf die Zwillingsstadt und anatomische Zeichnungen. Die Regale am Kopf des Raumes waren mit echten und Trainingswaffen aller Art gefüllt und überall waren Trainingspuppen und Boxsäcke verteilt. Zudem war die gesamte linke Seite des Raums in eine verschwenderisch gestaltete Kletterwand verwandelt worden, welche mit einem kurzen Sterndach abschloss.
Der ehemalige Assassine in Ettark jauchzte fast vor Freude.
Der einzige Wermutstropfen war, dass sich Alec nicht unter den drei trainierenden Männern befand. Dem Großmaul eine Abreibung zu verpassen, wäre eine willkommene Ablenkung gewesen. Andererseits würde er so vermutlich leichter an Informationen kommen.
Er trainierte beinahe den ganzen Vormittag über gemeinsam mit den anderen drei Männern dort. Und schnell konnte er feststellen, dass nicht alle Jäger des gestrigen Abends nur billige Aufschneider gewesen waren.
Marc und Thomas, Brüder aus der Ebene von Sto Lat und momentan ebenso Gäste des Hauses wie er, waren ein äußerst gut aufeinander eingespieltes Team und beherrschten ihre Waffen so präzise, als wären sie mit ihnen verwachsen. Alfred hingegen, einer der Diener des Hauses, war trotz seines fortgeschrittenen Alters äußerst flink und steckte Schläge ein, bei denen so mancher Wächter zusammengebrochen wäre.
So wurde es ein herausforderndes Training und als die Vier sich schließlich lachend auf eine Bank fallen ließen, waren sie alle klitschnass.
"Eine äußerst interessante Technik, mit den Kurzstöcken, Herr!", keuchte Thomas, der sich den Unterarm rieb.
Für das Training hatte Ettark sein Schwert abgeschnallt und wie die anderen auf Übungswaffen zurückgegriffen.
"Danke, das Kompliment kann ich nur zurückgeben. Nicht wirklich ehrenhaft aber definitiv effektiv.", antwortete Ettark, während er sich den rechten Schuh auszog und die Zehen bewegte, wo ihn der Knüppel des Zwillings getroffen hatte.
Sie philosophierten noch einige Minuten über die verschiedenen Waffen und deren Handhabung, bis Ettark seine Chance gekommen sah.
"Sagt man, der Typ gestern auf dem Fest... der mit dem ausgeblichenen Mantel und der Armbrust... Die Bolzen waren aus Kaschmirholz, wenn ich mich nicht irre. Wisst Ihr, wer das war? Faszinierende Waffe!"
"Ach der! Der olle Angeber! Wie hieß der noch mal, Thomas?"
Auch sein Zwilling zuckte mit den Schultern und Alfred beachtete das Gespräch nicht. Über die Gäste seines Herrn zu reden, war scheinbar gegen sein Selbstverständnis.
"Aaaach... ich komm' nicht drauf. Irgendwas mit Kekill oder so. Auf jeden Fall is‘ das der Zeugwart von der Unermüdlich. Deren Kapitän hieß... Sironbloer!" Sichtlich stolz kratzte Marc die Namen aus seinem Gedächtnis. "Der ist eigentlich kein wirkliches Mitglied von HIRN. Eher 'ne Art Händler. Die Waffe hat der gestohlen, versteht sich aber recht gut darauf. Aber ansonsten ist der 'nen ziemlicher Schwachkopf."
Ettark musste sich zwingen, sitzenzubleiben und das Gespräch weiterzuführen, ohne sich seine Aufregung anmerken zu lassen.
Er hatte endlich einen Hinweis!
Schließlich verabschiedete Ettark sich und verließ, ein Handtuch in der Hand, den Trainingsraum.
Er hatte den Namen des Schiffes und des Kapitäns. Aber darüber herauszufinden, wer der Mörder war, dürfte eine weitere Herausforderung werden. Die Zwillinge hatten ihm erzählt, dass die Unermüdlich eine Freibeutergaleere war, welche hauptsächlich auf dem Runden Meer operierte und nur ihren Kutter nach Ankh-Morpork schickte, um die Beute gewinnbringend zu verkaufen. Dass irgendwo in der Stadt die Mannschaftsliste einer Piratengaleere existierte, war zweifelhaft.
Vielleicht wusste ja die Schmuggler- oder Hehlergilde Näheres? Um ein Vielfaches einfacher wäre es natürlich, wenn er Barrik oder einem seiner Angestellten den Namen entlocken könnte.
Nachdem er sich den Schweiß vom Kopf gewischt hatte, legte er sich das Handtuch in den Nacken und schlenderte durch die weiten Korridore des Anwesens.
Vielleicht sollte er es ja einfach nochmal bei Barrik versuchen? Die Informationen der Zwillinge halfen bestimmt, das richtige Gesprächsthema anzuschneiden.

