Opfer

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von Chief-Korporal Ophelia Ziegenberger (RUM)
Online seit 31. 10. 2010
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 Außerdem kommen vor: Septimus EbelAraghast BreguyarFrän FrommRomulus von GrauhaarLilli BaumRogi FeinstichBreda KrulockRea DubiataLaiza HarmonieMina von Nachtschatten

Die Aufzeichnungen zu den damaligen Ereignissen lassen an einem Punkt besonders aufmerken. Sowohl die direkten Vorgesetzten, als auch der Chief-Korporal selbst gaben gewisse Bedenken zu Protokoll. Keiner von ihnen konnte wissen, was bevorstehen würde. Dennoch! Die Nervosität war bei jedem spürbar, der von der Anderkaffer-Aktion wusste. Kein Wächter zuvor hatte sich verdeckt ermittelnd inmitten eines Vampir-Clans gewagt und das größte Risiko schien makabererweise genau darin zu bestehen, Erfolg zu haben und den Mörder ausfindig zu machen. Denn sollte es sich bei diesem um ein Mitglied des Clans und somit um einen Vampir handeln, dann würde er aller Voraussicht nach von ihrem Verdacht wissen.

Dafür vergebene Note: 15

~~~ Der nächtliche Besucher ~~~


Romulus von Grauhaar schlug mit der geballten Faust auf seinen Schreibtisch. Das Stück Papier, was ihm Anlass zu dieser heftigen Reaktion gegeben hatte, hüpfte auf der Platte, bevor es wieder zur Ruhe kam.
Es waren nur noch zwei andere Personen anwesend und beide schwiegen wie er selbst, so dass man hätte meinen können, auch dieser Raum läge verlassen wie die übrigen oberen Büros im nächtlichen Wachhaus.
Ophelia Ziegenberger konnte ihren Blick kaum von dem matt schwarzen Siegel lösen, dessen charakteristische Prägung von der höchsten Autorität in dieser Stadt kündete.
Der Abteilungsleiter sprang von innerer Unruhe getrieben auf und begann das Zimmer mit weiten Schritten abzumessen. Die angespannten Schultern und das Zucken in seinen Muskeln sprachen Bände.
Der Besucher hingegen machte sich nicht einmal die Mühe, ihm mit Blicken zu folgen. Er räusperte sich lediglich dezent, unangenehm davon berührt, sein Anliegen dieserart unterstreichen zu müssen. "Ich hätte es lieber vermieden, seine Lordschaft ins Spiel zu bringen. Aber..." Er hob in einer entschuldigenden Geste die mit Juwelen geschmückte Hand. "Du lässt mir keine Wahl."
Der Abteilungsleiter von R.U.M. schnaufte abfällig und gab bei seiner Kehrtwendung am Schreibtisch dem Schreiben einen zornigen Schubs. Das Papier schlidderte zur Kante, an der Ophelia es auffing. Sie überflog noch einmal die wenigen Zeilen:


"Lieber Parsival,


die besorgniserregenden Ereignisse in deinem Hause müssen sehr belastend sein. Es ist mir ein Bedürfnis, Dir die rückhaltlose Unterstützung der Stadtwache zuzusichern, welche Dir gerne in jedweder Weise behilflich sein wird. Wende Dich vertrauensvoll an sie und lege den braven Wächtern dazu gerne mein Schreiben vor.
Ich gehe davon aus, dass die tragischen Vorkommnisse schnell geklärt werden können.
Es wäre nämlich außerordentlich bedauerlich, wenn all dies zu unnötigen, da vermeidbaren, Missverständnissen führen und Unruhen schüren würde.

Havelock Vetinari"



Der bleiche Besucher legte die Hände auf seinen überschlagenen Beinen aufeinander. "Wie Du dir sicherlich denken kannst, Herr, lässt er damit auch mir keine Wahl. Und ich versichere Dir, dass ich mir Angenehmeres vorstellen kann, als mich mit einer derart persönlichen Angelegenheit ausgerechnet an die Wache zu wenden, die - und damit möchte ich niemandem zu nahe treten - nicht unbedingt für ihre Diskretion bekannt ist."
Parsival Ascher[1] seufzte leise, ein Laut, der in seinem Fall auf bewusste Entscheidung zurückzuführen sein musste, wie Ophelia sich klar machte - immerhin hatten Vampire es nicht nötig, zu atmen. Spielte er eine einstudierte Rolle oder war dies ein Beispiel für all die vielen Angewohnheiten, die sich einem ein Leben lang in die Persönlichkeit eingruben, um dann nicht mehr abgeschüttelt werden zu können? Sie runzelte die Stirn und legte den Brief zurück auf den Schreibtisch. Es war schon schlimm genug, dass ihnen ein Fall aufgezwungen werden sollte! Dann würde er große Gefahr für mindestens einen Kollegen mit sich bringen. Und dazu nun auch noch ein Interesse des Patriziers an der Klärung der Morde... es schien kaum schlimmer kommen zu können. Bis auf diese kleine, uralte Sache zwischen Vampiren und Werwölfen!
Sie erhob sich entschieden und ging mit schnellen Schritten an dem angespannten Kollegen vorbei. "Es tut mir leid aber ich benötige etwas frische Luft. Ich hoffe, das macht den Herren nichts aus?"
Romulus schloss für einen Moment die Augen und schüttelte dann ruckartig den Kopf. Als Ophelia sich wieder gesetzt hatte, stürzte er regelrecht zu der rechteckigen Öffnung mit dem kühl hereinströmenden Nachthauch. Der Vampir dagegen hatte sie erst mit einem undeutbaren Blick bedacht, bevor er verneinte.
Der Vorgesetzte atmete tief durch und stemmte eine Hand in die Hüfte, während er sich mit der anderen am niedrigen Fensterbrett abstützte, wie um dem Draußen näher zu sein. Seine Stimme klang kratzig und rau, als er den Besucher provokant fragte: "Warum kümmern sich die Assassinen nicht darum? Deine Familie ist alt und verfügt über ausreichend finanzielle Mittel, wie es scheint." Bei diesen Worten löste er kurz die Hand von der Hüfte, um mit einer senkrecht ausgeführten Geste das gesamte Erscheinungsbild des Vampirs einzuschließen: den dunklen, maßgeschneiderten Anzug ebenso, wie den hohen Stehkragen einer der exklusivsten Schneidereien der Stadt, den langen schwarzen Seidenumhang, der mit einer schweren Silberspange zusammengehalten wurde und die in feinen Handschuhen verborgenen Hände, deren schlanke Finger mit funkelnden Ringen geschmückt waren. "Da sollte man doch annehmen, dass es ganz im Interesse der Gilde wäre, Dir beizustehen. Wenn nicht schon allein aus dem Grunde, dass in deinem Clan ein Unlizenzierter zu wildern scheint."
Der Untote ließ sich nicht anmerken, was die Worte gefühlsmäßig in ihm bewirken mochten. Seine Antwort kam ruhig und gelassen: "Ja, mein Clan ist alt. Und wir sind in der Tat nicht auf Almosen angewiesen. Er ist alt genug, dass es ihn schon zur Gründung der Gilden durch den neuen Patrizier gegeben hat." Ascher saß reglos wie eine steinerne Figur auf dem Stuhl, dennoch verströmte er dabei eine Autorität, die es von selbst verbot, ihn zu unterbrechen. "Wir waren damals der Ansicht, dass Einmischungen der Gilde in interne Angelegenheiten nicht in unserem Interesse sein könnten."
Von Grauhaar richtete sich vom Fenster auf: "Und was bedeutet das? Was hat das mit unserem aktuellen Problem zu tun?"
"Es bedeutet, werter Feldwebel, dass die Gilde aufgrund eines sehr alten Vertrages aus ihren Anfangszeiten rechtlich daran gehindert ist, Aufträge von oder gegen einen unserer Clanangehörigen anzunehmen. Nicht, dass von unserer Seite aus jemals der Bedarf danach bestanden hätte." Er warf ihnen beiden einen amüsierten Blick zu. "Wir sind sehr friedliebend, musst Du wissen." Das angedeutete Lächeln blieb an den Fangzähnen hängen.
Wieder war es an dem Werwolf, laut vernehmlich zu schnaufen. "Na gut. Das erklärt natürlich, warum es denen egal ist, was mit deinem Clan passiert. Dürfte ihnen ganz schön sauer aufstoßen, das mit der verbotenen Einmischung." Romulus rieb sich frustriert mit beiden Händen über das Gesicht, so dass die frischen Bartstoppeln knisterten. "Das gefällt mir nicht, das gefällt mir alles nicht!"
Der nächtliche Besucher hatte sich schon am frühen Nachmittag ankündigen lassen und um ein gemeinsames Gespräch mit der Abteilungsleitung ersucht. Doch inzwischen war diejenige Stunde der Nacht angebrochen, in der jeden menschlichen Durchschnittsbürger unwiderstehliche Müdigkeit und rege Träume übermannten und dem hochrangigen Wächter gingen allmählich die Argumente aus, um sich gegen den Auftrag des Besuchers zur Wehr zu setzen. Er blickte beinahe verzweifelt zu seiner Stellvertreterin hinüber. Ophelia erwiderte seinen Blick mit einer Gelassenheit, die er ihr nicht abnahm. Sie hatte bisher wenig dazu gesagt. Aber da hatte sich das Gespräch auch noch um eher allgemeine Informationen zu den Vorkommnissen gedreht, um Vermutungen und Befürchtungen. Und nicht um diese konkrete Forderung. Vor allem aber noch nicht um ihre eigene Person.
"Was meinst Du dazu, Chief-Korporal?"
Die schlanke Frau betrachtete nachdenklich ihre ebenfalls auf dem Schoß liegenden Hände, wodurch sie, zusammen mit ihrer Korsett bedingt sehr aufrechten Haltung, wie das blasse Gegenbild des Vampirs neben ihr wirkte. Sie überlegte sich ihre Wortwahl sehr genau aber das war etwas, woran der Wächter sich in den letzten Monaten ihrer Zusammenarbeit gewöhnt hatte.
"Es ist zweifellos ungewöhnlich, einen bestimmten Wächter für eine bereits ausgewählte Tätigkeit heranziehen zu wollen. Erst recht, wenn zuvor keinerlei Kontakt mit dem betroffenen Haushalt bestand. Ich weiß nicht, wie hierzu die Vorschriften aussehen mögen. Jedoch..." Ihr Augenmerk richtete sich auf das vormals gesiegelte Schreiben. "In diesem Fall hat es wohl seine Richtigkeit und sollte ernsthaft durchdacht werden." Sie vermied es, den Besucher anzusehen.
Romulus ließ sich schwer in den Stuhl hinter dem Schreibtisch fallen. Sein Tonfall war nicht unfreundlich, als er sie unterbrach.
"Das meine ich nicht. Lass den ganzen offiziellen Quatsch weg. Was hältst Du persönlich davon? Könntest Du damit leben oder..." Er verzog die Mine, als ihm sein Wortspiel mit wenigen Sekunden Verzögerung bewusst wurde. Und nicht nur er wartete interessiert auf die Erwiderung.
Die Verdeckte Ermittlerin seufzte zurückhaltend. Sie antwortete leise: "Es dürfte in der Tat unmöglich sein, von außen an die benötigten Informationen zu gelangen. Und ich sehe keine andere, als die vorgeschlagene Möglichkeit, überhaupt zu Untersuchungen in den Clan zu gelangen. Ohne Zustimmung des Clanoberhauptes kann dies nicht gelingen - nicht bei Vampiren." Ihre Augen suchten Kontakt mit eben jenem Clanoberhaupt, zuckten aber noch in derselben Sekunde wieder fort. "Wobei ich ein gewisses Unbehagen eingestehen muss, Sör."
Der neuerliche Knall der flachen Hand auf der Tischplatte ließ sie zusammenzucken. "Und das ist genau der Punkt! Das meine ich!" Romulus wandte sich direkt Parsival Ascher zu, beugte sich ihm trotz seines instinktiven Widerwillens noch etwas entgegen. "Nichts für ungut, Herr, aber Du bist nun einmal ein Vampir. Und die anderen in deinem Hause ebenfalls. Ich kann da keinen meiner Männer über Tage oder Wochen reinschicken und dann so tun, als wenn alles in feinster Ordnung sei! Das würde mir schon bei den Schwarzbandlern schwer fallen aber deine Familie hat ja nicht einmal dem Blut abgeschworen!"
Der Besucher zeigte das erste Mal, seitdem er das Büro betreten hatte, deutliche Emotionen. Sein Gesicht spiegelte gerechte Empörung wider und die wohl modulierte Stimme bekam einen unterschwelligen Ton beigemischt, der wie das Zischen einer Schlange klang. "Du tust so, als wenn jeder Vampir, der nicht dieser sabbernden Sekte debiler Kakaotrinker angehört, unzivilisiert und ungehobelt wäre! Als wenn wir jede Nacht über unsere Nachbarn herfallen und gewohnheitsmäßig morden würden!" So schnell der Ausbruch kam, so schnell hatte der Vampir sich wieder im Griff. Das mutwillige Funkeln in den dunklen Augen ließ nach und er räusperte sich. "Du machst es Dir zu leicht, wenn Du einfach nur deinen Vorurteilen folgst."
Romulus winkte mit beiden Händen beschwichtigend ab. "Ho! Ganz ruhig. Das ist nicht das, was ich gesagt habe. Ich habe nur versucht, meine begründete Besorgnis um meine Kollegin zum Ausdruck zu bringen."
Einen Moment maßen sich die beiden Männer mit Blicken, bevor der Besucher andeutungsweise den Kopf neigte. "Und das ist auch verständlich. Genau deswegen habe ich nicht nur meine Bitte vorgebracht, sondern auch gleich Lösungsansätze zur Sicherheitsfrage beigesteuert! Um guten Willen zu demonstrieren und die Sache nicht unnötig zu verkomplizieren. Nur für den Fall, dass das in den letzten Minuten in Vergessenheit geraten sein sollte: Es geht hier immerhin um meine Kinder, die ermordet worden sind! Ich will das klären! Ob mit oder ohne Hilfe der Wache!"
Dem Abteilungsleiter lag deutlich sichtbar eine passende Erwiderung auf der Zunge, doch der Brief des Patriziers zwischen ihnen gemahnte ihn zur Zurückhaltung.
Seine zierliche Vertreterin unterbrach das unsichtbare Tauziehen, indem sie sich an Ascher wandte.
"Und diese Kräutermischung hält tatsächlich, was sie verspricht?"
"Ja", antwortete dieser ohne zu zögern. "Sie durchsetzt das menschliche Blut und bewirkt, dass dessen Geruch sich ändert. Da dieser Geruch einen sehr speziellen Sinn anspricht nehmen ihn zwar nur Vampire wahr aber solange die Wirkung anhält, wird jeder Angehörige meiner Spezies die unmittelbare Nähe der behandelten Person meiden."
Romulus konnte und wollte seine Skepsis nicht verheimlichen. "Wenn das Zeug so gut wirkt, warum nimmt es dann nicht jeder? Wäre bestimmt der Renner in der Stadt, was sage ich, bis hin nach Überwald!"
Der elegante Mann vor ihm nickte. "Das wäre es gewiss. Wenn es denn nicht so kostspielig und schwer herzustellen wäre. Und wenn es keine unangenehmen Nebenwirkungen hätte."
"Nebenwirkungen?" Die Frage erklang synchron.
"Abgesehen davon, dass der betreffende Mensch eben... stinkt, ist er gleichzeitig auch etwas eingeschränkter in seiner Wahrnehmung."
Romulus' Augenbrauen waren so dicht auf seiner Stirn zusammengerückt, dass sie kaum mehr voneinander zu unterscheiden waren.
"Was genau haben wir darunter zu verstehen?"
Parsival Ascher antwortete mit unbewegtem Gesicht und gleichmütigem Tonfall: "Diese Kräutermischung wird nur in einem einzigen Dorf in Überwald hergestellt. Und selbst dort wird das Rezept vermutlich bald verloren gehen. Was damit zusammenhängen dürfte, dass Menschen, die sich einer... Gefahr nicht bewusst sind, den Sinn von Schutzmaßnahmen aus den Augen verlieren. Zum einen verursachen die Kräuter eine gewisse, vorübergehende Einschränkung des Seh- und Hörvermögens. Aber was viel mehr ins Gewicht fällt ist, dass die Person eine gewisse Euphorie an den Tag legt, eine sorglose Grundhaltung, die ich zwar nicht als unangenehm einschätzen würde, die jedoch - so liegt es wohl in der Natur der Sache - eher vermieden werden möchte, zumal wenn es um genau diesen einen, speziellen Anwendungsbereich geht."
Er studierte die beiden ihm zugewandten Gesichter, bis der dienstältere Wächter sagte: "Das klingt nach einer bewusstseinsverändernden Droge. Ich soll meine Ermittlerin unter Drogen setzen und dann in den Einsatz schicken? Das ist nicht dein Ernst, Herr, oder?"
Parsival Ascher deutete eine abwägende Handbewegung an. "Es sei denn, Dir fiele eine bessere Alternative ein."
Romulus legte, wie um sich an die dringend benötigte Selbstbeherrschung zu gemahnen, beide Handflächen aneinander und deren Fingerspitzen an seine Lippen. "Ich fasse das mal zusammen. Nur um sicherzugehen, dass ich nichts Wichtiges vergessen habe, ja?"
Ascher nickte mit stoischer Gelassenheit.
"Du hast ein Problem damit, dass irgendwer Angehörige deines Clans endgültig tötet. Dieser Irgendwer muss irgendeine Art von Zugang zum Haus haben, ist vielleicht sogar in den eigenen Reihen zu finden aber Du kommst nicht dahinter, wer es sein könnte. Die Assassinen denken nicht im Traum daran, sich für einen geschäftlichen Schwarzen Peter auch nur einen Fingerbreit zu rühren, während der Patrizier gleichzeitig ungemütlich wird. Nun kommst Du zu uns und erwartest ernsthaft, dass die Wache Dir einen Wächter unter Drogen mitgibt, wo Du nicht einmal für seine Gesundheit garantieren kannst?"
Der Vampir klang deutlich verstimmt, als er diese vereinfachte Darstellung der Gegebenheiten zurechtrücken wollte. "Es ist ja nun keinesfalls ungewöhnlich, sich um Beistand willen als Hinterbliebener eines Mordes an die Wache zu wenden!"
Der Werwolf unterbrach ihn mit aufdeutendem Zeigefinger, als würde er sich im Unterricht melden. "Oh, ich vergaß tatsächlich etwas Wichtiges! Du hast ja nicht nur um irgendeinen Wächter gebeten. Du kommst ja mit sehr konkreten Vorstellungen zu uns, was das angeht." Die Falten um seinen Mund verhärteten sich. "Warum unseren Chief-Korporal? Warum nicht eine unserer Vampirinnen? Wären diese nicht viel besser geeignet, sich in solch einem Heim umzuschauen?"
Der Besucher warf in einer unwilligen, ruckartigen Bewegung seinen Kopf nach hinten, als müsse er den Kiefer entspannen. Er schloss die Augen und atmete tief durch, wobei sein langes welliges Haar mit den ergrauten Strähnen seidig über den Hohen Kragen fiel. Als er die Augen öffnete, schien er wieder in sich zu ruhen. "Es gäbe keinerlei offiziellen Grund als Vorwand dafür, einen fremden Vampir in meinen Hausstand aufzunehmen. Bei einer menschlichen Frau dagegen sieht das ganz anders aus. Erst recht bei Fräulein Ziegenberger." Er sah sie nun direkt an. "Es ist nicht unüblich, dass ich besondere Gäste über längeren Zeitraum bei mir aufnehme. Du würdest Dich gewiss gut mit ihnen verstehen."
Ophelia konnte den Blick nicht abwenden, als sie fragte: "Was ist an diesen Gästen so Besonderes? Und warum sollte ich in das Schema passen?"
Der Vampir lächelte leicht. "Die Damen haben alle gemein, dass sie außerordentlich ambitioniert sind. Sie streben nach Perfektion in dem, was sie tun. Wie beispielsweise Miss Odett Keller als Sängerin. Oder die ehrgeizige Klara Greifzu, die sich als Anwältin hervortut. Sie alle nutzen die Vorteile meiner Gastfreundschaft und erweisen sich nebenbei als faszinierende Persönlichkeiten, die dazu beitragen, mich vor der Lethargie der Ewigkeit zu bewahren. Ich nehme an, dass selbst jemand mit begrenzter Lebenserwartung meine Abscheu vor platter Konversation und beschränktem geistigen Horizont im persönlichen Umfeld nachvollziehen können wird." Die letzten Worte richtete er an den Abteilungsleiter und die junge Frau zwinkerte kurz, als der Blickkontakt brach.
Die Stimme des Werwolfs grollte beinahe aus seiner Kehle, als er erwiderte: "Ich verstehe vor allem eines: dass zu dieser viel zitierten Gastfreundschaft gewiss noch mehr gezählt werden wird, als lediglich Konversation. Habe ich Recht mit meiner Vermutung, Ascher, wenn ich davon ausgehe, dass Du einem gelegentlichen Umtrunk mit den Damen nicht abgeneigt bist?"
Die rothaarige Frau blickte zwischen den beiden Männern hin und her.
Der Vampir nickte gelassen. "Es bestehen gewisse Vereinbarungen, die allen Beteiligten zugute kommen. Weswegen es auch nicht ungewöhnlich wäre, wenn sich ein weiterer Gast meiner Obhut anvertrauen würde."
Nun klang die Stimme des Abteilungsleiters ironisch. "Und es ist bei diesen Abmachungen so üblich, dass die Damen ihr Blut vorsichtshalber verpfuschen? Einen merkwürdigen Geschmack hast Du, mein Herr!"
"Nein, ist es nicht. Das wäre in der Tat eine Abweichung von der Regel. Aber es wäre dennoch plausibel, wenn man den Hintergrund Fräulein Ziegenbergers berücksichtigt. Sie wäre nämlich die einzige Dame, bei der mir besonders viel daran gelegen sein könnte, sie mit Nachdruck von meiner Gastfreundschaft überzeugen zu wollen. Auch entgegen ihrem Wunsche." Seine Aufmerksamkeit galt wieder ausschließlich der Frau in der dunkelroten Uniform. Zwar blieb sein Blick unverändert ausdruckslos, doch die Temperatur im Raum schien rapide zu fallen. "Zumindest dann, wenn ihr perfektionistischer Ruf gerechtfertigt ist und sie tatsächlich mehr Einsatz zeigt, als in Wachekreisen üblich. Wenn sie hier und da etwas genauer nachfragt. Wenn sie auch den Kollegen anderer Abteilungen gern ein offenes Ohr schenkt und sich an deren Untersuchungen interessiert zeigt. Wenn sie, wie man in bestimmten Kreisen zu erzählen weiß, während der Belagerung vor einigen Monaten tatsächlich ungewöhnlich engen Kontakt zu gewissen Kreisen der Vampirgesellschaft Ankh-Morporks pflegte. Und wenn sie durch all dies...", an dieser Stelle verengten sich die Augen des Vampirs, "...etwas über die von mir begangenen Morde herausgefunden hätte, was ich keinesfalls an ihre Vorgesetzten weitergereicht wissen wollen würde!"
Von Grauhaar starrte seine Stellvertreterin mit aufgerissenem Mund an. Diese saß ebenso erstarrt in dem Büro, lediglich der goldene Schimmer der Petroleumlampen deutete leichte Bewegung im Raum an. Parsival Ascher lehnte sich lächelnd zurück.
Romulus schnappte regelrecht nach Luft: "Chief-Korporal! Hast Du mir irgendetwas zu sagen?"
Der Vampir lachte laut auf, erst recht beim Anblick der völlig verwirrten Wächterin. Er beeilte sich, den Vorgesetzten zu beruhigen. "Siehst Du, Herr? Es würde funktionieren! Fatalerweise möchte jeder gerne daran glauben, dass in der Vergangenheit jedweden Vampirs ein finsteres Geheimnis begraben liegt, welches möglichst mit dem einen oder anderen Mord zu tun haben sollte - über welchen eine ambitionierte junge Wächterin in Ausübung ihrer Tätigkeit gestolpert sein könnte. Meine werten Verwandten sind da nicht anders gestrickt, nur weil sie es besser wissen müssten. Vielleicht ein Resultat davon, Jahrzehnte und Jahrhunderte lang anhaltend mit solchen Erwartungen konfrontiert zu werden. Gegenüber dem Personal und Hausgästen bräuchte diese Version natürlich nicht erwähnt werden, denn all jene ohne unseren empfindlichen Geruchssinn würden sich ganz selbstverständlich die offensichtlichere Erklärung aneignen." Der Vampir zog die Rüschenmanschetten glatt und ließ den beiden Wächtern Zeit, um über seine Worte nachzudenken.

~~~ Auf die relevanten Fakten reduziert ~~~


Der Kommandeur hatte schlechte Laune, worüber auch seine scheinbar lässige Haltung nicht hinwegtäuschen konnte. Und von Grauhaar konnte das nur zu gut mitempfinden. Er fühlte sich etwas unbehaglich in der eingetretenen Stille des sonnendurchfluteten Büros, weswegen er kurzerhand mit seiner Erklärung weitermachte.
"Ich traue ihm einfach nicht. Vielleicht kommt das noch dazu."
Araghast Breguyar verzog seine blassen Lippen zu einem humorlosen Lächeln. "Das brauchst Du auch nicht, Romulus. Wärst Du derart leichtgläubig, dann müsste ich mir dringend Ersatz für den Posten des AL's suchen." Die Aufmerksamkeit seines gesunden Auges wanderte wieder zu dem auseinander gefalteten Briefbogen auf seinem Schreibtisch zurück und das Lächeln schwand. "Kommt wirklich niemand anderer dafür in Frage?"
Romulus schüttelte den Kopf. "Er hat sich gut informiert, bevor er bei uns aufgetaucht ist. Hat anscheinend alle Alternativen durchdacht und tatsächlich die plausibelste Geschichte ausgegraben, die funktionieren könnte."
Breguyar ließ seinen Bleistift immer wieder mit dem angespitzten Ende auf die Schreibplatte pochen, während er nachdachte. "Das riecht nach Falle! Ich kann die verlogenen Blutsauger nicht leiden - haben immer noch einen Plan in der Hinterhand und sobald man ihnen den Rücken zudreht..." Die Kohlemiene pochte erneut mit hohlem Klang auf das Holz. "Die Leichen sind echt?"
Der Abteilungsleiter von R.U.M. nickte. "Soweit wir das nachvollziehen können schon. Samuel Ascher, ehemals Schaufflermann[2] wurde immerhin ziemlich öffentlich getötet. Ebenso wie Mathilde Ascher, vormalige Winkel,[3] wenn Du dich erinnerst."
Araghast brummte leise. "Dann erübrigt sich die Frage, was wir ohne Verdeckte Ermittlungen ausrichten könnten. Im Gegenteil... etwas Kooperation seitens des Flattermannes könnte tatsächlich Ordnung in unsere Archivleichen bringen."
Es war beiden Wächtern nur zu bewusst, dass sich die Fälle trotz vielfältiger Bemühungen als absolute Sackgassen erwiesen hatten.
"Und der dritte Mord?"
Romulus zog sein Notizbuch hervor und blätterte schnell bis zur letzten beschriebenen Seite. "Jahne Christine Ascher, mit Geburtsnamen Wunderlich,[4] 43 Jahre alt, davon allerdings die letzten 20 als Vampir. Geborene Ankh-Morporkerin und wohnhaft im Stadthaus des Clans. Angeblich trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen innerhalb des Hauses überrascht und eingeäschert worden. Laut Aschers Aussage wurden ihre Überreste anschließend mit einer chemischen Mischung versetzt, die einen überproportionalen Anteil an Ankh-Rückständen enthielt. Die Familie schreckte vor einem Wiederbelebungsversuch zurück und hat sie am vergangenen Oktotag endgültig beigesetzt. Allerdings gibt es dazu lediglich die ärztliche Sterbeurkunde und die Familienangehörigen als Zeugen, denn an die Wache hat sich damit niemand gewandt."
Der Kommandeur schloss auch das verbliebene Auge und fragte nachdenklich: "Gibt es offensichtliche Zusammenhänge zwischen den Morden? Gemeinsamkeiten zwischen den Opfern, außer der, dass sie alle zur Familie Ascher gehörten?"
Die Antwort kam unverzüglich, denn natürlich hatte auch der Werwolf sich schon darüber Gedanken gemacht. "Sie wurden alle hier in der Stadt geboren und zu Ihresgleichen gemacht. Keiner von ihnen war zum Zeitpunkt ihres endgültigen Todes länger als 25 Jahre Vampir gewesen. Und sie haben gemeinsam auf dem Anwesen des Clans in der Innenstadt gelebt. Mehr Gemeinsamkeiten sind nicht zu erkennen."
Breguyar setzte sich auf und lehnte sich leicht vorgebeugt auf seine Unterarme über den Schreibtisch, das funkelnde Auge auf seinen Abteilungsleiter gerichtet. "Hat mal einer überprüft, wie es mit der Erbfolge in dem Haufen aussieht? Nicht, dass sich der Kerl dazu entschieden hat, selber unter seinen Kindern aufzuräumen und wir ihm jetzt noch dabei Händchen halten sollen, um den Patrizier zu beschwichtigen!"
"Nein, soweit sind wir noch nicht gekommen."
Der helle Sonnenschein wurde regelrecht grell vom weißen Papier zwischen ihnen reflektiert und Breguyar ließ kurzerhand eine der vielen Akten darauf fallen, um es abzudecken. "Wie auch immer... ich kann mich nicht erinnern, dass wir so was schon mal versucht hätten. Einen unserer Ermittler in ein verdammtes Nest dieser Brut zu schicken! Eine Zusicherung, dass er sich und seinen Hausstand von ihr fernhält, ist ja schön und gut. Zusammen mit diesem Wundermittel mag das auf rein körperlicher Ebene ja sogar klappen. Aber was ist mit dem Rest, hat er dazu etwas zu sagen gehabt? Oder es vorsichtshalber gleich ausgeklammert?"
"Du meinst den geistigen Bereich?"
Der Kommandeur nickte grimmig. "Vampire und ein ungeschützter menschlicher Geist... Egal was er uns weismachen will, er kann wohl schlecht für die freundliche Zurückhaltung einer Familie garantieren, die sich derzeit möglicherweise gerade gegenseitig umlegt! Spätestens wenn sie tatsächlich etwas herausfindet, ist sie geliefert und ein gefundenes Fressen!"
Von Grauhaar holte tief Luft. "Er hatte auch das schon durchdacht, ja. Und einen Vorschlag gemacht." Sein Zögern stellte die Geduld des Vorgesetzten sichtlich auf die Probe, so dass er sich zu erklären beeilte. "Sie haben nicht nur die Fähigkeit, Gedanken zu lesen. Ich konnte seine Worte natürlich nicht selber nachprüfen aber ich habe mir das heute früh von unseren beiden Damen bestätigen lassen. Sowohl die Gefreite Fromm, als auch die Gefreite von Nachtschatten haben dem zugestimmt. Demnach gehört zum Gedankenlesen auch die gegensätzliche Fähigkeit, mit welcher ein Vampir sich selber vor dem Belauschtwerden schützen kann. Ein Blockieren von Gedanken. Und nicht jedes Individuum oder jede Blutlinie einer Vampirgesellschaft hat gleich starke Fähigkeiten. In diesem Sinne... Ascher meinte, in seiner Linie wäre die Blockadefähigkeit sehr ausgeprägt. Die Aschers sind dazu imstande, nicht nur ihre eigenen Gedanken zu schützen, sondern diese Gedankenmauer auch auf andere Personen auszudehnen." Romulus fuhr sich mit der Hand durch seine strubbelige Mähne. Als eine Erwiderung des Kommandeurs ausblieb setzte er hinzu: "Ascher sagte, das wäre nichts Ungewöhnliches und jeder seiner persönlichen Gäste stände in seinem Hause unter dieser Art von Schutz, so dass es nicht weiter auffallen würde."
Bregs legte den noch immer gehaltenen Bleistift betont vorsichtig ab. "Also ein Schutz vor dem Rest der Familie, meinetwegen auch noch vor Besuchern. Aber kein endgültiger, kein Schutz vor ihm selbst." Breguyar überlegte. "Gibt es irgendeine andere Art von Garantie, dass der Korporal vor inneren Übergriffen von ihm geschützt wäre?"
"Außer seinem Wort? Keine."
"Und da sind wir uns einig: dem trauen wir beide nicht! Verdammt!" Araghast Breguyar fluchte herzhaft. "Du hast sicherlich noch alleine mit ihr gesprochen. Was meint sie dazu?"
"Korporal Ziegenberger ist nicht wohl bei dem Gedanken, das gibt sie offen zu. Aber andererseits sieht sie die Notwendigkeit zum Ermitteln. Sie meinte, wenn man die Umstände auf die relevanten Fakten reduzieren würde, dann hätte man eine ungeklärte Mordserie, für die wir zuständig seien. Außerdem sagte sie, es gäbe bei einer Verdeckten Ermittlung niemals eine Garantie dafür, unbeschadet zu bleiben und trotzdem wären solche Ermittlungen manchmal nötig, um Unschuldige zu schützen."
Der Vorgesetzte lächelte ironisch. "Unschuldige!" Er schnaufte bitter. "Vielleicht sollte ich ihr gerade diesen Einsatz verbieten, damit sie nicht irgendwann eines Besseren belehrt wird."
Von Grauhaar seufzte zustimmend. "Ja, manchmal kommt sie mir etwas naiv vor. Aber andererseits... man kann nicht behaupten, dass sie noch keine Bekanntschaft mit der Realität gemacht hätte."
Die beiden Männer sahen einander wortlos an, bis der Püschologe sagte. "Ist schon wieder eine Weile her. Und sie ist soweit darüber hinweg gekommen, dass sie trotzdem weiter gemacht hat. Andere an ihrer Stelle hätten es nicht so gut weggesteckt." Er rieb sich nachdenklich die Nase.
Der Sonnenfleck wanderte gemächlich weiter, so dass der abgedeckte Brief des Patriziers an einer Ecke weiß hervorblitzte. Araghast wandte ärgerlich den Blick davon ab und richtete sich mit fester Stimme an den Kollegen. "Allein die Versprechungen eines Pomadeträgers genügen mir nicht. Wenn schon, denn schon, dann machen wir das auf unsere Weise! Schick mir die beiden Gefreiten aus deiner Abteilung, die Fromm und die von Nachtschatten. Aber vorher soll der Korporal zu mir ins Büro kommen, ich möchte noch etwas mit ihr besprechen. Und prüfe, wie viel von deinem Budget Du noch über hast, von dem ihr euren Tarnungs-Schnickschnack immer berappt. Ich habe das noch nicht ganz im Blick."

~~~ Teezeremonie ~~~


Ihre Mutter würde sich natürlich dennoch Sorgen machen, darüber war Ophelia sich im Klaren. Aber zumindest würden diese Sorgen sich in Grenzen halten und Kathrine davon abhalten, sich einmal wöchentlich bei von Grauhaar nach ihrem Verbleib zu erkundigen, wie sie es zu Beginn der Verdeckten Einsätze noch getan hatte. Es war für alle Beteiligten eine Erleichterung, dass nach dem letzten Mal irgendwann der Punkt gekommen war, in dem Ophelia ein offenes Gespräch mit ihr führen konnte. Natürlich hatte sie es dabei tunlichst unterlassen, die tatsächlichen Gefahren auszubreiten, in denen sie zwecks ihrer Spezialisierung schon geschwebt hatte und auch in Zukunft noch geraten mochte. Das wäre kontraproduktiv gewesen. Aber sie hatte ihrer Mutter die organisatorischen Vorgänge hinter den Kulissen erklärt und ihr deutlich gemacht, dass der Schutz der Wächter, also auch der ihre, von den Vorgesetzten sehr ernst genommen wurde - und dass die Wahrung des Inkognitos, auch durch die Isolation von allen Freunden, Bekannten und der Familie, für diesen Schutz unerlässlich war. Vielleicht lag es wirklich an Kathrines Einsicht diese Regelung betreffend, vielleicht aber auch nur daran, dass sie sich nun als eingeweiht betrachten konnte und entsprechend "vernünftig" verhalten wollte. Auf jeden Fall war fortan die Schwierigkeit entfallen, daheim irgendetwas erklären zu müssen. Ophelia würde die nächste Zeit über im Einsatz sein und nähere Informationen dazu gab es eben nicht. Auch nicht für die Verwandten. Wobei Großtante Pätrischa regelmäßig zur Höchstform auflief, um die Ungehörigkeit solch unsteter Reisegewohnheiten und die nicht zu akzeptierende Regelmäßigkeit der Abwesenheit zu verpflichtenden gesellschaftlichen Anlässen zu rügen. Sei es drum! Ophelia war froh, keine unwahren Geschichten zu ihrem Verbleib mehr im Raum stehen lassen zu müssen. Sie hatten vereinbart, dass Ophelia während ihres aktuellen Einsatzes durchaus Briefe an Kathrine zustellen lassen könne, dass jedoch jeder einzelne ausnahmslos an die Wache gerichtet wäre und ungeöffnet an Romulus weiterzuleiten sei.
Eine Bewegung hinter ihr schreckte sie auf. Rogi Feinstich hatte unbemerkt das Büro betreten.
Romulus betrat den Raum etwas auffälliger, so dass sie sogleich sein aufmunterndes Lächeln sehen konnte. "Soweit ist schon mal alles glatt gelaufen. Dieser Bedienstete war dort und hat uns das Wichtigste gesagt." Ophelia lächelte ganz von selbst zurück. "Hat er noch etwas zu dem Einsatz gesagt?"
Die Sanitäterin war offenbar völlig mit der Untersuchung des leinenen Beutels zwischen ihren Händen und dessen Inhalts beschäftigt, denn sie ignorierte die beiden besorgten Stimmen ihrer Kollegen völlig.
Der Abteilungsleiter nickte. "Wir haben deinen Brief mit der offiziellen Zustimmung bei der Post aufgegeben. Laut Aschers Igor sollst Du im Mondteichweg am Eingang des Friedhofs auf die Familienkutsche der Aschers warten, die Dich dort bei Sonnenuntergang abholen wird."
Es fiel der Ermittlerin nicht eben leicht, diese Vorstellung mit Gelassenheit hinzunehmen. In Ermangelung passender Worte wandten beide ihre Aufmerksamkeit der Igorina zu.
Diese hielt kurz in der Bewegung inne und sah auf. "Daf dauert nicht allzu lange. Höchftenf fehn Minuten."
Manchmal war es überraschend, wie weit die Igorina sich auf die althergebrachten Methoden verließ, etwas zu handhaben, obwohl es inzwischen oftmals so viel schnellere, moderne Wege dazu gab. Beispielsweise wuchtete sie soeben einen schmiedeeisernen Ofen mit einer einzigen Herdplatte auf den Tisch des Büros und legte sich Zündhölzer bereit, anstatt auf einen der kleinen Drachen zurückzugreifen. Wenige Handgriffe später ging das leise Knistern und Knacken von Holzspänen in das lautlose Glühen der Kohlebrocken über und über dem rußigen Eisen flimmerte aufsteigende Wärme. Rogi setzte Wasser auf und begann zu erklären. "Ich habe noch nie von diefem Gemif gehört. Igor meinte, ef müffe richtig aufkochen und dann fünf Minuten fiehen, bevor ef abgegoffen wird." Sie nahm einen unscheinbaren Stein von der Arbeitsfläche auf, der den R.U.M.-lern erst jetzt auffiel. "Daf hier gehört dafu." Sie sah Ophelia das erste Mal direkt an, seit sie das Büro betreten hatte und legte den Stein auf deren geöffnete Handfläche. Er sah fast wie ein hell gesprenkeltes, sehr kleines Vogelei aus, war nur etwas flacher und sehr viel kälter. "Er fagte, ef hinge mit dem Filberanteil darin fufammen. Du legft den Ftein auf die Funge und fammelft für jeden Fluck Brühe erft etwaf Fpeichel, bevor Du fluckft. Der Kräuterfud muff fich erft im Mund damit vermifen und reagieren, damit er wirken kann. Infgefamt mufft Du den ganfen Becher auf diefe Weife trinken. Daf follte nach etwa einer Ftunde die volle Wirkung feigen, die dann für etwa fwei Wochen anhält." Das Wasser begann zu sprudeln. Die Kommunikationsexpertin nahm es von der heißen Platte und begann damit, sehr vorsichtig die Tasse mit den Kräutern aufzufüllen, wobei sie entfernt an eine achatene Zeremoniendame erinnerte. Dampfende Hitzeschwaden zogen durch den Raum und heizten ihn ungemütlich auf. Ophelia spürte, wie der Stein an ihrer verschwitzten Handfläche anzukleben begann, während ihr Mund ganz trocken wurde.
Romulus fragte besorgt: "Alles in Ordnung? Bleibst Du dabei?"
Die Igorina blickte nur kurz auf, gerade so lange, dass sie das verhaltene Nicken der jungen Frau mitbekam. Sie drehte routiniert die Sanduhr um und rührte den Sud. Kurz darauf legte sie über die zweite bereitgestellte Tasse das dünne Leinentuch und goss die Brühe ab. Ein merkwürdig herber Duft hing in der Luft und machte ihnen das Atmen schwer. Die letzten Tropfen fielen ins Steingut und deren Plätschern klang in der atemlosen Stille des Zimmers übernatürlich laut. Rogi faltete das Tuch mit den aufgequollenen Pflanzenresten zusammen. Diese später genauer zu untersuchen, würde sie sich gewiss nicht nehmen lassen! Dann deutete sie auf den Stein in Ophelias Hand.
Diese spürte Panik in sich aufsteigen. Sie ließ es sich zwar nicht anmerken aber sie hatte höllische Angst. Fragen und Befürchtungen schossen ihr unkontrolliert durch den Sinn.
Was, wenn das alles nur eine Falle war? Aber warum sollte sich irgendwer solche Mühe machen? Vielleicht wäre sie morgen schon tot? Oder eine ausgesaugte Sklavin des angeblich so bedrohten Clans? Das hatte Großtante Pätrischa gewiss nicht gemeint, wenn sie die Vorzüge adliger Blässe pries. Und was, wenn es zwar alle gut meinten aber dennoch etwas schief ging? Wenn sie zum Beispiel den wahren Mörder entlarven konnte und dieser davon erfuhr?
Die Panik ließ ihr Herz rasen und kurzzeitig hatte sie das Schwindel erregende Empfinden, schwerelos in Dunkelheit zu stürzen, während blutrotes Dämmerlicht gurgelnd über ihr zusammenschlug.
Sie blinzelte nervös und umfasste die Tasse fester, sich der intensiven Beobachtung ihrer beiden Kollegen wieder bewusst werdend.
Was, wenn dieser Tee falsch zubereitet worden und dadurch zu purem Gift geworden war? Rogi hatte selber gesagt, dass sie noch nie von dieser Mischung gehört hatte.
Solche Gedanken waren beschämend. Der Igorina konnte sie getrost vertrauen!
Ophelia überwand ihre Unsicherheit und legte sich den glatten Stein auf die Zunge.
Romulus brach die Anspannung indem er sich räusperte. "Ich habe die Gefreiten von Nachtschatten und Fromm gebeten, etwa in einer Stunde hierher in die Kröselstraße zu kommen, um die Wirkung zu prüfen."
Sie nickte lediglich zur Antwort und pustete sacht in den fremd duftenden Tee.