Verrat


Er hatte das Kellergeschoss gerade verlassen, als ihm ein genervt blickender Diener entgegen kam und ihn mit kurzem Gruß passierte. Wenige Augenblicke später öffnete sich sich eine Tür im Gang und ein kleiner Mann rief dem Diener hinterher.
"Im Ernst! Wär schon prima, wenn er sich die Zeit nehmen würd. Hab extra den ganzen Weg von den Ebenen hierher gemacht und es is so richtich wichtich, dass er mir zuhört, verstehste? Nich nur wegen mir. Auch wegen ihn! Das wird ihn intressiern, was ich ihn zu sagen hab, kannste sicher sein!"
Mit einem Stirnrunzeln wollte Ettark den vorlauten Gast links liegen lassen, als dieser salutierte und ihn ansprach.
"Is mir ne Ehre, Meister."
Mit einem kurzen Blick erkannte Ettark, dass das Zimmer offensichtlich als Wartezimmer für Außenstehende diente. Die Einrichtung war eher bescheiden, so dass niemand auf die Idee kommen konnte, etwas mitzunehmen. Seufzend ging er auf das Gespräch ein.
"Warts' de auf'n Cheff?", passte er seine Aussprache unbewusst der offensichtlich niederen Geburt des Kurzgeratenen an. Vor Aufregung konnte der Mann nicht still stehen und Ettark vermutete, dass dieser nicht einmal aus der Stadt kam. Vermutlich aus einem der Vororte in der Ebene. Wahrscheinlich dachte der Mann, hier das große Geld machen zu können.
"Ja, Mann. Ich hab ihm was Abgefahrnes zu erzähln, da wird er Bauklötze staunen. Krass Mann! Ich hab grad einen zu Pulver gemacht."
Zweifelnd hob Ettark die Augenbrauen. Dieser zu kurz geratene Regenwurm wollte 'nen Vampir getötet haben? Unwahrscheinlich, aber vermutlich war es besser, erst einmal auf die Geschichte einzugehen, auch wenn Barrik den Mann vermutlich in hohem Bogen auf die Straße setzten würde.
"Un' dafür komms'e hierher? Nur, um dem Boss sowat ufzutischen?" Er verzog den Mund zu einem Grinsen.
Sein Gegenüber war wie erwartet äußerst verunsichert von Ettarks Reaktion.
"Äh... ne.... Nicht nur!", stammelte er.
"Dat würd' ich dir auch net geraten haben, Pursche, der Chef sieht es garnit gerne, wenn man seine kostbare Zeit verschwendet! Un' ich auch net!"
Er musterte ihn von Scheitel bis Schuhsohle. Vermutlich sollte er einfach zu seinem Zimmer gehen und sich umziehen, schließlich wollte er sich ebenfalls noch mit Barrik unterhalten.
"Ey, du brauchst gar nich so zu guckn, als wenn ich nix wert wär oder so, nur weil ich nich in sonem Schickimicki-Schukarton lebe! Ich steh für die gleichen Sachen ein, wie dein Boss, klar?", fuhr der Kleine da auf, was Ettark beinahe schon erstaunte.
Viel Zorn, für so einen kleinen Mann!
"Ich bin mir nich so sicher, ob er das auch sehen würde. Zwischen dir kleinen Fisch und ihm liegen Welten!"
"Dann sollte der sich verdammt nochma nen paar Brücken oder sowas besorgn, ehrlich ma! Ich werd dem nich den Laufburschn machn. Und beeiln sollte der sich auch, denn ich glaub ja nich, dass er nen Kuckuck in sein Nest brauchn kann."
Kuckuck? Den Ausdruck hatte Ettark schon seit Langem nicht mehr gehört, wusste jedoch gleich, was gemeint war. Hatte ihn wer verraten? "Kuckuck?", fragte er nach, um sich Zeit zum Nachdenken zu erkaufen. Endlich hatte er es geschafft, in dem Verein aufgenommen zu werden und schon jetzt würde er auffliegen? Das konnte er nicht erlauben!
"Ja, Kuckuck, falsche Schlange, Verräter, Spion... wie auch immer man das nennen will, ne?"
Vermutlich hatte er den Ausdruck aus irgendwelchen Büchern. Kein Städter würde diesen veralteten Begriff noch nutzen. Normalerweise wurde der Begriff "Ratte" für Verräter benutzt. Ettark schloss daraus, dass der Junge auf eigene Faust gekommen war, also ihn in nächster Zeit auch niemand suchen würde. Zumindest nicht, bis er Barrik wegen Miriels Mörder befragt hatte.
Lässig zog er sich das Handtuch von den Schultern und schob sich unauffällig zwischen den kleinen Mann und die Tür.
"Ziemliche Anschuldigung Kleener. Würd' mich schwer wundern, wenn'e scho'ma hier reing'lassn wurdest. Woher willse also solche Infos ham?"
"Da hat wohl einer seine Hausaufgabn nich gemacht, was? Tja, das würds de jetzt gern wissen, nich?"
Ettark kniff die Lippen zusammen und spannte sich an.
Jetzt ging es um alles!
Er musste den kleinen Mann ausschalten, bevor der auch nur schreien konnte.
"Schon gut, schon gut! Mann ey, musst doch nich gleich austicken. Kannst auch nich alles wissen, schon klar. Hast ja auch nen anstrengenden Dschob. Ich red ja schon! Der olle Blutsauger war nich so schnell kleinzukriegn, wie ich mir das vorgestellt hatte. Hat nen tierischen Terz gemacht, war bloß gut, dass auf den Feldern eh keiner in der Nähe is bei sowas und jedenfalls hat er irgendwann gedacht, ich wär hier sowas wie nen Stammgast und würd hier wohnen. Der fing dann an, sich schon ma drüber zu freun, dass ich nich mehr lang hier wohnen würd, weil die Schnitte ne Verräterin is und uns alle auffliegn lassn wird."
Der Bergiger stockte.
"Schnitte? Der Verräter in unsern Reihn is 'ne Frau?"
Der kleine Mann grinste.
"Haste nich mit gerechnet, was? Jap, isse. Und bevor de fragst, woher der Vamp das wissen sollte, der ja auch garantiert noch nie hier war... die Frage hab ich ihm denn auch gestellt. Wo ich numa eh dabei war. Auch wenn seine Antwort nich mehr so ganz verständlich war, mit all dem Gewimmer dazwischn. Er meinte jedenfalls, er wär die Tage zufällig an dem Klotz hier vorbeigekommn und da hätt er sie gehört."
Mit einem Mal schien alles Gewicht von seinen Schultern zu fallen.
Natürlich, wie hatte er auch glauben können, er wäre aufgeflogen. Ophelia hatte es mal wieder versaut. Aber wie? Hatte sie sich etwa verquatscht? Zuzutrauen war es ihr bei ihrem Mitteilungsbedürfnis sicher.
"Gehört? Und den Kack soll dir wer glauben? Keene Ratte wird so doof sein, ner Zecke ihre Identität zu verraten. Also verarsch mich hier lieber nich, sonst nehm' ich dem Boss die Arbeit ab, dich rauszuschmeißen!"
"Mann, so genau kann ichs jetz auch nich erklärn aber der Blutsauger meinte wohl irgendwie, dass se kaputt wär, wie wenn was nen Leck hat. Er hat davon gefaselt, dass sie hier drin hockt und ihre Gedanken aus ihr rauslaufen, wie Wasser aus nem Blumentopf, sobald man zu viel rein kippt. So nen Vampirding eben, das mit dem Gedankenklau."
'Rauslaufen?' Er wusste natürlich, dass Vampire die Gedanken von Lebenden lesen konnten aber normalerweise sollte dafür eine gehörige Portion Konzentration nötig sein. Wenn die Blutsauger durch reinen Zufall die Gedanken seiner Kollegin lesen konnten, war das ein alarmierender Grund zur Beunruhigung. Sie mussten die Ermittlung sofort abbrechen und das Haus verlassen! Wer wusste schon, über welche Quellen Barrik verfügen mochte? Aber zuvor musste er die kleine Petze unschädlich machen.
Während er die Befragung fortführte, ging Ettark langsam auf ihn zu.
"Wir ham hier' ne ganze Menge Weiber. Hasse nich' genauere Infos?"
"Ne, mein Beileid. Hätt ja auch gedacht, dass das Haus kleiner is. Aber... wart mal! Ich glaub, sie gehört entweder zur Familie oder sie is sowas wie nen Gast? Jedenfalls meinte er, sie hätte sich nich wie ne Bedienstete angehört."
Ettark war in Reichweite angekommen und streckte die Hand aus.
"In Ordnung, dat grenzt es wirklich ein. Schätze, dann steh'n wa in deiner Schuld..."
Mit einem breiten Grinsen griff der kleine Mann zu und schien vor Aufregung nicht bemerkt zu haben, dass Ettark der Tür mit dem Fuß einen unauffälligen Stoß mitgegeben und sie so sanft ins Schloss hatte schwingen lassen.
"Kannst mich Steffen nenne... Hey! Was zum..."
Der Rest des Aufschreies ging in einem dumpfen Keuchen unter. Ettark hatte den kleinen Mann an dessen Arm herumgewirbelt und ihm das Handtuch um den Kopf gewickelt. Nach einem kurzen Tritt ging der Mann in die Knie und nur Sekundenbruchteile später krachte Ettarks Ellenbogen in seinen Nacken.
Für seine geringe Größe war der Mann erstaunlich schwer. Ettarks Rippen zogen protestierend, als er ihn in dem kleinen Wandschrank verstaute. Nach kurzer Überlegung zerriss der Bergiger sein Handtuch, was aufgrund der Feuchtigkeit selbigens deutlich anstrengender war, als erwartet, und fesselte sein Opfer zusätzlich. Schließlich warf er einige der vergoldeten Aschenbecher zu dem Mann in den Schrank und schloss diesen. Vielleicht verzögerte es die Entdeckung des Informantens, wenn der Diener bei seiner Rückkehr dachte, dieser hätte geklaut? Nun musste er Ophelia finden!
Hoffentlich war sie noch nicht in die Stadt gefahren.