~~~ Unschuldige ~~~


Ihre Aufregung hielt sich überraschenderweise in Grenzen. Vor einigen Stunden noch hätte sie es kaum für möglich gehalten, vor einem so bedeutungsvollen und bedrohlichen Treffen die Schönheiten der Stadt genießen zu können. Und doch! Die junge Wächterin ließ den Blick über die gegenüberliegende Häuserfront schweifen, deren helle Steinquader das goldene Licht der Abenddämmerung einfingen. Die Glasscheiben reflektierten das Spiegelbild unzähliger verbogener Sonnen und eine sanfte Brise trug den Duft frisch aufgeworfener Erde von den Gräbern durch die noch immer ziemlich belebte Straße. Alles wirkte so viel friedlicher als sonst! Die mit Metall beschlagenen Karrenräder hätten ihr charakteristisch ohrenbetäubendes Rumpeln von sich geben müssen, ebenso wie das Klappern der Hufe und die Stimmen der Menschen zu der typischen städtischen Kakophonie hätten beitragen müssen. Stattdessen wirkten die Geräusche ebenso gedämpft, wie das milde Licht, welches soeben hinter den rot glühenden Wolken versank.
Du weißt genau, dass das mit dieser Droge zu tun hat. Der Friedhof ist zwar ein einigermaßen friedlicher Ort in dieser chaotischen Stadt aber Du kannst gerade mir nicht weismachen, dass Du den Geruch ausgehobener Gräber bisher als beruhigend empfunden hättest.
Die Stimme in ihrem Sinn klang vorwurfsvoll.
Doch Ophelia lächelte verständnisvoll. Du hast natürlich Recht, Breda, dachte sie und richtete die mentale Antwort direkt an ihre abwesende Freundin. Eine gedankliche Unterhaltung mit dieser war glücklicherweise nicht von räumlicher Nähe abhängig. Aber diese Gespräche waren sehr wohl von dem Wunsch zu kommunizieren abhängig und in Bredas derzeitiger Stimmung wurde die Wahrscheinlichkeit stetig höher, dass die Vampirin sich schmollend zurückzöge.
Das Äquivalent der Stimme klang frustriert. Schön, dass Dir das klar ist! Aber was bringt das, wenn Du die Gefahr nicht ernst nimmst? Du solltest auf der Hut sein, unter großer Anspannung stehen und Dir Gedanken um das Kommende machen!
Ophelia streckte seufzend ihre Schultern unter dem langen Cape. Sie bewunderte die schnell einsetzende Dämmerung und das verblassende rote Glühen an den Hauswänden. Die Sorgen der Freundin waren natürlich rührend. Und vermutlich sogar begründet. Ganz sicher sogar.
Die Stimme der Vampirin schreckte sie auf, als diese sie regelrecht wütend anfuhr. Höre mir gefälligst zu, Ophelia! Eine warme Brise hauchte gewissermaßen durch ihren Sinn, als die D.O.G.-Wächterin in der Ferne seufzte. Ich mag den Gedanken gar nicht ertragen, dass ich Dir nicht einmal auf diesem Wege nahe sein kann, um nach Dir zu sehen. Lass bloß jeden Tag etwas von Dir hören, Kleine, ja? Sonst werde ich gewiss so nervös wie eine Katze auf heißem Blechdach, das sehe ich schon kommen. In Ordnung? Versprich es mir!
Die einsame Wächterin am Friedhofseingang nickte, erinnerte sich dann aber daran, der Geste ein stimmloses Zustimmen folgen zu lassen.
Mach Dir nicht zu viele Sorgen, Breda. Ich passe auf mich auf. Und ich melde mich, so oft es mir möglich sein wird. Es wird schon gut gehen.
Ophelia sah sich einmal mehr nach der angekündigten Kutsche um. Und vergaß vor Schreck beinahe zu atmen, als plötzlich und wie aus dem Nichts Parsival Ascher vor ihr stand.
Sein Gesicht lag gewissermaßen in den Schatten und der Saum seines langen schwarzen Umhangs flatterte lautlos über den Gehweg. Er schien den Atem anzuhalten, ebenso wie sie selbst, dann trat er minimal näher, nahm ihre Hand in die seine und beugte sich leicht vor, um ihr einen galanten Handkuss auf die Finger zu hauchen. "Fräulein Ziegenberger, es ist mir eine Ehre."
Bredas Stimme zischte scharf durch ihren Verstand. Er ist eingetroffen, nicht wahr?
Ophelia lächelte den Vampir an und knickste leicht, während sie der Freundin zuwarf: Ja. Das ist er. Mach Dir keine Sorgen, ich werde das schon schaffen.
Ascher blickte sie überrascht und amüsiert zugleich an. "Du hast eine der Unseren zur Freundin? Das ist ungewöhnlich." Er wartete auf eine erklärende Reaktion, die jedoch ausblieb.
Es fiel der Ermittlerin auf, dass er das Atmen bewusst unterließ. Sie errötete bei der unweigerlichen Schlussfolgerung. "Es tut mir Leid, Herr, und ist mir sehr unangenehm, dass Du der Wirkung der Kräuter ausgesetzt sein wirst."
Der scheinbar gleichaltrige Mann mit den lediglich ergrauten Schläfen lachte herzlich auf und bot ihr kurz entschlossen den Arm zum Geleit. "Keine Bange, junge Dame, das ist schließlich Sinn der Sache und ich werde es überstehen. Ein Spaziergang gefällig? Ich denke, wir sollten noch miteinander reden, bevor wir die Sache richtig angehen. Ist das recht?"
Ophelia nickte und nahm das Angebot an. Sie wandten sich einhellig den noch immer offen stehenden Friedhofstoren zu und der elegant gekleidete Mann sah freundlich auf sie hinab. "Schmeckt es wirklich so gräulich, wie ich gehört habe?"
Die Verdeckte Ermittlerin raffte mit der freien Hand ihre Röcke und lachte leise. "Ja, es schmeckt mit jedem Schluck merkwürdiger und zum Ende hin sogar etwas modrig. Aber es scheint tatsächlich zu funktionieren." Sie sah neugierig zu ihm rüber. "Und bei Dir, Herr? Konntest Du mein Eintreffen überzeugend vorbereiten?"
Die schmalen Pfade zwischen den Grabsteinen führten sie enger zusammen, als es ihr unter anderen Umständen lieb gewesen wäre. So aber lauschte sie vor allem seinen Worten, als er damit begann, ihr die Reaktionen seiner Familie zum 'Einzug der Neuen' zu schildern.
"Sie glauben nun alle daran, dass ich Dich unbedingt als Dauergast im Hause unterbringen möchte, um unangenehme Zwischenfälle mit der Wache zu vermeiden. Wobei man sagen muss, dass sie es erstaunlich gelassen hingenommen haben, dass ich Dir drohe und dazu angeblich auch deine Familie als Druckmittel anwende. Es wäre mir lieber gewesen, sie hätten mich empört angesehen." Sein Lachen klang betörend. Seine Augen blickten sie offen und ehrlich an, regelrecht besorgt. "Es wäre für uns beide wichtig, die Tarnung so schnell wie möglich zu vervollständigen. Auch mit der... mentalen Komponente." Ein weiß behandschuhter Finger tippte bei diesen Worten bedeutungsvoll an seine Schläfe, wobei die geschliffenen Facetten eines Juwels glitzerten.
Sie wandte den Blick instinktiv von ihm ab und ging schweigend neben ihm her, während es um sie herum merklich dunkler wurde. Er ließ ihr diese Zeit. An einem verkrüppelten Baum blieben sie stehen und blickten gemeinsam auf eine mit Efeu überwucherte Grabstätte hinab, ohne jedoch irgendetwas von dem verwitterten Schriftzug darauf zu lesen.
Ophelia atmete tief durch. Selbst durch diesen angenehm trüben Gemütszustand hindurch spürte sie ein ängstliches Zittern in ihren Gliedern. Aber nun war es längst zu spät für einen Rückzieher. Und was hätte sie auch sagen sollen? Bredas Präsenz war noch immer schützend zu spüren, selbst wenn diese sich nicht bemerkbar machte und auch nichts von dem Gesagten mitbekommen konnte, da es ja nicht an sie gerichtet war. Der Korporal wollte eigentlich nicht auf diesen geschätzten Kontakt verzichten. Aber es gab für diesen Einsatz auch keine echten Alternativen. Es hatte bereits Tote gegeben! Und es war nun einmal ihr Dschob, solche Vorkommnisse aufzuklären, den Schuldigen herauszufinden und die Unschuldigen zu schützen. Sie hatte schon einmal den Schutz eines Vampirs angenommen und auch wenn diese Erfahrung damals unangenehm gewesen war, so hatte sie sie dennoch nicht bereut. Selbst wenn er ihr dabei ständig das Gefühl gegeben hatte, sich um ein lästiges Kind kümmern zu müssen, Racul hatte sein Wort gehalten und sie während der Ereignisse rund um die Belagerung beschützt.
Sie neigte den Kopf und wusste, dass der Vampir an ihrer Seite diese Bewegung sowohl wahrnehmen, als auch richtig deuten würde. Er bedeckte ihre Hand in seiner Armbeuge mit der seinen und übte aufmunternd leichten Druck aus. Ihr Sichtfeld hatte sich in der schattigen Dunkelheit auf die nächstgelegenen Konturen eingeengt und die Geräusche der Straßen schienen so weit weg, als wenn es in dieser Welt nur noch ihren Begleiter und sie selbst gäbe.
"Ich bin mir nicht sicher, wie es sich für Dich anfühlen wird. Auf jeden Fall beruhigend. Normalerweise empfinden Menschen es auch als angenehm. Auch wenn es mir möglich wäre, werde ich nicht in deine Gedanken sehen, zumal die Abschirmung es auch verhindern wird, dass meine Familie das nachvollziehen könnte. Also sei unbesorgt!" Er legte ihr seine schlanken Hände an die Wangen, als wenn er ihr Gesicht damit umrahmen wollte. Sie musste zu ihm aufsehen. Die tiefschwarzen Pupillen sogen sie regelrecht näher an ihn heran, sie bewirkten einen undefinierbaren Schwindel und sie taumelte ihm entgegen. Er umfasste das Gesicht etwas fester, um sie aufzufangen, und Ophelia schloss wie in Trance die Augen.
Es fühlte sich wie eine warme Decke an. Wie die Decke, in die ihre Mutter sie als Kind gewickelt hatte, wenn sie fiebernd im Bett lag. Rundum fest gestopft, damit sie es warm hätte. Geborgen und sicher. Aber auch eingeengt. Das Gefühl zog sich gleich einem festen Band um ihren Hals zusammen, wurde von Sekunde zu Sekunde enger und hinderte sie daran zu atmen oder zu schlucken. Der Schwindel wurde stärker und in ihrem Kopf funkelten rosa Blitze.
Entschuldigung...
Der Druck um ihre innere Persönlichkeit, um Geist und Bewusstsein, ließ nach und es gab wieder Raum zum Atmen. Sie keuchte und schnappte nach Luft, wobei sie nach der Stimme in ihrer Nähe horchte und vergeblich nach den Spuren, die zur Kollegin geführt hätten, suchte.
Keine Sorge! Die Fährte ist nur... sozusagen abgedeckt. Sie ist nicht verschwunden. Wenn das hier vorüber ist, wird alles wieder beim Alten sein. Ich hoffe, es ist Dir so nicht unangenehm?
Ophelia überlegte eine Sekunde, schüttelte dann aber den Kopf. Es fühlte sich gänzlich anders an, als Raculs damaliger Schutz. Dieser war scharfkantig und eisig gewesen, wie ein Gletscher in ihrem Inneren. Dies ähnelte eher den einvernehmlichen Gesprächen mit Breda, so nahe und aufmerksam. Es war ungewohnt, auf diese Weise mit jemand anderem als der Freundin zu kommunizieren, ebenso wie dieses eingewickelte Gefühl in ihrem Inneren gewöhnungsbedürftig war. Aber nicht unangenehm, nein, das konnte sie nicht sagen. Sie würde sich gewiss schnell damit arrangieren.
"Sie kann mich jetzt nicht mehr kontaktieren, oder?" Sie öffnete die Augen und nahm mit einem Schlag wieder die Außenwelt wahr, allem voran die kalten Hände um ihr Gesicht. Aschers Handschuhe konnten die frostige Berührung nicht nennenswert mildern.
Die dunklen Pupillen entfernten sich etwas und das helle Oval des gegenüberliegenden Gesichtes verschwand aus ihrem Blick. Die kühlen Finger waren noch immer an den Wangen zu spüren, verblassten aber allmählich, während das gepolsterte Gefühl um Herz und Sinn blieb.
Die Stimme des Vampirs geleitete sie zurück zum Eingang des Zentralfriedhofs. "Nein, das kann sie nicht. Wenn, dann würde ich es zuvor merken und entsprechend abblocken müssen. Sobald ich die Ummantelung an irgendeiner Stelle öffne, ist dies von jemandem, der aufmerksam genug darauf achtet, zu spüren. Vielleicht sind Ausnahmen möglich aber ein Risiko bliebe. Etwas, worauf wir gewissenhaft verzichten sollten." Dies war eine Aussage, der die Wächterin nur beipflichten konnte. Sicherlich gab es Schlimmeres, als auf sich allein gestellt zu sein, zumal wenn man eh' damit gerechnet hatte. Und sie hatten diesen Kommunikationskanal während ihrer Planungen und Vorbereitungen ohnehin nicht als gangbar angenommen.
Die Pforten der Ruhestätte blieben hinter ihnen zurück, als sie auf die inzwischen nächtliche Straße hinaustraten. Genau vor ihnen hielt mit einem Ruck die schwarz glänzende Kutsche der Familie Ascher. Ein buckliger Mann mit listigen Glubschaugen und einem von Narben entstellten Gesicht riss den Wagenschlag auf, klappte eilig das Treppchen aus und hielt mit einer krummen Verbeugung die kleine Tür auf.
Parsival Ascher reichte ihr die behandschuhte Hand und deutete, zufrieden lächelnd, in die innen liegende Schwärze. "Ich selber werde ausnahmsweise mit dem Kutschbock Vorlieb nehmen und hoffe auf dein Verständnis für diese unerhörte Unhöflichkeit. Aber Du wirst es als durchaus angenehm empfinden. Die Aufhängung der Kutsche ist mit einer vorzüglichen Federung versehen und alles darinnen ist gut gepolstert und mit Seide ausgeschlagen. Es wird Dir in meinem Hause generell an nichts fehlen, sondern es Dir dort vermutlich stattdessen so gut gefallen, dass Du gar nicht mehr fort gehen wollen wirst. Bitte, Ophelia, betrachte Dich als meinen Gast!"

~~~ Herr und Meister ~~~


Das Anwesen der Aschers lag nahe der Stadtmauer in einer ruhigeren Gegend. Nicht weit davon sickerte der Ankh durch das Flusstor auf die Felder hinaus. In Richtung Götterinsel blickend, konnte man in lauen Nächten am Ufer die unzähligen Lichter des betriebsamen Perlendocks über die ölige Oberfläche des Flusses blinken sehen.
Da sie von der entgegen gesetzten Richtung kamen, der Langen Mauer und dem Grunimarkt folgend, bis sie die Düstergutstraße querten, lag die Nähe des Flusses dezent in der Luft, auch wenn sein Anblick verwehrt blieb.
Die Kutsche hielt vor dem kastenförmigen Umriss eines dreistöckigen Gebäudes, welches unnahbar und finster wirkte, gespickt mit schwarzen Augenhöhlen anstelle von Fenstern. Das leise Klirren des Pferdegeschirrs hallte in der lang gezogenen Häuserschlucht unangenehm nach, bevor es sich gebrochen in den Schatten verlief.
Ophelia nahm die dargebotene Hand des Igors schweigend zur Hilfe und entstieg der Kutsche. Ihr Blick wanderte an der Fassade empor, während hinter ihr der Wagenschlag mit einem unangenehm harten Geräusch zufiel. Der Knall der Peitsche folgte und die Kutsche fuhr ruckartig an. Das laute Geklapper der Hufe und das Rumoren der Beschläge auf dem Kopfsteinpflaster mussten theoretisch auch den letzten Nachbarn wecken, doch nirgendwo ging auch nur ein einziges Licht hinter einem der Fenster an.
Ophelia fühlte sich wie von unzähligen Augen beobachtet. Sie zog das Abendcape enger um ihre Schultern und trat auf den vor ihr liegenden Hauseingang zu.
"Darf ich bitten?"
Sie griff sich erschrocken ans Herz und rang nach Luft. Neben ihr erkannte sie die Umrisse des Hausherrn und im selben Moment hörte sie ihn gutmütig lachen.
"Du wirst dich daran gewöhnen... leider." Ihr Begleiter wurde wieder ernst. Er stand zu ihrer Linken, nahm sie unaufgefordert bei der Hand und legte seine Rechte mit freundlichem Nachdruck in ihren Rücken. Sie spürte den instinktiven Impuls, diese viel zu vertrauliche Nähe abzuschütteln. Der Vampir an ihrer Seite zögerte nur unmerklich, drückte noch einmal beruhigend ihre Hand in der seinen und zog sie dann einfach mit sich. Sie versuchte, ihren Atem zu beruhigen, dann hatten sie auch schon die wenigen Stufen zur Haustür erklommen. Viel war in der Dunkelheit nicht zu erkennen, doch die Tür öffnete sich wie von Geisterhand mit einem laut vernehmlichen Knarren.
"Tritt ein und fühle dich wie daheim, denn dies wird von nun an dein neues Zuhause sein."
Ophelia spürte Unbehagen und Zögern inzwischen wie heiße Wellen über sich hinweg schwappen und war froh über die betäubende Wirkung des Kräutersuds. Sie wagte sich nicht einmal im Traum auszumalen, wie dies alles ihr wohl in klarem Zustand zugesetzt hätte! Sie übertrat die Schwelle.
Ein Kronleuchter entflammte und sie erkannte, dass sie in einer schmalen Empfangshalle stand. Sie blickte ihren Auftraggeber für den Bruchteil einer Sekunde Hilfe suchend an, besann sich dann aber auf ihre Rolle. Sie distanzierte sich umständlich von ihm und zog wieder einmal den Umhang enger um sich. Beinahe meinte sie so etwas wie Erleichterung in seinem Blick gesehen zu haben, ehe er sie mit plötzlich unergründlich kaltem Blick bedachte. Ophelia wandte sich von ihm ab und dem Ausgang zu.
"Igor!"
"Ja, Herr, fur Ftelle, Herr!"
Ophelia hatte eben erst einen Schritt getan, als sich der Ausgang vor ihr schloss. Die Stimme Aschers hatte etwas salbungsvolles an sich, das ihr wie mit kalten Klauen ins Genick griff.
"Schließe die Fenster und Türen heute Nacht gründlich! Wir wollen doch Niemandem leichtes Spiel verschaffen, indem wir verlockende Möglichkeiten bieten, nicht wahr?"
Der Igor zog ein schweres Schlüsselbund an einem großen Ring aus seinem Wams und klapperte heftig damit herum, während er laut hörbar zweimal hintereinander absperrte. Ascher ließ es sich nicht nehmen, seiner Ausführung hinzuzufügen: "Selbst ein kluger Mensch könnte seinen braven Entschluss sonst noch ändern, nicht wahr?"
Der bucklige Bedienstete nickte eifrig und schlurfte eilig seinem Herrn entgegen, um diesem zur Hand zu gehen.
Ophelia drehte sich mit gespieltem Widerwillen um, als Parsival Ascher herrisch mit der Hand schnipste und noch in derselben Bewegung den schwarzseidenen Umhang unachtsam von seinen Schultern gleiten ließ. Der Diener fing ihn gekonnt auf.
"Gab es irgendwelche besonderen Vorkommnisse in meiner Abwesenheit, Igor?"
"Nein, Herr, keine."
Ascher ging seinem Angestellten voran und überließ es der Wächterin in seiner Obhut, ihm zu folgen. Sie blickte noch ein letztes Mal auf den verschlossenen Ausgang, wobei sie sich daran erinnern musste, dass sie freiwillig hierher gekommen war. Und daran, dass sie auch wieder würde gehen können, sobald dieser Auftrag erledigt wäre. Ein guter Grund also, sich möglichst schnell an die Arbeit zu machen.
Der hinkende Igor nahm inzwischen seine abendliche Liste der zu erledigenden Dinge entgegen. Ophelia folgte ihm und sofort schenkte er ihr einen Teil seiner Aufmerksamkeit, indem er ihr das lange Abendcape abnahm und nun, mit beiden Kleidungsstücken über den Arm gelegt, wie ein wandelnder Wäscheberg weiter seinem Herrn hinterher schwankte.
"Und dann führe bitte die junge Dame hier, die wie bereits angekündigt ab heute als Gast in meinem Hause weilen wird, in ihr Zimmer, so dass sie sich etwas frisch machen kann. Sollte sie noch irgendetwas benötigen, so wirst Du ihr diese Wünsche von den Augen ablesen, habe ich Recht, Igor?"
"Ja, Herr und Meifter."
Sie waren mittlerweile an einer breiten Steintreppe angelangt, die in elegantem Bogen nach unten führte. Der Vampir mit den silber angehauchten Schläfen blieb noch einmal am Absatz stehen. "Ophelia?"
Die Angesprochene reagierte mit der angemessenen Zurückhaltung, ohne sich jedoch Unhöflichkeit vorwerfen lassen zu müssen. "Ja, Herr Ascher?"
Er lächelte ironisch bei dieser förmlichen Anrede, ging jedoch nicht weiter darauf ein. "Bitte, ich möchte nicht unhöflich erscheinen und vermutlich wird es nichts am Ergebnis ändern aber... es wäre mir lieb, wenn Du das 'Frischmachen' gewissenhaft vornehmen könntest. Denn anschließend möchte ich Dich meiner Familie vorstellen."
Und ohne auf ihre Antwort zu warten stieg er in das Untergeschoss hinab, von wo warmer Kerzenschein heraufdrang und das dezente Murmeln leiser Stimmen.

~~~ Familiengruft ~~~


Einer der vielen Beobachter der Szenerie löste sich vor dem Haus auf Bodenhöhe aus den Schatten. Septimus blinzelte und rieb sich erschöpft die Augen.
Für heute würde er hier wohl nicht mehr benötigt werden. Das Haus war laut vernehmlich für die Nacht gesichert worden, so als wenn weder mit weiterem Besuch gerechnet, noch ein Familienausflug geplant würde.
Er gähnte.
Andererseits handelte es sich um Vampire, die für gewöhnlich 'die Nacht zum Tag' machten. Sollte er noch eine Zeitlang auf seinem Posten bleiben? Ophelia Ziegenberger war eingetroffen und noch sah es gut aus. Es lief offenbar alles nach Plan.
Der kleine Gnom blieb unschlüssig stehen.
Das war ziemlich mutig von ihr! Wer konnte schon wissen, auf was für Gefahren sich die stellvertretende Abteilungsleiterin damit eingelassen hatte? Er hatte sowieso ziemlichen Respekt vor ihr. Und jetzt auch noch das! Eingesperrt in solch einem grauen Kasten! Dort drinnen gab es bestimmt keine hellen, luftigen Räume, in denen Blumen und andere Pflanzen gedeihen konnten. Eine gruselige Vorstellung. Da könnte man sich ja gleich in Stein einmauern und in einer Gruft begraben lassen!
Er legte seinen Kopf leicht schief und dachte über Gräber und Familiengruften nach.
Dann entschied er sich. Der kleine Verdeckte Ermittler drehte sich wieder der Bordsteinkante zu und machte es sich dort in der Tintenschwärze bequem.
Wenigstens noch ein bisschen länger konnte er das Haus von diesem Ascher beobachten. Das war zwar nicht unbedingt gefordert, schadete aber auch nichts.

~~~ Taktische Erwägungen ~~~


Die Verdeckte Ermittlerin ließ sich leise seufzend auf dem Bett nieder. Die flauschigen Daunen unter der Tagesdecke gaben sofort nach, so dass sie beträchtlich tiefer sank, als erwartet.
Nun war sie also hier.
Sie ließ sich aus einem ganz untypischen Impuls heraus in die glatte Deckenlandschaft fallen und schloss die Augen.
Leichter, kaum wahrnehmbarer Blumenduft hing im Zimmer, zusammen mit dem holzigen Duft des nachglühenden Kamins. Der Raum war nicht groß aber im Vergleich zu dem Bedienstetenzimmer des letzten Einsatzes beinahe schon ordinär luxuriös eingerichtet. Es gab nicht nur ein Bett und sogar einen schmalen Sekretär, sondern auch Wärme und Licht! Zumindest nahm sie das an, im Hinblick auf die beiden Fenster links und rechts des Bettenkopfendes.
Sie öffnete wieder die Augen und sah sich im Liegen um. Über ihrem Kopf, straff gespannt zwischen den hohen, schlanken Bettpfosten aus dunkel poliertem Holz, hing ein schlichter Baldachin aus dem gleichen feinen, cremefarbenen Wollstoff, aus dem auch das Bettzeug bestand. Die langen Gardinen vor den beiden Fenstern ließen sich seitlich zurück binden und hinter diesen erahnte Ophelia in den dunklen Nischen robuste Kerzenständer für jeweils eine Kerze. Ansonsten gab es nur noch einen kleinen Kleiderschrank mit leicht verschnörkelter Front, auf der gegenüberliegenden Seite des Bettes einen Waschtisch mit entsprechend bereitstehenden Utensilien, sowie einige dezente, schmal gerahmte Landschaftsbilder an den Wänden, die vermutlich ländliche Gegenden Gennuas zeigten, wenn sie das richtig einschätzte. Die Tapete war, wo zu erkennen, hell mit einem kaum zu erahnenden Streifenmuster. Der ganze Raum wurde von den Farbtönen gelb, braun und creme dominiert, ergänzt um goldene Details; er zeugte von zweifellos gutem Geschmack.
Ophelia starrte einen schrägen Ausschnitt des Sekretärs an.
Sie war so müde! Was wohl geschehen mochte, wenn sie die Aufforderung des Hausherrn bewusst ignorierte? Immerhin bedrohte er in der offiziellen Version sie und ihre Familie! Selbst wenn sie sich seinen Forderungen dem Schutze ihrer Familie zuliebe soweit gefügt hatte, dass sie Abschied von der Wache genommen und sich in die Gefangenschaft in seinem Hause begeben hatte, konnte er doch nicht wirklich mit freudiger Kooperation ihrerseits bis in die kleinste Kleinigkeit rechnen. Oder?
Natürlich stellte sich diese Frage im Augenblick vor allem aufgrund ihrer überraschend zehrenden Erschöpfung, nicht wegen genialer taktischer Erwägungen, wie sie sich eingestand. Und genau deswegen konnte sie dem Drang zu Schlafen jetzt auch nicht einfach nachgeben. Solche Schritte gehörten in gänzlich wachem Zustand gut durchdacht, nicht aus einer charakterlichen Schwäche heraus erwogen.
Sie quälte sich wieder in eine aufrechte Position.
Das Wasser im Krug war frisch und zwischen den Handtüchern war sogar ein wärmender Stein bereit gelegt worden. Sie entschied, vorerst ihr persönliches Reisekleid anzubehalten. Es mochte zwar vergleichsweise schlicht sein aber es war ihr vertraut und könnte vielleicht ein ganz klein wenig das Auftreten stärken. Zumindest hoffte die Ermittlerin das. Sie blickte in den Spiegel über der Waschschüssel. Würden die Vampire ihre unnatürlich vergrößerten Pupillen und die schweren Lider wahrnehmen? Oder würden sie annehmen, dass dies ihrem normalen Ausdruck entsprach?
Sie erinnerte sich wieder an den Geruch, den sie nun mit sich brachte.
Nein, die Vampire würden augenblicklich wissen, was sie getan hatte.
Ophelia atmete einige Male tief durch und bemühte sich darum, ihren Sinn zu klären. Sie musste jetzt ganz bei sich sein und sich konzentrieren. Vielleicht würde sie heute Nacht noch nichts Bedeutsames erfahren aber sie würde einen ersten Eindruck der Tatverdächtigen gewinnen können und die Gelegenheit dazu bekam man, wie der Begriff schon vermuten ließ, nur ein einziges Mal!
Die junge Frau zupfte einige Haarsträhnen glatt und flocht sie mit geübten Fingern in das Arrangement zurück. Dann verließ sie den kleinen Raum und machte sich auf den Weg zu dem Treppenabsatz im Erdgeschoss, um ihrem Auftraggeber zu folgen.

~~~ Rollenspiel ~~~


"Das ist ja kaum auszuhalten! Parsival, muss das wirklich sein? Das ist tatsächlich eine Zumutung!" Die greise Vampirin wandte sich mit sichtlich angeekeltem Gesichtsausdruck von Ophelia ab und schien den Hausherrn mit Blicken aus ihren kleinen, stechenden Augen erdolchen zu wollen. Parsival Ascher jedoch ignorierte die zeternde Gestalt auf dem Sessel und deutete Ophelia stattdessen an, dass sie durch die offen stehenden Türen eintreten und sich der erlesenen Gruppe im Salon anschließen solle. Sie senkte peinlich berührt den Blick und trat ein.
Das weißhaarige Pendant einer Hexe sog unüberhörbar Luft ein, nur um sofort darauf krächzende Laute von sich zu geben, die sie wohl für eine angemessene Darstellung des tödlichen Hustens einer Schwindsucht hielt. "Was für ein widerlicher Gestank! Dass Du es überhaupt wagst, dich mir zu nahen!"
Ophelia konnte es beim besten Willen nicht ändern - Röte schoss ihr bis in die Haarwurzeln hinauf. Sie hätte am liebsten sofort ein Bad genommen oder sich im hintersten Winkel des Hauses versteckt. Zwar war gerade dies beabsichtigt gewesen aber irgendwie hatte sie sich nicht ihre eigenen Gefühle dazu ausgemalt. Wie angewurzelt blieb sie stehen, völlig verunsichert von der Situation. Zu mehr, als einer intensiven Betrachtung des dicken Teppichs, sah sie sich außerstande.
Die Anwesenden verbreiteten eine seltsam lautlose Präsenz. Sie meinte das dumpfe Wispern von Samt zu erahnen aber es gab kein regelmäßiges Flüstern von Atem.
Aschers Stimme klang umso akzentuierter, als er sich durch den Raum auf sie zu bewegte, um sie schließlich wie ein Kind bei der Hand zu nehmen und ungefragt vor seine Familie zu dirigieren. Er drehte sie einmal im Kreis, so selbstverständlich, als wenn sie eine zu betrachtende Vase wäre.
"Darf ich Euch meinen Neuzugang vorstellen? Dies ist Ophelia. Sie war so überaus freundlich, meine Einladung anzunehmen. Natürlich musste sie dazu den Dienst bei der Stadtwache aufgeben. Eine Entscheidung, die ihr nicht ganz so leicht fiel, wie ich Euch bereits darlegte."
Ophelia knickste aus Gewohnheit. Undefinierbares Schweigen um sie her war Antwort und so wagte sie einen kurzen Blick auf die Versammelten. Außer ihr und dem ältesten Ascher befanden sich noch sieben weitere Personen mit im Raum. Und sie alle waren Vampire![5]
Sie erinnerte sich daran, dringend weiter atmen zu müssen. Und irgendwie fiel es ihr besonders schwer, klar zu denken. Was tat sie hier bloß? Herausfinden würde sie gewiss nichts. Wie hatte sie nur annehmen können, innerhalb eines Vampirclans ermitteln zu können? Es konnte nur noch Sekunden dauern, bis sie ihre Gedanken lesen und alles auffliegen würde! Bei Om, sie durfte nicht einmal daran denken, was dann passieren würde. Sie durfte gar nicht daran denken, dass sie sehr wohl immer noch Wächterin und mitten im Einsatz war, dass sie diesen Haushalt ausspionieren und diese Vampire verdächtigen würde, dass...
Trotz der betäubenden Wirkung des Kräutersuds spürte sie nur allzu deutlich, dass sie kurz davor stand, in Panik zu geraten.
Nein, meine Liebe, raunte es in ihren Gedanken, Du stehst nicht davor - Du bist es bereits.
Sie zuckte erschrocken zusammen, fasste sich unwillkürlich an die Schläfe und blickte zu dem neben ihr Stehenden. Dieser lächelte jovial in die Runde und schien sie zu ignorieren.
Keine Sorge, nur ich kann Dich 'hören'. Obwohl Du meinen Gedankenwall ziemlich auf die Probe stellst, mit der Lautstärke deiner mentalen Rufe. Ich wäre Dir sehr verbunden, wenn Du etwas leiser denken könntest.
Laut sagte er, an seine Verwandten gerichtet: "Wie Ihr seht, wird es vielleicht noch ein wenig dauern, ehe sie sich an die neuen Umstände gewöhnt hat."
Die ihr begegnenden Blicke zeugten deutlich von Spott. Eine sehr schlanke Vampirin mit streng zurückgekämmtem, aschblondem Zopf und gesegneter Oberweite gab ein gutturales Lachen von sich. Sie rekelte sich lasziv auf dem dafür nicht geeigneten winzigen Sessel, was in Anbetracht des eng geschnürten Korsetts eine Meisterleistung darstellte. Ihre Stimme klang tief und melodiös als sie mit unüberhörbarer Verachtung und deutlich gerollten R's sagte: "Hauptsache unserr Parrsival hat seinen Spaß, nicht wahrr?"
Dieser nahm die Gelegenheit sogleich wahr, um die Vorstellung in anderer Richtung fortzusetzen. "Ophelia, dieses liebenswürdige Geschöpf ist unsere kleine Teleri.[6]"
Dann deutete er mit geöffneter Hand der Reihe nach auf die Anwesenden.
Den ursprünglichen ersten Platz in der Reihenfolge hätte wohl die nörgelnde Alte verdient gehabt, denn diese wollte soeben zu neuerlichen Beschwerden ansetzen, denen der Familienvorstand jedoch mit routinierter Gelassenheit zuvorkam. "Unsere allseits geschätzte Herzogin von Lomond, Katharina Lilliana Natalie Ascher.[7]" Die Matriarchin reckte das Kinn noch einen winzigen Deut vor, so dass ihr schwarzes Spitzenhäubchen auf dem weißen Haar zitterte. Die grobe Strickdecke um ihre Schultern vermittelte den Eindruck, als solle sie vor Kälte schützen.
Ascher deutete auf die Dame links der scheinbaren Ahnin. Es handelte sich bei dieser um eine mütterlich wirkende Frau mit kurzen Locken und gutmütig wirkenden, ebenso braunen Augen. Sie trug Abendgarderobe, mit Pelzstola, Kropfband und langer Perlenkette, die mehrmals um den Hals geschlungen war. Sie nickte Ophelia leicht zu, wobei sie andeutungsweise schmunzelte. "Desdemonia Charlotte Karellia Ascher, Gräfin von Pine.[7a]"
Ophelia nickte vorsichtig zurück und folgte dem Fingerzeig des Hausherrn zu den beiden Männern in diesem Raum. Der eine zeichnete sich vor allem durch makellos glatte Haut und irritierend hellfarbene Augen aus, deren Iriden von dunklen Rändern eingefasst wurden. Der junge Mann schien einfache Kleidung zu bevorzugen, denn er hatte auf jegliche Schnörkel an seinem Hemd verzichtet. Er lächelte ihr beinahe schüchtern zu.
"Christopher Ascher, sozusagen mein Erstgeborener.[9]" Aschers Stimmlage ließ bei seinen Worten nicht erkennen, ob ihn dieser Umstand mit Stolz erfüllte.
Und schon zog der andere junge Mann ihren Blick auf sich.
"Mein zweiter Sohn, Herribert Ascher.[10]"
Eine bloße Beschreibung, wie sie von einem Steckbrief abzulesen gewesen wäre, hätte jeden Beobachter in die Irre geführt. Zwar hatte auch dieser Mann kurz geschnittenes, dunkelbraunes Haar, ein schmales Gesicht, gebrochene Brauen und einen schmallippigen Mund, doch diese äußerlichen Gemeinsamkeiten waren zufälliger Natur und wurden sofort vom Gesamtbild zunichte gemacht. Nichts an ihm spiegelte die Zurückhaltung des Ersteren. Dieser Vampir strahlte mit jeder Faser seines Seins Widerstand und Trotz aus, sogar Selbstbewusstsein bis hin zur Arroganz. Der Blick seiner dunkelbraunen Augen blieb leicht gesenkt, wie der eines wartenden Stiers und er beobachtete die junge Frau ohne die geringste Regung in seinem eher kantigen Gesicht. Um seinen Hals hing eine sehr weite Kette, wie sie manchen Würdenträgern über die Schultern gelegt wurde. Schwere, mit Ornamenten und dunklen Edelsteinen verzierte Metallglieder wechselten sich mit oval geformten Verbindungsringen ab. Wofür diese Kette wohl stand? Handelte es sich um ein reines Schmuckstück oder hatte er sie sich als eine Art Auszeichnung verdient? Hatte dieser junge Vampir vielleicht irgendein besonderes Amt inne?
Es fiel Ophelia sehr schwer, den Blick von dem Schmuck abzuwenden und ihre Gedanken beieinander zu halten.
"Und unsere beiden Jüngsten: Meine kleine Audrey[11]. Und Rosalind, Prinzessin von Kohlfurten.[12]"
Die 'kleine Audrey' musste wenigstens schon an die zwanzig gewesen sein bei ihrer Wandlung zur Vampirin. Sie entsprach den gängigen Klischees billiger Abenteuer- und Romantikheftchen, in denen die Vampirinnen die Gefahr aus der Finsternis darstellten, die ebenso erbarmungslos wie schön hinter einen trat, um lächelnd das Lebenslicht fortzuküssen. Sie trug schwarz, als wenn es ihr als zweite Haut über den Leib gegossen worden wäre. Eng anliegend und unzüchtig, denn sie verzichtete nicht nur auf die derzeit modischen Unterbauten, sondern trug mit provokantem Auftreten Beinkleider; ihre schlanke Mitte wurde allenthalben von Schnallen und Riemen umschlossen, während das kinnlange feine Haar ihr wild ins Gesicht fiel. Die schmalen Augen blickten Ophelia so misstrauisch an, dass deren strahlend helles blau kaum durch die dichten, schwarzen Wimpern hindurch zu sehen war.
Die Wächterin wagte letztendlich auch noch einen genaueren Blick auf die Prinzessin. Soweit dies zu erkennen war, schien die sitzende Rosalind klein zu sein von Statur. Ihr markantes Gesicht wirkte herb, beinahe etwas maskulin. Dieser Eindruck wurde zwar von zarten Brauen und einer üppigen Haarpracht aus schweren, hoch gebundenen Flechtzöpfen relativiert aber keinesfalls zunichte gemacht. Die drahtige Frau nickte ihr knapp zu, wobei von dem offenen Blick eine gewisse Unzufriedenheit abzulesen war.