Mit schnellen Schritten durchsuchte der Wächter die untere Etage des Anwesens und hoffte darauf, dass seine offensichtliche Eile keinen vorzeitigen Verdacht erregen würde. Zeitgleich durchforstete er seinen Kopf verzweifelt nach einer Ausrede dafür, warum Ettark von Bergigen die Dame Ligand suchen könnte.
Er war gerade in einen schmalen Gang eingebogen, der zurück in die Eingangshalle führte, als sich eine der Türen öffnete und eine junge Dienerin den Flur betrat. Sie schrak zusammen, als sie den Bergiger auf sich zueilen sah. Erst kurz bevor er in sie hineingerannt wäre, kam er zum Halt. Bei weit aufgerissenen Augen dauerte es einige Augenblicke, bis die Frau die richtigen Worte gefunden hatte.
"Herr von Bergig... das hier sollte ich Ihnen bringen.", stammelte sie und hielt ihm ein schwarzes Bündel entgegen.
Perplex griff er nach dem Bündel und stellte überrascht fest, dass es sich um seinen Mantel handelte.
"Wir haben die Löcher geflickt, Herr.", erklärte sie dann mit neu gefundener Selbstsicherheit und knickste. Er schlug den Mantel aus und begutachtete die feinen Stiche, die die Spuren des Gerangels mit Ophelia nahezu unsichtbar machten.
"Vielen Dank!", sagte er erfreut und legte sich den Mantel um die Schultern. "Kannst du mir vielleicht sagen, ob das Fräulein Ligand das Haus schon verlassen hat?", fragte er ohne die aufwändig erdachten Gründe für seine Neugier auszuführen. Eine Dienerin in diesem Hause würde nicht nach den Gründen fragen.
"Nein, Herr. Das heißt, nein, sie hat das Haus noch nicht verlassen. Jennie ist noch im Aufenthaltsraum, also ist das Fräulein noch nicht in Ausgehkleidung."
Ettark nickte und ging nach einem weiteren Dank weiter.
Also musste er sie immer noch finden. Von der Eingangshalle ging er weiter in den großen Saal, in dem am vorigen Abend das Fest stattgefunden hatte. Immer zwei Stufen zugleich nehmend, hastete er die große Treppe hinauf und blieb an ihrem oberen Ende stehen.
Wenn die Ermittlerin noch im Haus war, wo konnte sie sich dann aufhalten?
Sich an seinen anfänglichen Verdacht erinnernd, wie sie so schnell so hoch in der Gunst Barriks hatte aufsteigen können, entschied er sich, zuerst in den privaten Gemächern des Oberhirnis zu suchen. Das Anwesen war recht groß und so dauerte es einige nervenaufreibende Minuten, bis der Wächter den richtigen Flur gefunden hatte. Mit möglichst unschuldigem Blick schlenderte er den breiten Gang herunter und musste seine Hektik beinahe schon mit Gewalt unterdrücken. Es wäre doch zu auffällig gewesen, hier erwischt zu werden, wie er voller Hektik die Zimmer des Hausherren durchsuchte. Was ihn gleich zu der Überlegung brachte, welche Ausrede er vorzubringen hätte, wenn er wirklich unerlaubt in den Privatgemächern erwischt würde. Erst recht, wenn er Ophelia und Barrik in einem dieser zusammen antreffen würde!
Mit gerunzelter Stirn versuchte er, die Bilder, die vor seinem inneren Auge entstanden, zu vertreiben. Das führte zu nichts! Er würde sich dann eine Ausrede einfallen lassen müssen, wenn er in Flagranti erwischt wurde... oder erwischte.
In diesem Moment erklang ein lautstarkes Scheppern aus dem Raum zur Linken und ohne nachzudenken, übernahmen die jahrelang geschulten Instinkte des Streifenwächters die Kontrolle. Beinahe ohne die Klinke zu drücken, öffnete er die Tür und stürmte in den kleinen Raum. Kampfbereit blickte er sich um und erfasste die bekannt vorkommende Situation sofort. Ähnliche Bilder hatte er schon oft vor sich gehabt, wenn er Einbrecher auf frischer Tat erwischt hatte.
In der Mitte des Raumes stand die Verantwortliche inmitten einer großen Pfütze, um sie herum waren die Scherben des gläsernen Kruges verteilt und in ihrer Hand hielt sie ihre Beute, ein ledergebundenes Buch.
"Bei Annoia, hast du mich erschreckt! Warum schleichst du mir...", stieß Ophelia hervor, das Buch an ihre Brust gepresst.
Er betrachtete das Chaos und schüttelte innerlich den Kopf.
Wenn es mehr Beweise für ihren unzulänglichen Zustand brauchte, wusste er auch nicht weiter. Nicht auszudenken, wenn es Alec gewesen wäre, der in dem Moment die Tür passiert hätte!
"Sei still! Wir müssen hier raus, sofort! Du bist aufgeflogen und es würde mich wundern, wenn deine Freunde uns nicht jetzt schon auf den Fersen sind!"
Wie ein erschrockenes Reh erstarrte sie und blickte ihn aus großen Augen an.
"Komm in die Puschen Weib! Gibt es irgendwo einen Ausgang, den Barriks Schießhunde nicht überwachen?"
Er konnte sehen, wie sie ihren Schock langsam überwand, viel zu langsam, wenn es nach ihm ging.
"Es... einen Geheimgang... im Keller, wenn ich das richtig mitbekommen habe. Timotheus hat ihn nur ein- oder zweimal mit Gästen genutzt, die nicht gesehen werden wollten..." Sie schnappte nach Luft. "Moment! Bis sie nach mir suchen? Was..."
Ettark wandte ihr den Rücken zu und überzeugte sich davon, dass der Flur noch immer menschenleer war.
"Los geht’ s!", zischte er die immer noch perplexe Ophelia an und ging wieder zurück zur Treppe. Die Ermittlerin folgte ihm widerstandslos, bis sie, mit dem Fuß schon auf der ersten Stufe stehend, stockte.
"Ich... ich..."
Er seufzte laut auf.
"Was? Wir haben keine Zeit mehr! Wenn Barriks Leute auch nur halb so gut sind, wie ich vermute, sind die uns in wenigen Minuten auf den Fersen!"
Sie starrte ihn einen Augenblick an, drehte sich dann um und rannte murmelnd in einen der abzweigenden Gänge, während Ettark ihr mit offenem Mund hinterher blickte.
War sie nun völlig weggetreten?
Unwillkürlich stieß er einen Fluch aus, bevor er sich auf die Zunge beißen konnte.
Auch wenn Ophelia sich wie eine Tollwütige benahm. Er durfte die Aufmerksamkeit nicht zusätzlich auf sich ziehen.
Ettark zögerte noch einige Augenblicke und folgte ihr dann knurrend. Er konnte sie nicht alleine hier lassen! Wenn sie Barrik in die Finger fiele, würde der kurzen Prozess mit ihr machen. Und mit einem weiteren toten Wächter wollte er sich wirklich nicht belasten.
Er fand sie schließlich in ihrem Zimmer, wo sie einen Stapel Bücher in ein helles Saunatuch schlang.
Bücher? Riskierte sie ihrer beider Leben wirklich für ein paar beschriebene Seiten?
Er verschränkte die Arme und beobachtete, wie sie mit nur einer Hand versuchte, das Tuch zu verschnüren.
"Lass dir nur Zeit, es wird sicher ein riesen Spaß, sich durch Barriks Leute zu hauen, nur weil Miss Ligant nicht auf ihre Schundromane verzichten konnte!", zischte er genervt, nachdem sie zum dritten Mal einen der Handtuchzipfel hatte fallen lassen.
"Das sind keine Schundromane!", fauchte sie zurück. "Und wenn du schon mal hier bist, werter Kollege, erkläre mir doch bitteschön mal, warum angeblich ausgerechnet ich gesucht werden sollte? Immerhin... kaum bist du hier aufgetaucht, fingen die Probleme überhaupt erst..."
Weiter kam sie nicht, denn Ettark hatte die Tür hinter sich zugeworfen und mit einigen langen Schritten den Abstand zu der Wächterin überbrückt. Er riss ihr das Tuch aus der Hand und zog sie am Kragen auf die Beine.
"Warum sie nach dir suchen? Warum..." Er biss die Zähne zusammen und stieß sie gegen den Bettpfosten. "Vielleicht hast du mir etwas verschwiegen? Irgendetwas, was existentiell für eine VERDECKTE Ermittlung sein könnte?", stieß er zwischen den Zähnen hervor.
"Ich weiß nicht, wovon du redest!", entgegnete sie mit zitternder Stimme.
Wütend schubste er sie wieder gegen den Pfosten.
"Ich rede von dem Leck!", brüllte er fast und schnippste gegen ihre Stirn. "Davon, dass du es offensichtlich nicht schaffst, deine Gedanken unter Kontrolle zu behalten!"
Sie riss die Augen auf.
"Ich... ich..."
Ein drittes Mal stieß er sie gegen den Pfosten.
"Wann wolltest du mir erzählen, das jeder verfluchte Blutsauger da draußen ungehindert lesen kann, was auch immer in diesem kleinen Kopf vor sich geht?", brüllte er fast.
Er hielt sie noch einige Augenblicke fixiert und ließ sie dann unvermittelt los.
Das hier brachte nichts. Sie mussten das Haus verlassen!
Unruhig ging er zurück zur Tür und öffnete diese einen Spalt weit. Draußen war immer noch alles ruhig. Der Blick über die Schulter offenbarte ihm, dass sie an Ort und Stelle zusammen gesackt war und zitternd ihre Beine umschlungen hielt.
"Steh auf!", fuhr er sie an. "Jetzt!"
Wie in Trance richtete sie sich auf, verschränkte die Arme jedoch schützend um sich.
"Können wir?"
Sie ging einige langsame Schritte auf ihn zu, stockte dann aber.
"Die Bücher! Ich muss sie mit nehmen...", sagte sie mit lahmer Stimme und bückte sich erneut, um zu versuchen, das Handtuchbündel zu schnüren. Diesmal gelang ihr das Kunststück schon beim zweiten Versuch und sie richtete sich langsam wieder auf.
Vielleicht war er zu streng zu ihr gewesen?
Aber immerhin folgte sie ihm widerstandslos in den Keller, ihr Bücherbündel über die linke Schulter geworfen. So dauerte es glücklicherweise nicht lange, bis sie unbemerkt im Kellergeschoss angekommen waren. Er blieb stehen und wartete auf weitere Informationen, doch die Ermittlerin schnaufte nur. Genervt drehte er sich um.
"Wo lang?", raunte er mit scharfem Unterton.
"Trainingssaal.", war die kurzangebundene Antwort. Dort angekommen, drückte Ophelia sich mit ihrem Bündel an ihm vorbei und hielt auf die große Vitrine am Ende des Raumes zu, in welcher Barriks Buch der Jagderfolge aufbewahrt wurde.
Hatte sie ihn etwa dafür hierher gelotst?
"Wo ist der Ausgang?", fragte er und blickte sich ungeduldig um.
Sie ließ den Beutel von der Schulter gleiten und zeigte mit der nun freien Hand zur Kletterwand.
"Er müsste dahinter liegen.", sagte sie mit abgelenkter Stimme, während sie sich schon mit der Vitrine beschäftigte.
"Müsste? Du bist dir nicht sicher?"
"Ich war nicht dabei. Ich habe sie kommen gesehen, ich habe sie gehen sehen. Und danach habe ich den Saal auf Verdächtiges untersucht."
"Aber Nichts gefunden...", brummte er und besah sich die Kletterwand, an der er aus seiner Position jedoch nichts Auffälliges bemerkte. Er zweifelte langsam ernsthaft daran, ob Ophelia noch völlig klar im Kopf war.
Sicher gab es Nebenwirkungen, wenn man die eigenen Gedanken nicht mehr geheim halten konnte. Oder vielleicht war ja sogar das nur die Nebenwirkung eines viel schwerwiegenderen Defekts?
Sei es, wie es war. Bis sie sicher hier heraus waren, musste er sich auf sie verlassen können!
Er stellte sich neben die Vitrine. Doch sie war so mit dem aufgeschlagenen Buch beschäftigt, dass sie nicht einmal zu ihm aufblickte. Entnervt schlug er den schweren Wälzer zu und zwang sie so, ihn anzublicken.
"Hör mir jetzt genau zu!", sagte er mit möglichst ruhiger Stimme. "Ich sehe ja, dass dir diese Bücher wichtig sind. Aber hier geht es um unser Leben und ich habe schon zwei Kollegen im Dienst verloren. Du wirst nicht die Nummer Drei sein! Also sag mir... bitte... wie wir hier raus kommen!"
"Du verstehst einfach nicht! Es geht hier um viel mehr, als nur um uns! Kümmere du dich um die Tür, ich kümmere mich um den Rest. Die abgesetzten Seitenleisten neben der Kletterwand sind meiner Meinung nach wahrscheinlich Riegel. Ich hatte nicht genug Kraft, um sie zu betätigen aber du...", entgegnete sie, während sie seine Hand vom Buchrücken schob.
Mit einem Seufzen ging er auf die Wand zu und untersuchte die nächstbesten Leisten. Doch weder durch Verschieben, Drücken oder Drehen ließen sie sich bewegen.
Wie erwartet, dachte er.
Er begann, die anderen Leisten abzuklopfen, bis der Klang mit einem Mal massiver wurde. Wieder drückte er von allen Seiten darauf ein, doch erst als er es mit Drehen versuchte, schlich sich ein Lächeln über sein Gesicht.
Tatsache, dieses Leistenstück ließ sich wirklich bewegen.
Mit einigem Kraftaufwand drehte er es in eine waagerechte Position. Nachdem er den Vorgang auf der anderen Seite wiederholt hatte, erklang ein hohles Knacken und der untere Teil der Wand drehte sich um die eigene Achse, um den dahinterliegenden Gang freizulegen.
"Was zur..."
Wenige Schritte hinter der Drehtür endete der Gang auch schon wieder an einer massiv aussehenden Bohlentür. Mit solchen Türen verschlossen Burgherren normalerweise ihre Schatzkammern.
"Da kommen wir nicht so schnell vorbei... das Fräulein hat nicht zufällig an den Schlüssel hierfür gedacht?", sagte er mit zynischer Stimme und drehte sich zu Ophelia um.
Diese blickte entsetzt auf die Tür, wirbelte jedoch sofort herum, als eine bekannte Stimme hinter ihr erklang.
"Selbst wenn sie daran gedacht hätte... den Schlüssel habe ich. Nettes Pärchen gebt Ihr ab... schon genug von der Gastfreundschaft des Chefs? Das wird ihn aber enttäuschen. Wo Ihr euch doch anscheinend solche Mühe gegeben habt, überhaupt reinzukommen!"

Erwischt


Alec stand im Türrahmen der Halle und ließ zwischen seinen Fingern die dicke Kette baumeln, an deren unterem Ende sich ein bronzener Schlüssel befand. Er wendete sich mit angewiderter Stimme an Ophelia.
"Mich würde ja interessieren, wie Du den Vorfall auf der Blumenschau an unseren Nachforschungen vorbei arrangieren konntest. Vielleicht lässt Van Barrik mir etwas Zeit mit Dir allein, um das herauszufinden, wenn ich mit deinem Freund hier fertig bin? Aber vermutlich läuft es darauf hinaus, dass Du eine von diesen Vampirschlampen bist und Dich ihnen verkauft hast? Schon dumm, dass jetzt keiner von denen hier ist, um es auszubaden, hm?" Er blickte zu Ettark. "Nun zu Dir!", sagte er und grinste breit. "Wusste ich's doch, dass mit dir was nicht stimmt, du arroganter kleiner Arsch. Ich denke, unter diesen Vorzeichen wird mir der Chef freie Hand gewähren."
Lächelnd ließ Ettark seinen Mantel auf den Boden gleiten und kreiste mit den Schultern. Dass seine Rippen diese Bewegung mit einem Stechen honnorierten, ignorierte er weitgehend.
Langsam, beinahe tänzelnd, gingen die beiden Männer aufeinander zu und begannen, sich zu umkreisen. Dann ging Alec zum Angriff über. Derart in die Defensive gedrängt, war Ettark einige Zeit dazu gezwungen, die wütenden Schläge seines Gegners zu parieren, ohne selber auch nur einen einzigen Schlag setzen zu können.
Alec war gut trainiert, dass konnte der Wächter schnell erkennen. Und offensichtlich beherrschte er die meisten der großen Kampfkünste. Nur die wenigsten Menschen hätten daran etwas Gutes gesehen, doch aus Ettark kroch ein Lächeln hervor.
Die alten Meister mochten die besten Kampfkünstler der Scheibe gewesen sein, doch hatte sicher keiner von ihnen jemals die Zwillingsstadt besucht.
So war es nicht verwunderlich, dass Alec vollkommen überrascht war, als die Hacke eines schwer beschlagenen Stiefels auf seinen Fußspann krachte. Keuchend hüpfte Alec zurück und verschaffte seinem Gegenüber so die dringend benötigte Atempause.
Während der Sicherheitsbeauftragte beinahe komisch anmutend auf einem Bein hüpfte, überdachte Ettark die Situation.
Er war seinem Gegner körperlich überlegen und hatte mit Sicherheit mehr Erfahrung in wirklich ernstgemeinten Kämpfen. Auf der anderen Seite war Alec deutlich besser trainiert und die geprellten Rippen hatten sich schon während des kurzen Schlagabtauschs schmerzhaft gemeldet. Er musste den Kampf schnell beenden, solange er seine Vorteile noch nutzen konnte, sonst würde Alec vermutlich die Halle mit ihm wischen.
"Na warte, Arschloch!", knurrte dieser und griff erneut an.
Doch dieses Mal versuchte Ettark gar nicht, die Schläge zu blocken, sondern spie Alec ins Gesicht, wich zur Seite aus und trat dann mit aller Kraft seitlich gegen das Bein des Gegners. In allerletzter Sekunde konnte dieser das Bein zwar in Sicherheit bringen, wurde dann aber von Ettark geradezu umgerannt, als die Kraft des Trittes ins Leere ging. Mit einem Aufschrei, der eher dem Schrecken als dem Schmerz zuzuschreiben war, flog der Sicherheitsbeauftragte auf den gepolsterten Boden. Er konnte die Wucht des Aufpralls durch eine geschickte Rolle auffangen. Mit einem angewiderten Gesichtsausdruck kam er außerhalb Ettarks Reichweite wieder auf die Beine und wischte sich den Speichel aus dem Gesicht.
Darauf, angespuckt zu werden, hatte keine der großen Kampfkünste eine passende Antwort.
"Du abartiger Bastard! Dafür brech' ich dir sämtliche Knochen!", brüllte er und seine Augen sprühten förmlich vor Zorn.
Der Bergiger grinste nur, winkte seinem Gegner provozierend zu und tat sein Bestes, sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen. Der Aufprall auf den Sicherheitsbeauftragten hatte seine schmerzenden Rippen aufschreien lassen. Er schüttelte leicht den Kopf, um die hellen Punkte aus seinem Gesichtsfeld zu verbannen und hob dann seine Hände wieder.
Keine Schwäche!
Das hier musste enden, doch er wusste auf's Verrecken nicht, wie. Alec war verdammt schnell und der Wächter befürchtete, dass er nur noch eine kurze Zeitspanne zur Verfügung hatte, bevor der restliche Haushalt auf sie aufmerksam werden würde.
Alec hatte sich von dem Schrecken schon wieder erholt und kam vorsichtig näher, die Fäuste gehoben.
Ettark sprang vor und konnte Alec zum ersten Mal in die Defensive drängen und endlich erkannte er eine Möglichkeit, seinen Gegner in Bedrängnis zu bringen. Zwar war der Sicherheitsbeauftragte der HIRN ein hervorragender Boxer, doch er war kein Beintechniker. Schon der erste hoch angesetzte Tritt durchbrach seine Deckung und er taumelte einige Schritte zurück. Doch dieses Mal schloss Ettark sofort auf und ließ seine Fäuste auf die kaum noch vorhandene Deckung krachen. Endlich konnte er einen Treffer verzeichnen. Doch Alec fing sich schnell wieder und ging zum Gegenangriff über. Dem zweiten Tritt konnte der, nun vorgewarnte, HIRNi ausweichen. Der dritte, senkrecht geführte, verfehlte seinen intimen Bereich nur um Haaresbreite und krachte von innen gegen Alecs Oberschenkel. Mit einem Befreiungsschlag verschaffte sich dieser Abstand zum Bergiger und zum ersten Mal konnte Ettark Schweiß auf der Stirn seines Gegners entdecken.
"Jetzt reicht's mir, genug gespielt!", keuchte Alec und mit einem Klacken erschien eine mehrere Zoll lange Klinge in seiner Faust.
Automatisch fuhr auch Ettarks Hand zum Gürtel, doch die Schwertscheide fehlte. Sie lehnte noch immer an der Wand neben der Tür... dort, wo er sie vor dem Training hingestellt hatte. Und damit hinter Alec. Und auch der Mühlsteinhebel, seit seiner GRUNDzeit seine liebste Waffe, fehlte.
"Da ist das Taschenmesser plötzlich nicht mehr so klein?", fragte Alec mit ätzender Stimme, als er den leicht verunsicherten Blick seines Gegenübers bemerkte. Er grinste breit. "Mal sehen, wie leicht der Nachkomme einer Legende stirbt!", sagte er. Und ging überheblich langsam auf seinen Kontrahenten zu.
Der Kampf gegen einen bewaffneten Gegner war immer eine Herausforderung, erst recht, wenn man selber unbewaffnet war. Ettark zweifelte daran, dass er Alec ebenso überrumpeln können würde, wie Ophelia Tags zuvor. Vor allem, wo sein Mantel ebenso außer Reichweite lag, wie sein Schwert. Vielleicht konnte er sein Gegenüber ja überraschen? Wenn er auch nur einen Fehler machen würde, wäre das ein ziemlich schmerzhafter Versuch. Allerdings sah er keine andere Möglichkeit. Er verlangsamte seinen Rückzug und ließ Alec so fast auf Reichweite herankommen. Jetzt zählte jede Bewegung, er durfte auf keinen Fall zu früh verraten, was er vorhatte.
Gerade wollte er losspingen, als er Ophelias gewahr wurde. Sie schlich sich von hinten an Alec heran, in ihrer Hand die Büste von Bahram Strocker [12].
Was hatte sie vor?
Zum Glück interpretierte Alec den Blick des Bergigers als Ablenkungsmanöver, denn er schüttelte nur grinsend den Kopf. Zumindest solange, bis ihm die schwere Büste auf den Hinterkopf krachte. Während der Sicherheitsbeauftragte mit verdrehten Augen zu Boden stürzte, blickte Ettark Ophelia entsetzt an.
"Was sollte das, verdammt noch mal? Warum mischst du dich hier ein?"
Ohne sie noch eines weiteren Blickes zu würdigen, kniete er sich hin und riss Alec die Kette vom Hals.
Sich einfach in seinen Kampf einzumischen, was glaubte sie, wer sie war?
Wütend stapfte er zur verschlossenen Geheimtür und schob den Schlüssel in das Schloss. Die Tür öffnete sich mit einem lauten Knarren und dahinter offenbarte sich ein dunkler Tunnel, der mit einer schwachen Neigung nach unten führte.
Er drehte sich um und sah Ophelia, die noch immer mit der Büste in ihrer Hand über dem Körper des Sicherheitsbeauftragten stand. Sie betrachtete mit Entsetzen den dünnen Blutfaden, der aus den Haaren des Mannes tropfte.
"Was ist? Komm in die Pötte, wir müssen los!", blaffte er und ihr glitt der bronzende Kopf aus den Fingern. Kopfschüttelnd ging der Wächter zu seinem Schwert und gürtete es wieder um, bevor er die Schränke nach Fesselutensilien durchsuchte. Seile und Stofffetzen waren in Fülle vorhanden und so dauete es nicht lange, bis er etwas Geeignetes gefunden hatte.
Ophelia hatte sich inzwischen neben Alec auf den Boden gekniet und fühlte an dessen Hals nach dem Puls. Ihrem erleichterten Gesichtsausdruck zufolge, hatte sie den Mann nicht umgebracht.
Als Ettark sie mit einem Zischen vertreiben wollte, sah sie ihn nur böse an und versuchte allen Ernstes, den schweren Mann auf die Seite zu drehen.
"Bist du von allen guten Geistern verlassen?", knurrte er und schob sie von Alec weg, um die Fesseln anzubringen.
"Aber... wenn er erstickt...?"
"Kümmer dich um deine Bücher, wenn du sie mitnehmen willst! Ich werde hier gleich verschwinden, mit oder ohne dich!"
Es dauerte nur Sekunden, dann hörte er, wie sich das Kleid der Ermittlerin raschelnd entfernte.
Schnell zog er die Knoten fest und stopfte Alec einen der gefundenen Stofffetzen zwischen die Kiefer. Zuletzt nahm er seinen Mantel von Boden auf, klopfte einige losen Fasern der Matten ab und zog ihn sich über. Mit einem Blick auf Ophelia, die ihre Bücher inzwischen offenbar unter Kontrolle gebracht hatte, zog er eine der Übungsfackeln aus dem Waffenschrank und schnupperte an ihr. Er kommentierte den penetranten Pechgeruch, der von den schwarzen Leinenwickeln ausging, mit einem zufriedenen Brummen. Dann entzündete er sie mit einem bereitliegenden Schwefelholz. Auf authentische Übungssituationen legte man hier scheinbar viel Wert. Die Fackel war offensichtlich echt, denn das getrocknete Pech ging schon nach wenigen Augenblicken mit gierigem Fauchen in eine rauchende Flamme über. Da er nicht wusste, wie lang der Tunnel sein würde und wann sie einen Ausgang finden mochten, zog er erst eine, dann noch zwei weitere Fackeln aus dem Regal und steckte sich diese in den Gürtel; sicher war sicher! Grinsend betrat er den dunklen Tunnel und betrachtete die grob gemauerten Wände. Wenn ihn nicht alles täuschte, führte Barriks Geheimgang in die "Unterstadt", einem Ort, von dem er zwar schon viel gehört, den er jedoch noch nicht besucht hatte.