Ophelia richtete ihr Augenmerk schüchtern zu Boden. Sie befand sich offensichtlich nicht nur in unsterblicher, sondern zugleich in adliger Gesellschaft. Was auch immer sie denken oder empfinden mochte, sei es in dem erdachten Tarnszenario oder der sich in diesem Augenblick tatsächlich ereignenden Realität, es wäre nur zu natürlich, wenn all ihre antrainierten Instinkte die Führung übernähmen. Einmal noch flatterte die Aufregung kurz in ihrem Magen, dann gab sie ihren gesellschaftlichen Reflexen nach und ließ sich von diesen durch das unbekannte Fahrwasser tragen.
"Es ist mir eine Ehre, Sie alle kennen zu lernen." Ophelia knickste sicherheitshalber nochmals und atmete tief durch. Ihrer Rolle entsprechend wandte sie sich dem Gastgeber mit unbewegten Gesichtszügen zu. "Ich nehme an, dass es nicht nur dem Wunsche der Herzogin entspricht, so ich mich in das mir zugewiesene Gemach zurückziehe. Mein Tag war lang und angefüllt mit unangenehmen Vorkommnissen. Ich bitte um Euer allergnädigstes Verständnis für meine Unpässlichkeit, auch wenn ich befürchte, mit dieser Bitte allzu unhöflich zu erscheinen."
Hoffentlich war ihre eigene Körpersprache ebenso undurchschaubar, wie die des Hausherrn. Seinen Mund umspielte ein Lächeln.
"Nein."
Sie blinzelte. Um sich her hörte sie vereinzeltes Lachen.
"Ophelia, meine Familie hat mir zu verstehen gegeben, dass sie Dich näher kennen lernen möchte, immerhin wirst Du fortan mit uns gemeinsam unter demselben Dach wohnen. Also nimm doch Platz in unserer kleinen Runde, bitte!"
Ihre Beine setzten sich aufgrund des gedanklichen Zuges schon in Bewegung, bevor Ascher seinen Befehl laut auch nur zu Ende ausgesprochen hatte. Seinen Wunsch zu erfüllen war ihr ein selbstverständliches Bedürfnis, denn wie unhöflich wäre es gewesen, solch ein freundlich vorgebrachtes Anliegen abzuweisen? Eine Sekunde später saß sie verwirrt auf dem kleinen Sessel, die Hände im Schoß gefaltet. Zumindest Herribert und Audrey, die beiden so misstrauisch wirkenden Vampire, standen außerhalb ihrer Sicht, irgendwo hinter ihrem Rücken. Der Gedanke war unbehaglich und gerade, als ihre Phantasie mit einer grausamen Bilderschau beginnen wollte, schob der Hausherr eine Barriere vor ihre Angst. Sie fühlte einen Teil der Anspannung schlichtweg von sich abfallen, so nebensächlich, so kindisch, und die beiden unsichtbaren Anwesenden verloren an Bedeutung. Auch die ihr geltende Aufmerksamkeit der Übrigen trat nach und nach in den Hintergrund, bis die zierliche Wächterin nur noch Augen für den distinguierten Gastgeber hatte. Seine Stimme schwang in ihrem Sinn nach, als wenn dieser der Klangkörper eines fein zu stimmenden Instrumentes wäre, eines, dem bisher lediglich der Meister gefehlt hatte, um es zu beherrschen! Sie fühlte sich wohl.
"Natürlich habe ich Erkundigungen zu Dir eingezogen. Aber weder erzählen Namen und Daten die ganze Geschichte, noch habe ich bisher dieses Wissen groß mit meiner lieben Familie teilen können. Möchtest Du uns daher vielleicht selber von Dir erzählen?"
Aus irgendeinem Grunde zögerte Ophelia. Das grimmig blickende Bild der D.O.G.-Kollegin flackerte in ihrem Sinn auf, sowie deren Warnung. Auch die Verhöre, die sie in der Wache führten, begannen oft als harmlose Plauderei und mit den Worten "Erzähle Du doch von Dir, Herr!" Etwas stimmte hier nicht!
Vertraue mir!
Nein! Ihre Reaktion war unmittelbar erfolgt, ohne dies begründen zu können oder die Antwort bewusst zu formulieren.
Das ist der normale Weg, einen neuen Gast aufzunehmen. Wenn Du dich nicht meiner Lenkung anvertraust, müsste ich Dich zum Schutze des Clans zwingen. Sie würden aus meinem Unwillen dazu noch mehr Verdacht schöpfen, als sie es ohnehin schon tun.
Der Bann verlor an Wirkung und bekam Risse. Sie hörte das nahe Wispern von Seide. Sie schüttelte den Kopf, um ihn frei zu bekommen und holte erschrocken Luft. Parsival war direkt vor dem Sessel auf ein Knie gesunken und hielt ihre Hände fest zwischen den seinen. Die anderen waren unbemerkt näher gerückt, die mütterlich wirkende Gräfin mit den langen Halsketten stand inzwischen so dicht zu ihrer Linken, dass sie die ausstrahlende Kühle des bleichen Körpers durch den Stoff spüren konnte. Ihr wurde kalt.
Seine Gedankenstimme klang inzwischen drängend, beinahe flehend. Wir hatten das vorher besprochen. Es ist wichtig, dass Du jetzt deine Rolle spielst. Ophelia, sieh mich an! Es gibt keinen Ersatz und nun auch keinen ungefährlichen Ausweg mehr. Du bist hier in meinem Clan. Sie haben bereits ein Auge auf Dich geworfen und die Zeit drängt. Gefährde nicht unsere geringe Chance!
Sie schloss verzweifelt die Augen, unfähig, seinen Aufforderungen Folge zu leisten.
Es tut mir so leid, Herr! Bitte verzeihe mir! Ich gebe mir ernstlich Mühe aber...
"Ganz offensichtlich hast Du sie längst noch nicht im Griff, Parsival. Ich weiß zwar nicht, was Du dir von diesen Spielchen erhoffst aber wehe wenn sie Ärger macht. Die ganze Aktion könnte als außerordentlich fraglich angesehen werden, von einem gewissen Standpunkt aus. Und ich werde garantiert nicht diejenige sein, die sie zu verteidigen versucht!" Die zänkische Stimme der Alten entfernte sich.
Nun gut. Ich sage es lieber vorher: Es tut mir sehr leid aber auch ich habe eine Rolle zu spielen! Und leider ist es die des skrupellosen Bösewichts. Es ist nur zu deinem Besten, junge Dame.
Trotz der unheilvollen Drohung blieb ihr nicht einmal genug Zeit, um neuerliche Angst zu empfinden, da traf die Macht des Vampirs auf ihr instinktives Zurückweichen und machte kurzen Prozess damit.
Vertraust Du mir?
Ich versuche es ja, Herr, aber ich kann n...
Dann wirst Du es lernen. Bis dahin genügt mir Gehorsam.
Die trügerisch wärmende Decke um ihren Verstand zog sich mit einem erbarmungslosen Ruck zusammen und das letzte, was Ophelia mitbekam waren die barsch geäußerten Worte der Prinzessin: "Parsival, so roh! Das ist unter deiner Würde."

~~~ Unter fremdem Baldachin ~~~


Sie hatte Kopfschmerzen. Mörderische Kopfschmerzen! In diesem Zustand würde sie unmöglich in die Wache können. Sie konnte ja noch nicht einmal klar denken! Dabei hatte sie bisher nur einmal nach dem letzten Einsatz frei nehmen müssen, als alles so schief gelaufen war. Sie würde nach Märrie rufen müssen. Bestimmt wusste diese, welches Kraut dagegen gewachsen sein mochte.
Sie tastete nach dem Beistelltisch und dem üblicherweise dort stehenden Glas Wasser. Sie tastete ins Leere und zögerte.
Was war heute für ein Tag? War sie etwa im Einsatz? Das war nicht ihr eigenes Bett, oder?
Sie öffnete mühsam die Augen und blinzelte in einen unbekannten dunklen Raum. Über dem Bett hing ein Baldachin. Sie war eindeutig nicht daheim. Aber wo dann?
Das Blut pulsierte wie Trommeln hinter ihren Schläfen und sie presste sich stöhnend die Fäuste gegen den Kopf, damit dieser nicht auseinanderplatzen konnte.
Bei Om, was hatte sie getan, um an einen so heftigen Kopfschmerz zu kommen? War sie betrunken? Oder krank? Würde sie daran sterben? Konnte man das?
Tränen traten ihr in die Augen und bekamen mit jedem Herzschlag Nachschub.
Es wird bald wieder besser werden. Und ich möchte noch einmal ernstlich um Verzeihung bitten.
Gemeinsam mit der Stimme kamen auch alle Erinnerungen zurück.
Sie hatte Recht gehabt, ihm nicht zu vertrauen, auch wenn das keine bewusste Entscheidung gewesen war. Noch nicht einmal eine Stunde in seinem Hause, hatte er eigenhändig die Absprachen zu ihrem Schutze gebrochen. Er hatte sich weder an Anstand, noch an seine Versprechen gebunden gefühlt.
Das ist eine sehr einseitige Sicht. Immerhin stellte diese Situation für uns beide eine akute Gefahr dar. Letztlich entsprach unser beider Verhalten den vorgesehenen Rollen. Es ist noch einmal gut gegangen.
Sie schwieg. Die Schmerzen klangen nicht unbedingt dadurch ab, dass ihr Kopf zum Ort einer Diskussion geworden war.
Parsival Ascher seufzte leise. Und dieses Geräusch erklang nicht in ihrem Inneren!
Ophelia starrte aufgewühlt in das Dunkel um sie her.
Sein Schatten löste sich vom Schrank, an den er sich bisher gelehnt hatte, und er setzte sich nahe zu ihr auf die Bettkante. Alles an ihm, von seiner aufrechten Haltung, über die silber schimmernden Schläfen und seine schlanken Hände, sprach von der lange erprobten Kunst der Verführung. Lediglich sein müder Gesichtsausdruck widersprach dem.
Es ist meine Schuld. Ich hätte mehr berücksichtigen müssen, dass der Kräutersud der Konzentration und somit auch deiner Selbstkontrolle abträglich ist.
Ophelia fühlte sich augenblicklich schuldig und hatte das dringende Bedürfnis, ihm zu widersprechen.
Nein, bitte, es tut mir noch viel mehr leid, Herr! Es ist nicht deine Schuld, sondern meine. Ich hätte Dir vertrauen und einfach über mich erzählen sollen. Was wäre schon dabei gewesen? Stattdessen habe ich Dich zu so einer Maßnahme gezwungen. Das war keinesfalls professionell von mir und ich hoffe, diesen Fehler alsbald korrigieren zu können.
Er nahm ihre Hand von der Bettdecke auf und drückte sie vorsichtig und aufmunternd.
"Darf ich Dir helfen, Ophelia?"
Sie blinzelte unschlüssig die Kopfschmerztränen weg.
"Wobei denn?"
"Dabei, die Pein zu lindern."
"Wenn das geht?"
Er nickte und nahm ihr Gesicht in beide Hände. Das Pulsieren ließ nach und auch sonst entspannte sie sich merklich. Sie atmete tief durch.
"Vielen Dank!"
Eine Zeit lang sagten sie nichts zueinander. Das Schweigen war nicht unangenehm, obgleich Ophelia ihn in der Dunkelheit kaum erkennen konnte. Sie lag vollständig bekleidet auf der Tagesdecke, also hatte er sie vermutlich lediglich hierher getragen. Es hätte schlimmer kommen können, auch wenn ihre Mutter das vielleicht anders sehen würde.
Mit einiger Verspätung wurde ihr bewusst, dass es selbst für Krankenbesuche, wenn man diesen denn überhaupt so nennen konnte, zu spät war. Sie war auf ihrem Zimmer, in einem fremden Haus, mit einem Mann, mitten in der Nacht! Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Wenn das bekannt würde, wäre es ein Skandal!
Parsival Ascher lachte leise an ihrer Seite.
So lange das deine geringste Sorge ist, kann ich Dir eine zweite Last von den Schultern nehmen. Ich werde mich ebenfalls in meine Räume zurückziehen. Ich wünsche eine angenehme Nachtruhe.
Das Schließen der Tür war kaum zu hören, dann war sie allein.

~~~ Leichtsinnige Stimmung ~~~


Sie schlief unruhig und von dämmrigen Phasen unterbrochen. Mindestens zweimal erwachte sie fröstelnd und mit panisch flatterndem Herzschlag. Doch da sie jede Nacht seit dem Desaster der Karakost-Ermittlung so verbrachte, mühte sie sich lediglich darum, die Albtraumgespinste zu zerreißen und wieder einzuschlafen. Unter genau solchen Umständen, wie sie nun eingetreten waren, hätte ihr dies bei weitem nicht so leicht möglich sein sollen, ging es der Verdeckten Ermittlerin zwischen zwei nächtlichen Schrecken vage durch den Sinn. Es musste daher wohl etwas dran sein, an der Behauptung, dass der Kräutersud Wachsamkeit gegen eine leichtsinnige Stimmung eintauschte. Andererseits konnte sie schließlich schlecht Tag und Nacht wachen, um jeglichen Gefahren aus dem Wege zu gehen. Also war es ganz sicher nicht verkehrt, die Gunst des Augenblicks für Schlaf zu nutzen, der trotz allem erholsamer war, als derjenige der gesamten letzten Wochen. Die Stunden vergingen, in denen sie sich von einer Seite auf die andere wand, bis endlich der Morgen anbrach.

Es war still im Haus. Die Glut im Kamin war zwar von Asche bedeckt, erfüllte den kleinen Raum jedoch mit angenehmer Wärme. Zwielicht filterte milchig trüb von der Straße her durch die Vorhänge. Es kündete von Nebel oder stetem Nieselregen. Sie zuckte innerlich mit den Schultern - es sah ohnehin nicht danach aus, als wenn sie das Haus in den nächsten Tagen verlassen könnte. Sie sah an sich hinab. Ihr eigenes Kleid würde sie nun nicht mehr tragen können. Spätestens die unruhige Nacht hatte ihm zugesetzt, so dass es völlig zerknittert war.
Ophelia stand seufzend auf und ging den Kleiderschrank durchsehen. Die Kleider hingen dicht gedrängt und die schweren Schubladen an einer Seite des Innenraumes waren gefüllt mit feiner Wäsche und Accessoires.
Sie gestattete sich ein erleichtertes Lächeln. Keine seidenen Ballroben oder glitzernde Juwelen, sondern stattdessen Hauskleider aus robustem Tuch. Die Schnitte waren zwar modisch aber gleichzeitig ähnelten sie ihrem persönlichen Geschmack und somit auch entfernt ihrer üblichen Garderobe. Sie war vom vorherrschenden Klischee zur Vampirgesellschaft und deren Vorlieben ausgegangen und hatte dem Hausherrn damit Unrecht getan. Offenbar hatte er sich wirklich Gedanken darüber gemacht, wie er ihr diese Aufgabe in seinem Hause etwas erleichtern könnte.
Sie strich mit den Fingerspitzen über die verschiedenen Stoffe.
Wenn sie das Ziel ihrer Aufgabe erreicht und Licht in den Fall gebracht hätte, würde sich diese Investition für ihn auszahlen. Dann konnte sie ihm zeigen, dass er die Ungelegenheiten nicht umsonst auf sich genommen hatte und ihm auf diese Weise für seine Rücksichtnahme danken.
Sie wählte ein eng anliegendes, dunkelgrünes Kleid mit weiten Röcken. Eine halbe Stunde später war auch ihr Haar endlich hochgesteckt und sie verließ leise raschelnd das Zimmer, in dem festen Vorsatz, ihren neuen Einsatzort gründlich zu erkunden.
Parsival Ascher hatte die Wache erst nach Sonnenuntergang aufgesucht. Auch am gestrigen Abend war er bei einbrechender Dämmerung zu ihrer Verabredung erschienen, um sie in sein Haus zu holen. Fühlte er sich also an den traditionellen Weg seiner Art gebunden? Und wenn er diesen für sich angenommen hatte, galt das dann auch für seinen Hausstand? Ihre Vampirkollegen jedenfalls ließen sich keinerlei Einschränkungen aufgrund des Sonnenlichts auferlegen. Nicht nur die Wache profitierte von der Schutzcreme, die es am Hier-gibts-alles-Platz zu kaufen gab. Darüber hinaus empfanden Vampire, so hatte Breda es ihr erklärt, nicht mehr in gleicher Weise die Notwendigkeit einer Nachtruhe, wie sie dies noch als Sterbliche getan hatten. Würde es nur nach den körperlichen Möglichkeiten und Einschränkungen gehen, könnten sie in Rund-Um-Die-Uhr-Schichten eingesetzt werden und müssten niemals abgelöst werden. Keiner der betreffenden Kollegen sprach gerne über diese Möglichkeit - das wurde generell unterlassen. Im Gegenzug waren sie normalerweise mit als erste zur Stelle, wenn es zu Notfällen kam.
Ophelia schritt in Gedanken den langen Korridor ab. Dessen geweißte Kargheit stand in auffälligem Kontrast zu den von ihm abgehenden Zimmern. Überhaupt schien das ganze Haus von Widersprüchlichkeiten angefüllt zu sein. Von außen eine in die Jahre gekommene, unansehnlich fleckige Fassade, verlassen und düster. Von innen dagegen gutbürgerlicher Wohlstand, warme Behaglichkeit, dezenter Luxus. Die oberen Etagen lagen jetzt verlassen da aber hell und freundlich. Die unteren dagegen waren gestern gefüllt gewesen von Vampiren und Schatten. Sie hatte vor einiger Zeit im Arbeitszimmer ihres Vaters Zeichnungen gesehen, Entwürfe für die künftigen Almanachartikel. Darunter auch das Bild eines umgestürzten Baumes. Verborgen in seinem Schutz, halb eingegraben unter moderndem Laub und Moos, hatte ein Schlangennest gelegen.
Sie verbannte diese unwillkommene Phantasie mit deren Parallelen schnell wieder und stieg in das erste Stockwerk hinab.
Offenbar gab es auf beiden Etagen jeweils einen Gemeinschaftsraum. Alle anderen Räume schienen Privaträume zu sein. Wenn sie sacht an den Türen lauschte, konnte sie dahinter Geräusche hören. Atem, Rascheln, Bewegungen. Vermutlich wohnten auf den beiden oberen Etagen keine Vampire, sondern Menschen.
'Deren' Menschen, ging es ihr fröstelnd durch den Sinn. Sie fühlte sich peinlich berührt und hielt inne.
Sie versuchte sich vorzustellen, was das für Persönlichkeiten sein mochten, dass sie bereitwillig ihre Freiheit gegen Leibeigenschaft eintauschten. Denn, dass es noch eine weitere Person hier geben könnte, die sich nicht ganz freiwillig in diesem Haus aufhielt, mochte sie nicht einmal annehmen.
"Möchtest Du etwas frühstücken?"
Ophelia schnellte herum und wich gleichzeitig zurück, woraufhin sie gegen das Treppengeländer stieß. Ihr Herz raste und sie fasste sich mit zitternden Fingern an den Hals.
Die hübsche Blondine ihr gegenüber hob entschuldigend die Hände und lachte ungezwungen.
"Tut mir leid! Entschuldige bitte, ich wollte Dich nicht erschrecken. Ich glaube, man gewöhnt sich irgendwann an dieses lautlose Rumgeschleiche, bis man es schon selber macht, ohne es zu bemerken." Die zierliche Frau mit den rosigen Wangen streckte ihr zur Begrüßung die Hand entgegen. "Ich bin Susanne Bleibstduwohlhier[13]. Ja, ich weiß, da waren meine Eltern nicht besonders kreativ. Aber er trifft es irgendwie doch ganz gut. Und Du? Du bist die Neue hier, nicht wahr?"
Wenn Ophelia bisher eines in ihrer Spezialisierung gelernt hatte, dann dies, dass ein Beziehungsgeflecht zu den Personen im Verdeckten Einsatz mitunter das rettende Sicherheitsnetz für sie sein konnte. Sie ergriff freundlich die dargebotene Hand.
"Ophelia Ziegenberger. Es freut mich, Dich kennen zu lernen."

~~~ Wie auf dem Postamt ~~~


Inzwischen schwirrte ihr der Kopf vor lauter Namen und Gesichtern. Susanne hatte sie fröhlich plaudernd mit sich gezogen, bis sie in der ersten Etage des Hauses, an dessen rückwärtiger Seite, den großzügigen Essensraum betraten. Eine lange Tafel mit weißem Tischtuch dominierte alles und war mit Köstlichkeiten eingedeckt. Gegenüber der Tür, durch die sie den Raum betreten hatten, sahen sie durch schmale Fenster, die von der Decke bis zum Boden reichten, auf einen von Nebel verhangenen Innenhof hinaus. Schnell richtete sich ihre Aufmerksamkeit wieder auf den warmen Kerzenschein der silbernen Leuchter und den aromatischen Duft frisch gebrühten Tees.
Sie waren nicht die ersten, die sich hier einfanden und schon wurde sie durch den nächsten Ankömmling beiseite geschoben, der sich schweigend einen Weg um sie herum und zu seinem bevorzugten Platz bahnte.
Ophelias Begleiterin sah dem jungen Mann mit einem Stirnrunzeln nach und bedachte ihn mit einem provokativen: "Dir auch einen wundervollen guten Morgen, Eric![14]"
Der Angesprochene bedachte die beiden an der Tür nur mit einem flüchtigen Blick, bevor er sich aus einer winzigen Kanne einige Tropfen Klatschianischen Kaffees einschenkte.
Glücklicherweise hatten die anderen Menschen sie freundlicher begrüßt, wenn auch nicht besonders gesprächig. Es war offensichtlich, dass der Kommunikation bei Tisch ein bei weitem geringerer Stellenwert beigemessen wurde, als der Nahrungsaufnahme. Aber das kam ihr ganz recht. Allmählich fiel es ihr nämlich tatsächlich schwer, den Überblick über diese vielen Hausbewohner zu behalten. Und dabei hatte sie noch nicht einmal das Personal kennen gelernt!
Während Ophelia sich eine geröstete Toastscheibe nahm und diese dünn mit Butter und Marmelade bestrich, versuchte sie daher, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen und den Namen die richtigen Gesichter zuzuordnen.
Auf beiden Seiten des Tisches waren jeweils sechs Gedecke vorbereitet worden. Am Ende der Tafel standen noch einmal zwei und am Kopf eines. Dort saß bereits eine eher unscheinbare Frau mit frischer, junger Haut aber ergrautem Haar. Sie trug es hochgesteckt, in einer sanften Welle unter die Haube reichend, dazu herabhängende Perlenohrringe und geschmackvollen Schmuck. Dunkle Augen und bleiche Haut verliehen ihr, zusammen mit den kaum zu erahnenden Brauen, einen beinahe kindlichen Ausdruck. Sie wirkte freundlich und in sich ruhend, doch zugleich auch distanziert.
Susanne hatte sie als Marlies Hammersohn[15] vorgestellt und darauf hingewiesen, dass Ophelia sich in allen Fragen an diese wenden könne. "Marlies ist unsere Sprecherin. Sollten wir ein gemeinsames Anliegen haben, trägt sie es Parsival vor. Außerdem organisiert sie viel für das Wohlbefinden unserer Gruppe, nicht wahr, Marlies?"
Die graue Dame hatte ernst genickt. "Ja, solltest Du etwas Bestimmtes benötigen, dann zögere nicht, mir das mitzuteilen. Ich werde mich dann gerne für Dich umschauen, wenn ich sowieso Besorgungen mache." Dann hatte sie sich wieder dem Obst auf ihrem Teller zugewandt.
Es waren längst noch nicht alle Plätze belegt, doch etwas fiel Ophelia auf, auch wenn sie es noch nicht deuten konnte. Je länger die gemütliche Mahlzeit andauerte, und keiner der Anwesenden schien es eilig zu haben, desto gelöster wurden die Unterhaltungen. Es entwickelten sich leise Gespräche und hier und da wurde sogar gelacht. Dabei schien es jedoch eine unsichtbare Grenze zum unteren Ende des Tisches hin zu geben. Dort saß nicht nur der wortkarge Eric. Auch eine schüchtern wirkende Frau gehörte zu dieser Gruppe. Ihr kringelig gelocktes Haar und die mit Federn besetzte Haube, verliehen ihr ein zerfleddertes Aussehen, als wäre sie auf der Flucht gewesen und dabei durch dorniges Gestrüpp gerannt. Neben dieser gehetzt wirkenden Person saß eine umwerfende Dunkelhaarige mit vollen Lippen, schulterlangem Haar und Schlafzimmerblick hinter halb gesenkten Lidern. Diese Drei saßen zwar an derselben Tafel aber dennoch irgendwie abseits. Ihnen wurden keine Fragen gestellt und auch sie selber schienen nicht an einer Unterhaltung interessiert zu sein, nicht einmal untereinander.
Wie hieß die Dunkelhaarige noch mal? Ja, richtig. Ramona![16] Und die zerfledderte Zierliche mit dem völlig veralteten Empirekleid hieß Anna-Sophie.[17] Susanne hatte ihr unter der Hand, als wenn es um ein schreckliches Geheimnis ginge, bedeutungsvoll zugeraunt, dass Anna-Sophie die "Begleitung der Herzogin" sei. Woraufhin Ophelia einen Moment brauchte, um die entsprechenden Bilder einander zuzuordnen. Sie stellte sich diese zerbrechlich wirkende Person neben der rücksichtslos keifenden Alten vor. Kein Wunder, dass die Knopfaugen ängstlich auf das Porridge geheftet blieben und der dünnlippige Mund etwas zu verkniffen wirkte. Sie konnte natürlich nicht wissen, wie viel Wahres an ihren phantasievollen Vermutungen dran sein mochte aber sie empfand automatisch Mitleid mit der Begleiterin.
Die Tür öffnete sich erneut und diesmal traten gleich drei Personen auf einmal ein. Die zu Vorderst war ein etwa vierzehnjähriges Mädchen!
Ophelia war schockiert. Wie konnte er nur! Dieses Kind sprühte nur so vor Lebenslust und Energie und war ganz sicher kein Vampir. Es hatte daher absolut gar nichts in einem solchen Haushalt verloren. Sie mochte sich nicht einmal ansatzweise ausdenken, in welch einer Beziehung der Hausherr zu ihr stehen mochte!
Die Kleine entdeckte sie und unterbrach die beiden Frauen hinter sich mitten in deren angeregter Unterhaltung, indem sie einer von ihnen vertraut am Arm zupfte.
"Mama! Da ist sie!"
Die Angesprochene sah Ophelia direkt an und tatsächlich waren die Gemeinsamkeiten zwischen Mutter und Tochter nicht zu übersehen. Beide waren schlank, sommersprossig und ihr Haar das reinste Flammenmeer. Auch Ophelia hatte rotes Haar aber ihres hatte einen eher dunkleren Farbton, der an Wein erinnerte. Bei Mutter und Tochter dagegen schienen die Köpfe vom orangenen Feuer eines Sonnenaufgangs umhüllt. Die leuchtende Farbe fiel bei der Älteren in hüftlangem Schimmern glatt und seidig der Erde entgegen. Die Jüngere hingegen schien soeben einen Sturm durchquert und allen Elementen der Scheibe getrotzt zu haben. Ihre widerspenstige Frisur stand wellig und zerzaust in alle Richtungen und wurde durch ein breites Grinsen und jungenhafte Kleidung komplettiert.
Die Mutter des Wildfangs warf der eleganten Frau neben sich einen unauffälligen Blick zu.
Diese war wesentlich kleiner als die übrigen Anwesenden, etwa gleich groß wie das Mädchen. Sie hatte rabenschwarzes Haar und sehr schmale Augen. Eine Achaterin. Sie umrundete den Tisch und setzte sich gegenüber von Mutter und Tochter, so dass sie schräg zu Ophelia sehen konnte.
"Wie geht es Dil, Ofelia? Velmutlich hast Du heute Kopfschmelzen?" Dabei faltete sie mit zierlicher Geste die Stoffserviette auf ihrem Schoß auseinander.
Susanne neben ihr holte schnell die Vorstellung nach. "Odett Keller[18] und ihre Tochter Anna.[19]" Und mit einem Deut zu der Achaterin ergänzte sie: "Sakura-Chan.[20]"
Die zierliche Achaterin in dem eng geschnittenen Kleid nickte ihr leicht zu und begann sich einen Salat aufzutun. Blumenduft ringelte sich gleich darauf aus ihrer Trinkschale.
"Meine Hellin hat mil gesteln Abend von Palsivals Fehltlitt belichtet." Sie legte das Salatbesteck beiseite und griff zu den bereit liegenden Holzstäbchen neben ihrem Gedeck. "Nolmalelweise ist el nicht so ungeschickt. Ich nehme an, dass el den Gedankenschutz velpatzt hat? Meine Hellin ging nicht nähel dalauf ein abel sie wal ziemlich aufgelegt. Odett ist del Ansicht, dass el demnächst genau dalauf achten und keinen Fehlel mehl machen wild und sie kennt ihn viel bessel als ich."
Bevor Ophelia überhaupt antworten konnte, fiel die Tür des Essraumes unangenehm hart zu.
Vom Kopfende der Tafel erklang ein tadelndes "Henrietta![21] Bitte, das muss wirklich nicht schon am frühen Morgen sein!"
Eine Art gut erhaltener Zombie in Abendgarderobe stapfte lustlos in Richtung Marlies und ließ sich an deren Seite der Tafel plumpsen. Henrietta war natürlich kein Zombi, sondern eine junge Frau, übellaunig und mit schlechtem Geschmack aber bereits vollständig geschminkt. Geradezu weißer Teint ließ die schwarz getuschten Augenränder extrem hervorstechen und verlieh ihr ein etwas kränkliches Aussehen. Ophelia war sich beinahe sicher, dass das nicht beabsichtigt war. So sah jemand aus, der das Klischee eines blassen Vampirs vor Augen hatte, während er zugleich keinerlei Talent sein Eigen nannte, diese Vorstellung auch mit Kreiden, Farben und Pinseln umzusetzen.
Sie setzte neuerlich zu einer Antwort an, als sie den Luftzug spürte, mit dem sich die Tür öffnete. Dieses Mal trat eine hoch gewachsene Dame mit geradezu verklärtem Blick ein. Sie wirkte unsicher und zögernd, ihre Stimme flüsterte wie Wind durch den zu großen Raum.
"Guten Morgen!"
Die Dame wurde ihr als Maria[22] vorgestellt, deren Aufmerksamkeit galt aber noch dem Schließen der Tür, wobei Maria kurz zögerte, nur um diese wieder ein Stück auf zu ziehen. Sie trat beiseite. "Guten Morgen, Engelbrecht![23] Guten Morgen, Julietta![24]"
Ein Mann mit lockigem Haar und braunen Bartstoppeln betrat das Esszimmer, gefolgt von einem blonden Engel mit herzförmigem Gesicht und spitzbübischem Grinsen.
Ophelia fühlte sich allmählich wie auf dem Postamt.
Vom Kopf der Tafel erklang Marlies ruhige, feste Stimme: "Dann fehlen nur noch Klara und Halofenn. Klara ist schon außer Haus, sie hat einen Termin bei der Anwaltsgilde." Sie nickte andeutungsweise in Ophelias Richtung, um die Neuankömmlinge auf sie aufmerksam zu machen. "Das ist Parsivals neuer Gast, Fräulein Ophelia Ziegenberger. Wie immer gilt: Wer Fragen stellen möchte, darf das gerne tun, es ist aber niemand dazu gezwungen, diese zu beantworten."
Womit Marlies sich wieder ihrem Tee zuwandte und die Angelegenheit als geklärt erachtete.

~~~ Die lange Tafel ~~~


Entsprechend der Vereinbarung gab Ophelia nur wenig Auskunft zu sich selbst. Ja, sie habe eine Familie hier in der Stadt, diese wisse aber nicht viel über ihren derzeitigen Aufenthaltsort. Sie bräuchte eine Auszeit von allem, auch von der Familie, und habe daher die Einladung ihres Bekannten angenommen. Nein, sie wisse noch nicht, über welchen Zeitraum sich dieser Besuch erstrecken würde aber einige Tage dürften es wohl schon werden. Sie lege keinen großen Wert darauf, in dieser Zeit am gesellschaftlichen Leben außerhalb des Hauses teilzunehmen, einfach einige ruhige Tage zur Erholung, das würde ihr sicherlich gut tun.
An diesem Punkt des Tischgespräches lenkte die Wächterin geschickt um und zeigte sich besonders an den Fragestellern interessiert. Wie sie denn selber zu diesen Haushalt dazu gestoßen seien und ob es ihnen hier, zusammen mit all den anderen, gut gefiele. Nicht jeder beteiligte sich an dem Gespräch und Henrietta, Eric, Anna-Sophie und Ramona verließen sogar kurz darauf den Raum. Die schweigsame Marlies am Kopfende der Tafel nippte elegant an ihrer Teetasse, war aber lediglich Beobachter, denn Teil der Gruppe. Susanne und das rothaarige Mädchen sprachen munter und ungezwungen, so dass sich ihre fröhlichen Stimmen mit denen der Mutter und der der Achaterin abwechselten. Das ungleiche Paar, welches den Raum gemeinsam betreten hatte, saß noch eine ganze Weile am Fuß der Tafel nebeneinander und hatte den vorangegangenen Unterhaltungsfaden wieder aufgenommen.
Es war für Ophelia ungewohnt, mit so vielen Menschen gemeinsam unter einem Dach zu wohnen. Daheim waren sie seit Dschosefiens Heirat vor etwa zwei Jahren nur noch zu fünft, wobei die tüchtige Haushaltshilfe Märrie schon mitgerechnet war. Natürlich kamen die Tanten regelmäßig zu Besuch aber selbst das waren soziale Streiflichter am Horizont des Alltags und ihr Vater ließ sich schon lange nicht mehr außerhalb seiner Arbeitsräume blicken. Es war wirklich gut, dass sie zumindest durch die Wache inzwischen daran gewöhnt war, täglich mit den verschiedensten Personen und Situationen konfrontiert zu werden. Sie mochte sich nicht gerne an ihre Unbeholfenheit erinnern, bevor sie in die Gesellschaft eingeführt worden war.
Die äußerst selbstbewusste Mutter, Odett, tupfte sich mit ihrer Serviette die Mundwinkel. Sie schob den Stuhl zurück und entschuldigte sich. Ihre Tochter Anna sah sie von unten her grinsend an, den Ellenbogen schwer auf den Tisch gelümmelt.
"Musst Du zu Parsival? Bist Du nicht erst heute Abend mit ihm verabredet?"
Odett fuhr ihrer Tochter neckend mit der Hand durchs Haar. "Kümmere Du dich um deine eigenen Angelegenheiten, mein Schatz. Soll ich damit anfangen deine Frühstücksbrote zu zählen, damit Dir die Unhöflichkeit deines Benehmens auffällt?"
Anna murrte mit böse gerunzelter Stirn und bemühte sich mit beiden Händen, die zerzausten Strähnen wieder aus dem Gesicht zu streichen. Als ihre Mutter gegangen war, grinste sie jedoch schon wieder und unterbrach kurzerhand das Pärchen mit einem Einwand, den sie an die blonde Frau richtete: "Manchmal frage ich mich echt, ob Christopher wirklich sowas wie Parsis Sohn ist! Etwas mehr von Chrissis Selbstbeherrschung könnte ihm jedenfalls nicht schaden, wenn jemand mich fragt."
Julietta lachte hell auf, während ihr Gesprächspartner den Kommentar anscheinend gar nicht komisch fand. Die Frau hatte sichtlich Mühe, ein ernstes Gesicht aufzusetzen und das Kind zu tadeln. "Es heißt 'der Herr' oder 'Parsival', nicht 'Parsi', wie Du ganz genau weißt, Anna. Und es heißt auf gar keinen Fall 'Chrissi'! Ich muss darauf bestehen, dass Du den Sohn unseres Hausherrn in richtiger Weise ansprichst." Dieses spitzbübische Grinsen schien zu sehr Teil ihrer Persönlichkeit zu sein, als dass sie es längere Zeit über hätte unterdrücken können. Sie senkte den Blick mit geröteten Wangen, als sie in versöhnlichem Tonfall ergänzte: "Aber es ist schon wahr. Christopher würde meine Planungen niemals von sich aus durcheinander bringen. Dafür ist er viel zu rücksichtsvoll."
Ophelia sah von einem zum Anderen und hielt unbewusst den Atem an. Die Mutter der Kleinen war offenbar auf direktem Wege zum Hausherrn, sogar in eindeutiger Absicht, und das Kind ging damit scherzhaft und unbeschwert um, als wenn es um nichts weiter als einen lästigen Pflichttermin bei Verwandten ginge! War das Mut oder aus Verzweiflung geborene Resignation? Gleichzeitig befand sie sich mit einer Frau im gleichen Raum, die offenbar zärtliche Gefühle für einen der Gastgeber empfand. Konnten diese Gefühle berechtigt sein? Sie versuchte sich an das Gesicht des entsprechenden Vampirs zu erinnern, doch statt seiner tauchte immer wieder der Anblick des willensstarken Bruders vor ihrem inneren Auge auf, wie dieser sie gestern mit gesenktem Starren herablassend betrachtet hatte.
Das Mädchen warf seine wilde Mähne lachend zurück und intonierte in leierndem Sprechgesang: "Juli lie-hiebt Chrissie! Juli lie-hiebt Chrissie!"
Julietta lachte nachsichtig auf und warf eine saubere Serviette über den Tisch nach dem frechen Gör. "Ach, Du, also wirklich! Jetzt ist es aber gut, Anna!"
Ihr zurückhaltender Gesprächspartner, Engelbrecht, legte nun ebenfalls sein Besteck dicht zusammen auf den Teller. "Anna, es reicht! Du möchtest doch sicherlich nicht, dass dein ungehöriges Benehmen der Herzogin zu Ohren kommt und sie Dich dafür rügt, oder?"
Das Kind rollte entnervt mit den Augen und seufzte theatralisch. "Nichts darf man hier! Manno! Dann gehe ich eben auf mein Zimmer." Und schon stand sie auf und war kurz darauf mit laut vernehmlichen Schritten davon gestampft.
Die hoch gewachsene Frau mit der Flüsterstimme hatte bisher geschwiegen. Sie saß neben der ähnlich stillen Marlies am Kopfende der Tafel, so dass Ophelia sie bis eben gar nicht mehr wahrgenommen hatte. Umso mehr erschrak sie, jetzt den sanften Sopran zu hören. Marias Augen waren sittsam auf ihre im Schoß gefalteten Hände gerichtet und das lange, weiche Haar fiel ihr offen über die Schultern. "Sie wird es noch lernen, gewiss. Es ist für niemanden leicht, erwachsen zu werden. Aber unter solchen Umständen wie diesen..." Ihre Augen schlossen sich langsam und öffneten sich ebenso gemächlich, als wenn sie Zeit zum Formulieren ihrer Gedanken bräuchte. "Zumindest können wir ihr einen Eindruck davon vermitteln, was es heißt, sich damenhaft zu verhalten."
Marlies setzte ihre Tasse vorsichtig ab und legte ihre Rechte sanft auf die gefalteten Hände Marias. "Sie hat es hier gut, glaube mir. Parsival würde nicht zulassen, dass ihr etwas zustößt oder auch nur das geringste Haar gekrümmt wird. Sie ist hier im Hause sicher, sicherer vielleicht, als sie es dort draußen wäre, nicht wahr?"
Ophelia war sich nicht sicher, ob sie es sich nur einbildete aber es schien ihr, als wenn Maria Monticelli schwer schlucken müsste, bevor sie sich zu einem Nicken durchrang.
Am gegenüber liegenden Tischende räusperte sich Engelbrecht. "Ich weiß ja nicht, wie das mit Euch ist aber ich bin soweit fertig mit meiner Mahlzeit und bereit, in den Tag zu starten."
Die Übrigen nickten beinahe synchron und mit vereintem Stühlescharren wurde die Tafel aufgehoben.

~~~ Das Nadel-und-Faden-Gewerbe ~~~


Sie hatte mit ihrer anfänglichen Vermutung richtig gelegen. Die oberen beiden Etagen waren, zur Straße hin ausgerichtet, den Gästen des Hauses zugewiesen worden, die ebenerdig gelegenen Räume wurden genutzt, um anderweitige Besucher empfangen zu können und die unterirdischen Bereiche waren den Herrschaften vorbehalten. Das scheinbar unsichtbare Personal dagegen war direkt unter dem Dach angesiedelt. Auf eine entsprechende Frage hin hatte Susanne lachend geantwortet, dass es tatsächlich nur selten vorkam, dass einer von ihnen mit den Bediensteten in Kontakt kam.
"Soweit ich das bisher mitbekommen habe, sind die dienstbaren Geister in diesem Haus alles Igors und somit fast so gut wie unsichtbar." Dann hatte die fröhliche Frau sich mit den Worten in ihr Gemach zurückgezogen, dass sie sich heute ein ziemliches Pensum vorgenommen habe und daher mal langsam in die Gänge kommen müsse.
Ophelias Neugier hätte ihr einfach keine Ruhe gelassen und das ungezwungene Naturell ihres Gegenübers schien ihr nicht nachtragend, so dass sie sich zu fragen entschloss.
"Was ich vorhabe? Ach, Du wirst sicherlich gleich lachen aber ich reise furchtbar gern und nach Ankh-Morpork hat es mich immer schon gezogen. Es ist eine aufregende Stadt, erst recht für so ein Landei wie mich! Du selber wohnst ja vermutlich schon lange hier, da wirst Du das vielleicht nicht mehr so wahrnehmen. Aber was es nicht alles zu entdecken gibt! Weißt Du, ich komme ursprünglich aus Überwald und auch wenn ich in den Schlössern immer willkommen war und dadurch gut rumgekommen bin, wird das doch nach einer Weile ziemlich trist. Ich meine, letztlich sind das stets zugige graue Steinbauten, in denen ein einziger größerer Raum mit etwas Stoff und Kerzen ausstaffiert wird, um ein bisschen was als 'Ballsaal' herzumachen. Von den Gastgebern mal ganz zu schweigen! Ich bin gewiss nicht verwöhnt aber dieses ungezügelte Erst-Zahlen-Dann-Logieren... irgendwann war mir das einfach zuwider. Aber was kann man auch erwarten? Die meisten Vampire dort sind inzwischen entweder gepfählt oder die vierte, fünfte Generation ungehobelter Bauern, die es einfach nicht besser wissen. Die wurden schließlich in den seltensten Fällen vor ihrer Wandlung gefragt, ob sie lieber weiter die Kühe melken wollten! Heute geht es ja zum größten Teil selbst dort etwas zivilisierter zu. Aber wo das Kind nun mal schon in den Brunnen gefallen ist, nicht wahr? Im Grunde muss man den alten Vampiren einen Mangel an Etikette vorwerfen. Wenn ich da an die hiesigen Stadtvampire denke! Aber ich verplappere deine Zeit mit unwichtigem Geschwätz. Und ich rede noch von mangelnden Manieren! Jedenfalls habe ich heute meinen freien Tag und mir einen Teil des Randbezirkes vorgenommen, in der Nähe des Drachenlandeplatzes. Ich bin schon so gespannt auf die historischen Spuren! Weißt Du, ob noch viel davon zu sehen ist? Die Stadt verändert sich ja so schnell!"
Selbst jetzt noch, eine ganze Zeit später, konnte Ophelia sich nicht auf das Buch zwischen ihren Händen konzentrieren, wenn sie an dieses Gespräch zurück dachte. Es tat sich ihr eine ganze Welt auf, von der sie nichts gewusst hatte! Eine junge Frau konnte auf der Scheibe reisen, indem sie sich Kost und Logie mit ihrem Blut erkaufte? Das schien ihr falsch, so falsch, zu sein. Andererseits war es nur zu deutlich ersichtlich gewesen, dass Susanne keinen unnötigen Gedanken daran verschwendete. Das Blut war ihres und sie gab es bereitwillig im Tausch für ein anderes Gut. Es war ja nicht so, dass sie danach zu wenig für sich selber behalten hätte, immerhin war die junge Frau eine ausgesprochen lebhafte und offensichtlich kerngesunde Person.
Die Anderkafer-Wächterin sah aus dem verregneten Fenster, nahm dabei aber nicht mehr wahr, als die herab rinnenden Tropfen vor dem farblosen Hintergrund.
Sie gestand sich ein, dass sie die blonde Frau ins Herz geschlossen hatte. Sie mochte deren unverblümte und furchtlose Art und wünschte heimlich, dass sie vielleicht sogar so etwas wie Freundinnen werden könnten.
Sie strich sich unschlüssig mit den Fingerspitzen über den Nasenrücken und runzelte ihre Stirn.
Einen flüchtigen Augenblick sah sie die Unprofessionalität hinter diesem Wunsch, die darin lauernde Gefahr auf einen Verlust ihrer Objektivität.
Ein anderer Gedanke verdrängte diesen. Er war ihr unangenehm: Die ganze Sache erinnerte sie stark an das Nadel-und-Faden-Gewerbe! Die Damen der Gilde gaben ebenfalls ihren Körper, sozusagen immer wieder in kleinen Rationen, um im Austausch etwas anderes zu erhalten, mit dem sie sich ihre Wünsche erfüllen konnten.
Sie empfand ihnen gegenüber keine abwertenden Vorurteile. Breda hatte sie bei einer Gelegenheit den Damen des Boucherie vorgestellt und die Gespräche bei einer Tasse Tee waren sehr angenehm verlaufen. Später war sie noch einige Male vorstellig geworden und während des Wartens auf D.O.G.-Kollegen unter anderem mit Lieselotte ins Gespräch gekommen. Es gab viele Möglichkeiten seinen Lebensunterhalt zu verdienen und im Grunde war sie davon überzeugt, dass es eine ehrenvolle Herausforderung war, dies damit zu tun, Anderen Freude zu bereiten. Sie selber war sich sicher, dass sie niemals genug Freundlichkeit in sich gehabt hätte, diese wahllos an jeden Interessenten weiter zu geben, weswegen der Beruf der Näherin für sie nicht in Frage kam. Aber dann gab es da noch diejenigen Näherinnen, die nicht mit dem erhaltenen Lohn zufrieden sein konnten und sich als Gegenleistung nach Gefühlen sehnten. Jeder wusste, wie unklug und widersinnig das war. Diese Näherinnen wurden unglücklich und verkörperten die wahre Tragik des Standes.
Könnte Susanne etwas Ähnliches passieren? War sie womöglich vom Glück verwöhnt und bisher einfach noch keinen schlimmen Erlebnissen ausgesetzt gewesen?
Es hatte nicht so gewirkt, als Susanne in ungeschmälerter Unternehmensfreude auf ihre zaghaften Einwände reagierte.
"Mach Dir keine unnötigen Sorgen um mich. Das ist zwar ganz lieb von Dir aber weißt Du, ich bin schon lange auf der Scheibe unterwegs und nicht so naiv, wie ich vielleicht wirke." Sie zwinkerte ihr verschwörerisch zu. "Ich habe sogar schon mit den legendären ankh-morporker Gilden Bekanntschaft geschlossen. Etwas unkonventionell und gewöhnungsbedürftig das Konzept aber gewiss nicht ohne Charme. Ganz reizende Herren! Sie schenkten mir sogar eine Original Raub-Quittung als Sowenier, ausgestellt auf meinen Namen, obwohl sie nur einen lächerlich kleinen Betrag an sich genommen und mir gar nichts zuleide getan haben."
Die Begeisterung darüber klang in Ophelias Ohren nach.
Sie war davon ausgegangen, in diesem Raum am ehesten Kontakt zu finden. So viele Personen in einem einzigen Haus! Und doch war sie allein. Außerhalb des Fensters regnete es seit Stunden, so dass nicht einmal die wandernden Schatten der Sonne den Anblick des karg bepflanzten Innenhofes verändert hätten. Und niemand kam an diesem Raum vorüber. Wie sollte sie so Kontakte knüpfen und Informationen sammeln? Was, wenn ihr Aufenthalt hier sich als überflüssig herausstellte?
Nein, korrigierte sie sich. So durfte sie nicht denken! Man konnte niemals im Voraus den Erfolg eines Einsatzes bestimmen, erst recht nicht bei einer Verdeckten Ermittlung. Diese war immer ein letztes Mittel, der Weg der übrig blieb, wenn kein vorangegangener Versuch zur Infomationsbeschaffung gefruchtet hatte oder wenn die letztlichen Beweise nicht in anderer Art und Weise herangebracht werden konnten. Sie durfte sich nicht durch die Umstände entmutigen lassen. Immerhin war sie genau genommen erst seit wenigen Stunden im Haus. Wollte sie da etwa schon den Fall gelöst oder sogar einen Mörder überführt haben? Wie illusorisch! Einen Schritt nach dem anderen. Erst einmal musste sie die Routine des Haushaltes kennen, bevor sie die darin verborgenen Muster und deren Abweichungen durchschauen konnte. Man platzte nicht einfach in ein Geflecht aus Beziehungen und wusste von allen Geheimnissen. Sonst wären es schließlich keine Geheimnisse gewesen.
Sie hörte jemanden musizieren. Die perlenden Notenläufe eines Klaviers hallten gedämpft durch das große Haus.
Vielleicht bot sich hier eine weitere Gelegenheit zum Knüpfen von Kontakten und zum Sammeln von Informationen?
Sie legte das Buch beiseite und folgte der Melodie in den zweiten Stock, ein Verhalten, welches voll und ganz ihrer natürlichen Neugier entsprach. Sie öffnete vorsichtig die Tür des dortigen Gemeinschaftsraumes und sofort klangen die wilden Tonfolgen um ein Vielfaches lauter. Sie betrat schnell den Raum und zog die Tür hinter sich zu.
Am aufgeklappten Flügel saß ein Mann und bedachte sie mit einem spöttischen Grinsen, während er weiter kräftig in die Tasten griff. Seine hell gesträhnten Haare fielen ihm unordentlich ins kantige Gesicht, der Blick seiner Augen wurde von hohen Wangenknochen und einer ebenso hohen Stirn begrenzt.
Sie deutete einen Knicks an, woraufhin er andeutungsweise nickte und sie dann ignorierte. Die Melodie brandete ungestüm durch den Raum und folgte ihr, als sie seitlich von ihm einen Stuhl vom zierlichen Beistelltisch fortzog, um sich zu setzen.
Das Stück zog sie schnell in seinen Bann und als es verklang schrak sie auf.
Der Mann schloss den Deckel über der Tastatur und drehte sich auf der Sitzbank um, bis er sie direkt ansah.
Ophelia erhob sich förmlich. Sie lächelte. "Ein sehr ausdrucksstarkes Spiel, Herr, wenn Du mir das zu sagen gestattest."
Er betrachtete sie ausführlich, bevor er sich über den Hocker schwang, auf sie zukam und lächelnd einen Kuss über ihren dargebotenen Handrücken hauchte.
"Ich gestatte. Was bliebe mir bei so viel betörender Anmut auch anderes übrig?"
Die junge Frau senkte verlegen den Blick, ließ sich aber ansonsten nicht aus dem Konzept bringen. Das Kompliment war zu direkt, seine Aufmerksamkeit zu aufdringlich, als dass sie auch nur von einem davon angenehm berührt gewesen wäre. Sie überging seine Worte geflissentlich und stellte sich stattdessen vor.
"Ich bin gestern am späten Abend, auf Einladung Parsival Aschers, als sein Gast eingetroffen. Ophelia Ziegenberger, Herr. Darf ich mich erkundigen, mit wem ich das Vergnügen habe?"
"Nenn mich einfach ebenso beim Namen, wie alle anderen hier: Halofenn.[25]" Sein schiefes Lächeln hätte etwas rührend Jungenhaftes an sich haben können, wenn es nicht einen so verwegenen Beigeschmack gehabt hätte.
Sie lächelte möglichst unbefangen, als wenn ihr seine deutliche Ausstrahlung entgangen wäre, nutzte dann aber die Möglichkeit, um dem mutwilligen Funkeln seiner braunen Augen zum zweiten Mal zu entgehen. Sie deutete zu den aufgestellten Notenblättern.
"Spielst Du schon lange, Herr?"
Er schnaufte abwertend. "Viel zu lange!"
Sie blickte, überrascht von der unerwartet abweisenden Reaktion, auf.
"Macht es Dir denn keine Freude, Herr? Dem Ausdruck nach hätte ich anderes erwartet."
Er wandte sich, plötzlich gänzlich uninteressiert, von ihr ab und begann, den großen Deckel des schönen Instrumentes abzubauen.
"Ich würde nicht unbedingt sagen, dass es mir Freude bereitet. Es ist befriedigend und befreiend gleichermaßen. Ein meiner Meinung nach viel wichtigeres Empfinden, als oberflächliches Amüsement." Der Deckel schlug mit einem leisen, hohlen Geräusch zu.
Ophelia war sich nicht sicher, ob sie als nahezu Fremde auf die sich abzeichnende heikle Thematik eingehen konnte. Sie entschied sich dagegen. Sie hatte zumindest genug Zeit, um nichts eilfertig zu überstürzen. Freundliches Ausweichen wäre zum jetzigen Zeitpunkt angebrachter.
"Es zeugt von Charakter, sich nicht vom Schein trügen zu lassen." Sie lächelte vorsichtshalber, um den Worten das Belehrende zu nehmen, bevor sie deutlich ihre Haltung änderte, einen Schritt vom Flügel beiseite trat und dadurch einen Themenwechsel ankündigte. "Ich durfte vorhin die anderen Gäste kennen lernen, als wir zu Tisch saßen."
Er legte geistesabwesend die Notenblätter zusammen.
"Ja, das kann ich mir vorstellen. Aber da Teleri immer lange liegt, nur um dann die Nacht hindurch aufzubleiben, habe ich mir einen ähnlichen Rhythmus angewöhnt, so dass ich erst spät aufstehe."
"Teleri? Hoch gewachsen, beinahe mager, mit strenger Frisur?"
Halofenn lachte leise. "Ja, das ist eine gute Beschreibung."
"Dann bist Du Teleris Begleiter?"
Er warf ihr einen kurzen Blick zu, bevor er nickte.

~~~ Die lästigen Finanzen ~~~


Nachdem das Gespräch erst einmal auf 'seine' Vampirin gekommen war, konnte sie die prompte Ernüchterung deutlich an seinem Gesicht ablesen. Halofenns Interesse an ihr als neuem Gast kühlte merklich ab, Mimik und Gestik verloren den theatralischen Schliff und sie hatte nunmehr das Empfinden, nicht mit einem aufdringlichen Schauspieler, sondern mit einem erschöpften Menschen zu reden. Sein Lächeln war verschwunden, nur noch die Falten um seine Mundwinkel erinnerten daran. Er nahm sich einen Moment Bedenkzeit, doch dann schien er ganz gern mit ihr zu reden.
Teleri und die Herzogin waren demnach die einzigen Vampire des Clans, die sich weitestgehend an die überlieferten Ruhezeiten gebunden fühlten. Alle anderen konnten ihr also durchaus auch am Tage über den Weg laufen.
"Es ist schließlich nicht so, als wenn sich ein so großer Haushalt durch ausgiebiges Schlafen finanzieren könnte. Es gibt zwar meines Wissens ein angehäuftes Vermögen, aus welchem Parsival für den Clan wirtschaftet. Aber darüber hinaus... In irgendeiner Form gehen sie eigentlich alle einer Beschäftigung nach, durch die sie Geld verdienen", erklärte Halofenn ihr.
"Parsival beispielsweise handelt mit Antiquitäten. Er und Tom sind schon lange Geschäftspartner. Tom ist zwar etwas älter aber er geht gerne auf Reisen. Und hier in Ankh-Morpork ist eine gewisse Margot seine Mitarbeiterin. Die ganze Antiquitäten-Geschichte bedeutet hauptsächlich Papierkram, so dass Parsival sich seinen Tagesablauf gut im Hause einrichten kann."
Er wandte sich in seiner Aufzählung dem nächsten Clanmitglied zu.
"Rosalind dagegen arbeitet außerhalb des Clans und das regelmäßig, jede Nacht. Sie ist Rausschmeißerin in dem großen Näherinnenhaus drehwärts der Schlachthäuser. Meiner Meinung nach ist das ein völlig unterbezahlter und auch nicht ganz passender Dschob aber Rosalind würde das wohl auch ohne Gegenleistung machen. So ist sie eben. Das hat mit ihren Überzeugungen zu tun." In seiner Stimme schwang so etwas wie Achtung mit.
"Christopher... tja! Auch wenn ich das lieber nicht sagen sollte, weil Parsival es gar nicht gerne hören wird", bei diesen Worten deutete er an ihre Schläfe, "aber Christopher ist das Schwarze Schaf der Familie. Er bekommt irgendwie einfach nichts auf die Reihe. Eine Zeitlang hat er sich rundum bei den verschiedensten Gilden als Lehrling eingeschrieben, nur um kurz darauf jeweils gefeuert zu werden. So deutlich wäre natürlich keiner geworden aber er weiß schnell, wenn man die Nase voll von ihm hat. Und er ist nun mal keine Kämpfernatur. Momentan unterstützt er seinen Vater als Sekretär und nimmt ihm wenigstens, zusammen mit Marlies, die Organisation des Haushalts ab. Die Herzogin sieht das zwar gar nicht gerne aber selber würde sie sich nicht die Finger schmutzig machen wollen. Und Desdemonia gegenüber hat Parsival wohl darauf bestanden, seinem Sohn noch eine Chance zu geben. Wobei ich wirklich vermute, dass Christopher derzeit das erste Mal zufrieden stellende Arbeit leistet, bei dem was er macht."
Er hing seinen Gedanken noch einen Moment nach.
"Herribert hängt gerne nachts mit seinen Kumpels in den Straßen rum. Vermutlich wird man ihm nie was nachweisen können aber nicht nur ich vermute, dass er irgendetwas mit dem Plattehandel zu tun hat."
Er bemerkte ihre großen Augen und lachte in sich hinein. "Das ist wirklich kein Geheimnis. Zumindest hier im Hause nicht. Er geht oft weg und verrät partout nicht wohin. Und meistens geht er danach einen trinken und schmeißt das Geld mit beiden Händen zum Fenster raus. Ramona, seine Begleitung, ist der Meinung, dass ihm die Aura der Gefahr gut zu Gesicht stünde und wir uns da raus halten sollten. Als wenn irgendeiner von uns sich mit einem Clanmitglied anlegen wollen würde! Jedenfalls hat sie einmal, als sie zu viel getrunken hatte, erwähnt, dass die verdammten weißen Puderflecken, die er manchmal danach auf der Kleidung hat, auch wenn sie noch so winzig sind, kaum wieder raus gingen." Er hob die Brauen, verschwörerisch und doch amüsiert. Dann wurde er wieder ernst.
"Desdemonia erteilt jungen Vampiren aus höheren Schichten Benimmunterricht, wenn deren Eltern nicht mehr mit ihnen zurechtkommen. Man sieht es ihr nicht gleich an aber sie kann knallhart sein. Sie lässt sich gut dafür bezahlen und wählt ihre Kundschaft genau aus. Aber ich vermute, dass ihr die Beziehungen, die sie so erzielt, noch viel mehr bedeuten, zumal sie ihre Schützlinge immer vor Ort aufsucht und dann garantiert hier etwas aufschnappen und dort etwas herauspicken wird."
Er zögerte.
Ophelia dachte schnell nach, welche Clanmitglieder in dieser Aufzählung fehlten.
"Du meintest, sie würden alle einer Tätigkeit nachgehen? Für welche haben sich dann Aydrey und Teleri entschieden?"
Das schiefe Grinsen ließ einen der beiden Mundwinkel humorlos nach oben klettern, bevor es wieder verlosch. Aber er antwortete im gleichen Ton wie zuvor.
"Audrey schreibt unter einem Pseudonym Romane. So genannte 'Nackenbeisser', ziemlich ironisch, nicht wahr? Vor allem, wenn man bedenkt, dass sie die meisten ihrer Phantasien schon ausprobiert hat!" Er redete schnell weiter, als wäre ihm zu spät bewusst geworden, dass er vielleicht doch zu viel gesagt haben mochte. "Und ich sage jetzt nicht, unter welchem Namen sie veröffentlicht."
Bildete sie sich die Farbe auf seinen Wangen nur ein?
Er fuhr fort: "Teleri entwirft Kleidung. Sie hat einen ganz eigenen Geschmack und viel Talent, Menschen von diesem zu überzeugen. Vielleicht sagen Dir die Initialen 'TT' etwas? Sehen wie Pflöcke aus, an denen Blutstropfen runter laufen. Na, die stehen jedenfalls für ihren Künstlernamen "Teleri Talent". Ziemlich von sich selber überzeugt, nicht wahr?"
Ophelia fiel etwas ein. Eine Frage, deren Antwort sie wirklich interessieren würde. Doch wie ging sie diese spezielle am besten an? Sie gab sich einen Ruck und versuchte es direkt.
"Ich habe davon gehört, dass es im Clan vor einiger Zeit zu drei Trauerfällen gekommen ist. Ich muss gestehen, dass mich dieser Umstand beinahe davon abgehalten hätte, Herrn Aschers freundliche Einladung anzunehmen. Aber da Du gerade davon sprichst... hatten die Verstorbenen sich ebenfalls Berufe erwählt?"
Halofenn ließ sich auf den Stuhl zurück sinken und behielt sie scharf im Auge. Sie bezweifelte schon, dass er antworten würde und wollte sich für die unangemessene Neugier entschuldigen, als er ihr zuvorkam. Er legte den Kopf in den Nacken, pustete sich eine Haarsträhne vom Gesicht und betrachtete die Decke.
"Wie man es nimmt. Samuel war eingetragenes Mitglied der Spielergilde. Er war nicht schlecht aber allein mit seinem Gewinn hätte er sich nur mühsam über Wasser halten können. Manchmal strich er an einem Abend so viel ein, dass er spontan anstehende Reparaturen übernahm, was schon ziemlich hilfreich gewesen war. Dann gab es aber wieder Zeiten, in denen er ohne den Clan nicht einmal ein Dach über dem Kopf gehabt hätte."
Die leichten Schatten im Putz der Decke waren anscheinend sehr interessant, denn Halofenn ließ sie nicht aus den Augen.
"Mathilde allerdings hat wirklich nicht gearbeitet und ich bin mir sicher, dass es Parsival anders lieber gewesen wäre. Er war der Mittelpunkt ihrer Welt, seit er sie hinüber geholt hatte. Und soviel Aufmerksamkeit, zumal von einer Frau kommend, kann ganz schön anstrengend sein." Sein Blick ließ viele unausgesprochene Gedanken erahnen, vor allem solche deprimierender Natur. Er sprach lieber schnell weiter.
"Und Jahne?" Halofenn lachte herablassend. "Jahne hat vermutlich mehr gearbeitet als alle anderen hier zusammen!"
"Tatsächlich?"
Er räusperte sich und korrigierte seine Aussage. "Wie man es halt nimmt. Jahne war schon als Mensch eine Giftschlange. Ich weiß echt nicht, was ihn an ihr so dermaßen gefesselt hat, dass er sie 'geküsst' hat. Vielleicht das viele Geld? Wer weiß. Sie war eine reiche Erbin, rettungslos verliebt. Na ja, man weiß ja, wie sie das einrichten können. Ob es von seiner Seite aus Liebe war? Ich muss sagen, ich bezweifle es. Sie jedenfalls versuchte es mit allen Mitteln, ihn rumzukriegen, da war sie fast so schlimm wie Henrietta, nur halt lange, bevor diese zu uns dazu stieß. Unter anderem hatte sie ihm das Vermögen versprochen, wenn er sie zur Vampirin machen und an seine Seite holen würde. Irgendwann machte er dann Nägel mit Köpfen und eine Menge Anwälte saßen mehrere Tage unten im Salon zusammen. Jahne hatte bis dahin nie einen Finger rühren müssen um zu bekommen, was sie wollte. Nun ja, das muss man wissen, um sie auch nur ansatzweise verstehen zu können. Und selbst dann... Mathilde traf nur wenige Wochen später als Hausgast ein. Sie brauchte Parsival kein Vermögen anbieten und auch nicht lange zu betteln. Jahne hat Mathilde gehasst und nie einen Hehl daraus gemacht. Ich habe das nie ganz verstanden aber irgendwie hatte es wohl damit zu tun, dass Mathilde eine sehr erfolgreiche Näherin war, bevor sie hierher kam. Jedenfalls begann Jahne direkt nach Mathildes Wandlung damit, als Näherin zu arbeiten. Angeblich hatte sie sich zum Ende hin einen ziemlichen Ruf erworben, zumal Vampirinnen wohl nur selten diese Laufbahn einschlagen und außerdem noch gerne für Sonderwünsche eingesetzt werden." Er zuckte mit den Schultern. "Für ihren verdorbenen Charakter bedeutete das aber keinerlei Verbesserung."
Irgendetwas an dem Erzählten versuchte Ophelias Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen aber es waren so viele ineinander verschlungene Details! Eine Frage erschien ihr so logisch, dass sie diese sicherlich bedenkenlos stellen konnte, ohne den natürlichen Verlauf des Gesprächs zu beeinträchtigen. Man musste keine anderkaffer arbeitende Wächterin in feindlichem Gebiet sein, um auf sie zu kommen. Und den Gedanken nicht auszusprechen, hätte vielleicht sogar noch merkwürdiger gewirkt.
"Wenn Jahne Mathilde gehasst hat, könnte sie dann nicht vielleicht etwas mit deren Tod zu tun gehabt haben?"
Hallofen hatte wohl mit dieser Frage gerechnet.
"Das haben wir uns auch überlegt. Aber zum einen hat Jahne zu dem Zeitpunkt des Mordes nachweislich gearbeitet und zum anderen wurde sie ja kurz darauf selber ermordet. Und bei drei Morden in Folge ist es doch wohl klar, dass da jemand ganz geplant vorging."
Von unten drang ein Gongschlag zu ihnen in den Gemeinschaftsraum hinauf.
Halofenn stand schwungvoll auf und streckte sich genüsslich. Dann reichte er ihr galant die Hand.
"Essenszeit! Darf ich Dich hinunter geleiten?"
Sie gab einem Impuls nach und erwiderte verschmitzt lächelnd: "Ich gestatte es."

~~~ Unberechenbare Variable ~~~


Auch zu dieser Mahlzeit blieb der Platz zu ihrer Linken unbelegt. Die Anwältin war also noch nicht zurück. Zwar war Ophelia gespannt darauf, als was für eine Person diese sich entpuppen würde, derweil hatte sie aber genug damit zu tun, das ständige Kommen und Gehen aller Übrigen zu beobachten. Wenigstens waren zu dieser Gelegenheit alle zugleich erschienen, so dass sie sich gemeinsam setzen konnten. Ganz langsam begann sie, das Beziehungsgeflecht zwischen den Anwesenden zu erahnen, wobei ihr nun besonders die Anspannung zwischen ihrem neuen Bekannten und dem arrogant wirkenden Eric auffiel, die einander direkt gegenüber saßen. Jenes Ende der Tafel wirkte dadurch noch düsterer, als am Morgen.
Die herzhaften Düfte aus den dampfenden Terrinen ließen ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen, so dass sie sich erst einmal bediente. Wenn das Essen hier jedes Mal so köstlich würde, hätte sie bald schon ein Problem mit ihrer Figur, ging es Ophelia durch den Sinn. Sie musste unwillkürlich grinsen, da dies eine völlig neue Erfahrung im Gegensatz zu allen vorangegangenen Ermittlungen darstellte. Vielleicht sollte sie sich eine bewegungsintensivere Beschäftigung für ihren Aufenthalt suchen, als lediglich zu Lesen?
"Schmeckt' s Dir?"
Ophelia blickte irritiert auf und das Mädchen ihr gegenüber grinste sie dreist an. "Jedenfalls sieht es so aus, als ob."
Odett gab ihrer Tochter einen tadelnden Blick und wies sie zurecht. "Anna! Man spricht niemanden derart unhöflich bei Tisch an!" Sie sah entschuldigend hinüber. "Bitte entschuldige! Sie ist oftmals etwas zu freimütig aber sie meint es nicht böse."
Ophelia schüttelte den Kopf. "Keine Sorge, ich habe wirklich gerade darüber nachgedacht, dass es vorzüglich schmeckt." Und um sich selber von der erstaunlichen Blässe Odetts abzulenken ergänzte sie halb im Scherz: "Und darüber, dass ich auf meine Figur achten sollte."
Vor allem einige der Frauen am Tisch lachten verständnisvoll.
Der strubbelige Wirrkopf strahlte übers ganze Gesicht, als ihm ein grandioser Vorschlag einfiel. "Weißt Du, was prima gegen Speckröllchen hilft?"
"Anna!" Nun wirkte ihre Mutter wirklich peinlich berührt aber das Mädchen ließ sich nicht beirren.
"Ach komm schon, Mama! Ist doch egal, wie man es nennt. Du warst jedenfalls erleichtert, als ich damals damit angefangen habe, von wegen Energie aufbrauchen und so. Und? Ich habe schließlich auch nicht mehr zugenommen, seit dem. Im Gegenteil!" Bevor Odett auch nur Luft holen konnte, plapperte Anna schon mit leuchtenden Augen weiter. "Du solltest mit Eric trainieren!" Und dabei deutete sie auf den völlig desinteressierten Mann am unteren Ende der Tafel.
Ophelia war etwas verunsichert, zumal auch die Reaktionen der übrigen Tischnachbarn unterschiedlich ausfielen. Sie wollte zumindest gerne wissen, worum es bei diesem Training überhaupt ging.
"Ich weiß nicht so recht, Anna. Zum einen müsste ich ja erst einmal wissen, ob dieses Training mir überhaupt liegen würde. Und zum anderen ist es sehr ungewöhnlich, jemandes Hilfe ungefragt vorauszusetzen. Es ist immerhin Erics Zeit, die Du mir angeboten hast und vermutlich sieht er das ganz anders."
Automatisch richteten sich aller Blicke auf den Mann mit dem kurz geschorenen, schwarzen Haar. Er tupfte sich in aller Ruhe mit der Serviette die Mundwinkel, was die vielen Juwelenringe an seinen Fingern besonders gut zur Geltung brachte. Dann griff er zum Weinglas und nippte daran. "Von mir aus."
Bis auf einen enthusiastischen Ausruf des Kindes war es plötzlich still am Tisch. Anna ignorierte das problemlos und redete jetzt aufgeregt auf sie ein.
"Siehst Du, das ist gar kein Problem. Das wird super! Ich finde das sowieso langsam langweilig, immer nur gegen Eric zu kämpfen, erst recht, weil er nie Rücksicht auf mich nimmt!"
Ophelia blinzelte. "Kämpfen?"
Erst jetzt blickte Eric zu ihr hinüber. Er lächelte fast bedrohlich, als er ihr mit dem immer noch erhobenen Glas leicht zuprostete. "Ja. Kämpfen. Ich unterrichte Anna im Fechten. Und nebenbei auch in jedem anderen von ihr gewünschten Kampfstil, der mit Klingen zu tun hat."
"Aber... ist das nicht gefährlich?" Sie hätte sich augenblicklich für diese Frage schelten können. Wie kindisch sie klingen musste!
Anna lachte herzhaft und kam jeglicher Antwort der Erwachsenen um sie zuvor. "Ach, quatsch! Klar kann man sich blaue Flecken holen, wenn man nicht aufpasst. Aber wir kämpfen die meiste Zeit über ja sowieso nur mit Attrappen und bei den Degen gibt es ja nicht umsonst diese Schutzböppels für obendrauf."
Die Wächterin war sich sicher, dass das Kind die Gefahr bewusst herunterspielte. Vielleicht war dieser Eric tatsächlich ein umsichtiger Lehrer aber sie hatte genug Kampfstunden in ihrer Rekrutenzeit hinter sich gebracht um zu wissen, dass jemand Ungeschicktes selbst mit einem Holzschwert Schrecken verbreiten konnte. Zumindest mit denen der Wache. Aber vielleicht lag das auch mit daran, dass die Waffen der Wache alle schon so verbraucht und lädiert waren? Eine splitternde Hellebarde, eine rostende Machete oder ein poröser Armbrust-Mechanismus waren nicht nur für den Angegriffenen eine unberechenbare Variable.
Erics undeutbares Lächeln begann sich sogar in seinen Augen zu spiegeln. Der Mann amüsierte sich ganz klar auf ihre Kosten!
Ophelia räusperte sich und nickte zögernd. "Wenn dem so ist, nehme ich dieses ausgesprochen großzügige Angebot gerne an."
Er schien zu erstarren. Das Lächeln gefror für einen Sekundenbruchteil in seinen Augen. Er hatte definitiv nicht damit gerechnet, dass sie darauf eingehen würde.
Nun war es an ihr, ihm angedeutet über den Rand des Glases hinweg zuzuprosten.
Von Gegenüber sprudelten die begeisterten Pläne regelrecht aus dem Kind heraus und auch die anderen zu Tisch Sitzenden nahmen ihre Unterhaltungen wieder auf.
Odett wirkte nervös und Julietta sah sie mit überrascht hochgezogenen Brauen an, bevor sie sich auf ihre Manieren besann. Susanne neben ihr sah sie mit einem beinahe bewundernden Blick an und sagte in gedämpftem Tonfall, leicht zu ihr gebeugt: "Irgendwie ist das wirklich beneidenswert. Aber andererseits..."
Susanne musste den Satz nicht beenden, damit Ophelia ihn verstehen konnte. Sie wusste es selber. Einem Kind ließ man vieles durchgehen, was einer erwachsenen Frau nicht gut zu Gesicht stand. Selbst ihren Eltern gegenüber hatte sie wohlweislich verschwiegen, dass sie als Wächterin nicht nur an dem gerade eben so noch akzeptablen Bogen ausgebildet worden war. Natürlich hätten diese sich jederzeit informieren können. Aber über so etwas sprach man nicht. Entweder man war adlig geboren und konnte aus reiner Langeweile ungewöhnlichere Freizeitbeschäftigungen erwählen - oder eben nicht. Sie hatte schon während der Ausbildung nur das Nötigste mit den Waffen zu tun haben wollen und die Prüfungen gerade eben so mit dem obligatorischen "Gut" bestanden. Allerdings... Ja, sie gestand sich ein, dass es ein Allerdings gab. Der letzte Einsatz hatte sie beinahe das Leben gekostet und der Schock darüber saß noch immer tief. Jede Nacht bestand aus Träumen, in denen sie ihre Hilflosigkeit immer und immer wieder durchleben musste. Sie hätte zu einem der Püschologen gehen können; R.U.M. hatte zu dem Zeitpunkt, als das Trauma noch frisch gewesen war, viele davon gehabt. Und vor allem wenn sie Frän begegnete, gingen ihr Bilder von deren Dolchkampftechnik durch den Sinn, Bilder von deren gläsernen Dolchen und wie Frän sie regelmäßig mit geschickter Hand führte, um kurzen Prozess mit dem Strohgegner im Wache-Innenhof zu machen.
Stattdessen hatte sie die Entscheidung vor sich her geschoben. Erst mussten die Leichen identifiziert, dann der Bericht geschrieben werden. Sie hatte sich einer weiteren Operation bei Rogi Feinstich unterziehen und sich auskurieren müssen. Es gab eine Beförderung, eine Menge Papierkram sammelte sich derweil auf ihrem Schreibtisch an, der ebenfalls bearbeitet werden wollte und dann hatte sie sich plötzlich im hektischen Alltag wieder gefunden. Wenn sie nächtens erwachte, waren die Bilder noch frisch und blutig. Aber wenn sie erst das Wachhaus betreten hatte, mit den schwatzenden Kollegen und den unzähligen Öllampen, die die unheimlichen Erinnerungen davon flackern ließen, dann war diese Sorge so weit weg, verdrängt von Aktivität. Wozu einen Kollegen beunruhigen, der ihr vermutlich sowieso nicht helfen konnte, wenn die beste Medizin zu sein schien, in Bewegung zu bleiben? Und obendrein war sie nun einmal eine Frau in einem Männerberuf. Einen Püschologen aufzusuchen, könnte so wirken, als wenn sie nicht hart genug für diesen Dschob wäre, nicht belastbar genug. Vielleicht nicht einmal belastbar genug, um weiterhin Stellvertretende Abteilungsleiterin zu bleiben. Nein, diese Blöße wollte sie sich nicht geben! Daher hatte sie sich schon vor einigen Wochen dazu entschieden, die Sache anders anzugehen. Träume waren ungefährlich. Sie konnte sie getrost ignorieren. Sie durfte einfach nicht mehr über sie nachdenken. Sie musste stärker werden!
Wie ihr das gelingen sollte, wusste Ophelia zwar noch nicht aber sie hatte Frän darum bitten wollen, sie zumindest im Nahkampf mit Messern zu unterrichten. Sie wusste, dass die Püschologin der Idee nicht abgeneigt wäre, insofern sie ihr als Gegenleistung püschologische Grundsatzdiskussionen anbot. Nichts zu Persönliches. Ein genereller Einblick in die menschliche Püsche wäre schon Verlockung genug für die emotional etwas labile Vampirin und deren Studien.
Es war schon irgendwie ironisch, dass dieser Einsatz ihrem Zögern ein so unerwartetes Ende bereitete. Andererseits war sie schon von jeher neugierig und lernbereit gewesen.
Und nicht zuletzt mochte es keine bessere Gelegenheit geben, über diesen verschlossenen Mann an mögliche Informationen zu gelangen.
Anna sah sie fragend an und Ophelia brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass das Mädchen auf Antwort wartete: Würde sie morgen am Vormittag schon das erste Mal mittrainieren wollen?
Ihr Herz setzte einen holprigen Schlag lang aus, doch dann erinnerte sie sich an ihren soeben gefassten Entschluss. Keine bessere Gelegenheit, nicht wahr? Sie nickte freundlich und zwinkerte Anna verschwörerisch zu.
"Gerne! Dann darf ich aber heute schon, bei diesen Köstlichkeiten, reinen Gewissens nachnehmen, nicht wahr?"