Die Unterstadt


Neugierig doch gemessenen Schrittes folgte Ettark dem Verlauf des Ganges und schon nach kurzer Zeit verschwand das Tageslicht hinter einer engen Kurve. Überall waren vermauerte Türen und Fenster zu sehen. Früher schien das hier eine der unzähligen Gassen gewesen zu sein und wirklich, schon nach wenigen Schritten entdeckte er ein altes Straßenschild.
Von der 'Klopfdrehgasse' hatte er noch nie gehört, offensichtlich waren die Straßen seitdem umbenannt worden. Direkt vor ihm war die Hausnummer 13 B in die Wand graviert worden. Über dem vernagelten Schaufenster waren in rostbraunen Lettern die Namen 'Bürger & Unterdrücker' verewigt worden. Rein vom Aussehen her hätte Ettark auf einen Antiquitätenladen getippt. Und zwar einen der zwielichtigeren Sorte.
Wenn er doch nur mehr Zeit hätte. Wie gerne hätte er den Laden genauer untersucht!
Doch in diesem Moment erscholl ein lautes Klatschen.
Die Fackel zischte auf, als der Wächter sich erschrocken umdrehte und das Schwert flog wie von selbst in seine Hand.
"Ettark? Ich brauche Hilfe..."
Das klang allerdings nicht so, als wenn Gefahr im Vollzug wäre. Eher verzweifelt. Vermutlich war sie mit ihrem Kleidchen irgendwo hängengeblieben oder hatte sich einen Fingernagel eingerissen.
Genervt stieß er das Schwert wieder in dessen Scheide und stapfte grummelnd die Gasse zurück.
Ophelia stand betroffen im Gang, der Beutel lag vor ihr, das Jagdbuch aufgeschlagen wenige Meter von ihr entfernt.
"Was!?", schnarrte er.
"Bitte... könntest du die Bücher tragen?", bat sie zerknirscht.
Er warf ihr einen entgeisterten Blick zu und drückte ihr dann die brennende Fackel in die Hand. Dann wuchtete er die in das Handtuch gewickelten Bücher über seine Schulter. Kopfschüttelnd schlug er das Jagdbuch zu und klemmte es sich unter den rechten Arm, zog eine der Ersatzfackeln aus dem Gürtel und steckte diese an ihrer brennenden Fackel an. Knurrend drehte er sich um und ging weiter. Mit wehmütigem Blick passierte er den Antiquitätenladen und nahm sich vor, nach dem Einsatz hierher zurückzukommen.
Die Gasse schien nur für diesen Geheimgang freigegraben worden zu sein, denn alle abzweigenden Wege waren schon nach wenigen Metern durch Schutt oder gewachsene Erde blockiert.
Auch die Fassaden waren nur in einigen Fällen frei gegraben worden, doch dort, wo sie es waren, war mit äußerster Gründlichkeit vorgegangen worden.
So präzise arbeitete kein Mensch, der nur einen Fluchttunnel anlegen wollte. Ob das hier Teil der von Zwergen dominierten Unterstadt war? Wenn ja, würden sie sicher schon bald auf Vertreter dieser Spezies stoßen und auch ein Ausgang sollte dann nicht zu weit entfernt sein.
Kaum war ihm dieser Gedanke gekommen, öffnete sich die Gasse zu einem Platz, so groß, dass im Licht der Fackel keine der Wände zu entdecken war. Erstaunt blieb der Wächter stehen und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Doch außerhalb des Lichtkreises seiner Fackel war nur Dunkelheit. Wohin nun? Als er sich umblickte, war auch im Gang hinter ihm kein Licht zu erkennen.
Ophelia war mal wieder zurück geblieben.
Seufzend stellte er den schweren Sack auf den Boden und warf das Jagdbuch obenauf.
Bis die Ermittlerin ihn eingeholt hatte, konnte er die Höhle ja schon einmal erforschen und nach einem Ausgang suchen.
In diesem Moment hallte sein Name durch die Gasse an ihm vorbei und echote von allen Wänden der Höhle zurück.
Sie war offensichtlich noch größer als vermutet.
Wieder erklang Ophelias Stimme.
"Ettark!"
War sie etwa schon wieder gestürzt? Oder war ihre Fackel erloschen? Vermutlich irgendwie sowas.
Doch im Hinterkopf spukte auch die dritte Möglichkeit herum: Barriks Männer hatten sie eingeholt!
Knurrend nahm er die Fackel in die Linke, zog sein Schwert und begab sich im Laufschritt zurück in die Gasse.
Ophelia stand vor 'Bürger & Unterdrücker' und beugte sich über Etwas, das Ettark nicht erkennen konnte. An ihrem Kleidersaum hing ein weißer Sumpfdrache und winselte begeistert. Als sie seine langsamer werdenden Schritte hörte, drehte sie sich mit alarmiertem Gesichtsausdruck um.
"Kennst Du dich mit Schwarzpulver aus? Ich bin mir nicht sicher, wie aktuell das hier ist."
Den Drachen erwähnte sie mit keinem Wort.
Neugierig kam er näher und betrachtete ihren Fund.
Über dem staubigen Boden zog sich eine schwarze Schnur aus der Richtung, aus der er gerade gekommen war, entlang der Wand des Antiquitätenladens und verschwand unter dessen verzogener Holztür.
"Nimm das Vieh da weg!", zischte er mit Blick auf den Sumpfdrachen, der in dem Moment begonnen hatte, an der Schnur zu schnuppern. Ein explosives Wesen in der Nähe einer recht neu aussehenden Zündschnur, war seiner Meinung nach eine ausgesprochen schlechte Idee.
Ihr Blick flog vom Drachen zur Zündschnur und wieder zurück.
"Oh...", sagte sie und schluckte. "Natürlich!" Sie streckte die Hand mit der Fackel aus und die Flamme kam der Lunte gefährlich nahe, bevor sie ihren Fehler erkannte. Stattdessen hielt sie sie ihm entgegen. "Dann halte Du solange die hier."
Aufatmend nahm er ihr die Fackel aus der Hand.
"Glimma, komm her! Komm zu mir, mein Süßer... ja, brav!" Mit zwitschernden Geräuschen lockte sie den Drachen zu sich und nahm ihn auf.
Mit nun einer Fackel in jeder Hand versuchte Ettark, die Tür mit der Schulter aufzudrücken. Sie knarzte vernemhlich, rührte sich jedoch nicht vom Fleck. Knurrend ging er einige Schritte zurück, nahm Maß und trat mit dosierter Kraft gegen die Tür. Es krachte, doch die Tür gab nicht nach. Erst nach einem zweiten, deutlich stärkeren Tritt, sprang das Schloss aus dem Rahmen und die Tür schlug auf. Vorsichtig lauschte er, ob der Lärm bemerkt worden war, doch als Stille über ihnen zusammenschlug betrat er den Laden. Neugierig ließ er den Blick durch den staubigen Innenraum schweifen. Das flackernde Licht der beiden Fackeln erleuchtete die wenigen Möbel, die sich noch im Raum befanden. Doch erst, als der Wächter mit den Augen gezielt nach der Zündschnur suchte, entdeckte er die massiven Schemen im Hinteren Teil des Ladens. Er hielt die rechte Fackel höher, so dass deren Licht die Schatten vertieb und er erkennen konnte, was dort an der Wand aufgestapelt worden war.
Just in diesem Moment trat Ophelia mit dem Drachen auf dem Arm neben ihn.
"Ist es das, was ich vermute?", fragte Ophelia mit ängstlicher Stimme.
"Ich denke, das dürfte der Sprengstoff sein, von dem ich erzählt habe.", antwortete er zögernd.