~~~ Die Schwesternschaft Der Sterbenden Schwarzen Rose ~~~


Ophelia?
Die Anfrage ließ sie zusammenzucken. Sie blickte sich unauffällig um, ob ihr Verhalten jemandem aufgefallen war. Die rettungslos überschminkte Frau vom Kopfende der Tafel starrte sie feindselig an. Ophelia senkte verlegen den Blick auf den geleerten Teller und antwortete Ascher auf dem gleichen Wege, den er eingeschlagen hatte.
Ja?
Sie bemerkte aus dem Augenwinkel, wie Henrietta mit der Gabel scheinbar frustriert auf das Fleischstück einstach. Was hatte diese nur? Sie hatten bisher noch nicht einmal miteinander gesprochen, wie konnte Ophelia ihr da schon Anlass zu solch einer offenkundigen Abneigung gegeben haben?
Ich nehme an, dass die Tafel im Aufheben begriffen ist? Es wäre sehr freundlich, wenn Du zu mir kämst.
Sie nickte automatisch, während sie in Gedanken antwortete: Natürlich, ich bin auf dem Weg.
Die Wächterin legte die Serviette beisammen und erhob sich.
"Bitte entschuldigt mich..."
Henriettas Besteck fiel mit unüberhörbarem Klirren auf deren Teller, woraufhin sie diesen plötzlich appetitlos zurück schob.
Die Übrigen dagegen fanden Ophelias frühes Verlassen der Tafel nicht weiter beachtenswert. Susanne nickte freundlich und Anna grinste sie wissend an, hielt dieses Mal aber den Mund.
Kurz darauf verließ Ophelia die Treppe zum Untergeschoss und blickte sich dort suchend nach ihrem Auftraggeber um.
Zur Linken, die letzte Tür, am Ende des Ganges.
Sie folgte seinen Anweisungen und betrat, nach kurzem Anklopfen, ein luxuriös eingerichtetes Arbeitszimmer. Ascher saß hinter einem sehr breiten Schreibtisch, dessen zierliche Beine und geschwungene Seiten mit Schnitzereien verziert waren. Die Stühle im Raum waren, ebenso wie die Dekorationen in Form der Steinbüste in einer Ecke oder den mit Troddeln gesäumten Vorhangkanten, auf die gleiche, längst vergangene Epoche ausgerichtet. Sie war zwar kein Spezialist für Geschichte oder Antiquitäten aber selbst mit ihren begrenzten Kenntnissen erkannte sie deutlich den hohen Wert der hier arrangierten Gegenstände. Während der damaligen Unruhen war so viel zerstört worden, dass Möbel aus der Umsturzphase inzwischen als beinahe unbezahlbar galten.
Parsival Ascher deutete auf den zierlichen Stuhl gegenüber dem seinen und sie setzte sich zu ihm.
Ihr Blick blieb an den schweren Samtvorhängen haften. Der Raum schien mit drei hohen Fenstern zur Straße hinaus zu zeigen. Dabei lag er unterirdisch!
Der Vampir lehnte sich gemütlich zurück und lachte leise. Das sind nur Attrappen. Die Fensternischen vermitteln so etwas wie Normalität, an der mir viel liegt. Sie sind in das Fundament gemauert und dann mit Stoffen verhangen worden. Normalerweise fallen sie nicht einmal auf, da auch in den oberen Etagen bei Nacht nicht mehr zu sehen ist, als Nischen, die in die Dunkelheit hinaus zeigen, nicht wahr?
Er legte sein jugendliches Gesicht schräg, um sie zu betrachten, wodurch die ergrauten Schläfen leicht schimmerten. Du hast den ersten Tag in meinem Hause gut überstanden.
Obwohl es sich dabei um eine Feststellung handelte, hörte sie auch so etwas wie eine Frage aus seinen Worten heraus und beeilte sich, zu antworten.
"Ja, es waren bisher sehr interessante Stunden. Deiner Familie bin ich zwar nicht noch einmal begegnet, Herr, aber zumindest mit den meisten deiner Gäste habe ich Bekanntschaft geschlossen."
Er legte sich schmunzelnd die Hand vor den Mund. "Vielleicht sollte ich eine Kleinigkeit erklären. Nicht alle diese Menschen, denen Du hier im Hause begegnet bist, sind 'meine' Gäste."
Ophelia merkte auf und setzte sich noch aufrechter, so dass ihr Rücken die Lehne nicht mehr berührte.
Ihr Gastgeber machte mit der freien Hand eine abwägende Geste und fuhr fort. "Zu meinen persönlichen Gästen zählen lediglich Marlies, Maria, Klara, Odett mit ihrer reizenden Tochter, Susanne, Du selbst und Henrietta. Die übrigen Menschen sind die im Haus von mir zugelassenen Begleiter meiner Familienmitglieder. Die meisten ihrer Spender wohnen im jeweils eigenen Heim und erscheinen nur dann hier, wenn sie darum gebeten werden. Ihre Dienste werden gut entlohnt aber das Vorrecht, im Clanhaus zu residieren, das steht nur meinen persönlichen Gästen und den von mir zugelassenen Vertretern der Übrigen, für den Notfall, zu."
Schnell zeichnete sich in ihrem Sinn die unsichtbare Linie ab, die zwischen der oberen und der unteren Hälfte der Tischordnung zu verlaufen schien und endlich konnte sie diese zuordnen.
Parsivals Gedanken folgten den ihren. Das ist richtig. Rosalinds Spenderin, die Achaterin, ist meines Wissens die einzige, die diese Trennung schlichtweg ignoriert und die mit Mitgliedern meines persönlichen Hausstandes freundschaftliche Bande geknüpft hat.
Ophelia bevorzugte die verbale Kommunikation. Sie nahm sich vor, wann immer möglich, den inneren Zwiegesprächen aus dem Wege zu gehen. Aus irgendeinem Grunde bereitete es ihr allmählich Unbehagen, mit welchem Selbstverständnis die Gespräche in ihrem Geist stattfanden. "Bitte haltet mich nicht für ungehörig neugierig, Herr. Ich bemühe mich vor allem darum, einen umfassenden Überblick zu bekommen, um alles hier gut zu verstehen."
Der Vampir nickte gelassen und deutete ihr damit an, ihre Gedanken weiter vorzutragen.
"Wenn die Gäste im Hause sich derart zusammensetzen, besteht dann nicht ein offenkundiges Ungleichgewicht?"
Er schwieg, was sie erröten und nach den passenden Worten suchen ließ.
"Ich meine, ich kam nicht umhin, von Odetts heutigem Besuch in deinen Räumen zu erfahren, selbstverständlich nicht im Detail! Aber der Zweck dessen war, vor allem im Nachhinein betrachtet, sehr offensichtlich..." Es fiel ihr schwer, weiter zu sprechen. Zumal seine Reglosigkeit kein Vertrauen erweckte. "Bitte korrigiere mich, wenn ich etwas falsch verstehe. Ich habe nicht viel Erfahrung mit den täglichen Bedürfnissen deiner Art. Aber es schien mir so, als wenn Odett für den Rest des Tages einiges an... Energie eingebüßt hätte. Es ist wohl nicht ratsam, diese Art der... Gespräche zu häufig in Folge stattfinden zu lassen?"
Sein zurückhaltendes Lächeln blieb ohne Wärme. Doch er antwortete bereitwillig.
"Aus eben diesem Grunde schließt meine Gastfreundschaft nicht nur Odett ein. Eine der Damen wird sich stets gerne zur Verfügung halten, so dass niemandem jemals mehr 'Gespräche' mit mir zugemutet werden müssten, als tragbar wären." Er betonte den von ihr mit Vorsicht gewählten Begriff mit unüberhörbarem Spott. "Unter den Damen herrscht Einigkeit hierzu. Und wenn ich Marlies Einschätzungen vertrauen darf, was sich bisher nie als Fehler erwiesen hat, herrscht unter ihnen sogar große Zufriedenheit mit den derzeitigen Arrangements." Er zögerte einen Sekundenbruchteil, bevor er mit zynischem Unterton hinzufügte: "Vielleicht sollte ich tatsächlich Abstriche dazu eingestehen, wenn es Henrietta betrifft."
Ophelia behielt ihn genau im Auge, er jedoch setzte sich aufrecht und legte die Hände locker auf die Stuhllehnen.
"Henrietta ist ein lästiges Ärgernis. Zugleich ist sie jedoch auch eine Hilfe und steht überaus loyal zu mir, beides Eigenheiten, denen nur ein dummer Mann unachtsam den Rücken kehrt. Und ich pflege nicht in dieser Weise von mir zu denken!" Er seufzte tief und bedachte Ophelia mit einem langen Blick. "Henrietta gehört zum so genannten Bündnis der 'Schwestern der sterbenden schwarzen Rose'. Sagt Dir das etwas?"
Ophelia verneinte. Sie konnte sich an keinen Eintrag dazu im D.O.G.-Archiv erinnern. Wobei sie sich eingestehen musste, dass sie während ihres letzten Besuchs des Archivs etwas abgelenkt gewesen sein mochte. Sie hatte sich eher um Breda gesorgt und mit dieser sprechen wollen, als dass sie sich auf die unzähligen Zettelkästen konzentriert hätte. Vielleicht war das ein Fehler gewesen?
Parsival legte seine Hände ineinander und beruhigte sie diesbezüglich. "Offiziell gibt es den Bund erst seit wenigen Monaten. Davor handelte es sich um einen Geheimbund, wobei seine Mitglieder wahrlich nicht unauffällig zu nennen sind. Du hast sie sicherlich schon oft auf den Straßen beobachtet."
Eine Ahnung regte sich in der Wächterin und er nickte.
Frauen mit weiß geschminkten Gesichtern und betont eleganter Abendgarderobe am hellichten Tage, vorzugsweise noch ein nutzloses Sonnenschirmchen aus schwarzer Spitze mit sich führend. Künstliche Eckzähne, rote Farbspritzer strategisch in der Kleidung verteilt, arrogante Blicke und ein merkwürdig weit ausgreifender Gang, bei dem sie sich beinahe die Füße brechen.
Das entsprechende Bild entstand augenblicklich in ihrem Sinn.
Sie leben für ihr Ideal und wünschen sich nichts sehnlicher, als von einem der Unsrigen hinüber geholt zu werden. Es ist für die Mitglieder dieses Bündnisses die ausschließliche Beschäftigung, echten Vampiren aufzulauern und ihnen ihre Dienste aufzudrängen. Und es ist heutzutage extrem kompliziert, sie legal loszuwerden!
Er zwinkerte ihr halb im Scherz zu. Oder hatte sie sich das eingebildet?
"Und wenn Du sie einfach verklagt hättest, Herr?"
Er lachte laut auf. "Du wärst also klüger gewesen als ich. Die Wahrheit ist, sie hat mich ausgetrickst! Zu Beginn nahm ich ihr ständiges Auflauern in der Öffentlichkeit nicht ernst. Mein Auftreten führt manchmal ungewollt dazu, dass Ähnliches passiert und so ging ich einfach davon aus, dass es sich auch bei ihr wieder legen würde. Bis sie es tatsächlich eines Morgens wagte, in mein Haus einzubrechen und in mein Privatgemach vorzudringen!" Noch jetzt bebte seine Stimme merklich vor Empörung. Er fasste sich wieder, was in absoluter Reglosigkeit resultierte. "Nicht einmal eine Stunde später hatte ich eine Klage ihrer Anwältin am Hals. Natürlich konnte ich nicht nachweisen, dass die Verletzungen an ihrem Hals nicht von mir stammten und es gab Zeugen, die beobachtet hatten, wie sie mit blutbesudeltem Kleid aus meinem Hause verwiesen worden war. Dass viele der Wunden schon alt und längst vernarbt waren, tat dabei nichts zur Sache. Immerhin gab es auch frische Verletzungen und es gab ihr Blut in meinem Sarg! Die Anwältin war selber Mitglied des Bundes. Ihre Anklage lief darauf hinaus, dass ein Vampir in einer solchen Situation der mentalen Beeinflussung für schuldig befunden werden könne und er die Verantwortung für sein Mündel weiterhin übernehmen müsse, wenn diese Einflussnahme voraussichtlich nicht mehr ohne gesundheitlichen Schaden rückgängig gemacht werden könne. Jede Art von Gegenbeweis wäre nur auf eben jener geistigen Ebene möglich gewesen. Aufgrund der menschlichen Natur der Kläger wurde aber schon der Versuch, diesen Beweis zu erbringen, strickt mit dem Hinweis auf die damit angeblich verbundene große Gefahr zurückgewiesen. Ich habe nach dem Verfahren meinen Anwalt entlassen und eben jene Anwältin eingestellt, die den Prozess gegen mich gewann."
Ophelia fühlte ein weiteres Puzzleteil in das Gesamtbild einrasten. "Klara!"
Der Vampir nickte bitter. "Letztlich war die Entscheidung vorteilhaft. Klara war damals schon gut und ist heute noch viel besser. Zudem erinnert mich ihre Anwesenheit täglich daran, nie wieder so blauäugig zu sein. Die Anwaltsgilde hatte ihr die Mitgliedschaft damals vermutlich nur deswegen verweigert, weil sie eine Frau ist. Ein Fakt, der mich niemals davon abgehalten hat, Talent zu würdigen. Sie ist ehrgeizig und reizt jede Möglichkeit, die man ihr bietet, bis zum Äußersten aus. Ich nehme an, dass sie dem Bündnis ursprünglich nur wegen der Gelegenheit beitrat, darüber an Mandanten heranzukommen und zu praktizieren. Letztlich bin ich froh, auf sie aufmerksam geworden zu sein, auch wenn ich im Gegenzug dazu gezwungen war, Henrietta ebenfalls willkommen zu heißen. Es gab eine Vereinbarung und so tauchen in regelmäßigen Abständen Schwestern des Bündnisses auf, um sicherzustellen, dass ich meinen Verpflichtungen nachkomme und für Henriettas Wohlergehen sorge, was auch immer die Schwesternschaft darunter verstehen mag. Also gebe ich meinem Mündel Nahrung und Obdach, wofür meine Akte bei der Schwesternschaft verwahrt und nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Ich nehme an, manch einer würde das Erpressung nennen? Nun ja, derweil macht Henrietta sich zumindest nützlich."
Die kurze Szene bei Tisch fiel ihr wieder ein und jetzt erkannte Ophelia darin Frustration und Neid. Alle anderen Hausgäste waren gern gesehen, sie hatten jene Art von Zugang zu Ascher, den die Verachtete sich mehr als alles Andere in ihrem Leben gewünscht hätte. Ophelia spürte einen verwirrten Anflug von Mitleid für die junge Frau.
Parsival lachte leise. Seine Stimme klang in ihrem Kopf ebenso verwundert, wie sie sich selber bei diesem Gedanken fühlte. Du hast Mitleid mit ihr, weil sie ihr Blut nicht zu meinen Füßen verschütten darf, wie sie es gern täte?
Sie beeilte sich erschrocken, diese Aussage von sich zu weisen. "Nein! Natürlich nicht! Es tut mir nur leid für sie, dass sie solch verworren krankhaften Vorstellungen von persönlichem Glück hinterher trauert."
Er seufzte noch einmal und sagte: "Manchmal gestatten wir ihr den Wunsch, in dieser Weise zu dienen. Nicht oft und auch nur in geringem Maße, wenn beispielsweise unangemeldet Gäste auftauchen oder die eigentlichen Spender krank sind. Henrietta ist es gleichgültig, wem sie als Begleiter zugeteilt wird. Aber es ist eine Gratwanderung. Ob man ihr zu wenig oder zu viel Aufmerksamkeit schenkt - in beiden Fällen überschreitet sie sämtliche von der Vernunft vorgegebenen Grenzen. Wäre ich nicht gezwungen worden, sie in meinem Hause aufzunehmen, dann vermute ich, dass sie irgendwann ausgesaugt in den Schatten gefunden worden und auf diesem kalten Tisch in eurem Wachhaus gelandet wäre, den ich in deinen Erinnerungen sehe."
Ophelia wusste nicht so recht, was sie darauf erwidern konnte. Sollte es tatsächlich möglich sein, dass das Clanoberhaupt nicht nur der eigentliche Leidtragende in dieser Angelegenheit, sondern zudem auch noch ein mildtätiger Diener am Allgemeinwohl war?
Parsival sah sie geradeheraus an, als er ihren Gedankengang unterbrach. Ich bin kein Heiliger. Ich wurde zu dieser Entscheidung gezwungen und tue nun lediglich mein Bestes, die Situation für alle Beteiligten sinnvoll zu handhaben. Ironischerweise kommt uns Henriettas Anwesenheit trotz allem zu Gute, denn ohne sie müssten wir in geschäftigen Zeiten einen Aushilfs-Igor einstellen. Und sie kleidet sich komplett in Teleris Kollektionen, was deren Ego enorm schmeichelt und sie umgänglicher macht. Er lächelte gezwungen bei seinen Worten.
Die Wächterin betrachtete eine Zeit lang schweigend ihre Hände, bis sie leise seufzte. "Ich muss gestehen, ich bin etwas verwirrt, Herr. Die hiesigen Arrangements scheinen gut durchdacht zu sein und allen im Haus zum Vorteil zu gereichen, obwohl sie überhaupt nicht dem entsprechen, was meine persönliche Erfahrung als gegeben oder wünschenswert konstantieren würde."
Parsival Ascher nickte ernst. "Es gibt meiner Gesellschaftsklasse gegenüber viele Vorurteile. Aber Menschen wie Du, die bereit sind, ihre Ansichten zu überdenken, zählen zu unseren Hoffnungsträgern."
In Hinblick auf etwaige Zuhörer wandte sie auf mentalem Wege ein: "Ich mache nur meinen Dschob, Herr."
"Dann muss ich wohl ebenfalls meine Ansichten überdenken und stattdessen die Wächter dieser Stadt zu Hoffnungsträgern erklären."
Sie sahen einander lange an und Ophelia spürte den Wunsch in sich reifen, ihn nicht zu enttäuschen. Er war ehrlich und freundlich und irgendwer hatte ihm unverzeihlichen Schmerz zugefügt, indem er drei Vampire seines Clans getötet hatte. Es war bewundernswert, wie gut dieser Mann sich im Griff hatte und trotz allem die Angelegenheiten des Hausstandes weiterführte. Er litt sicherlich beträchtlich, ließ sich aber nichts davon anmerken. Wer wusste schon, wie viel Leid und Ungerechtigkeit er in seiner andauernden Existenz ausgesetzt gewesen war, dass es sein Herz so gestählt hatte?
Sie bemerkte, wie er sie milder betrachtete und erinnerte sich mit unwillkommener Plötzlichkeit daran, dass er vermutlich einen ziemlich genauen Eindruck dessen hatte, was in ihr vor sich ging. Sie versuchte instinktiv eine Mauer zwischen ihrer beider Gedanken in die Höhe zu ziehen.
Seine Augen kündeten von Heiterkeit, sein Mund dagegen von Verärgerung. Er brach den Blickkontakt, ohne auch nur mit einem Wort darauf einzugehen, inwieweit ihr Versuch gelungen sein mochte, und sprach in geschäftsmäßigem Tonfall weiter. "Es ist üblich, dass Ihr uns gegen Abend für einige Stunden im großen Salon Gesellschaft leistet. Die Einladung dazu ist nicht verbindlich und es wird auch keine besondere Abendgarderobe erwartet. Es geht darum, Kontakt miteinander zu pflegen. Ansonsten würden wir in diesem Haus schnell aneinander vorbei leben. Darüber hinaus bleiben wir auf diese Weise alle in politischen und gesellschaftlichen Angelegenheiten auf dem Laufenden. Bitte nimm auch Du dir heute die Zeit dafür!"
Ophelia nickte. Sie zögerte kurz, bevor sie entschied, dass ihre nächste Frage keinesfalls für fremde Ohren bestimmt war. Es gibt da noch eine Sache, Herr, die ich klären muss.
Er war wesentlich geübter in der Gedankenrede und kam ihr dadurch leicht zuvor. Du möchtest deinem Vorgesetzten einen Bericht erstatten?
Sie bestätigte ihm seine Vermutung.
Der Vampir verbarg das Schmunzeln hinter der aufgestützten Hand. Soll ich beide Augen davor verschließen oder wäre ein realistischeres Vorgehen eher in deinem Sinne?
Die Ermittlerin dachte kurz über die verschiedenen im Voraus erdachten Wege der Kontaktaufnahme nach. Ich nehme an, dass es im Moment noch keinen Verdacht erregen würde, wenn ich offiziell um die Erlaubnis ersuche, meine Eltern von meinem vorläufigen Aufenthalt bei Freunden zu unterrichten und Du den Brief persönlich kontrollierst und aufgibst, nicht wahr?
Der Patriarch lächelte. In der Tat. Das sollte kein Problem darstellen.
Neue Entschlossenheit durchflutete sie, als sie innerlich schon damit begann, die Formulierungen der kurzen Nachricht zu durchdenken. Laut sagte sie: "Wenn Du gestattest, ziehe ich mich bis zu dieser Geselligkeit in mein Gemach zurück, Herr."
Der Vampir entließ sie mit einem generösen Wink zur Tür. "Ich freue mich schon auf deine Anwesenheit, Ophelia."

~~~ Guten Willen demonstrieren ~~~


Die wenigen Stunden bis zur Dämmerung waren letztendlich schnell vergangen. Geschäftiges Treiben ließ das große Haus fröhlich und lebendig wirken. Ophelia hörte vom Flur her das Öffnen einer der anderen Zimmertüren und gleich darauf die munteren Stimmen von Julietta, Odett und Anna. Von unten her klangen die schlendernden Schritte von Männerschuhen herauf, was sie vermuten ließ, dass zumindest Engelbrecht und Halofenn ebenfalls in die unterste Etage des Hauses unterwegs waren.
Sie warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel. Die Pupillen waren unnatürlich groß. Eigentlich ein ganz hübscher Effekt. Vor allem aber bedeutete es, dass sie noch immer unsichtbar den schützenden Geruch der Kräutermischung mit sich herumtrug. Wollte sie wirklich Tag für Tag ein so unangenehmer Gast sein?
Ihr Blick wanderte etwas tiefer und betrachtete die stattliche Reihe winziger beschrifteter Glasfläschchen, die jemand vor dem Spiegel aufgereiht hatte. Die handgeschriebenen Etiketten warben für blumige Düfte aus exotischen Regionen. Rosen aus Gennua, Gewürze aus Klatsch und zarte Blütenessenzen aus dem achatenen Reich.
Zögernd griff sie nach einem der Flakons.
Es würden viele andere Menschen um sie herum anwesend sein und die anfängliche Angst vor Übergriffen durch die Familie erschien ihr inzwischen paranoid. Dies war ein kultivierter Haushalt und es gehörte sicherlich zu ihrer Verantwortung als verdeckt arbeitende Ermittlerin, sich den vorherrschenden Umständen flexibel anzupassen.
Sie entfernte den Propfen und tupfte eine winzige Menge der kostbaren Flüssigkeit auf ihre Handgelenke. Sogleich erfüllte ein dezenter Blütenduft den Raum. Es würde den darunter liegenden Gestank nicht aufheben können, aber zumindest konnte sie den Vampiren so guten Willen demonstrieren.
Sie nickte entschlossen ihrem Spiegelbild zu und nahm das unverschlossene Kuvert mit dem kurzen Brief an ihre 'Mutter' an sich. Sie öffnete die Tür zum Gang hinaus - und hielt erschrocken die Luft an.
"Der Herr bat mich darum, Euch fur Verfügung fu ftehen. Ihr hättet einen Brief, den ich fchnellftmöglich zuftellen laffen folle. Möchtet Ihr meine Dienfte in Anfpruch nehmen oder bin ich doch nicht von Bedarf?"
Ophelia fühlte sich unangenehm überrascht. Hatte dieser Igor etwa vor ihrem Zimmer Wache gestanden? Dann entsann sie sich wieder daran, dass solche Anweisungen des Hausherrn zumindest den Anforderungen ihrer gemeinsamen Scharade entsprochen hätten. Sie runzelte theatralisch die Stirn und streckte dem buckligen Bediensteten den Umschlag mit pikiert gespreiztem kleinen Finger entgegen.
Der Igor hielt ihr unverzüglich ein silbernes Tablett hin, mit welchem er geschickt den fallenden Briefumschlag auffing.
"Vielen Dank für Euer Vertrauen, ich werde perfönlich dafür forgen, daff diefe Feilen unbefchadet ihren Weg in die richtigen Hände finden."
Er verneigte sich in einer unerwartet eleganten Bewegung und war verschwunden.
Ophelia konnte einen gewissen Anflug von Ironie nicht unterdrücken. Die 'richtigen Hände'. Natürlich! Je nun, sie hatte beim Formulieren Vorsicht walten lassen und sobald Ascher seine Zustimmung zum Inhalt gäbe, würden die Kollegen etwas beruhigter sein können. Es entsprach dem menschlichen Naturell, den Daheimgebliebenen mit oberflächlichen Worten von einem erholsamen Aufenthalt in der Ferne zu berichten, nicht wahr? Und in Anbetracht ihrer persönlichen Umstände sollte keines der Clanmitglieder tiefere Bedeutung vermuten. Sie war schließlich extra zum Schutze ihrer Eltern in Aschers Haushalt übergewechselt, was für einen Sinn hätten da hinausgeschmuggelte Andeutungen gemacht, die eben jene, nichts ahnenden Eltern, gar nicht entschlüsseln konnten? Sie ließ sich die Formulierungen unwillkürlich noch einmal durch den Sinn gehen.

"Liebe Mutter!

Es ist eine schöne Abwechslung, einige Tage in so angenehmer Umgebung zu verbringen. Meine Ankunft hier wurde allseits begrüßt und ich bedauere es keinesfalls, die großzügige Einladung meines guten Freundes angenommen zu haben.

Das Haus ist geräumig und seine Einrichtung zeugt von zweifellos gutem Geschmack. Insgesamt drei Etagen sind für die täglichen Belange hergerichtet und bewohnt, denn ich bin nicht der einzige Gast; im Gegenteil. Es wird Dich sicherlich freuen zu hören, dass die anderen Hausgäste selbst Großtante Pätrischas hohen Ansprüchen an Bildung, Stand und Konversation zu genügen imstande sein dürften. Ich bin also in guter Gesellschaft und werde die sich mir hier überraschend bietende Gelegenheit nutzen, mein bescheidenes Talent zur Konversation zu üben.

Bitte richte auch Vater eine herzliche Umarmung von mir aus.

Ganz die Deine!
Ophelia"


Nein, der kurze Gruß würde, selbst wenn er auf seinem Weg durch 'falsche Hände' ginge, keine zusätzlichen Gefahren für sie heraufbeschwören.
Die schlanke Wächterin stieg die letzten Stufen der weißen Steintreppe ins Untergeschoss hinab. Die Türen des Salons standen weit offen, so dass warme Luft und kultivierte Stimmen herausdrangen, untermalt von dezentem Klavierspiel. Sie atmete noch einmal tief durch und wappnete sich für die anstehende Nacht.

~~~ Gutbürgerliche Unterhaltung ~~~


Obwohl der große Salon seinen Namen zu Recht trug, wirkte er gerade so ausreichend, für die Zahl der an diesem Abend Anwesenden. Bis auf die Bediensteten und die Anwältin waren die Mitglieder des Hauses, mit ihr fünfundzwanzig, in dem Raum versammelt, schlenderten von Grüppchen zu Grüppchen, füllten ihre hohen Gläser mit rot leuchtender Flüssigkeit oder Alkohol und schienen sich gut zu unterhalten. Im hinteren Bereich saß Maria am Flügel. Ihren verträumt wirkenden Blick ziellos in die Menge gerichtet sorgte diese für eine gesetzte musikalische Untermalung der gutbürgerlichen Szenerie.
Der Hausherr stand unerwartet an ihrer Seite.
"Wie schön, dass Du ebenfalls zu uns gefunden hast, Ophelia."
Sie knickste leicht und wich - ihrer Rolle entsprechend - seinem Blick aus.
"Eine muntere Abendgesellschaft hast Du hier, Herr."
"Nicht wahr? Darf ich Dir etwas zu trinken anbieten?"
"Ja, gerne."
Sie durchquerten gemächlich den Raum und Ophelia nickte dabei jedem freundlich zu, an dem sie vorüber kamen.
Dicht neben dem Flügel saß die alte Herzogin mit ihrem schwarzen Spitzenhäubchen auf dem streng gescheitelten weißen Haar und beobachtete Ophelia ungeniert mit stechenden Augen. Ihre Lippen waren schmal zusammengepresst vor Missbilligung. Als ihrer beider Blicke sich begegneten, rümpfte die Alte demonstrativ die Nase und drehte ihren Kopf weg. Ophelia beschloss spontan, sich an diesem Abend von der Herzogin fern zu halten.
"Ophelia!" Susannes unbeschwerte Stimme hielt sie beide auf. "Parsival, das ist ja eine nette Überraschung, dass Du sie dazu bewegen konntest, sich uns anzuschließen. Möchtet Ihr euch zu uns gesellen?" Dabei deutete die blonde Frau auf die erwartungsvoll hinter ihr stehende Gruppe.
Engelbrecht und Julietta erwiderten Ophelias Lächeln, ebenso wie Parsivals Erstgeborener, die Vampirin Audrey hingegen blickte sie bleich und unbewegt an.
Der Hausherr ersparte ihr eine sofortige Entscheidung.
"Das werden wir sicherlich gerne, nur lasst uns erst einmal eine kleine Erfrischung besorgen."
Die blonde junge Frau lachte und ließ sie ziehen.
Sie näherten sich der Anrichte an der Rückseite des Raumes und erst jetzt bemerkte die Wächterin den dort bereit stehenden Bediensteten. Ein recht junger Igor stand dort, die Narben links und rechts seiner Mundwinkel ließen ihn beinahe grotesk lächeln. Er schien hauptsächlich damit beschäftigt, ausdauernd in einer großen Porzellanterrine zu rühren. Die große Schüssel stand auf einem erhöhten Metallgestell, welches eisernen Händen ähnelte, die aus dem Tisch griffen, und wurde von drei kleinen Flammen inmitten dieses Gestells erwärmt.
Sie erfasste instinktiv, worum es sich dabei handelte. Blut gerann einfach zu schnell, sobald es nicht mehr innerhalb eines Körpers in Bewegung blieb. Sie schob alle Gedanken zu dem Thema in einem bewussten Kraftakt beiseite. Sie erinnerten sie in erschreckender Weise an die nächtlichen Albtraumbilder, die sie dem letzten Einsatz verdankte. Stattdessen ignorierte sie den Grafen, der sich ein hohes Glas einschenken ließ und nahm ein Glas Weißwein.
Du bevorzugst normalerweise Rotwein?
Ja, normalerweise schon. Doch heute steht mir eher der Sinn nach etwas Hellerem.
Ah, verstehe.
Die Wächterin grüßte mit freundlichem Nicken die blassen Vampire, die ihr aufmerksam entgegen blickten, während sie sie passierte. Die Gräfin von Pine trug auch an diesem Abend wieder eine mehrfach geschlungene, lange Perlenkette und ein elegantes Kropfband um deren Hals. Ebenso wie die farblich passende Pelzstola. Es schien sich also um deren bevorzugten Kleidungsstil zu handeln.
Die Prinzessin von Kohlfurten hatte ihre Haarpracht in einer schweren Flechtfrisur hochgesteckt, was sie etwas weiblicher als am Vorabend wirken ließ. Neben dieser stand gelassen ihre Spenderin Sakura-Chan, die sich bis eben noch ernst am Gespräch beteiligt hatte.
Vom Flügel her räusperte sich dezent eine Kinderstimme. Anna sah entzückend aus. Anstelle der Beinkleider trug das Mädchen an diesem Abend eine Kombination aus mehreren Lagen Röcken und hoch geknöpftem Oberteil. Die Kleine strahlte übers ganze Gesicht, als sie ihre Mutter ankündigte.
"Sehr geehrte Damen und Herren, es ist mal wieder soweit. Meine Mutter möchte den Abend dazu nutzen, mit ihrem Gesang zu erfreuen. Viel Spaß!" Sie drehte sich halb um und streckte den Arm demonstrativ aus, als sie hinzufügte: "Die großartige Odett Keller!"
Die hoch gewachsene Sängerin sah wesentlich dezenter aus, als Ophelia es erwartet hätte. Sie trug eine beinahe strenge Tornüre in dunklem grau, gänzlich ohne Rüschen. Ihr langes rotes Haar trug sie zu einem straff gebundenen Aufbau nach hinten gesteckt. Als Odett zu singen begann, wusste Ophelia augenblicklich, woran diese Aufmachung sie erinnerte: Die tragische Melodie verband sich mit der altertümlichen Sprache, so dass sie unweigerlich ein Trauerlied erkannte, ohne dessen Worte verstehen zu müssen. Die verschiedenen Grüppchen hatten sich interessiert der Sängerin zugewandt, die routiniert vom Klavier begleitet wurde.
Die Verdeckte Ermittlerin bemerkte erst jetzt, dass Maria keine Noten vor sich liegen hatte.
Oh, hat das Dir gegenüber noch niemand erwähnt? Maria ist blind.
Ophelia verneinte betroffen. Ich war bisher davon ausgegangen, dass sie ein eher verträumtes Naturell hat. Sie fragte sich unwillkürlich über welchen verschlungenen Pfad es die Klavierspielerin in Aschers Haushalt geführt haben mochte.
Das ist wirklich eine unschöne Geschichte. Ich werde Maria zuliebe keine Einzelheiten nennen aber sie ist bereits von Geburt an blind und dieserart in den Schatten aufgewachsen. Sie hat Schlimmes hinter sich. Ich fand sie bei einem meiner nächtlichen Spaziergänge und bot ihr hier einen geschützten Ort, von dem sie niemals fort muss, wenn sie es nicht will. Sie nahm das Angebot an und ist seitdem bei uns geblieben.
Nun, da sie von der Einschränkung der Klavierspielerin wusste, schien es ihr offensichtlich und sie wunderte sich, nicht bereits früher einen Verdacht gehegt zu haben.
Die traurige Stimme Odetts untermalte Ophelias trübe Gedanken.
Geht es ihr hier gut?
Der Graf warf ihr einen schnellen Seitenblick zu.
Ja, das tut es.
Ophelia nickte. Sie ließ sich von der tragenden Stimme der Sängerin bewegen und stand ebenso hingerissen lauschend wie all die anderen im Salon. Als das Lied endete applaudierten alle und Odett knickste mit einem strahlenden Lächeln. Das weitere Repertoire war bei weitem nicht mehr so schwer verdaulich und bald schon wurden die leisen Unterhaltungen fortgesetzt. Die Nacht wurde lang und doch war Ophelia die erste, die die Geselligkeit unter entschuldigenden Worten verließ.

~~~ Totenlaken ~~~


Sie brach durch die Wasseroberfläche und schlug und trat um sich, verzweifelt darum bemüht, dem Sog der Kleidung entgegen zu wirken. Ihr Atem ging keuchend, unterbrochen von Hustenanfällen und das aufspritzende Wasser ließ sie blinzeln. In Todesangst suchte sie nach irgendeinem Halt, nach etwas, das sie retten würde, mit dem sie dem unbarmherzigen Verhör entkommen und flüchten könnte. Dabei hatte sie längst jede Hoffnung aufgegeben! Auf Augenhöhe schwankte in einiger Entfernung der Beckenrand. Anstatt auf seine Schuhe blickte sie geradewegs in Schlitzers leblose Augen. Eben noch hatten diese Augen sie mit selbstzufriedener Verachtung dabei beobachtet, wie sie langsam starb, während er den Bootshaken dazu nutzte, sie tiefer unterzutauchen. Jetzt fehlten in den blinden Körperfenstern jegliche Emotionen. Seine Stirn war durch einen Bolzeneinschuss gelocht, glatt und kreisrund. Das Blut breitete sich von seinem Hinterkopf her in einer Lache um ihn herum aus und lief in dicken Rinnsalen auf das Wasser zu. Dort, am steinernen Beckenrand, zupfte das klare Nass leuchtende Fäden davon mit sich. Der rosige Fächer breitete sich im Wasser schnell in alle Richtungen aus und umschloss sie. Die toten Augen starrten sie an, doch was nützte ihr das jetzt noch? Sie konnte nicht schwimmen und so oder so fand sie kaum noch genügend Kraft, um den Kopf über Wasser zu halten, geschweige denn irgendwie zum Felsrand zurück zu kommen! Das dunkelrote Wasser um sie her wurde aufgepeitscht von einem aufziehenden Sturm, wie er hier unten im Gewölbe unmöglich sein musste. Die klebrigen Schaumkronen schlugen ihr ins Gesicht, so dass sie kaum erkennen konnte, ob der Beckenrand sich tatsächlich in eine goldene Becherkante verwandelt hatte, einen Metallreif, der sie als Zentrum auserkoren hatte und wie ein Bannkreis umschloss. Waren es die eigenen Haarsträhnen, die sich nass und blutrot quer über ihre Sicht legten? Karakost blickte übergroß auf sie hinab. "Wer bist Du?" Während sie noch fieberhaft überlegte, welche Antwort eine Gnadenfrist erwirken könnte, verschwamm sein Gesicht, die Katzenaugen wandelten sich zu den abwartend dunklen Augen Aschers. Sie schmeckte Kupfer in ihrem Mund und roch die unverwechselbar herbe Süße des nahenden Todes. Aschers mentaler Schutz schien sich zusammenzuziehen, dieses Mal jedoch gleich einer unsichtbaren Fessel um ihre Kehle. Marians helle Stimme lachte perlend durch das Gewölbe, kaum fassbar wie die verblassende Erinnerung an sie: "...Wenn Du auf Nummer sicher gehen willst, dann trag' am Besten ein kleines Messer griffbereit bei Dir. Solche Überraschungen sind das Einzige, was er versteht..." Ihre Kräfte schwanden endgültig und sie sank, während die klebrige Brühe warm über ihrem Kopf zusammenschlug und die schweren Kleiderbahnen sich wie Totenlaken um sie wickelten. Marians mitleidvolle Stimme griff einen Satz immer und immer wieder auf. "Du Arme! Dann wirst Du ihn wohl nie los..."
Ophelia?
Das Luftholen war von einem Moment auf den nächsten wieder möglich. Sie blickte sich in der undurchdringlichen Schwärze um, heftig atmend und ernsthaft darum bemüht, sich wieder zu beruhigen und ganz zu Sinnen zu kommen.
Ist alles in Ordnung?
Ophelia blinzelte, was aber nichts an der Lichtlosigkeit änderte. Sie antwortete etwas verunsichert.
"Ja... ja, alles in Ordnung. Es war nur... ein Traum. Nichts Ungewöhnliches. Wie jede Nacht, nur mit leichten Abwandlungen..."
In der vorangegangenen Nacht hattest Du nicht mit solchen... Träumen zu kämpfen.
Die Umgebung schälte sich undeutlich in schwachen Konturen aus dem Dunkel. Sie seufzte erschöpft.
"Ich denke, dass dieses Beruhigungsmittel das verhinderte." Ein beunruhigender Gedanke rüttelte an den mentalen Pforten. Konnte es möglich sein, dass die Wirkung des Schutzmittels bereits nachließ? Aber sie hatte es doch erst vor knappen zwei Tagen eingenommen! Was, wenn nicht nur die psychologischen Nebenwirkungen viel zu früh verblassten, sondern ebenso die Auswirkungen auf den Geruchssinn der Gastgeber?
Es handelt sich nicht nur um einfache Träume, sondern um Erinnerungen, nicht wahr?
Diese Frage zielte auf ihre Privatangelegenheiten ab und sie war nicht geneigt, solcherlei Dinge in ihre Arbeit einfließen zu lassen. In ungewohnt unterkühltem Tonfall erwiderte die Verdeckte Ermittlerin daher:
"Bitte verzeiht mein unverblümtes Auftreten aber ich würde es deutlich bevorzugen, wenn Sie mir den Freiraum ließen, solche Themen außen vor zu lassen. Es ist mitten in der Nacht und ich würde mich noch gern um etwas zusätzlichen Schlaf bemühen wollen."
Natürlich. Eine angenehme Nachtruhe wünsche ich...
Parsival Aschers Präsenz schien zu schwinden, bis Ophelia sich wieder an den überschaubaren Raum und ihren einsamen Sinn gewöhnt und ihr Gemüt beruhigt hatte. Die mahnende Frage danach, ob sie weiterhin von einem Schutz durch die Tinktur ausgehen konnte, war schon vergessen.

~~~ Ein so schlechter Ratgeber ~~~


Allmählich schien sie sich daran zu gewöhnen, in diesem fremden Bett aufzuwachen. Zwar fühlte sie sich, den zurückgekehrten Albträumen geschuldet, fürchterlich verspannt und nicht wirklich erholt. Nach der Morgenwäsche aber sah das schon etwas besser aus. Und zum Frühstück kam Ophelia zu dem Schluss, dass sie nicht die einzige war, die vermutlich schlecht geschlafen hatte.
Die sonst so gesprächige Julietta saß leicht vorgeneigt über ihrem Gedeck und rührte ohne Unterlass in der dünnwandigen Porzellantasse. Ihre Augen wirkten müde und leichte Augenringe zeichneten sich unter ihnen ab.
Ophelia beugte sich besorgt näher.
"Ist alles in Ordnung?"
Julietta blickte erschrocken zu ihr auf und sah sich fast schuldbewusst um, ob noch jemand auf sie aufmerksam geworden war. Sie zwang sich zu einem Lächeln.
"Ja, alles in Ordnung. Bitte, nur kein Aufhebens um meinetwillen!"
Die blonde Frau wich ihrem Blick entschuldigend aus und beendete kurz darauf in flüchtiger Hast die Mahlzeit. Sie verließ den Tisch übereilt, was aber sonst niemandem aufzufallen schien.
Ophelia blickte Julietta nachdenklich hinterher. Ihr Feingefühl sprach darauf an und ließ sie Ernstes vermuten. Es musste mehr dahinter stecken, als lediglich eine ruhelose Nacht. Konnte ein Zusammenhang mit den kürzlichen Vorfällen bestehen? Wenn Julietta beispielsweise plötzlich einen Verdacht bezüglich des Täters hegte, wäre dies ohne Frage Ursache genug für Schlaflosigkeit. War in der Nacht etwas vorgefallen, was Licht auf die Sache und Julietta in ein persönliches Dilemma geworfen hatte?
"Jetzt musst Du dich aber beeilen!" Annas wirrer Haarschopf hüpfte ins Sichtfeld und das Kind beanspruchte Ophelias uneingeschränkte Aufmerksamkeit. "Eric wartet nicht gern und Du wolltest ja heute mitmachen. Komm!"

Der Gemeinschaftsraum in der zweiten Etage wirkte größer als noch am Vortag, als sie Halofenns Vortrag gelauscht hatte. Der Flügel war beiseite geschoben, ebenso wie die anderen Möbel, der Teppich an den Rand zusammengerollt worden, so dass sich in der Mitte des Raumes eine freie Fläche auftat. In dieser stand abwartend Eric. Seine bestrumpften Füße in den Kniebundhosen wirkten ebenso schlicht und akkurat, wie das geschnürte Hemd und die eng anliegende Weste. Seine Hände steckten in feinen weißen Lederhandschuhen. Seine gesenkten Augenlider und die schmalen Lippen wirkten gelangweilt.
"Steht dein Entschluss noch, Fräulein Ziegenberger, oder möchtest Du vielleicht doch lieber nur zuschauen?"
Anna ergriff, noch bevor sie antworten konnte, impulsiv ihre Hand und lachte ihn aus.
"So ein Blödsinn! Natürlich bleibt sie dabei, nicht wahr?"
Der spöttische Blick seiner Augen ließ ein alt vertrautes Empfinden in Ophelias Innereien hoch kochen, ein seltenes Gefühl, das sie aber wenn, dann umso stärker packte und ihr in der Regel ungeahnte Scherereien einbrachte: gekränkter Stolz. Niemand hatte das Recht dazu, sie mit solch einer Herablassung anzusehen!
Sie erwiderte spontan den Druck der schmalen Hand in der ihren.
"Mein Herr, ich stehe zu meinem Wort. So Du geneigt bist mir entsprechende Anweisungen zu geben, können wir mit den Übungen beginnen."
Er betrachtete sie einen Moment lang schweigend, bevor er sich einen Ruck gab.
"Nun denn! Ich bezweifle ja, dass es außer Anna in diesem Haus noch ein Frauenzimmer gibt, das genug Feuer und Ausdauer im Blut hat, um die Klingen in rechter Weise zu führen. Aber ich möchte Anna nicht enttäuschen. Lassen wir es auf einen Versuch ankommen. Ich habe gehört, dass Du eine Wächterin bist? Dann wirst Du wohl schon irgendeine Art von Waffe in der Hand gehalten haben?"
Sie konzentrierte sich mit aller Macht darauf, den noch immer rebellierenden Sturm der Gefühle zu unterdrücken. Stolz war ein so schlechter Ratgeber! Diese Frage war bereits in den unterschiedlichsten Formulierungen an sie gerichtet worden, wenn auch sonst eher von Verwandten und nicht im Zusammenhang mit einem anstehenden Waffengang. Sie hatte darauf damenhaft zu antworten, mit schüchternem Lächeln und angebrachter Zurückhaltung, um niemandem Grund zu Misstrauen oder Verachtung zu geben. Es half, an Großtante Pätrischas abschätzige Haltung zu denken.
"Wie ich zu meiner Schande eingestehen muss, stand ich eine Zeit lang im Sold der Wache. Aber das ist nichts, worauf ich stolz wäre, es war weiter nichts als kindischer Trotz, meiner Treu! Ich war als Schreiberin von Nutzen und saß Tag für Tag in einem muffigen kleinen Büro. Der Dienst war ereignislos. Doch die rauen Gesellen, der karge Lohn... nein, mein Vater hatte ja so Recht, wenn er mich ein ums andere Mal ermahnt und um Vernunft gebeten hat. Solch ein Ort steht einer Frau nicht gut zu Gesicht. Wenn ich daran denke, welch einen Kummer ich ihm bereitete, dann steigt mir noch jetzt die Schamesröte ins Gesicht! Dieser unziemlichen Schwärmerei bin ich ein für allemal entwachsen und froh darum, dass Parsival mir die Möglichkeit gewährt, Abstand zu all dem finden. Ich möchte nicht mehr daran erinnert werden!"
Ihr Magen drehte sich um, bei den dreisten Lügen, die da ihrem Munde entwichen - das reuevolle Lächeln auf ihren Lippen aber hielt stand.
Ophelia erkannte sofort, dass ihre Worte sie in seiner Achtung hatten sinken lassen. Er hatte mit einer Kämpfernatur gerechnet. Stattdessen sah er sich mit einer willensschwachen Jammergestalt konfrontiert, einer Närrin, die am Versuch der Selbständigkeit gescheitert war, ziellos und unbedacht, die sich abseits der Konventionen zum Lecken der Wunden versteckte.
Wieder regte sich dieses unvorsichtige Gefühl in ihr, flatterte gegen die Rippen und wollte freimütig hinaus rufen: So bin ich nicht!
Ophelia löste schnell die Finger aus der Kinderhand, bevor das sachte Zittern sie verraten konnte. Sie setzte ein oberflächliches Strahlen auf und verkündete in vollendeter Sorglosigkeit:
"Ich hoffe doch, dass es nicht gar zu anstrengend ist, solch eine Waffe zu führen?"
Die kurze Unterredung hatte sie darin bestärkt, dass es ausgeschlossen sein musste, ihr wahres Können zu demonstrieren. Sie würde Unwissenheit und Ungeschick vorschützen und keinesfalls wirklich Nutzen aus den Übungen ziehen dürfen. Die Rolle der Verdeckten Ermittlerin verlangte in diesem Fall nach naiver Hilflosigkeit.

~~~ Die Eine ~~~


Die Übungsstunde zog sich für Ophelias Empfinden unsagbar in die Länge. Die vorgeschützten Unaufmerksamkeiten und ihr bewusster Mangel an Körperspannung führten unweigerlich zu den erwarteten blauen Flecken an Händen und Handgelenken. Sie musste sich nicht allzu sehr darum bemühen, Unmut zu zeigen und ihr widerwilliger Lehrer war bald froh darum, sich der wesentlich talentierteren Schülerin zuwenden zu können. Seine Verachtung war ausgesprochen unangenehm, Ophelia überspielte dies jedoch mit einer Heiterkeit, die sie nicht empfand. Dem Kind war es einerlei. Mehr noch, Anna wurde es nicht müde, Ophelia ihren Könnensstand zu demonstrieren, indem sie den größeren Mann in immer übermütigerer Weise attackierte, was dieser gleichmütig hinnahm. Im Grunde entsprach Ophelia als lobende Beobachterin viel eher dem Gewünschten, als wenn sie ihrerseits Anna zu Untätigkeit und Geduld beim Zuschauen gezwungen hätte.
Einmal merkte Ophelia auf, als Anna bei einem besonders wagemutigen Manöver zu Fall kam und Eric sie sogleich neckend verhöhnte.
"So wirst Du dich niemals verteidigen können. Da müsstest Du schon einen Pflock vor dir her tragen, während Du auf einen Vampir drauf fällst."
Anna lachte unbesorgt auf. In Ophelias Sinn hingegen hing unwiderruflich der Gedanke fest, ob dieser Mann dazu in der Lage gewesen sein könnte, einen Mord an einem Vampir zu begehen. Oder derer drei.

Der Vormittag wich der Mittagsstunde und des Mädchens Begeisterung bei Tisch schien keine Grenzen zu kennen, als sie von diesem oder jenem Ungeschick ihrer erwachsenen Freundin zu berichten wusste.
Ophelia ignorierte die mitleidigen Blicke und setzte den Ausführungen des Kindes lediglich mit der Feststellung ein Ende, dass diese Art von Training wohl doch nicht ganz das Richtige für sie sei.
Ein verständnisvolles Murmeln umlief die Tischrunde und Annas Protest wurde streng von deren Mutter unterbunden.
Die Tafel wurde aufgehoben und die verschiedenen Gäste zogen sich auf ihre Zimmer oder in den Gemeinschaftsraum im ersten Stock zurück.

Ophelia empfand das dringende Bedürfnis, einen Moment für sich zu bleiben. So etwas wie Schwermut überfiel sie. Es waren lästige Empfindungen, die sie da trafen, zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Initiative und Elan waren gefragt. Stattdessen begann sie an dem zu zweifeln, wozu sie hergekommen war.
Stets musste sie den Menschen mit Falschheit begegnen. Konnte das richtig sein? Sie betrat ein fremdes Haus, wurde freundlich darin aufgenommen und begegnete doch Jedem darin mit Misstrauen und Lüge. Sicher, sie wollte helfen und Unrecht aufdecken. Doch sie zeigte nicht ihr wahres Gesicht dafür und am Ende eines Einsatzes verließ sie den Ort ihres Betruges lautlos und heimlich, wie ein Verbrecher. Wenn sie sich tagtäglich verstellte, wie konnten ihr da selbst ihre Kollegen noch vertrauen? Sie hatte sogar diese heute verleumdet!
Eine Igorina erschien lautlos in der Tür zum Speisezimmer und blickte ihr erwartungsvoll entgegen.
"Ift ef genehm, wenn wir abdecken?"
Ophelia nickte hastig und gab den Platz frei.
"Selbstverständlich! Entschuldige bitte, ich wollte nicht im Wege sein."
Der Anblick des vernarbten Gesichtes erinnerte sie unweigerlich an Rogi Feinstich und sie fragte sich, ob die Angestellten des Hauses Ascher sich ebenso eng an den Kodex gebunden fühlten, wie diese. Sie gab sich einen Ruck und besann sich auf den Grund ihres Aufenthaltes: Das Personal stellte stets und überall einen der wichtigsten Informationsposten dar. Hier konnte angesetzt werden. Vielleicht erführe sie mehr zu den Hintergründen dieses Haushaltes, wenn sie es richtig beginnen würde?
"Mein Name ist Ophelia Ziegenberger. Vielen Dank für deine Mühe! Darf ich fragen, wie Du heißt?"
Die Igorina sah sie mit beinahe panischem Gesichtsausdruck an.
"Ich heife Igorina. Und ich kümmere mich um daf Gefirr. Ich muff mich auch etwaf beeilen..."
Ophelia nahm unbehaglich zur Kenntnis, dass sie ins Fettnäpfchen getreten war. Sie bemühte sich darum, den Vorfall für sie beide abzumildern. Diese Igorina wusste anscheinend nicht einmal mit dem Konzept einer abweichenden Namensidentität etwas anzufangen.
"Oh, ja, tut mir leid! Ich habe einmal in der Stadtwache gearbeitet und war dort mit einer Igorina bekannt... ich war so daran gewohnt, dass sie einen Namen hat... hatte... also noch einen Namen..."
Ihr Gegenüber war hin und her gerissen in dem Bemühen ihr einerseits unauffällig zu entkommen und andererseits einer Autorität gegenüber gut genug zu dienen, um deren Unwohlsein leichthin zu zerstreuen.
"Nicht doch! Du brauchft dich nicht fu entfuldigen!"
Ein zweiter Igor schien plötzlich immer schon hinter seiner Kollegin gestanden zu haben und diese blickte erleichtert drein, als sie dessen gewahr wurde. Er musste das Gespräch verfolgt haben und er schien weniger Schwierigkeiten damit zu haben, dem Gast entgegen zu treten. Ophelia erkannte in ihm den gleichen Igor, der am Vorabend der großen Porzellanschüssel Aufmerksamkeit hatte zuteil werden lassen, indem er konsequent darin gerührt hatte. Er machte einen Diener und sagte dann rundheraus:
"Du fprichft von Rogi Feinftich, richtig?"
Ophelia konnte nur nicken, so sehr war sie darum bemüht, nicht auch ihn vor den Kopf zu stoßen.
"Fie ift die Eine."
"Die Eine?"
"Igor!"
Die kleine Bedienstete blickte erst ihren Kollegen empört an, dann zweifelnd zwischen ihnen beiden hin und her, bevor sie sich entschloss, nichts mit dem weiteren Verlauf des Gespräches zu tun haben zu wollen und kurzerhand verschwand.
Der scheinbar grinsende Igor jedoch blieb und sah sie mit offenem Blick an. Ophelia wusste nicht, woran sie es festmachen sollte aber sie entschied in diesem Moment, dass er insgesamt jung sein musste. Für seine Art vermutlich sogar noch sehr jung.
"Die Igorina Rogi Feinftich ift die Eine, weil fie befonderf ift. Fie dient der Ftadt, fie entfeidet alleine und fie trägt Verantwortung. Fie befiehlt fogar anderen! Fie achtet den Kodex, hält ihn hoch wie nur Wenige, obwohl fie ihn gleichfeitig umgeht. Fie gehört fur Familie und doch ift fie anderf. Ef gibt keine fweite wie fie. Defwegen ift fie die Eine. Fie ift fiemlich bekannt."
Die Wächterin war erstaunt. Konnte es sein, dass es nicht nur diesen Igor gab, der so über die Sanitäterin in den Kerkern am Pseudopolisplatz dachte? Beschäftigte die Wache unbemerkt eine Berühmtheit?
"Hast Du Rogi Feinstich schon persönlich kennen gelernt?"
Der Igor stand bei dieser Frage wie vom Donner gerührt. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände und kündete davon, dass er sich nicht ganz sicher war, ob solch eine Bekanntschaft eine Ehre darstellen würde oder eine Peinlichkeit.
Sie bereute ihre Frage schon, als er auf dem Absatz kehrt machte und kurz angebunden antwortete:
"Ich muff den Tif abräumen."

~~~ Wie Du so etwas in den Mund nehmen kannst ~~~


Vielleicht hätte sie sich zu den Übrigen im Aufenthaltsraum gesellen sollen. Aus einer lächerlichen Sehnsucht heraus zog es Ophelia jedoch die Treppe zum Erdgeschoss hinab und an die Haustür. Ihre Fingerspitzen strichen zögernd über die vielfarbige Glasfläche neben der Tür.
"Kann ich behilflich fein?"
Sie wirbelte erschrocken herum. Wie hatte sie den älteren Diener vergessen können?
Sein Blick schien von allen Geheimnissen zu wissen, nur um kurz darauf in das weltfremde, glupschäugige Starren überzugehen, das man von so vielen klassisch erzogenen Igors kannte.
"Ähm, nein, vielen Dank. Ich habe nur das Mosaik betrachtet. Ein wundervolles Stück Glaserkunst!"
"Daf ift ef, in der Tat." Er warf einen bedeutungsvollen Blick auf den unberührten Türknauf und auf sie, bevor er hinzufügte: "Die Türen und Fenfter find leider doppelt verriegelt. Du wirft daf ficherlich verftehen, wo fich dort draufen doch der Verbrecher herumtreibt, der einen Teil der werten Familie auf dem Gewiffen hat, nicht wahr? Der Herr und ich tragen die Flüffel dazu mit unf aber follteft Du den Wunf nach einem Fpaziergang verfpüren, werde ich dief gerne an ihn weiter geben. Heutfutage muff man forfichtig fein, wie noch nie, bei all den Verrückten, die dort draufen herumlaufen! Fonft kommt noch jemand auf dumme Ideen, waf dem Herrn gar nicht gefallen würde."
Er nickte weise zu seinen eigenen Worten und verbeugte sich mit beinahe schadenfrohem Ausdruck, nur um sich wieder zu entfernen.
Hätte sie bisher daran gezweifelt gehabt, wäre sie jetzt eines Besseren belehrt worden - Ascher hatte keine Zeit verstreichen lassen, seinen engsten Bediensteten eingeweiht und sie offiziell unter Beobachtung gestellt. Der ältere Igor war zu ihrem Kerkermeister ernannt worden und er schien sich in dieser Rolle zu gefallen. Es würde ihr unmöglich sein, das Haus unbemerkt zu verlassen!
Leise Stimmen in der Nähe wurden lauter. Jemand in dem großen Haus stritt sich.
Über ihre Bewachung konnte sie sich später noch immer den Kopf zerbrechen. Derzeit entsprach diese dem offiziellen Szenario und konnte Ophelia kaum daran hindern, sich ein Bild von der versammelten Gesellschaft zu verschaffen.
Normalerweise wäre sie einem Streit aus dem Wege gegangen und hätte diesen taktvoll ignoriert. Ihre natürliche Neugier war aber hilfreich darin, solch ein Wortgefecht als hervorragende Informationsquelle zu identifizieren. So ging sie den Stimmen nach, bis sie an dem Treppenabsatz stand, der in den unteren Bereich des Hauses führte. Ihre Phantasie spielte ihr eindeutig einen Streich, wenn sie die undeutlichen Wortfetzen von kaltem Hauch empor getragen empfand. Und doch! Dort unten wohnten ihre untoten Gastgeber!
Sie setzte einen Fuß auf die erste Stufe und stieg dann langsam hinab.
Die Türen zum Salon standen dicht angelehnt, waren jedoch nicht gänzlich geschlossen worden. Schnell erkannte Ophelia die kalte Stimme der Herzogin von Lomond. Pflegte diese nicht sonst bis in die frühen Abendstunden zu ruhen? Was konnte sie aufgeschreckt haben?
"Nein, ich kann nichts daran gut heißen! Es hat mit Würde zu tun, Desdemonia, seinen Status auch nach außen zu zeigen. Er hat es immer schon an dem nötigen Air mangeln lassen, die lächerlich kleinen Zuwendungen für meine Garderobe sind nur ein Aspekt von vielen. Die Feste, ach, die Feste... warum sind wir gezwungen, uns mit den seltenen Empfängen zu begnügen, während andere Clans rauschende Ballnächte geben? Als ich noch jung war, ja da haben wir gefeiert! Und jetzt? So knickerig! Er hätte das Vermögen gewiss besser anlegen müssen. So jedenfalls ruiniert er unseren Ruf!"
Die ruhige Stimme der Gräfin unterbrach den harschen Redefluss der Alten.
"Ich würde eher meinen, dass die ungeklärten Morde darin viel schwerer wiegen, als unsere seltenen Einladungen."
"Papperlapapp! Das hängt doch alles miteinander zusammen! Parsival hat die Brut nicht im Griff, sonst würde sie auch mehr Geld reinbringen! Aber er ist viel zu nachsichtig, lässt sie gewähren, lässt sie so viel für sich behalten. Zu meiner Zeit, da mussten wir dem Hausvorstand unser gesamtes Einkommen überantworten! Alle machen sie, was ihnen in den Sinn kommt. Ich rede ja nicht nur von diesem Nichtsnutz, den er seinen Erstgeborenen nennt. Rosalind ist keinen Deut besser mit ihren unziemlichen Interessen. Und Herribert... er wird es noch so weit treiben, dass unser geschätzter Patrizier nicht umhin kommt, seine Aufmerksamkeit auf uns zu richten. Und wenn Havelock erst..."
Die beiden Vampirinnen verstummten.
Ophelia trat mit einer unguten Ahnung lautlos von dem Türspalt fort, doch dieser öffnete sich schwungvoll, wie von Geisterhand, und sie blickte direkt auf die beiden Matronen, die einander an dem kleinen Teetisch gegenüber saßen. Die weißhaarige Greisin auf einem kleinen Sesselchen, die Gräfin von Pine mit locker um die Schultern gelegter Pelzstola auf dem Sofa. Beide sahen sie missbilligend an. Die Herzogin rümpfte angewidert die Nase.
"Dachte ich es mir doch!"
Ophelia fehlten, dermaßen in flagranti ertapt, die Worte. Sie hatte gelauscht und es konnte keine überzeugende Entschuldigung dafür geben. Hilflos stammelte sie im Rückwärtsgehen:
"Es tut mir leid... ich wollte nicht..."
Die Gräfin legte den Kopf leicht schräg.
Die Herzogin jedoch deutete ihr mit einem herrischen Wink an, ja nicht an Flucht zu denken, sondern im Gegenteil zu ihr herüber zu kommen.
"Was für ungehobelte Manieren. Aber was soll man auch von einer so ordinären Dirne anderes erwarten, die sich als Wächterin verdingt."
"Ich bin keine..."
"Unterbrich mich nicht! Es ist ohnehin eine Zumutung, dich im Hause dulden zu müssen. Obendrein noch mit diesem Gestank beleidigt zu werden... Denke ja nicht, dass wir irgendwas mit Parsivals Eskapaden oder Plänen zu tun haben. Bis er dich ankündigte waren wir von seinem langweiligen, wenn auch wenigstens untadeligem Leumund überzeugt, auch wenn man sich etwas in der Art wohl hätte denken sollen. Er hat uns keine dreckigen Details erzählt und wir wollen auch keine hören! Eine Wächterin im Haus zu haben... ich kann mir nichts Unpassenderes vorstellen! Aber wenn Du nun einmal geduldet werden musst, dann kannst Du dich gefälligst benehmen und nützlich machen."
Die Alte wies sie vorwurfsvoll an, sich zwischen ihnen mit auf das Sofa zu setzen. Ophelia tat nervös, wie ihr geheißen. Sie musste sich bewusst an ihre offizielle Rolle erinnern und daran, dass diese Rolle ihr einen gewissen Widerspruchsgeist gestattete - wenn auch einen ausgesprochen ängstlich und zaghaft verpackten.
Die Gräfin sah sie unerwartet gütig an.
"Die Situation ist auch für uns denkbar unangenehm, Kind. Wenn es nur nach uns ginge, würden wir ohne Zögern Abstand nehmen von so grobem Verhalten. Es schmerzt mich, es beim Namen zu nennen: Geiselnahme und Erpressung! Wie konnte es nur so weit kommen?"
Die Gräfin schüttelte in tiefstem Bedauern den Kopf.
"Je nun," unterbrach die Alte sie wirsch, "Dann tue es doch nicht, sondern behalte diese unaussprechlichen Worte für dich, Desdemonia! So etwas will hier niemand hören! Wie Du so etwas in den Mund nehmen kannst! Das ist Parsivals Angelegenheit, soll er sie ausbaden. Derweil kann das Kind auch etwas Vernünftiges mit seiner Zeit anfangen, anstatt unnötig Trauer zu tragen. Die schwarze Stimmung ist dem Sterben vorbehalten und bis dahin hat das Jungfleisch noch reichlich Zeit. So reine, weiche Haut! Es gibt Schlimmeres, als Kost und Logis, so viel steht mal fest. Hier!" Und mit diesen Worten warf sie Ophelia einen Wust an Wollfäden in den Schoss und starrte sie aus den dunkel verschatteten Augenhöhlen an. "Ich gedenke zu stricken. Du wirst wohl wenigstens im Stande sein, den Faden aufzuwickeln. Und während dessen wäre es passend, wenn Du das Gehege deiner kleinen, weißen Zähne auseinander bekommen und Rede und Antwort stehen würdest."
Sollte sie ihrer Phantasie und dem Kloß in ihrem Hals nachgeben, um ob dieser Grobheiten von Tränen überströmt aus dem Raum zu stürzen? Nein, auf keinen Fall! War der Mörder unter den Bewohnern des Hauses zu finden, so stand die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es sich bei ihm um ein Mitglied der Familie und nicht um einen der Gäste handelte. Sie musste also den direkten Kontakt zu dieser suchen und hier hatte er sich ergeben. Sie musste den Kloß im Hals hinunter schlucken und bleiben.
Sie nickte schweigend, konnte aber peinlicherweise nicht verhindern, dass ihr feine Wasserränder in die Augen stiegen. Sie blickte vorsichtshalber auf das unförmige Wollknäuel in ihren Händen und begann dieses zu entwirren.
Die Gräfin spielte mit den Perlen ihrer mehrmals geschlungenen Halsketten, während sie in vertraulichem Tonfall erklärte:
"Ich weiß nicht, um welch eine vergangene Sache es sich zwischen dir und Parsival dreht - und ich möchte es ebenso wenig wie Katharina wissen - aber Du kannst beruhigt sein, dass es sich dabei um etwas handeln muss, das weit zurück liegt und gewiss in irgendeiner Form mit Notwehr zu tun gehabt haben muss. Parsival mag dir zuweilen etwas rau vorkommen aber er ist eine freundliche Person, rücksichtsvoll und zuvorkommend. Er wird dir nichts zu Leide tun!"
Sie konnte nicht anders, als rollenkonform in Angst und Vorwurf zu entgegnen: "Er bedroht meine Familie!", nur um sich sofort darauf wieder mit bitterer Mine dem Fadenwust zuzuwenden.
Desdemonia schüttelte bedauernd den Kopf.
"Ja, ich kann es mir auch nicht erklären. Aber er ist schließlich nicht allein hier. Er weiß, dass wir, wenn auch nicht stimmberechtigt in dieser Sache, doch ein Auge auf dich haben werden. Er wird dir nichts antun."
Die Alte schnaufte abwertend.
"Mach keine falschen Versprechungen! Das Kind muss sich genauso mit der Situation abfinden, wie wir es müssen. Nicht mehr und nicht weniger. Parsival hat wohl seine Gründe dafür, so wenig mir das auch schmeckt. Wenn nicht, dann Gnade ihm! Und jetzt erzähl, wertes Fräuleinchen! Aus welchen gesellschaftlichen Verhältnissen stammst du?"