"Ich dachte, der sollte erst in drei Tagen zum Einsatz kommen?"
"Miles ist immer gerne auf alles vorbereitet."
Ein Platschen lenkte Ettarks Aufmerksamkeit auf den weißen Drachen, der sich von Ophelias Arm gewunden hatte und sich nun mit tapsigen Schritten auf die Fässer zubewegte.
"Glimma!", rief Ophelia entsetzt.
"Bist du wahnsinnig?", brüllte Ettark sie an und in diesem Moment geschah die Katastrophe.
"Börp!"
Das von der orangenen Farbe entzündete Lauffeuer verschwand mit einem zischenden Geräusch zwischen den Fässern.
"Oh nein!"
"Scheiße! Scheiße-Scheiße-Scheiße! Renn!", rief Ettark, lies die linke Fackel fallen, griff nach Ophelias Arm und zerrte sie aus dem Laden.
Er rannte den Tunnel entlang, Ophelia weiterhin hinter sich her ziehend. Jeden Augenblick rechnete er mit der Explosion, doch als diese endlich erfolgte, wurde er trotzdem vollig überrascht. Im letzten Augenblick stieß er Ophelia in die sich vor ihnen öffnende Höhle, dann erfasste ihn die Druckwelle. Er wurde von den Beinen gerissen und mehrere Meter weit durch die Luft geschleudert, bevor er unsanft landete. Es dauerte einige Sekunden, bevor das laute Pfeifen aus seinen Ohren schwand und er seine Umgebung wieder wahrnahm.
Irgendwo hinter ihm brannte offensichtlich ein großes Feuer, doch der aufgewirbelte Staub verdeckte den Ursprung des flackernden, roten Lichtes, welches die Höhle nun erleuchtete.
Geistesabwesend drückte er den glimmenden Saum seines Mantels aus und versuchte, sich zu orientieren.
"Ettark?"
Ophelias besorgte Stimme wurde durch die verstaubte Luft gedämpft doch als er ihrem Klang folgte, konnte er schon nach wenigen Augenblicken den Umriss der Wächterin gegen das flackernde Licht erkennen. Das Fiepen in seinen Ohren wurde leiser, doch bevor es gänzlich erstorben war, ertönte ein anderes Geräusch. Wie die Flügel eines gewaltigen Vogels, ertönte ein sich langsam wiederholendes, schlagendes Geräusch. Immer schneller ertönte es und als es beinahe zu einem durchgängigen Surren verschmolzen war, schien der sie umgebende Rauch vor der Quelle des Lärms zu fliehen. Es begann mit einzelnen Rauchschwaden, die sich in Bewegung setzten, doch nach und nach folgten diesen immer mehr. Der aufkommende Wind erfasste nun auch seinen schweren Mantel und als der Rauch endgültig zerriss, wehte der Stoff wie eine Fahne hinter ihm her. Nun war auch Ophelia zu erkennen, die die Explosion offensichlich ohne jegliche Blessuren überstanden hatte. Sie kam erleichtert lächelnd auf ihn zu - bis ihr offensichtlich etwas auffiel.
"Die Bücher! Du hattest sie nicht dabei, als du zurückkamst. Wo hast du sie gelassen?"
Kommentarlos hob er den Bücherbeutel, der nur wenige Meter von ihr entfernt gestanden hatte, aus dem Schutt, klopfte den Staub aus dem Tuch und drehte sich um. In der Richtung, aus der der Wind kam, waren mehrere Lichter entzündet worden und so bewegte er sich dorthin.
Ophelia würde ihm schon folgen.
Sie schritten auf das Licht zu, bis sie schließlich die große Konstruktion erkennen konnten, die für den Wind verantwortlich war.
Ein großer Axialventilator, wie ihn die Zwerge für gewöhnlich in ihren Stollensystemen benutzten, um die Luftzirkulation zu gewährleisten. Zwei Vertreter des kleinen Volkes hielten ihn in Betrieb, indem sie unermüdlich in dem überdimensionalen Laufrad liefen. Ein dritter saß breitbeinig auf der Achse hinter den Flügeln und lenkte den Wind in die gewünschte Richtung. Als dieser die beiden Wächter bemerkte, nickte er ihnen zu, als wäre es völlig alltäglich, hier unten Menschen zu begegnen. Mehrere Öllampen beleuchteten die Umgebung des Ventilators und so konnten die beiden Wächter die Aufzugskabine erkennen, die an langen Stahlkabeln hinter der Maschine wenige Zentimeter über dem Boden hing.
Schweigend betraten Ophelia und Ettark den Holzkasten und der Bergiger schob mit der freien Hand die hüfthohe Gittertür zu. Im nächsten Augenblick bewegte sich der Aufzug schon nach oben und eine leise, monotone Melodie erklang, die jedoch schnell von einer tiefen Stimme unterbrochen wurde.
"Nur diese Woche bei Ibo: Kaufen sie einen Hammer und bekommen sie einen Sack Kohle UMSONST dazu!" Die Melodie wurde lauter, nur um wenige Sekunden später erneut unterbrochen zu werden. "Saitenflußer Rattenwürste leckerleckerleckerlecker! Nur Saitenflußer Rattenwürste mit dem Besten der Ratte!... Heute bei Theoretiker! 20 Prozent auf alles! Außer Rattengulasch."
Die beiden Menschen warfen sich skeptische Blicke zu, schwiegen jedoch beinahe peinlich berührt. Plöztlich räusperte sich die Stimme und die Blicke der Wächter fuhren zur Kabinendecke auf. Ettark sah, wie Ophelia zum Sprechen ansetzte, da unterbrach sie die Stimme schon.
"Klappe! Ich mach hier auch nur meinen Dschob!"
Der Mund der Ermittlerin klappte wieder zu.
Brummend murmelte die Stimme:
"Pilotprojekt zur Arbeitsvermittlung... Arschgeigen... ich bin Schauspieler, kein verdammter Tondämon! Noch zwei Tage Glod... nur noch zwei Tage!"
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten sie endlich die oberste Etage des Lifts und fanden sich in einem schummrig beleuchteten Raum wieder. Zwischen den Brettern einiger Fensterläden brachen einzelne Strahlen Sonnenlichts hindurch, in die staubige Luft.
Sie waren also wieder an der Oberfläche angelangt.
Bevor sie das Gitter beiseite schieben konnten, kam eine stark behaarte Hand aus einer Öffnung in der Decke und hielt den Wächtern einen Zettel entgegen.
"Das hier muss ich austeilen. Bitte tragen Sie ihre ehrliche Meinung über die Aufzugswerbung ein und bewerten Sie unsere Dienste!"
Ophelia nahm den Zettel entgegen und überflog ihn mit ungläubigem Blick. Doch bevor sie etwas sagen konnte, öffnete sich die Gittertür und zwei bis an die Zähne bewaffnete, also züchtig gekleidete Zwerge begrüßten sie mit mürrischer Miene.
"Edelsteine und Altmetall werden konfisziert und verlassen nicht unerlaubt unseren Bereich. Was ist da drin?"
Der Zwerg zeigte mit seiner Axt auf den Beutel in Ettarks Hand.
"Alte Bücher. Nichts, was für die Tiefener von Wert wäre.", antwortete Ettark im selben Tonfall.
Sofort verblasste das Interesse des Zwerges und mit einem letzten Blick auf Ophelias glizerndes Kleid trat er zur Seite.
"Das Unten ist nichts für Menschen. Verschwindet!", brummte er und öffnete eine Tür.
Helles Sonnenlicht schlug ihnen entgegen und im nächsten Moment fanden sie sich auf einer viel befahrenen Straße wieder.