Nach einiger Zeit des Zusammenseins mit der Herzogin von Lomond verspürte Ophelia tiefes Mitgefühl mit den Verhörten der Wache. Es musste sich etwa gleich anfühlen, ständigen Fragen ausgesetzt zu sein, einem so stechenden Blick, der Verachtung und dem Hohn, all das ohne dann aufstehen und gehen zu können, wenn es einem beliebte. Sie entschied, dass ihr erster Eindruck von der Herzogin dieser noch geschmeichelt hatte und sie ihr, wann immer möglich, aus dem Wege gehen würde. Eine lang hingezogene Observation der Greisin, um deren Einstellung zu diversen Themen einschätzen zu können, würde jedenfalls nicht von Nöten sein. Die Herzogin hielt nicht viel davon, mit ihren Ansichten hinter dem Berg zu halten. Nach viel zu langer Zeit gesellten sich ihnen weitere Familienangehörige im Salon hinzu, so dass Ophelia davon ausging, dass sie den Ruf zum Nachmittagstee hier unten schlicht überhört haben musste und außerhalb des Raumes bereits die Dämmerung eingesetzt hatte. Die Vampire waren dazu bereit, sich mit der geruchsintensiven Präsenz des 'Gastes' zu arrangieren. Oder vielleicht blendeten sie diese auch aus. Bald jedenfalls saß die stellvertretende Abteilungsleiterin von R.U.M. inmitten von ihnen und wurde weitestgehend ignoriert, während sie beide Hände wie zur eigenen Verhaftung vorgestreckt hielt, um der Herzogin ein leichtgängiges Fadenspiel zu ermöglichen.
Die Gräfin hatte sich mit der Prinzessin von Kohlfurten, dem zurückhaltenden Sohn des Hausherrn und der skandalös figurbetont gekleideten Audrey zu einem Kartenspiel zusammengesetzt. Das Gespräch plänkelte dahin und streifte aktuellen Klatsch und Tratsch, abwechselnd auch von den übrigen Anwesenden kommentiert.
"Die Tschentowitschs? Nein, ich denke nicht, dass sie auch geladen sein werden." Audrey Ascher warf den Kopf verächtlich zurück und half mit gespitzten Lippen nach, das kurz geschnittene schwarze Haar aus der Stirn zu pusten. "Du weißt doch, Desdemonia, wie Loredana die Schwarzbandler verachtet. Es ist ein Kreuz mit Hannes. Hendrik könnte einem leid tun. Aber solange er seinen Sohn nicht zur Vernunft bringt, ist er gesellschaftlich passé. Wobei ich Loredana keinen Vorwurf daraus machen will. Ich kann diese Fanatiker auch nicht ausstehen!"
Christopher blickte unsicher wie stets in sein Blatt und ließ sich neue Karten geben.
Rosalind kniff streng ihre Lippen zusammen. Sie rang deutlich mit sich, ob sie auf das Thema eingehen oder eine Kontroverse umschiffen sollte.
Die alte Herzogin hatte keinerlei solche Skrupel. Das feine Spitzentuch zitterte rund um deren weißen Haarkranz, so sehr empörte sie sich.
"Das ist eine unmögliche Sippe. Wie kann man die nur auf die Straße lassen? Irgendwer sollte sich ihrer erbarmen und sie wegsperren! Solch eine Peinlichkeit! Wenn ich da an meine Jugend denke, da wäre uns so was nicht untergekommen! Jeder, der etwas auf sich gehalten hat, war eher dazu bereit, seine eigenen Kinder mit etwas Spitzem von dieser Geistesverwirrung zu erlösen, bevor er sich so etwas Entartetes herangezüchtet hätte!"
Ophelia fühlte sich fast unsichtbar und war froh darum. Es stand nicht zur Debatte, sich ungefragt an dem Gespräch zu beteiligen. Und wer hätte sich schon für ihre Meinung interessiert?
Rosalind schnippte ihr Blatt über den kleinen Tisch und stand nachdrücklich auf.
"Deine altmodischen Ansichten ermüden mich, Katharina, zumal die Peinlichkeit eher darin bestehen dürfte, sich mit Händen und Füßen und entgegen jeder Logik dem Fortschritt zu sperren. Da Du dich aber niemals eines Besseren belehren ließest, erübrigt sich ein Erklärungsversuch. Es ist ohnehin spät - ich werde mich jetzt umkleiden gehen."
Audrey beugte sich interessiert über die aufgeflogenen Handkarten ihrer Gegenspielerin und kommentierte diese ironisch mit den Worten:
"Und das liegt natürlich nicht an deinem miesen Blatt, dass Du es auf einmal so eilig hast, zu deinen kleinen Näherinnen zu kommen?"
Die Herzogin setzte noch mit spitzer Zunge hinzu:
"Gedenkst Du etwa, die Ufer zu wechseln, Rosalind? Es würde zumindest zu deinem indiskreten Lebensstil passen."
Die emanzipierte Vampirin blieb an der Türschwelle noch einmal stehen und antwortete dem Rücken der Herzogin:
"Beachtenswert, so etwas von dir zu hören, Katharina. Dein eigener Lebensstil, nur mal als Beispiel, wenn ich da an deinen Umgang mit Anna-Sophie erinnern darf, ist derart primitiv und niveaulos, dass deine Kritik mehr als unpassend erscheint! Die Schwarzbandler stehen wenigstens über ihren Trieben und zeigen Achtung vor dem Leben und dem Individuum!"
Die Herzogin blickte sich nicht einmal nach der Jüngeren um, als sie verächtlich auf ihr Strickzeug zischte:
"Verzogenes Gör! Zu meiner Zeit hatte man noch Achtung vor dem Alter! Sich derlei von einer anhören zu müssen, die sich eine gelbgesichtige Ausländerin hält! Als wenn es sie irgendwas anginge, wie ich für Disziplin bei meinen Bediensteten sorge! Nein, das muss ich mir nicht anhören, wirklich nicht. Was Parsival sich nur dabei denkt, ihr ein so vorlautes Mundwerk zu gestatten!"
Teleri, die jüngere Gräfin in der Runde, hatte Ophelia überrascht, indem sie sich tatsächlich mit einem Stickrahmen an die Seite der Herzogin gesetzt hatte. In diesen war ein unförmiges Stück schwarzer Seide eingespannt, unterlegt mit feiner Einlage. Teleris Haar war streng zu einem hohen Zopf zurück gebunden und nur ihre Hände bewegten sich, während sie schweigend eine filigrane Perlenstickerei erblühen ließ. Die Vampirin nahm ihre Kollektion ernster, als Ophelia dies erwartet hatte. Sie wurde sich ihrer Vorurteile bewusst und nahm sich vor, Henrietta bei nächster Gelegenheit auf die von dieser getragenen Kleider der Vampirin anzusprechen.
Audrey warf ebenfalls ihr Blatt auf den Ablagehaufen, woraufhin Christopher die Karten geistesabwesend einzusammeln begann. Sie räkelte sich auf dem bedrohlich kleinen Sessel und dehnte ihre Muskeln.
"Was regt sie sich nur immer gleich so auf? Sie sollte mal auf andere Gedanken kommen und sich etwas Entspannung gönnen. Es gibt so viel mehr, als Ehre, Pflicht und die ach so armen Benachteiligten!"
Teleri blieb bis auf die flinken Hände noch immer regungslos, als sie mit gesenktem Blick sagte:
"Wie wärrre es mit Geld?"
Audrey hielt inne mit dem Recken und Strecken und blickte ihre Clanschwester mit gerunzelter Stirn an.
"Was soll das wieder heißen?"
"Es soll heißen, dass Du lieberrr an deinem Manuskrrript schrrreiben solltest, wenn Du auch weiterrrhin so viel feierrrn möchtest, wie Du es die letzten Monate überrr getan hast."
Audrey lächelte böse und hauchte mit rauchiger Stimme:
"Recherchen, meine Liebe! Das sind alles Recherchen, wie dir dein lieber, kleiner Halofenn bestätigen kann."
Teleri richtete ruckartig einen derart hasserfüllten Blick auf Audrey, dass Ophelia froh darum war, nicht wahrgenommen zu werden. Die Härchen standen auf ihren bloßen Unterarmen und es bedurfte keines weiteren Wortes um zu wissen, dass hier ein so starkes Gefühl wie Eifersucht im Spiel war.
An der Tür zum Salon tauchte Herribert auf und die Frauen behielten für sich, was sie soeben im Begriff gewesen waren, einander an den Kopf zu werfen. Sein Blick richtete sich für einen sehr unangenehmen Moment auf Ophelia und blieb an ihr haften, bevor er sich seinem Clanbruder zuwandte.
"Chrissi, ich bin oben auf Julietta gestoßen und sie scheint auf dich zu warten."
Christopher nickte und verließ den Salon.
Herribert blickte wieder zu Ophelia und richtete ihr kurz angebunden aus:
"Es wird oben für die Abendtafel eingedeckt."
Ophelia beeilte sich, ihm erleichtert für diese Information zu danken und den Faden als sorgsam gelegtes Schlaufenwerk an die missmutig dreinblickende Herzogin zu überreichen.
"Dann wird es auch für mich Zeit. Entschuldigt mich bitte."
Die Alte kommentierte ihr Gehen mit einem mürrischen Blick.
"Hast dich ja gar nicht so dumm angestellt. Vielleicht darfst Du mir demnächst mal wieder assistieren. Ich lasse es dich dann wissen, Kind."

~~~ Bilderbuchfamilie ~~~


Kurz vor der Tür zum Speisezimmer wurde sie von einem schweren Duft ein- und von dessen Trägerin überholt. Henrietta passierte sie und zischte sie dabei unvermittelt an.
"Schlampe!"
Dichtauf folgte Ramona, welche Henrietta beruhigend über den Arm strich und nur flüchtig und mit Spott in den Augen die verwirrte Wächterin musterte, als sie Henrietta, schon auf dem Weg durch die Tür, beruhigte.
"Rege dich nicht unnötig auf! Sie hat nichts Außergewöhnliches an sich. Du wirst sehen, bald werden sie von ihr gelangweilt sein und das war es dann, mit dem kurzen Gastspiel."
Die Tür schwang wieder zu und hinterließ eine geschockte Ophelia auf dem Korridor. Sie war völlig getroffen von diesem unerwarteten Tiefschlag und musste sich kurz an der Wand anlehnen.
In was für einen Haushalt war sie hier geraten?
Sie fühlte sich ungewohnt ausgezehrt und kraftlos.
Wie konnten Vampire und Menschen auf so engem Raum zusammen wohnen, wenn sie sich gleichzeitig Hass im Übermaß entgegen brachten? Äußerlichkeiten hatten eine katastrophal hohe Bedeutung inne und Mitgefühl Seltenheitswert. Letztendlich schien jeder ein Einzelkämpfer zu sein, allein gelassen mit Sorgen und Kummer, der sich nur wenn es ihm gelegen kam für die Belange der Anderen interessierte. Das Verhalten der garstigen Herzogin war symptomatisch: Parsival Ascher gestand einen Mord ein, machte sich der Erpressung schuldig, er machte seine Familie zu Mitwissern und somit zu Mittätern. Und wenn schon! Katharina schob jegliches Wissen darum von sich. Sie leugnete die Verantwortung, womöglich zugunsten der vermeintlich Gefangenen eingreifen zu müssen. Alle hier waren versorgt, es ging also nicht einmal um das nackte Überleben, wie in manchen Fällen, in denen sie im gesellschaftlichen Bodensatz ermitteln hatte müssen. Etwas so Essentielles wie Menschlichkeit, welche sie bei Angehörigen jedweder Rasse vorausgesetzt hatte, blieb in diesem Haus auf der Strecke!
Ophelia legte den Kopf in den Nacken und atmete mehrmals tief durch.
Eine fremde Präsenz machte sich vorsichtig in ihrem Sinn bemerkbar. Sie versteifte sich automatisch, bevor sie erleichtert registrierte, dass es sich nur um ihren Gastgeber handelte. Seine Stimme klang ebenso erschöpft, wie sie sich fühlte.
Ja, wir sind keine besonders glückliche Familie. Es tut mir leid, dich solchen Belastungen aussetzen zu müssen.
Sie zögerte kurz mit ihrer Antwort.
Die glückliche Familie aus dem Bilderbuch, die gibt es nicht. Jede Familie hat ihre eigenen Schwierigkeiten. Ich bin überzeugt davon, dass auch die deine ihre positiven Seiten hat. Bisher durfte ich diese nur noch nicht ebenso klar sehen.
Sie spürte Dankbarkeit für ihre ehrlich gemeinten Worte.
Es war nicht immer so wie jetzt, Ophelia. Mathilde und Samuel... als die beiden zum Beispiel noch bei uns waren, war auch die Stimmung eine andere. Ich will nicht behaupten, dass es die vielen Ungewogenheiten nicht auch schon vorher gegeben hätte. Aber Samuel war immer zum Scherzen geneigt, vom Guten überzeugt und vom Grunde seines Wesens her ein Optimist. Und Mathilde... sie war so stark, voller Tatendrang, einfühlsam. Sie...
Ja?
Er gestattete ihr, etwas von der Trauer zu erfassen, die in ihm schwelte.
Sie war meine zweite Hälfte. Alles das, was an mir unvollständig war - sie ergänzte es. Wir waren im Geiste füreinander geschaffen und hätten die Ewigkeit teilen sollen.
Ihre eigene Erschöpfung wirkte unbedeutend im Vergleich zu Parsival Aschers Kummer.
Ihr einvernehmliches Schweigen wurde vom Auftauchen einer großen Dunkelhaarigen im selben Korridor beendet. Diese kam sicheren Schrittes auf Ophelia zu.
Klara, meine Anwältin.[26]
Parsival nahm sich zurück und ließ die beiden Frauen allein.
Klara Greifzu lächelte professionell und streckte ihr die Hand entgegen.
"Ophelia Ziegenberger, nehme ich an? Ich habe schon von dir gehört. Schön, dich nun auch kennen zu lernen! Mein Name ist Klara Greifzu."
Die Wächterin erwiderte den Gruß und nahm sich bestmöglich zusammen. Gemeinsam betraten sie das Esszimmer und umrundeten den Tisch. Nun war auch der letzte Platz an der langen Tafel belegt und die abendliche Mahlzeit begann.
Susanne an ihrer Seite flüsterte ihr in einem unbeobachteten Moment besorgt zu:
"Du warst lange weg und Du siehst ungewöhnlich blass und erschöpft aus. Herribert meinte, Du seiest unten gewesen. Geht es dir nicht gut? Hat Parsival sich... verschätzt?"
Ophelia lächelte und beruhigte sie schnell.
Bei sich dachte sie jedoch, dass das Clanoberhaupt sich nicht nur einmal verschätzt haben musste - darin nämlich, wen es zu seiner Familie zu zählen gedachte. Aber konnte die Ursache der Morde so weit zurück liegen, in der Zeit der Clan-Gründung? Und wenn ja, wie sollte sie dann in der Lage sein, an die nötigen Informationen zu gelangen? Die Möglichkeit ging ihr durch den Sinn, sich eben doch mit dem Mörder in einem Haus zu befinden. Sie legte die Gabel appetitlos beiseite.

~~~ Die Chronik ~~~


Eine Familienchronik? Aschers Stimme klang vorsichtig. Du neigst tatsächlich zu der Ansicht, dass einer der Meinen aus Selbstsucht getötet haben könnte! Missmut und Zweifel führten zu einer abwehrenden Reaktion. Nur um das ganz deutlich vorweg zu nehmen: Keiner der Morde hatte auch nur den geringsten Einfluss auf die Erbfolge! Der Gerechtigkeit wegen würde meine erste Tochter, Katharina, als Haupterbin aus meinem Ableben profitieren. Den Übrigen stehen zwar gewisse Bezüge zu, im Fall der Fälle, deren Höhe ist aber auf einen konstanten Wert festgelegt und die Anteile für Samuel, Mathilde und Jahne würden nun stattdessen an wohltätige Einrichtungen gehen. Es wäre also absurd, des Erbes wegen solch makabere Vorbereitungen zu treffen. Ich will dir keine Steine in den Weg legen, auch wenn wir in dieser Sache gänzlich unterschiedlicher Auffassungen sein dürften. Ich hoffe noch immer, dass die Gefahr von Außen kam und unsere Suche meinen Clan entlastet. Es wäre mir sogar lieber, der Täter wäre nicht zu fassen, als dass es eines der Kinder war! In der Vergangenheit zu graben... Es gibt so viele ungeliebte Erinnerungen, denen auszuweichen ohnehin schwer fällt. Ich weiß nicht... Schriftlich niedergelegt habe ich die damaligen Ereignisse jedenfalls nicht. Aber wenn dir so viel daran liegt, dann werde ich deine Fragen bestmöglich beantworten.
Ophelia hatte sich mit der Begründung, sie hätte Kopfschmerzen und fühle sich unwohl, für diesen Abend auf ihr Zimmer zurückgezogen. Es handelte sich um die Wahrheit, wenn diese aus Ophelias Sicht auch nicht Anlass genug gewesen wäre, sich vor der Pflicht zu drücken. Stattdessen hatte sie beschlossen, das Drumherum auszublenden, um sich zeitweise auf die Hintergründe zu konzentrieren. So oder so wären fremde Augen dabei störend gewesen, selbst wenn die Informationssuche auf normalem Wege möglich gewesen wäre, indem sie sich beispielsweise mit einem Buch aus den hauseigenen Beständen hätte ausrüsten können. Nachdem das aber nicht möglich war und ihr letztes längeres Gespräch mit dem Hausherrn erst vor Kurzem stattgefunden hatte, schien eine heimliche Unterhaltung in Gedanken dafür geeigneter zu sein.
Es ist eine Möglichkeit, die ich nicht ausschließen kann. Und es kann nicht dein Ernst sein, Herr, dass der Täter ungestraft davon kommen dürfte, denn dann hättest Du dich gewiss nicht um Hilfe bei der Suche an die Wache gewandt. Ich bin darum bemüht, unvoreingenommen an die Sache heran zu gehen. Ich werde gewiss nicht vorschnell urteilen oder haltlose Vermutungen anstellen. Aber worauf sollte ich ein Urteil überhaupt gründen können, ohne Wissen? Selbst das Freisprechen der Bewohner dieses Hauses vom generellen Verdacht kann nur infolge möglichst genauer Informationen stattfinden.
Der Hausherr schwieg einen langen Moment. Dann stimmte er ihr zu.
Du hast natürlich Recht. Manchmal sind die Furcht vor dem Ungewissen und der Wunsch, zu schützen, übermächtig. Er schien sich zu wappnen. Was möchtest Du wissen?
Als erstes wäre es vermutlich sinnvoll, wenn ich die Reihenfolge erführe, in der deine Familie sich über Zuwachs freuen durfte.
Die Reihenfolge des 'Zuwachs' also. Trotz der ungewollten Frage-und-Antwort-Situation schimmerte Parsival Aschers Erheiterung immer mal wieder in seinem Tonfall durch, wenn Ophelia sich bewusst Mühe gab, gewisse Themen anhand ihrer Formulierungen besonders taktvoll anzusprechen. Das ist eine leicht zu beantwortende Frage. Katharina ist meine älteste Tochter, nicht nur vom Standpunkt des Alters her betrachtet, zu dem sie eine der Unsrigen wurde. Christopher folgte ihr und wurde dadurch ganz offiziell mein Erstgeborener, obwohl mir das damals noch nicht ebenso deutlich vor Augen war, wie heutzutage. Ich hatte nach einem Freund in meinem Alter gesucht und nicht berücksichtigt, dass es dafür längst zu spät war. Christopher... er ähnelt mir kaum in seinen Veranlagungen. Jedenfalls entschied ich mich dafür, Desdemonia mit in die Familie zu holen. Diese wiederum schlug Herribert vor. Sie nahm ihre von mir angedachte Mutterrolle Christopher zuliebe zwar auf sich, Herriberts Temperament entspricht aber sehr viel mehr ihren Vorstellungen davon, wie ein Sohn zu sein hätte. Was Herribert nicht daran gehindert hat, sie letztendlich als Mutter abzulehnen. Aber das war vorher nicht absehbar und nach all den Jahren hat es auch keine Bedeutung mehr. Rosalind kam als Nächste. Sie war nicht in dem Sinne geplant. Sie war schon immer etwas Besonderes und scheute nicht davor zurück, anderen Ärger zu bereiten, so dass es dich nicht überraschen wird zu erfahren, dass ich in letzter Sekunde einschritt und sie mit meinem Angebot vor dem sicheren Tod bewahrte. Er schien kurz in Gedanken versunken, bevor er in schneller Aufzählung schloss. Es folgten Audrey, Teleri, Samuel, Jahne und Mathilde.
Die gerade eben so noch statthafte Geschwindigkeit, mit der er die Namen seiner jüngsten und teilweise erst vor Kurzem ermordeten Kinder aufzählte, konnte nicht verbergen, dass bei diesen Namen Emotionen mitschwangen, angedeutete Geschichten, die Parsival berührten.
Die Kopfschmerzen hämmerten durch ihre Schläfen. Sie setzte sich auf die Bettkante und nutzte die ungestörte Einsamkeit in ihrem Zimmer, um die Augen zu schließen, sich rückwärts in die Daunendecke sinken zu lassen und sich den kühlen Unterarm über die Stirn zu legen. Es fiel ihr schwer, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Wie stehen - oder standen - die Einzelnen zueinander?
Es fiel dem Clanoberhaupt nicht leicht, die Interna dermaßen vor einer Fremden bloßzulegen.
Katharina ist, wie dir sicherlich schon aufgefallen ist, eine eher schwierige Person. Am ehesten kommt sie noch mit Teleri zurecht, was sicherlich damit zu tun haben dürfte, dass beide gute Handarbeit zu schätzen wissen. Zwischen Katharina und Rosalind gibt es ständige Reibereien. Mann müsste bei den beiden wohl von einem Generationskonflikt sprechen. Dahingegen kommt Desdemonia mit Jedem zurande, wenn ihr daran gelegen ist. Nach einer kurzen Phase, in der sie und Herribert ihre Positionen zueinander absteckten, haben sie längst zu einer guten Zusammenarbeit gefunden, teilweise sogar zu gemeinsamen Interessen, wie mir scheint. Teleri ist äußerst selbständig und geht unbeirrt ihren eigenen Weg, das genaue Gegenteil von Christopher, den es mit jedem Wind an neue Gestade zu treiben scheint. Ich glaube es gibt kaum eine Gilde, in der er sich noch nicht einschreiben lassen hat, um wenigstens kurze Zeit über den Einstieg in die Gesellschaft und in einen Broterwerb zu suchen. Selbst unsere kleine Audrey, die sich gerne ihren spontanen Launen überlässt, kann seinem Wankelmut nichts mehr abgewinnen. Er gibt sich ja Mühe und neuerdings scheint er das Richtige für sich gefunden zu haben, um sich nützlich zu machen. Wir werden sehen. Samuel war eingetragenes Gildenmitglied bei den Spielern und ließ sich keine Wette entgehen. Sein Optimismus war herausragend, er war aber sonst eine völlig unauffällige Erscheinung. Er verstand sich ganz gut mit Herribert. Jahne war nur kurz bei uns, bevor sie uns wieder genommen wurde. Sie bestand zu einem Zeitpunkt darauf, den Clan finanziell zu unterstützen, als uns ein Engpass zu schaffen machte. Ich nehme an, dass ihr resolutes Vorgehen damals, sie bei den Anderen viel Sympathie kostete. Die Übrigen sahen in ihr nie mehr als das lästige Nesthäkchen, so leid mir diese Feststellung auch tut. Und dann eben Mathilde. Meine jüngste Tochter und zugleich Seelenverwandte! Sie war gebildet, erfahren, freundlich und eine Schönheit. Katharina kam nicht umhin, ihren Unwillen über Mathildes frühere Berufstätigkeit kundzutun, ansonsten aber akzeptierte sogar sie Mathildes selbstverständliche Autorität. Es lag einfach etwas in ihr, was Mathilde zur geborenen Anführerin machte, schwer zu beschreiben und noch schwerer, sich ihr zu entziehen. Wenn man das denn gewollt hätte. Jahne hatte keinen leichten Stand ihr gegenüber. Mathilde war der Meinung, dass Jahne den Status als menschliche Erbin als Ausrede für Faulheit missbrauchte, etwas, dem sie keinerlei Verständnis entgegen brachte. Immerhin hatte sie ihr Leben lang hart arbeiten müssen. Rosalind fand in Mathilde sogar ihr Idol und entschied sich durch deren Erzählungen dafür, dass sie den Näherinnen helfen und dies zu ihrer Hauptverantwortung machen wollte. Was sie ja noch immer tut.
Ophelia versuchte, den Kopfschmerzen zum Trotz, nach Ungereimtheiten und offenen Fragen Ausschau zu halten. Eine Szene entstand vor ihrem inneren Auge und sie übermittelte Ascher die dazugehörige Frage.
Jahne und Mathilde scheinen nicht die Einzigen gewesen zu sein, die ernsthafte Schwierigkeiten im Umgang miteinander hatten. Ich konnte heute beobachten, wie Audrey und Teleri nahe daran waren, die jeweils Andere verbal anzugreifen.
Überrascht nahm sie zur Kenntnis, dass die mentale Verbindung in ihre Richtung durchlässig wurde. Eine unkontrollierte emotionale Welle umspülte sie. Parsival Ascher, einflussreicher Vampir und erprobtes Clanoberhaupt, fühlte sich peinlich berührt. Selbst auf geistiger Ebene räusperte er sich nervös.
Ähm, ja. Eine etwas schwierige Situation, zwischen den beiden Damen, an der ich nicht unschuldig bin. Rosalind war die einzige junge Dame, die ich bis dato in meinen Hausstand aufgenommen hatte. Und so sehr sie sich auch sonst schnell in die Familie eingewöhnte, war sie darüber hinaus nicht einmal ansatzweise geneigt, eine enge Gefährtin für mich persönlich zu werden. Nicht, dass ich das geplant hatte! Wie gesagt, es war ein Notfall gewesen. Aber als sie erst im Haus war und jeden Tag um mich, da wurde mir bewusst, dass mir der Sinn nach genau dem stand, was jedem berühmten Vampir nachgesagt wurde: das Verlangen nach jungen Frauen. Er überging ihre schweigende Missbilligung, ebenso wie sie kein Wort über sein Eingeständnis verlor, sondern sich stattdessen bewusst auf das Zuhören beschränkte. Man muss berücksichtigen, dass ich bis dahin nur selten Blut zu mir genommen hatte, in langen Abständen und von den wenigen Freiwilligen, die sich damals gegen klingende Münze zur Verfügung stellten. Diese Freiwilligen waren immer arm, meistens ungepflegt und abstoßend. Das war auf dem Lande und zu einer Zeit, in der es noch nicht als schick galt, sich als Gefäß zur Verfügung zu stellen. Natürlich wollte ich nicht ebenso skrupellos vorgehen, wie die wahrhaft berüchtigten Wilderer. Aber der Wunsch wuchs beständig. Die Umstände meiner Reise nach Borogravien, als ich mit Bezug auf einen Briefwechsel bei der Gräfin Einkehr hielt, wurden durch mehrere Faktoren erschwert. Es war mir nicht möglich, dem Locken einer der Gesellschaftsdamen standzuhalten. Dabei wartete ich eigentlich gleichzeitig auf Antwort der Gräfin auf mein Werben. Teleri nahm mein Werben schließlich noch in der gleichen verhängnisvollen Nacht an und sandte ihre Einwilligung per Boten in meine Unterkunft, im anderen Trakt ihres Anwesens. Sie wusste nichts davon, dass ich die Zimmer noch im Rausch verließ. Audrey hatte ihre Wandlung noch nicht vollendet, als ich einige Räume weiter ihre Herrin ebenfalls in die Familie aufnahm. Als ich wieder klar im Kopf wurde, war es schon zu spät für Reue. Natürlich erfuhren sie sehr schnell voneinander, schneller als mir lieb war. Audrey rechnet sich ihre Verführungskünste immer noch als eine Art Sieg an, so wie sie die Dinge auch in ihren kitschigen Romanen beschreiben würde, während Teleri sich als die ursprünglich Erwählte und standesgemäß Umworbene wähnt. Ich habe so einem Drang nicht noch einmal nachgegeben und würde es heutzutage auch niemals wieder tun. Jetzt weiß ich immerhin bestimmte Warnsignale zu deuten. Vielleicht sollte man es als Jugendsünde ansehen? Für Teleri hatte unsere Verbindung jedenfalls nie mehr Bedeutung, als eine Vernunftehe sie gehabt hätte. Sie liebt nur ihre Kollektionen und ihre Selbständigkeit. Das was sie an Gefühlen empfinden mag, bringt sie den Männern entgegen, die sie als menschliche Spender erwählt. Und auch Audrey hat sich schnell von mir abgewandt, nachdem ich als... Beute nicht mehr interessant genug für sie war. Aber die Rivalität zwischen den beiden ist seit dem geblieben.
Die Ermittlerin dachte bei sich, dass Teleri vermutlich nicht nur ihre Kollektionen liebte, wenn sie deren heftige Reaktion richtig deutete. Andererseits konnte diese ebenso gut von verletztem Besitzanspruch stammen.
Verzeih bitte, wenn ich danach frage. Aber wie bist Du selbst zu dem geworden, was Du nun bist?
Sie spürte deutlich, wie die Distanz zwischen ihnen wuchs und bedauerte augenblicklich ihre Frage. Der Hausherr antwortete ihr zwar, die emotionslos geäußerten, knappen Worte fielen dabei aber unhandlich und schwer in ihren Sinn, wie splittrige Holzplanken.
Ich stamme ursprünglich aus Überwald. Vampire sind dort keine Seltenheit und waren dies früher noch viel weniger. Und nicht nur männliche Vampire gingen damals traditionell auf Nahrungsschau, auch die Frauen taten es. Die Geschichte ist schnell erzählt. Ich war unvorsichtig und sie fand mich im Wald. Es war durchaus auch ein wenig Romantik dabei. Allerdings war uns nicht viel gemeinsame Zeit vergönnt, denn auch traditionelle Jagden gab es damals häufiger. Sie hinterließ beachtliche Ersparnisse und ich machte mich allein und auf Umwegen auf den Weg nach Ankh-Morpork, in der Hoffnung, dass die Gerüchte stimmen würden und Unsereiner sich hier in Frieden niederlassen könnte. Was mir dann auch gelang.
Ophelia massierte sich die schmerzenden Schläfen. Das Stirnrunzeln machte es nicht besser. Sie hatte das dringende Gefühl, dass Parsival ihr nicht die Wahrheit erzählt oder ihr zumindest etwas Wichtiges verschwiegen hatte. Und sie wusste, dass er wusste, dass sie sich dessen bewusst war. Und da er auf ihre wortlose Unterstellung nicht näher einging, würde eine explizite Nachfrage nichts als weiteren Verdruss bringen. Sie musste sich mit dem Zweifel abfinden und ihn in ihrem Hinterkopf verwahren. Vielleicht gäbe er auf andere Fragen mehr Auskunft?
Die Frage ist provokant: Könntest Du dir bei einem deiner Familienmitglieder vorstellen, dass es zu diesen Morden fähig gewesen ist?
Nein. Du denkst an Katharina und an Rosalind aber lass dir gesagt sein, dass ein temperamentvoller Charakter noch lange nicht gleichbedeutend damit ist, zu einem Mord fähig zu sein. Von allen meinen Kindern wäre für so etwas am ehesten noch Jahne in Frage gekommen. Sie war zerfressen von Ehrgeiz und fand keinen echten Zugang zur Familie. Doch da sie selber umgebracht wurde, ist das ausgeschlossen!
Sie erinnerte sich daran, dass Halofenn etwas Ähnliches gesagt hatte.
Es tut mir leid! Das sind nur Fragen, die ich stellen muss, wenn ich nicht unzureichende Arbeit machen will.
Parsival beruhigte sich wieder und sie fuhr nachdenklich fort:
Wenn Du einen Angriff von Außen vermutest, Herr, hast Du dann schon eine Vermutung dazu, wer den Verdächtigen darstellen könnte?
Ja, die habe ich.
Sie schlug überrascht die Augen auf und starrte an die dezent gemusterten Stoffbahnen des verschatteten Himmelbettes.
Wen?
Die Gefühle, die ihr entgegen schlugen, waren heiß und kalt zugleich. Misstrauen und Hass, Kummer, Zweifel, Angst und etwas, das verwirrend und nicht sofort zuzuordnen war, ein melancholisch unangenehmes Gefühl, das hartnäckig wie die sirupartige Oberfläche eines Fliegenfängers an ihr haften blieb, obwohl Parsival sofort eine Barriere errichtete, die seine Emotionen in ihm einschloss und von ihr fernhielt. Sie stand plötzlich in ihrem Inneren inmitten einsamer Kälte.
Das kann ich nicht sagen. Nein, wirklich! Er beeilte sich, ihre Empörung abzuwiegeln. Es hätte keinen Sinn, meinen Verdacht laut zu äußern. Ich selber habe bereits Nachforschungen dazu angestellt und sie stellten sich zweifelsfrei als falsch heraus. Es gibt keinen Zusammenhang, keine Gelegenheit zu den Taten, gute Alibi und keinen Hinweis darauf, dass ein Auftrag delegiert worden wäre. Mehr als das zu sagen, könnte mir als Rufmord ausgelegt werden, denn lediglich Jahrhunderte der Antipathie rechtfertigen keinen Mordverdacht. Ganz zu schweigen davon, dass es nicht seine Art wäre, meinen Clan auf so direkte Art anzugehen und die Aufmerksamkeit des Patriziers zu riskieren. Nein, so sehr es mir missfällt ihn Außen vor zu lassen... ich werde niemanden Unbeteiligten in diese Sache hinein ziehen. Er hat nichts damit zu tun.
Ophelia nahm auch diese Abweisung notgedrungen erst einmal hin. Es gab noch sieben andere Familienmitglieder, denen sie Fragen stellen konnte. Vielleicht würde einer von ihnen eine Antwort wissen? Parsivals Geduld jedenfalls schien erschöpft, ebenso wie sein guter Wille zur Zusammenarbeit. Und die letzte Frage, die ihr einfiel, würde seine Stimmung ganz sicher nicht heben. Der Eindringling hatte sich in einen gesicherten Vampirhaushalt gewagt. Er hatte Vampire besiegt, ohne Spuren zu hinterlassen, also auch ohne eigene Wunden davon zu tragen. Das setzte besonderes Können oder spezielle Fähigkeiten voraus, wie sie kein normaler Mensch hatte. Und Assassinen nahmen keine Aufträge gegen die Aschers an. Der Gedanke lag nahe, dass ein Vampir der Angreifer gewesen war und in Anbetracht der Lebensdauer eines solchen, konnte lange zurück liegender Groll die Ursache gewesen sein. Sie legte sich beide Hände auf das Gesicht, um den Augen Wärme und Entspannung zu gönnen. Selbst in der lautlosen Form wollte ihr die indiskrete Formulierung nicht so recht über die Lippen kommen.
Gab es jemals irgendwen, den Du gegen seinen Willen zu einer Wandlung genötigt hättest?
Die Stimme des Vampirs schnitt scharf in ihren Sinn.
Die Frage ist beleidigend!

~~~ Neues von der Front ~~~


Korporal Lilli Baum tat das, was sie am besten konnte: Wachsen. Ohne Tageslicht funktionierte die Photosynthese zwar nicht besonders gut aber Wasser trinken zum Beispiel ging auch in einem finsteren Raum mit Blick auf das gegenüberliegende Gebäude in dieser herunter gekommenen Straße.
Sie setzte den mit Wasser gefüllten Flachmann an und bedauerte einmal mehr, keine Zeit für einen Abstecher zum Ankh gehabt zu haben. So lange lebte sie schon in dieser Stadt und doch war bisher immer irgendetwas dazwischen gekommen, wenn sie von dem Strom ihrer Träume hatte kosten wollen. Vermutlich wäre sie sonst längst ausgewachsen! So viel Dünger, wie in dem trägen, dunklen Gewässer mitgetragen wurde!
Sie verschloss den Behälter mit langsamen Bewegungen.
Ein Objekt zu observieren war nicht sonderlich spannend. Sie mochte es mehr, sich für die aufregenderen Einsätze zu verkleiden. Aber, und das war nicht unbedeutend, dies war eine Aufgabe, in der ihre natürlichen Qualitäten gebraucht wurden! Andere Wächter wären bestimmt längst vor Ungeduld aufgesprungen und durch das leer stehende Zimmer getigert, um sich die Beine zu vertreten. Und was wäre dann passiert? Natürlich! Der wandernde Schatten wäre von Denen da drüben gesehen worden und dann hätten sie den Salat gehabt. Es waren schon eine Menge Leute auf die irrige Annahme hereingefallen, etwas Dunkles im Dunkeln würde nicht auffallen. Lilli wusste das glücklicherweise besser und wartete reglos auf ein Zeichen ihrer Vorgesetzten. Für Ophelia saß sie auch gerne mal ein paar Stunden in einer verriegelten alten Fabrik. Selbst nach den Jahren, in denen sie inzwischen zusammen bei R.U.M. arbeiteten, bewunderte sie die elegante Ermittlerin. Ophelia redete zu viel aber sie war aufmerksam und freundlich und sie wusste, dass manche Dinge einfach Zeit brauchten, um zu wachsen und es dann keinen Sinn machte, auf Eile zu drängen. Natürlich wurde nicht jedem die Gnade gewährt, ein Baum zu sein. Aber wenn Ophelia einer gewesen wäre, dann hätten ihre Anlagen wohl dafür Sorge getragen, dass ihre Krone ihr Wurzelwerk gespiegelt hätte. Sie wäre zugleich fest in den Grund verwachsen gewesen und hätte ihren Wipfel weit dem Himmel entgegen gereckt. Na gut, vielleicht hätte sich deren Phantasie etwas ausgewirkt und die Baumkrone mehr den Wolken zustreben lassen, als die Wurzeln dem entgegen zu setzen gehabt hätten - jeder Sturm eine Erprobung der Standfestigkeit. Es war eben nicht leicht, als Baum ausgeglichen zu wachsen.
Lilli suchte erneut mit konzentriertem Blick aus ihren nahezu reglosen Augen die Hausfront ab.
Das Erdgeschoss war größtenteils mit stabilen, vorgelegten Läden verdunkelt. Nur hinter den bunten Glasmosaiken links und rechts der Eingangstür schimmerte dezent Licht und malte blasse Flecken an die Steinsäulen am Kopf der drei Treppenstufen. Auch die beiden darüber liegenden Stockwerke lagen verlassen und vermittelten, bis auf jeweils ein erleuchtetes Fenster in ihnen, einen abweisenden Eindruck. Das Fenster in der ersten Etage war hell und strahlte wie ein Leuchtfeuer in die Nacht. Es fiel erstaunlich leicht, den dort seit etwa zwei Stunden ruhelos auf und ab gehenden Schatten als zierliche Frau zu erkennen. Es war aber das zweite Fenster, kurz unter dem Dach, welches vorrangig ihre Aufmerksamkeit beanspruchte. Dort lag das Zimmer der verdeckt ermittelnden Kollegin. Der Klient hatte ihnen eine Aufstellung der üblichen Zeitabläufe in seinem Haushalt gegeben und wenn alles seinen gewohnten Verlauf gegangen war, hatte Ophelia sich direkt im Anschluss an das Abendessen in ihren Raum zurückgezogen. Es wäre logisch gewesen, wenn sie kurz darauf den Kontakt aufgenommen hätte.
Stattdessen wartete Lilli seither vergeblich auf ein Zeichen der Stellvertretenden.
Wurde sie von einem der anderen Hausbewohner abgehalten? Das Licht von dort konnte allemal als gedämpft bezeichnet werden, ein schwaches Leuchten, als wenn in dem Raum hinter der tiefen Fensternische und den Gardinen außer einem warm glühenden Kaminfeuer höchstens noch ein oder zwei Kerzen brannten. Besuch hatte die Ermittlerin also wohl keinen. Aber was tat sie dann sonst solange? Die Abteilung im Ungewissen zu lassen, sah ihr nicht ähnlich. Zwar gab es keine festen Zeiten oder Wege, auf denen eine Rückmeldung vereinbart gewesen wäre. Aber einmal am Tag war seitens von Grauhaar darum gebeten worden und dieser Tag neigte sich eindeutig dem Ende entgegen.
Lilli blinzelte.
Endlich!
Die Gardine war beiseite gezogen worden und das sachte Glimmen einer Petroleumlampe erhellte die Nische. Die Lampe wurde seitlich gedreht, so dass die metallene Scheibe den direkten Lichtfall etwas verdeckte und stattdessen mehr in den Raum hinein reflektierte. Der Docht wurde höher gedreht und das Licht flutete warm den Fenstersturz und das blasse Oval darin - das Gesicht der Wächterin.
Lilli rückte den Notizblock zurecht und setzte mit dem Bleistift an. Die handschriftlichen Notizen würden in etwa Zeilen bilden und sie würden schnell in Reinschrift übertragen werden müssen, mehr war ohne klare Sicht derzeit nicht möglich.
Ophelia zögerte und schien das Haus mit Blicken abzusuchen.
Das war natürlich Blödsinn, denn diese Kommunikation sollte absichtlich nur in eine Richtung gehen, die Wächterin in dem Haushalt des Klienten konnte keine Antwort erwarten.
Lilli hatte genügend Zeit, die rothaarige Frau auf der gegenüber liegenden Straßenseite zu beobachten und stellte nüchtern fest, dass die Vorgesetzte erschöpft aussah.
Ophelia gab sich einen Ruck und blickte kurz beiseite. Als sie sich wieder dem Fenster zuwandte, schüttelte sie die kunstvoll drapierten Haarsträhnen entschlossen über die Schultern zurück, trat so dicht wie möglich an das Fenster und somit auch an die Lampe heran, richtete ihren Blick wie verträumt auf die Straße und klappte einen weißen Fächer auf und zu.
Das Zeichen für den Start der Nachricht!
Und dann begann Ophelia Ziegenberger sich mit langsamen Bewegungen, scheinbar tief in Gedanken versunken, Luft zuzufächeln. Sie hielt die weiße Fläche dabei vor ihr dunkles Tageskleid und ein zufälliger Beobachter hätte meinen können, dass sie zerstreut und gedanklich weit fort sein musste, so unregelmäßig, wie die Fächerschläge die Luft zerteilten.
Die gar nicht zufällige Beobachterin in dem leer stehenden Backsteingebäude jedoch ließ die Dame mit dem Fächer keine Sekunde mehr aus den Augen und füllte Seite um Seite ihres Blockes mit schiefen Kritzeleien.
"Stehe unter Beobachtung durch älteren Igor - kann nicht außer Haus - Testament Aschers begünstigt erste Tochter Katharina - anteilige Zuwendungen bleiben auch nach Morden unverändert - Erbe also kein Grund für Familie zu morden - Informationen zu den einzelnen Familienmitgliedern lauten..."
Hatte sie es doch gewusst! Die stellvertretende Abteilungsleiterin war pflichtbewusst, wie kaum jemand zweiter in der Wache. Von Grauhaar würde erleichtert und zufrieden sein, wenn er diesen ausführlichen Bericht erhielt.