Verantwortung


Das laute Krachen hatte Uileam a'Briuis aufgeweckt. Doch noch bevor er angekleidet war, stürmte auch schon, ohne anzuklopfen, Miles in seine Kammer.
"Es ist in die Luft geflogen!", brüllte dieser zornig.
Sein noch schläfriger Anführer blickte ihn nur fragend an. Er hatte die Nachtschicht übernommen und Van Barriks Haus beinahe zwölf Stunden am Stück im Auge behalten gehabt.
"Es?", brummte er und gähnte herzhaft.
"Das Anwesen! Der gesamte Mittelteil ist zerstört, die Seitenflügel brennen lichterloh!"
Mit einem Mal war Uileam wach.
"Barriks Anwesen? Das sollte doch erst in zwei Tagen... Irgendwelche Anzeichen von dem Bergiger?"
Sein Stellvertreter schüttelte nur den Kopf.
Schnell zog sich Uileam das Hemd über und verließ die Kammer, Miles auf den Fersen.
"Ich verstehe das nicht! Ich habe die Lagerung der Fässer persönlich überwacht! Die Zündschnur war im Sand verborgen, die Tür verschlossen. Das durfte nicht passieren!", murmelte Miles voller Selbstvorwürfe.
Den Sprengstoff jetzt schon unter dem Anwesen zu verbergen war seine Idee gewesen. So hatten sie genügend Zeit gehabt, die Fässer unbemerkt an Ort und Stelle zu bringen und konnten den regelmäßig auftauchenden Spießgesellen Barriks ausweichen.
Als die beiden Llamedoner am Ort des Geschehens ankamen, wurde das Ausmaß der Zerstörung deutlich.
Eine Handvoll Wächter hatte das Gelände notdürftig abgesperrt und versuchte nun, die Neugierigen davon abzuhalten, den Tatort zu betreten. Wie Miles schon angedeutet hatte, war der Hauptbau vollkommen zerstört, nur hier und dort standen noch einige Säulen verloren in der Gegend herum. Der linke Seitenflügel war inzwischen offensichtlich von der herbeigeeilten Unfreiwilligen Feuerwehr und einigen Anwohnern gelöscht worden, doch der rechte stand noch in Flammen. Inzwischen versuchte man scheinbar nur noch, ein Übergreifen der Flammen auf andere Gebäude zu verhindern.
Uileam fluchte.
Wenn der Bergiger sich wirklich als angeblicher Jäger in HIRN hatte einschleusen können, dann war er sicherlich im Haupttrakt untergebracht worden und dann standen seine Überlebenschancen minimal.
Wütend stapfte er von der Menge fort und bog um eine Ecke in eine schmale Gasse. Sobald er sich unbemerkt fühlte, fuhr er zu Miles herum.
"Wie konnte das passieren? Du hattest die Verantwortung über den Sprengstoff und hast mir versichert, dass es ausgeschlossen wäre, dass die Ladung frühzeitig gezündet wird!"
Sein Stellvertreter, Perfektionist und immer auf Disziplin bedacht, straffte sich zur Habachtstellung, wie er es einst beim Militär gelernt hatte.
"Ich..." Er räusperte sich. "Ich weiß es nicht! Zwar habe ich die Zündschnur schon ausbringen lassen aber direkt hinter dem Türsturz hatte ich sie unterbrochen! Die Fässer müssen innerhalb des Ladens gezündet worden sein! Nur ein Wahnsinniger würde das tun!"
Wütend starrte der Anführer der Söhne des Regens den größeren Mann an, fuhr dann jedoch wieder herum. Er wusste, dass Miles keinen Fehler gemacht hatte. Und wenn er einen gemacht gehabt hätte, dann hätte er die Schuld sofort zugegeben.
Was war passiert?
Er ging wieder um die Ecke und beobachtete die Arbeit der Wächter aus der Ferne.
Zum Glück war keinem seiner Leute etwas passiert. Doch dieser Ettark hatte sich auf ihn verlassen!
Plötzlich schrie einer der Wächter und schnell rannten andere seiner Kollegen dort hin, wo dieser scheinbar etwas im Schutt entdeckt hatte.
War ein Überlebender gefunden worden?
Vorsichtig trugen die Wächter, unterstützt von missmutig blickenden Feuerwehrmännern, den Schutt zur Seite. Und wirklich, schon nach wenigen Augenblicken zogen sie einen Mann aus den Trümmern.
Die eh' schon getrübte Stimmung Uileams sank auf den Tiefpunkt.
Zwischen den Armen der Wächter hing ausgerechnet die Person, der der gesamte Anschlag gegolten hätte: Van Barrik!

Scheideweg


Seit der überstürzten Flucht aus Van Barriks Haus waren zwei Wochen vergangen, als Ettark Bergig, SEALS-Wächter aus Überzeugung, vor der abgegriffen aussehenden Tür des Büros mit der Nummer 210 stand.
Wie, um sich noch einmal zu versichern, dass er hier richtig war, las er die bronzenen Buchstaben an der Tür.
"Abteilungsleitung Raub und Mord, Romulus von Grauhaar."
Zögernd hob er die Faust, um zu klopfen.

Nachdem er und Ophelia zur Wache gelangt und die zuständigen Abteilungen informiert worden waren, war er ohne großen Aufenthalt zum Hafen geeilt, nur um zu erfahren, dass der Kutter der Unermüdlich keine Stunde zuvor in See gestochen war.
So blieb dem Wächter nichts Anderes übrig, als den Ort aufzusuchen, der ihm, zumindest innerhalb des Wachhauses, am meisten zuwider war. Beinahe einen ganzen Tag verbrachte er im Archiv und durchforstete die staubigen Akten nach Hinweisen über Sironbloer, die Unermüdlich und KeKil Schott Waldiger, jenem Mann, nach dem er seit nunmehr über einem Jahr suchte. Und dessen Namen ausgerechnet Ophelia herausgefunden hatte! Doch die Arbeit lohnte sich. Er entdeckte verschiedene Manschaftlisten, duzende Anzeigen von Seiten der Schmuggler-, der Seefahrer- und der Diebesgilde und selbst die Hehlergilde hatte eine Beschwerde bei der Wache eingereicht. Er fand Lebensläufe, Frachtbriefe und schlussendlich sogar einen Kaperbrief aus dem Krieg gegen Klatsch. Doch was sollte er mit den ganzen Informationen machen? So wie es aussah, suchten zumindest die Schmuggler- und Seefahrergilde selber schon seit mehreren Jahren nach den Köpfen der Piratenbande, die sich ihren Häschern geschickt entzogen. Allein auf Waldiger war ein schwindelerregend hohes Kopfgeld ausgesetzt. Trotzdem traute er sich noch in die Stadt und nahm an Veranstaltungen wie der Van Barriks Teil! Also tat Ettark das, was er immer tat, wenn er nicht weiter kam; er ging im Hafen auf Streife und verfütterte sämtliche Informationen an sein Netzwerk.
Dann begann das Warten.
Der Informantenkontakter erledigte sämtlichen, sonst verhassten Papierkram, der während seines Einsatzes liegen geblieben war. Er half bei der Jagd nach den letzten Unterstützern der HIRN und legte bei seinen Streifen Strecken zurück, die selbst für ihn einen Rekord darstellten. Die wenige freie Zeit, die er sich gönnte, gehörte Lena. Doch selbst während dieser, ließ ihn der Fall nicht gänzlich zur Ruhe kommen.
Endlich, nach beinahe einer Woche, begannen die losen Fäden seines Netzes zu zappeln und schon bald sammelte sich ein riesen Berg von kleinen, farbigen Zettelchen auf dem Schreibtisch des Wächters. Das Meiste davon waren, wie immer, nur unwichtige Informationsfetzen oder Dinge, die er schon wusste. Doch das wenige Neue zeichnete ein Bild, welches Ettark wenig Hoffnung machte.
So wie es aussah, hatte Waldiger noch vor seiner Abfahrt erfahren, dass das Anwesen Barriks gesprengt und die Überreste von der Wache gesichert worden waren. Ob nun in weiser Voraussicht oder aus Paranoia heraus, er hatte offensichtlich geschlussfolgert, dass man nun verschärft auch hinter ihm her wäre, denn als der Kutter der Unermüdlich eines Abends, wie immer unangekündigt, am Pier der Perlendocks festmachte, um die Beute des letzten Überfalls loszuschlagen und all Jenes zu besorgen, was der Zeugwart bei seinem eiligen Aufbruch mitzunehmen vergessen hatte, war dieser nicht mit an Bord.
Voller Wut aktivierte Ettark Informanten, welchen er sonst nur im größten Notfall traute und versuchte so, eine möglichst lückenlose Überwachung des Hafens zu erreichen. Doch da er weder Wächter anforderte, noch selber 24 Stunden lang wach bleiben konnte, verpasste er auch das zweite Andocken des Kutters, zwei weitere Wochen später.
Allerdings begann er bereits vorher daran zu zweifeln, dass er Miriels Mörder mit seinen üblichen Methoden dingfest machen können würde. Er musste zuerst das Vertrauen der Seeräuber erlangen.
Dass Ophelia scheinbar mühelos in eine Organisation hatte schlüpfen können, an der er sich selber wochenlang die Zähne ausgebissen hatte, spukte dabei unentwegt in seinem Hinterkopf herum.

So kam es, dass er nun vor diesem Büro stand, mit dem Vorsatz, die heißgeliebten Streifen aufzugeben und in eine Abteilung zu wechseln, von deren Kompetenz er noch immer nicht völlig überzeugt war.
Einen Werwolf als Abteilungsleiter?
Seine Hand sank langsam, doch dann biss er die Zähne zusammen und ließ die Knöchel drei Mal gegen das massive Holz der Tür krachen.

Prolog

oder

Die Geburt einer Legende


Margett saß auf einer Holzkiste am Lagerfeuer, um sie herum hockten die jüngeren Straßenkinder und hingen mit großen Augen an ihren Lippen.
"...und der Rächer blickte mich an und sagte mit tiefer Stimme: 'Verschwinde von hier, nur Unrechtes soll heute vergehen!' und in diesem Moment donnerte und blitzte es, als würden die Götter seinen Worte Kraft geben wollen."
Die Kinder keuchten auf, wie jedes Mal an dieser Stelle.
"Und was ist dann passiert Gritte?", fragte ein kleines Mädchen, welches sich ihren dreckigen Schmusehasen fest an die Brust gedrückt hatte.
"Natürlich rannte ich! Ich rannte ohne mich umzublicken aber noch bevor ich noch das Hafenbecken erreicht hatte, erschütterte eine gewaltige Explosion die ganze Stadt, welche selbst den Donner übertönte. Der Rächer hatte seine Arbeit getan und Joram vor seinen Schöpfer geschickt. Niemand entkommt dem Schattenmann, wenn er sich einmal auf deine Spur gesetzt hat!"
"Alles Ammenmärchen!", rief da ein älterer Junge von der anderen Seite der verfallenen Lagerhalle, die den Straßenkindern bei schlechtem Wetter Unterschlupf bot. "Das hast du dir doch alles nur ausgedacht, es gibt keinen 'Rächer'!"
"Oh doch, den gibt es.", kam da eine Stimme aus dem Schatten des offenen Eingangs und die Kinder schrien vor Schreck auf, als das Gesicht des Sprechers im Lichtkreis sichtbar wurde. Es glich einer Kraterlandschaft, dunkle Brandnarben überzogen das gesamte Gesicht, aus welchem die blinden, weißen Augen wie Porzelanscherben hervorragten. "Ich habe den Rächer gesehen! Er war das Letzte, was diese Augen erblickt haben!"
[1] Ein Fachbegriff, von dem Ettark sich beinahe sicher war, dass er erfunden war.

[2] Was, laut Experten, bei Armbrustbolzen aufgrund deren geringer Größe schon als außergewöhnlich gelten durfte und ihm bisher noch nicht unter die Augen gekommen war.

[3] Ein bitterer Geschmack legte sich bei diesem Wort auf seine Zunge, doch er fand keine andere Bezeichnung dafür.

[4]  Weiter geht es in: http://www.stadtwache.net/phps/zeigemission.php?art=S&nummer=1446 , Szene 35

[5]  Weiter geht es in: http://www.stadtwache.net/phps/zeigemission.php?art=S&nummer=1450

[6] der damals natürlich auch noch Ettark geheißen hatte

[7]  Und weil die schlammigen Wege des Friedhofs den Karren schon nach wenigen Metern aufgehalten hätten.

[7a] beziehungsweise Nachtwerk

[9] Er vermutete, dass es sich dabei um irgendwelche Schreckensgeschichten, vermutlich für Kinder handelte.

[10] Und dieser war immerhin ein indirektes Andenken an Rogi Feinstich!

[11] Bei der es sich um den Baron gehandelt haben musste, dessen war er sicher.

[12] Dem Autor des ersten Anatomie-Buches über Vampire. Ob es ihm nur um die Wissenschaft oder wirklich, wie von vielen heutigen Jägern behauptet, um das Aufzeigen der Schwachstellen der unsterblichen Blutsauger ging, ist nicht bekannt.

Zählt als Patch-Mission für den Informantenkontakter-Patch.



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Feedback:

Von Ophelia Ziegenberger

17.3.2013

Allerherzlichsten Glückwunsch! :-) Du hast eine richtig gute Single geschrieben! Ich habe sie ja bei weitem nicht nur einmal gelesen und bleibe dennoch bei diesem Urteil. ;-) Der Plot ist schlüssig, der Schreibstil flüssig, die Charaktere sind mit Herzblut dabei. Selbst die Nebencharaktere wie Lena, Hasko, das Mädchen bei den Perlendocks oder die 'Söhne des Regens' sind so lebhaft geschildert, dass sie das kleine Wacheuniversum bereichern und es mir immerzu in den Fingern jucken wird, sie in meinen künftigen Geschichten wieder auftauchen zu lassen. Du hast die beneidenswerte Gabe, dich kürzer fassen zu können und trotzdem volle Kanne Action ablaufen zu lassen UND obendrein die Gefühle deiner Figur knapp und zackig rüberzubringen, ohne den geringsten Zweifel an diesen zu lassen. Ettark hat sich mir nach dieser gemeinsamen Schreiberfahrung unauslöschlich ins Hirn gebrannt! ^^ Besonders schön finde ich an dieser Single den Umstand, dass Ophelia und Ettark in dieser direkten Konfrontation deutlichen Einblick in die Geheimnisse und Empfindungen des jeweils anderen genommen haben - ohne sich dadurch jedoch wirklich näher gekommen zu sein. Ihre Unterschiede haben sich in der Nähe des Anderen nur noch deutlich herausgearbeitet und selbst verlässliches Vertrauen in den Kollegen kann ich keinem von beiden im Anschluss attestieren. Es ist so enorm viel Reibefläche verblieben oder sogar hinzugekommen, dass uns nichts anderes übrig bleiben wird, als sie wieder aufeinander loszulassen. ^^

Von Sebulon, Sohn des Samax

09.3.2013

Hätte ich nur die erste Hälfte der Geschichte gelesen, wäre meine Bewertung niedriger ausgefallen. Sie hat stilistisch aus meiner Sicht in der Mitte (nach dem Abbrennen des ersten Hauses) viel Schwung gewonnen, war vorher von eigenartigen Brüchen im Erzählfluss (besonders die Fußnoten 4 und 5 trafen mich als eine kohärente Geschichte erwartender Leser unvermittelt) und von sicherlich so gewollten Wortwiederholungsclustern dominiert (damit meine ich so etwas wie 5x 'zu' in 3 aufeinanderfolgenden Sätzen ... falls es dich interessiert: ausführlicher per mail).

Insgesamt fand ich's gut, dass du Ettark in den Kämpfen erzählerisch Nachteile zugestanden und außerhalb einen durchweg von seinen Gedanken dominierten Erzählduktus hast. Dadurch wirkte die Geschichte authentisch.
Gewundert hat mich, wenn Ettark im Extremfall von beinahe-nobelem Redestil zu nuschelndem Gossensprech übergegangen ist, sobald er das Gegenüber gewechselt hat. Das zeugt von deutlich mehr sprachlichem Anpassungsgeschick, als ich es dem Kontakter zugetraut hätte.

Soweit mein begründetes Feedback. Geschmacklich ein Nachtrag: Es mag zu Ettark passen, dass er gelegentlich Sätze wie "Soll ich dir gleich noch den Arsch abwischen, du Flachwichser?" denkt oder sagt - beim Genießen einer Geschichte stören mich Ansammlungen von Kraftausdrücken jedoch.

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