~~~ Ich kann mich verteidigen ~~~


Sie schlug die Augen auf und wusste augenblicklich, dass dies ein Traum war. Trotzdem waren ihre Sinne aufs Äußerste angespannt. Sie stand inmitten eines Lichtes, dessen Ursprung sie nicht entdecken konnte. Und sie fühlte sich beobachtet.
Ophelia drehte sich ängstlich um die eigene Achse und versuchte, etwas außerhalb des Lichtkegels zu erkennen. Die Dunkelheit entzog sich ihren Blicken. Sie schirmte die Augen mit einer Hand ab, konnte aber trotzdem keinen Beobachter ausmachen. Zwischen ihren Schulterblättern kribbelte es und sie sprang erschrocken herum. Sie schlang die Arme um sich.
"Ist da jemand?"
Sie sah an sich herab und stellte mit kurzem Schrecken fest, dass sie ihre Wächterinnen-Uniform an hatte. Die volle Ausrüstung! Wäre dies kein Traum gewesen, dann hätte sie in ihrer verdeckten Ermittlung soeben einen fürchterlichen faux pass begangen. Hier jedoch konnte sie es sich ungestraft erlauben. Erleichtert packte sie den Schlagstock, zog ihn routiniert aus dem Gürtel und hielt ihn abwehrend vor den Körper.
"Ich bin Wächterin! Ich kann mich verteidigen!"
"Dazu müsstest Du aber erst einmal entscheiden, gegen was Du dich verteidigen möchtest."
Die freundliche Stimme erklang von hinter ihr und wieder drehte sie sich um. Ihr Gastgeber trat in den ausgeleuchteten Bereich. Er schälte sich dabei aus dem Nichts heraus. Das Licht perlte an dem schlanken Mann herab, als wenn es dankbar dafür wäre, ihm schmeicheln zu dürfen. Sein Haar schimmerte in weichen Wellen, die grauen Strähnen an den Schläfen wirkten wie feines Silber und spotteten jedem Mythos, dieses Metall könne für Untote Gefahr bedeuten. Sein schwarzer Umhang zog die Schatten hinter ihm mit sich, doch ihr Blick wurde von dem verständnisvollen Lächeln angezogen. Und von seiner hilfreich entgegen gestreckten Hand, mit den funkelnden Edelsteinen an den Ringen.
"Ophelia, das hier ist dein eigener Traum, richtig? Wie also sollte etwas hier Dir Schaden zufügen können? Du selber siehst mit Abstand am gefährlichsten aus!"
Sie kam sich töricht vor und ließ den Schlagstock sinken. Er trat näher und ließ dabei seinen flüsternden Umhang über den Boden schleifen.
Ophelia schaute verwirrt und hörte genauer hin. Der Stoff, der alles zu schlucken schien, flüsterte wirklich, das war keine Metapher! Sie konnte beinahe einzelne Stimmen in den Seufzern unterscheiden!
Sie wollte Ascher darauf hinweisen, doch ein Schwarm roter Fächer flatterte zwischen ihnen hindurch und lenkte sie ab. Sie sah ihnen hinterher, wie sie klappend und wedelnd Verabschiedungen signalisierten. 'Muss gehn - muss gehn - muss gehn'
Ihre Gedanken fanden zu der Situation zurück. Er hatte Recht. Es war ihr Traum, sie konnte dem allen jederzeit ein Ende bereiten. Sie musste sich nur dazu entschließen, zu erwachen. Sie versuchte, dem wartenden Blick zu erklären, was in ihr vor sich ging.
"Es ist ungewohnt, nicht mit den üblichen Alptraumbildern konfrontiert zu werden. Das hat mich ein wenig durcheinander gebracht."
"Ich weiß."
Seine unergründlich dunklen Augen ließen nicht von ihr ab und sie wurde sich bewusst, dass er ihr jene intensive Aufmerksamkeit zukommen ließ, die über das statthafte Maß hinausging.
Nein, solch einen Traum wollte sie nicht träumen!
Sie trat einen Schritt zurück, doch er folgte ihr sogleich, lautlos wie eine Katze auf der Pirsch. Noch immer streckte er ihr seine Hand entgegen.
"Du bist wunderschön, hat Dir das schon einmal jemand gesagt? Eine so schöne Frau sollte sich nicht sorgen müssen. Ich werde für immer bei Dir sein und Dich beschützen. Du kannst die Waffen fort geben und die Angst, die Dich wie eine Rüstung umschließt, ablegen! Lass das Wächterdasein hinter Dir, all die traurigen Geschichten, die Unwahrheiten und die Selbstverleugnung zugunsten von Menschen, die Dir nicht den geringsten Dank dafür zollen! Sei einfach nur Du selbst!"
Ein zweiter Lichtkegel flammte auf und darin befand sich eine hübsch verschnörkelte Spanische Wand. Über deren hölzernen Rahmen und die papierbespannte Seite hing ein blutrotes Kleid.
Etwas an dieser Szenerie beschleunigte ihren Herzschlag schmerzhaft und das war überhaupt kein gutes Gefühl. Sie starrte aus Gründen, die ihr selbst unerfindlich schienen, von Entsetzen erfüllt auf den seidenen Stoff dort drüben.
Der Hausherr nahm ihre Hände in die seinen und ließ diese auch nicht mehr los, als sie erschrocken zusammen zuckte.
"Ophelia?"
Sie sah ihm in die bodenlos schwarzen Pupillen und etwas in ihr rief verzweifelt, dass sie aufwachen müsse! Jetzt, sofort! Bevor ein unvorstellbares Unglück geschah!
Doch sie konnte nicht aufwachen, so sehr sie sich auch darum bemühte!
Der Schwarm war zurückgekehrt. Aus den Augenwinkeln heraus nahm sie wahr, dass die Fächer dieses Mal weiß waren. Sie klappten hektisch auf und zu, schlugen ihr auf die bloßen Arme und wirbelten ihr Haar stürmisch durcheinander, dass es in die Sicht geriet. Doch sie konnten ihren gebannten Blick nicht ablenken. Der süßliche Duft von Friedhofserde umschmeichelte Ophelia und sie hatte das schwindlige Gefühl, zu fallen. Sie sah in seinen Pupillen undeutlich ihr Spiegelbild und erahnte, dass ihre Uniform sich in das Kleid verwandelt hatte. Das fest geschnürte Schuhwerk war verschwunden und zu hochhackigen Schmuckpantöffelchen geworden, die ihr bei dem kleinsten Versuch, zu rennen, von den Füßen fallen mussten.
Der Vampir zog sie sacht näher. Er flüsterte:
"Du liebst mich!"
Sie konnte kaum atmen, als sie seine Worte fassungslos wiederholte.
"Ich liebe Dich?"
Noch immer in seinem seelenlosen Blick gefangen nahm sie kaum wahr, wie er ernst nickte und ihr eine Haarsträhne beiseite strich.
"Ja, das tust Du. Selbst, wenn Du das nach dem Aufwachen vergessen haben solltest. Du möchtest bei mir bleiben und in meiner Nähe sein. Und das ist in Ordnung. Du hast so ein freundliches, gütiges Naturell, dass es nur ein kleiner Schritt sein wird, mich glücklich sehen zu wollen. Du wirst mir keinen Kummer machen, so wie auch ich Dich schützen werde, richtig, Ophelia? Du wirst hier glücklich sein, dafür werde ich sorgen. Glücklicher, als Du es als Wächterin werden kannst. Also... keine unangenehmen Fragen mehr! Ich weiß, dass Du das nicht wirklich möchtest und Du weißt, dass ich nicht der Gesuchte bin! Aber es gibt eben auch andere Dinge, Dinge, die nicht von Belang sind und die nicht ans Tageslicht gebracht gehören."
Sie konnte ihm kaum folgen.
Natürlich wollte sie ihm keinen Kummer bereiten! Wie konnte er nur denken, sie würde ihn mit seinen Problemen allein lassen oder ihm in den Rücken fallen wollen? Um Respekt und Rücksichtnahme zu zeigen, dazu musste sie keine Wächterin sein. Dazu brauchte es nur eine gute Erziehung und Mitgefühl.
Er legte seine Wange an die ihre und zog sie langsam in einen traurigen Walzer.
"Keine Angst! Alles wird wieder gut! Es ist nur ein Traum."

~~~ Lächerliche Schwäche ~~~


Es war eine Kunst für sich, dezent zu klopfen. Eine Kunst, an der man die gute Ausbildung eines Igors erkennen konnte.
"Fräulein Fiegenberger?"
Das zurückhaltende Pochen wiederholte sich und Ophelia ahnte, dass es sich bei den beiden wahrgenommenen Versuchen, sie zu wecken, nicht um die ersten handeln mochte. Sie öffnete die Augen, langsam und unendlich müde.
"Herein!"
Die junge Igorina schob sich lautlos in den sonnigen Raum, schloss die Tür und trat an das Fußende des Bettes heran.
Ophelia sah ihr durch die halb geöffneten Augen entgegen, konnte sich aber nicht zu mehr aufraffen.
"Ef ift fon fehr fpät, weit nach Mittag. Daf Fräulein Hammerfohn hatte den Eindruck, daff deine Routine den Morgen einflöffe und läfft daher nachfragen, ob allef in Ordnung ift?"
Vermutlich bot sie ein erbärmliches Bild, denn selbst die Igorina sah sie mit besorgtem Blick an.
"Vielen Dank! Ich möchte keine Umstände machen. Die Nacht war unruhig, so dass ich mich nicht sonderlich erholt fühle. Fräulein Hammersohn hat völlig Recht, wenn sie sonst in mir einen Frühaufsteher vermutet."
"Wäre ef dann vielleicht lieber, wenn ich ein Tablett herauf brächte und daf Gedeck im Fpeifefaaal abräumen täte?"
Ophelia wollte widersprechen, merkte aber im gleichen Moment, dass sie sich zum Heben einer Hand zu ausgelaugt fühlte. Wie konnte sie da erwarten, gleich frisch eingekleidet in den Speisesaal zu gehen? Sie war so kraftlos, als wenn sie die ganze Nacht über im Einsatz gewesen wäre und mit dem Kurzschwert gekämpft hätte!
"Ja, gerne."
Die Igorina war beinahe schon zur Tür hinaus, als Ophelia sie noch einmal aufhielt.
"Bitte! Wenn es noch möglich wäre, mir auf zu helfen? Das ist mir unangenehm aber... Ich kann mir das auch nicht erklären..."
Die Bedienstete eilte an ihre Seite, fasste sie gekonnt unter, zog ihre Beine über die Bettkante und richtete sie dann auf, so dass sie saß. Ophelia bedankte sich errötend, während die Igorina ihr wissend zulächelte, die Vorhänge schwungvoll beiseite schob und dann in die Küche verschwand.
Vermutlich kam es öfter vor, dass eines der Familienmitglieder sich, wie Susanne es bei Tisch so nett umschrieben hatte, 'verschätzte'. Sie wollte gar nicht daran denken, was die Bedienstete sich nun unter einer 'unruhigen Nacht' vorstellen mochte!
Sie schleppte sich zu der Kommode mit der Waschschüssel hinüber und begann mit der Morgentoilette. Den Krug anzuheben überstieg ihre Kräfte, so dass sie das Wasser mit einem kleinen Glas hinüber schöpfte. Das Ankleiden war die reinste Tortur, so schwer erschienen ihr die vielen Meter Stoffe, aus denen das schlichte Tageskleid bestand. Die Igorina kam rechtzeitig zurück, um ihr das Schnüren des Korsetts abzunehmen und all die vielen, kleinen Knöpfe im Rücken zu schließen. Beides Arbeiten, die ihr anderntags nur etwas Zeit abverlangten, die sie aber durchaus auch alleine hinbekam. Trotzdem dauerte es etwas, ehe Ophelia anschließend wieder genug bei Kräften war, um sich dem Essenstablett zu widmen.
Sie schlang ihre Hände um das warme Porzellan, ließ es aber lieber stehen. Es war keine gute Idee, eine randvolle Tasse mit zitternden Armen in die Höhe zu halten, nur um beim Nachdenken hinein zu pusten.
Hoffentlich wurde sie nicht krank, dass hätte gerade noch gefehlt! Vielleicht sollte sie einen Tag lang kürzer treten? Die Ermittlungen liefen schließlich nicht davon und so antrieblos, wie sie sich fühlte, konnte sie gewiss nur Fehler machen. Obwohl sie dann natürlich keinen Vorwand hätte, Parsival mit Fragen aufzusuchen und so seine Nähe zu suchen.
In ihrem Magen ballte sich ein Klumpen aus Übelkeit zusammen und schnell presste sie sich eine Hand auf den Leib und die andere vor den Mund.
Na bitte! Da hatte sie es ja! Sie musste sich etwas eingefangen haben. Besser, wenn sie sich im Laufe des Tages mit Kräutertee begnügen würde.
Ophelia erhob sich mit zittrigen Beinen und strich die Röcke glatt. Dann atmete sie tief durch und machte sich auf den Weg nach unten. Zur Tatenlosigkeit konnte sie sich nicht durchringen, ebenso wenig, wie eine lächerliche Schwäche und eine flüchtige Laune sie davon abbringen würden, der Pflicht nachzukommen. Sie war hier, um zu ermitteln und das würde sie tun!

~~~ Einen fügsamen Charakter ~~~


"Möchtest Du auch eine Tasse?"
Ophelia nickte der Achaterin dankbar zu und Sakura stellte ein weiteres Gedeck zusammen.
Es war eine gute Entscheidung gewesen, den Gemeinschaftsraum eine Etage tiefer aufzusuchen. Als sie eingetreten war, hatten sich gleich mehrere Köpfe kurz gehoben, nur um sich sofort darauf wieder ihrer jeweiligen Lektüre zuzuwenden. Der Raum war behaglich beleuchtet, es duftete nach edlem Teearoma und einer der kleinen Polsterstühle mit den geschwungenen Lehnen schien nur auf sie zu warten. Hier durfte sie Kontakt suchen, ohne anstrengende Debatten befürchten zu müssen.
Engelbrecht blätterte eine Seite weiter in seiner Ausgabe der ankh-morporker Times und es raschelte verhalten. Odett folgte hochkonzentriert den Irrungen und Wirrungen des neuesten Romans von Barbara Kartenhand und Marlies Hammersohn hielt ein Buch mit schlichtem grauen Einband zwischen den Händen, dessen Aufmachung auf eine wissenschaftliche oder sozialkritische Abhandlung schließen ließ. Sakura stellte die Tassen rings auf dem niedrigen Teetisch vorsichtig ab und setzte sich dann in ihren eigenen Stuhl Ophelia gegenüber. Sie griff zu einem schlanken Kolportage-Heftchen, auf dessen labberigem Kopfblatt der Schattenriss einer Frau mit viel zu großem Schwert durch die Luft sprang und, neben einem schnörkelig geklecksten Pinselschriftzug, eine Seriennummer im Hunderterbereich an den Rand gemalt war.
Engelbrecht sah über den Zeitungsrand.
"Geht es wieder etwas besser?"
Ophelia bemerkte auch Marlies Aufmerksamkeit und richtete ihre Antwort an beide.
"Ja, vielen Dank der Nachfrage. Ich wollte keinen Grund zur Besorgnis geben. Ein leichtes Unwohlsein aber mit etwas Tee wird es sich bald gelegt haben."
Die Haushälterin legte ihr Buch auf dem Rock ab, um in ihren Tee etwas Zucker zu geben und dann darin zu rühren.
"Du sahst schon gestern am Nachmittag etwas abgespannt aus, da war es keine Überraschung, dass Du heute etwas Ruhe brauchtest. Aber es ist gut, dass es nichts Ernstes ist."
Engelbrecht schmunzelte ihr bedeutungsvoll zu, bevor er wieder hinter der Zeitung verschwand.
"Keine Sorge! Du hast nichts verpasst, ein durch und durch ereignisloser Tag."
Sakura warf mit leichter Ironie ein:
"Zul Abwechslung mal sehl angenehm, nicht wahl?"
Ophelia erwiderte das Schmunzeln, nippte an ihrem Tee. Auch sie entschied sich für das Exemplar einer aktuellen Tageszeitung.
Die einträchtige Ruhe in dem Raum tat wohl und bald schon war sie Teil der schweigsamen Runde, vergaß die Zeit und stand lediglich einmal auf, um nachzuschenken, so wie es reihum gehandhabt wurde.
Die Tür öffnete sich. Katharinas Spenderin sah sich mit suchendem Blick um. Das weiße Spitzenkleid mit den kurzen Ärmeln und der hoch sitzenden Taille unterstrich den ausgezehrten, blassen Teint. Das unvermeidliche Häubchen mit den dünnen Federn auf den wirren Locken und die großen dunklen Augen ließen die Frau verwirrt aussehen.
Marlies legte ein Lesebändchen zwischen die Seiten und das Buch auf den Tisch.
"Anna-Sophie, können wir dir helfen? Suchst Du etwas?"
Die Angesprochene sah sie erst ruckartig mit erschrockenem Ausdruck an und trippelte dann, mit auf dem Boden gerichtetem Blick und ihre Hände ringend, durch das Zimmer.
"Ich weiß nicht. Vielleicht? Ich habe vergessen, wo ich sie hingelegt haben könnte."
Marlies stand auf und folgte Anna-Sophie auf der unsteten Runde.
"Was ist es denn, was Du suchst? Wenn Du uns das mitteilst, können wir ebenfalls danach schauen."
Die kleine Frau folgte mit dem Kopf ruckartig in jede Richtung, in die ihr Blick fiel, so dass sie an einen Vogel erinnerte, der etwas immer nur mit einem Blickwinkel genauer in Augenschein nahm.
"Die Brille. Die Herzogin besteht darauf, dass ich ihr vorlese und da brauche ich doch meine Brille."
Sakura erinnerte sich daran, diese beim Frühstückstisch auf der Anrichte liegen gesehen zu haben und Marlies legte der Suchenden beruhigend eine Hand auf den Arm, während sie zugleich unbestimmt in den Raum hinein sagte: "Igor!"
Der Gerufene umrundete Marlies und machte mit seinem unveränderlichen Lächeln einen Diener vor ihr.
"Du haft gerufen."
"Richtig. Kann es sein, dass ihre Brille", bei den Worten deutete Marlies auf die zerrupft wirkende Frau neben sich, "nach dem Frühstück auf der Anrichte gefunden und von Igorina, Igor oder dir verwahrt wurde? Sie benötigt sie jetzt."
"Ich werde mich fofort darum kümmern."
Einen Wimpernschlag später überreichte der Bedienstete das Gesuchte und verschwand wieder.
Die kleine Frau bedankte sich mehrmals umständlich und machte sich auf den Weg nach unten.
Die vorangegangene Ruhe war merklich unterbrochen worden, sie alle hatten von der Lektüre abgelassen und suchten die Stelle, an der sie den Text unterbrochen hatten.
Die Achaterin klang traurig, als sie mit Blick auf die Tür sagte:
"Es wild mit jedem Tag schlimmel. Wenn es so weitelgeht, wild sie eines Tages nicht einmal mehl wissen, wie sie heißt!"
Ophelia fragte: "Ist sie krank?"
Die Achaterin hob in gewohnter Ironie eine Braue.
"So genau weiß man das nicht. Entweder ist es wilklich so odel es handelt sich um die Elnte eines jahlelangen Dienstes gegenübel del falschen Hellin."
Die Wächterin war nicht sicher, was sie von dieser Antwort halten sollte, was man ihr vermutlich ansah, denn Sakura erklärte es ihr.
"Als Palsival dich als seinen Gast aufnahm, hat el auch dil seinen gedanklichen Schutz angeboten und auf dich ausgedehnt. El hat sich dabei ungewöhnlich ungeschickt angestellt, wie Rosalind mil belichtete, weswegen Du mit Kopfschmelzen zu tun hattest, nicht wahl?"
Sie nickte.
"Nolmalelweise ist del Schutz eine gute Sache. Nolmalelweise! Anna-Sophie dient jedoch del Helzogin als Spendelin und das schon seit vielen Jahlen, seit sie ein junges Mädchen wal. Die Helzogin ist eine galstige Vettel und alles andele, als lücksichtsvoll. Wäle Anna-Sophie eine nolmale Dienelin in einem andelen Hausstand, wäle sie vielleicht nicht in diesel Alt elklankt. Meinel Meinung nach."
Die Ermittlerin rang mit sich. Einerseits drängte es sie, diese Spur weiter zu verfolgen, egal ob es eine Sackgasse aus sinnlosen Informationen oder der Indizienweg zur Lösung des Falles wäre. Sie musste schließlich Fragen stellen, um zu ermitteln, um ihrer Arbeit und der Aufgabe nachzugehen, derentwegen sie sich in diesem Haus befand! Andererseits klang das alles nach einer rein privaten Tragödie, die sie nichts anging. Parsival wäre vermutlich nicht erfreut, wenn sie unnötige Nachforschungen anstellte. Andererseits würde sie lieber überflüssige, als eindeutig aufdringliche Fragen stellen. Es war ausgeschlossen, die Hände in den Schoß zu legen und allem Unangenehmen aus dem Wege zu gehen! Harmlose Fragen konnte sie vor sich selber als Rechtfertigung dafür nehmen, die schwierigeren hinten an zu stellen. Nur heute und ausnahmsweise.
"Warum verlässt sie die Herzogin nicht, wenn der Dienst ihr nicht gut bekommt?"
Sakura wollte antworten, überließ es dann aber Marlies.
"Anna-Sophie ist ein Mensch, der nach Halt suchte und diesen in der sehr bestimmten und selbstsicher auftretenden Herzogin fand. Diese wiederum benötigt einen hilfsbereiten, eher fügsamen Charakter um sich herum. Die Verbindung mag nicht die glücklichste sein, doch sie funktioniert seit etlichen Jahren. Es gab mehrere Anlässe, zu denen es Anna-Sophie freigestellt wurde, ihre einstige Entscheidung zu überdenken aber sie entschied sich jedes Mal von Neuem, zu bleiben. Wir hätten vermutlich anders entschieden. Aber jeder ist nur für die eigenen Gedanken und die eigenen Taten verantwortlich. Es steht uns nicht zu, Anna-Sophies Entscheidungen zu verurteilen, ebenso wenig, wie sie die unseren tragen kann oder muss."
Ophelia!
Sie verspürte bei Parsivals gedanklichem Einwurf schlagartig ein schlechtes Gewissen. Es dauerte eine Sekunde, bis sie sich des beschäftigten Untertons seiner Stimme bewusst wurde und somit auch der Feststellung, dass es ihm völlig gleichgültig zu sein schien, womit sie sich bis eben beschäftigt hatte. Es ging um etwas Wichtigeres.
Ja, bitte?
Wir sind im Salon. Bitte stoße zu uns, damit wir deine Meinung erfahren können.
Sie erhob sich sofort und merkte dann erst, dass alle Blicke sich auf sie richteten und ihre Eile überstürzt und unhöflich wirken musste.
"Es tut mir leid. Ich würde das Gespräch gerne fortsetzen aber es wird um meine Anwesenheit gebeten."
Der ruhige Blick der Haushälterin verfolgte sie noch einige Schritte den Flur hinab, wurde dann aber von drängenden Fragen fort gewischt: War Parsival zu dem Schluss gelangt, dass ihre Präsenz ein unnötiger Kostenpunkt, die von ihr ausgehende Belästigung seiner Familie ein Ärgernis und die Ermittlung doch nicht unumgänglich war? Mit anderen Worten: Würde er ihr womöglich gleich befehlen, ihn zu verlassen?

~~~ Wir sind im Salon ~~~


Das 'wir' in Parsivals wenigen Worten hatte bereits angedeutet, dass er nicht allein sein würde. Als sie die Flügeltüren öffnete blickte ihr allerdings die versammelte Familie erwartungsvoll entgegen. Sie fühlte sich an den Abend ihrer Ankunft erinnert, ein Ereignis, dass lange her schien und eine Erinnerung, welche das flaue Gefühl in ihr verstärkte.
"Ophelia, bitte, setze Dich doch zu uns. Wir treffen gerade eine Entscheidung, die auch Dich betrifft, so dass es angemessen ist, wenn Du hieran Teil nimmst. Zumal wir uns etwas schwer damit tun."
Ihre Nervosität ließ sich nicht mehr leugnen. Sie setzte sich mit unsicherem Lächeln neben Christopher, der ihr mitleidig zunickte.
Rosalind hatte schon bei ihrem Eintreten in der Mitte der Runde gestanden und Aufbruchsstimmung ausgestrahlt. Nun stemmte die Vampirin die Hände in die Hüften und blickte provokativ zum Hausvorstand. Sie widersprach mit Inbrunst.
"Nicht wir tun uns schwer, Parsival! Wir scheinen uns darin einig zu sein, dass diese Ungewissheit ein Ende haben muss. Einzig und allein dein Zögern hält uns noch auf! Dein Verhalten ist nicht hilfreich!"
Parsival sah Ophelia einen Moment lang intensiv an, bevor er mit gesenktem Blick, scheinbar an den Teppich gewandt, einlenkte.
"Ich hatte bisher nicht den Eindruck, dass Ihr euch einig gewesen wäret. Aber wenn ich mich darin getäuscht haben sollte, möchte ich nicht länger im Wege stehen."
Mit einem gleichgültigen Schulterzucken lehnte er sich wie resigniert an die Wand neben der Tür und ließ seinen Clan demonstrativ gewähren.
Ophelia sank das Herz. Wovor hatte er sie bis eben bewahren wollen?
Rosalind wandte sich ihr sichtlich triumphierend zu und fungierte sofort als Sprecherin. Keiner der Anderen hatte bisher ein Wort über die Lippen gebracht, doch deren verschlossenen Gesichtsausdrücke ließen sie folgern, dass auch auf mentaler Ebene jeder darum bestrebt war, seine Gedanken für sich zu behalten und möglichst unbeteiligt auf ihre Reaktion dazu warten wollte, was Rosalind kundzutun beabsichtigte.
"Um das vorneweg zu sagen: Egal, was die Anderen dazu denken mögen oder was Parsival davon hält, ich persönlich empfinde es als ein Verbrechen, dass er Dich hier gefangen hält!" Sie blickte mit Verachtung zu ihm hinüber, seufzte dann aber und sprach mit Überzeugungskraft auf die Wächterin ein. "Ich hätte niemals für möglich gehalten, dass er zu so etwas fähig sein könnte und wie ich auch ihm schon sehr deutlich zu verstehen gegeben habe, sehe ich es als meine Pflicht an, Dich so weit wie irgend möglich zu unterstützen, Dich wenn nötig vor ihm zu schützen und Dir den Zwangsaufenthalt in unserem Zuhause so angenehm wie nur möglich zu machen. Wenn ich Dir also helfen kann, werde ich das sofort tun! Daraus mache ich kein Geheimnis, nein, ich stehe zu meinem Wort. Soweit dazu, damit auch Du das weißt."
Ophelia fühlte über ihre Gedankenverbindung zueinander Parsivals Bitternis. Einem Beobachter zeigte er jedoch nur das Bild des ungerührten Aristokraten, arrogant und spöttisch.
Rosalind beachtete ihn nicht weiter. Allerdings schien sie an einem Punkt angelangt zu sein, an dem sie hin und her gerissen war zwischen den ethischen Komplikationen der Situation und ihrer eigenen Courage. Sie rang mit sich.
"Parsival hat leider keinen Zweifel daran gelassen, dass er beabsichtigt, Dich auf Dauer hier zu behalten. Das ist zwar barbarisch und schrecklich aber, ähm, es hat in gewissem Sinne zumindest einen winzigen Vorteil. Du weißt von den Morden in unserer Familie. Und wir wissen von deiner Vergangenheit als Wächterin, immerhin bist Du ja nur deswegen überhaupt in diese schreckliche Lage geraten. Ich weiß, Du willst wahrscheinlich nichts weiter, als weg von hier und nichts mehr mit uns zu tun haben. Aber, na ja, also wenn man davon ausgeht, dass Du weißt, wie man einen Mörder findet und wenn man ebenfalls davon ausgeht, dass Du trotzdem nicht damit heraus posaunen und zur Wache gehen kannst, dann stellt sich das gewissermaßen so dar, als wenn Du genau die Richtige für unauffällige Detektivarbeit bist. Natürlich muss es Dich regelrecht aus der Fassung bringen, mit so einer Bitte konfrontiert zu werden. Du würdest es auch nicht für ihn tun, sondern uns zuliebe. Mathilde hat es verdient, gerächt und nicht in dieser Art unter den Teppich gekehrt zu werden, wie zu geschehen inzwischen die Gefahr besteht. Wenn wir schon nicht offiziell einen Einsatz deiner ehemaligen Kollegen fordern können, dann könntest Du die ganze Tragödie doch inoffiziell untersuchen, oder?"
Die Vampirin sah sie mit unübersehbar flehentlichem Ausdruck an.
Ophelia ihrerseits blickte wie vom Donner gerührt zum Hausherrn auf der anderen Seite des Raumes.
Er konterte noch immer äußerlich unbewegt mit stählernem Schweigen, während er in ihrem Sinn leise zu lachen begann.
Noch besser, als wir es uns auszudenken gewagt hätten, Ophelia, nicht wahr? Ich kann jetzt natürlich nicht plötzlich und überraschend in Begeisterungsstürme verfallen. Und Du wirst schwerlich ohne deutlich erkennbare Bedenken auf Rosalinds Wunsch eingehen können. Aber das ist eine Wendung, die deine Ermittlungen erleichtern sollte, habe ich Recht?
Das änderte Vieles!
Ophelia konzentrierte sich wieder auf die Rauswerferin mit den eher herben Gesichtszügen.
Hatte sie etwas übersehen? Wie sollte sie sich jetzt richtig verhalten? In der offiziellen Rolle war ihr ein Zuviel an Informationen zum Verhängnis geworden. Doch ein Nochmehr konnte die Umstände wohl kaum verschlimmern. Parsival spielte den Bösen und selbst er konnte ihr nun bis zu einem gewissen Grad freie Hand gewähren. Er musste sogar, wenn er keinen blödsinnigen Verdacht auf sich selbst lenken und seine Familie von der Vermutung abhalten wollte, er selber habe mit den Morden zu tun und 'auch in dieser Sache' Etwas zu verbergen!
Die Verdeckte Ermittlerin versuchte, eventuelle Fallstricke in diesem Arrangement zu erkennen und eine klare Antwort hinaus zu zögern.
"Ich will auf keinen Fall meine Familie gefährden. Bevor ich über irgend etwas weiterrede, was in diese Richtung geht..."
Du gehst auf Nummer sicher? Das ist vermutlich die richtige Reaktion, gut mitgedacht.
Parsival Ascher richtete sich zu seiner vollen Größe auf.
"Was auch immer Du herausfinden solltest, ich werde davon erfahren und es verbleibt in der Obhut des Clans. Wenn Du die Spur des verbrecherischen Fremden in den Erlebnissen meiner Kinder finden kannst, dann will ich davon wissen. Familienangelegenheiten aber gehen niemanden außerhalb etwas an und so soll es auch bleiben. Gleichgültig, was Du von mir hältst, auch ich will den Schuldigen finden. Und ich verspreche Dir, dass dieser Dienst am Clan, so Du die Regeln beachtest, Dir nicht zum Nachteil gereichen soll. Deine Familie bleibt von all dem unberührt."
Ophelia überlegte schnell. An die Redelsführerin gewandt fragte sie weiter:
"Wie stellt Ihr euch das im Einzelnen vor? Inwieweit erfahren die anderen im Hause etwas davon?"
"Unsere Gäste müssen gar nichts davon erfahren, so wie Du es auch bisher gehandhabt hast. Du bist ja sozusagen einer von ihnen und falls deine Gespräche jetzt überraschenderweise auch dieses Thema streifen sollten, könntest Du bloß anmerken, dass wir alle um deine Meinung dazu gebeten hatten, auch entgegen deines Interesses. Die Geschichte, dass Du dich von deinem Beruf abgewandt hast, ist glaubwürdig wie eh und je. Darüber hinaus bin ich aber fest davon überzeugt, dass es nicht mit einer großmütigen Floskel des guten Willens Dir gegenüber getan sein kann. Parsival!"
Rosalind ballte willensstark ihre Fäuste, als sie ihn mit Verachtung ansah.
"Dieses Einkerkern ist absolut inakzeptabel. Sie wird sicherlich auch andernorts nach Beweisen suchen müssen und obendrein ist es ja wohl mehr als nur offensichtlich, dass sie ihre Familie liebt und schützen will. Sie wird sich ganz bestimmt an deine Vorgaben halten, also hebe gefälligst diesen lächerlichen Arrest auf! Sie wird schon nicht weglaufen."
Hätte die Prinzessin nicht zu weit von ihm entfernt gestanden, dann hätte sie bei diesen Worten vermutlich dem sichtbaren Impuls stattgegeben, ihrem Clanvater vor die Füße zu spucken.
Der Vampir war von Rosalinds Verachtung getroffen, ließ es sich aber nicht anmerken. Ophelia fühlte mit ihm mit. Noch einmal sah er sie mit einem dieser eiskalten Blicke an, bevor er zögerlich nickend einwilligte.
Ophelia atmete unwillkürlich tief durch. Sie hatte nicht registriert, wie schwer das Gefühl der Gefangenschaft auf ihr gelastet hatte. Der Gedanke, das Haus offiziell verlassen zu dürfen, verlieh ihr mit einem Schlag Hoffnung und Kraft, so als wenn das Szenario sich unmerklich in Ernst gewandelt und sich ihr plötzlich ein Weg in die Freiheit geöffnet hatte. Sie wäre am liebsten aufgesprungen und zur Haustür hinaus gestürzt, nur um zu testen, ob das Versprechen der Wahrheit entsprach.
Der emotionslose Blick ihres Auftraggebers brachte sie wieder zu sich und mit unsicherem Räuspern erklärte sie den Clanmitgliedern:
"Dann sollte mir erst einmal einer nach dem anderen von den Tagen und Nächten erzählen, die den Morden voraus gingen. Und davon, ob irgendetwas Besonderes bemerkt wurde."
Parsival Ascher wandte sich mit hochmütigem Blick von ihr ab und verließ den Salon.

~~~ An die Nerven ~~~


So konzentriert Mina von Nachtschatten dem Verdächtigen auch folgte, und diese Gegend der Stadt erforderte für sich allein genommen schon genug Aufmerksamkeit, so konnte sie dennoch nicht verhindern, dass ihre Gedanken zu der verdeckt ermittelnden Kollegin abschweiften. Deren Ergebnisse waren ausschlaggebend dafür gewesen, dass sie nun einem Artgenossen hinterher schlich.
Ophelias Aufträge schienen immer gefährlicher zu werden. Einen Vampirclan ausspionieren!
Die dunkelhaarige Wächterin seufzte innerlich.
Selbst für einen Vampir wäre das ein höchst gefahrvolles Ansinnen gewesen, für einen Menschen grenzte es an Selbstmord auf Raten. Natürlich hatten Romulus und der Kommandeur bestimmte Vorsichtsmaßnahmen veranlasst. Zumindest dieses ihr bis dato unbekannte Teekraut schien eine gewisse Schutzfunktion zu erfüllen. Allein an den Gestank zu denken, den Ophelia nach der Einnahme verströmt hatte, verursachte Übelkeit. Es war schier nicht erklärbar, wie es funktionieren konnte, dass keiner der menschlichen Kollegen irgendwas wahrgenommen hatte!
Was aber kaum jemand anzusprechen wagte, war viel bedeutungsschwerer.
Selbst Menschen beeinflussten einander unbewusst und ununterbrochen mit ihren Meinungen und Wünschen. Wer konnte dann das Gleiche ihnen verdenken, nur weil die natürlich gesteckten Grenzen dabei andere waren? Gedankenkontrolle begann zwar im eigenen Ego, sie endete aber öfter als vermutet erst im fremden Geist! Und wo, auf dem Weg zwischen den beiden Extremen, sich Vorsatz und Versehen mischten... wer konnte das schon beurteilen?
Herribert Ascher bewegte sich mit dem sicheren Auftreten einer Person durch die verwinkelten engen Straßen, welche den Weg kannte und ihn mehr als einmal bereits entlang gegangen war. Er war vorsichtig und immer wieder musste sie hinter Vorsprüngen warten, bevor sie ihm weiter folgen konnte. Sie war froh über ihr ausgezeichnetes Gehör und ihre guten Reflexe.
Es blieb immerhin die Hoffnung, dass Ophelias Ermittlung schneller zu einem Ende kam, als sie im Moment zu hoffen wagten. Die Vorgesetzte konnte eine beeindruckende Statistik vorweisen. Bei weitem die meisten ihrer Einsätze schloss sie in geringerer als der veranschlagten Zeit mit Erfolgen ab. Das verwunderte nicht, wenn man einmal die Gelegenheit hatte nutzen dürfen, mit ihr gemeinsam zu ermitteln. Bei der Sache im Amazonentempel beispielsweise hatte Mina manchmal beinahe das Gefühl gehabt, dass sie einander wortlos verstünden, so reibungslos griffen ihre Aktionen ineinander.
Der Ascher-Abkömmling drehte sich plötzlich wenige Meter vor ihr beim Gehen um und sie verwünschte den dafür ungeeigneten Straßenabschnitt. Kein Ausweichen möglich, sie musste mit tief gesenkter Umhangkapuze und gleich bleibend schnellem Schritt weiter folgen, wenigstens bis zur nächsten Straßenkreuzung, an der sie abbiegen und den Abstand sich vorerst wieder vergrößern lassen könnte.
Der Dschob ging mit der Zeit einfach an die Nerven. Das konnte keiner abstreiten, erst recht nicht sie selber. Wie hätte sie sich dazu aufschwingen können, Ophelia zu püschologischen Sitzungen überreden zu wollen? Gerade sie, wo ihr die grauenvollen Bilder der eigenen, kürzlich erlebten Vorkommnisse inzwischen massiv den Schlaf raubten! Gewiss, sie benötigte nicht ebenso viel Schlaf, wie andere ihrer Kollegen. Aber die blitzartigen Erinnerungen an Tentakeln und Angst raubten Konzentration! In dem Moment, in dem sie sich dazu entschließen würde, das Gespräch auf Ophelias Geständnis in jenem Gang zurück zu lenken, in eben jenem Moment würde auch sie selber nicht mehr umhin kommen, die Notwendigkeit emotionalen Beistands einzugestehen. Soweit war sie noch nicht! Sie würde damit ebenso selbständig zurechtkommen, wie die Vorgesetzte!
Der verdächtige Vampir des Ascher-Clans stoppte an einer niedrigen Tür in einem schiefen Haus, zwischen größeren, noch schieferen Häusern, die sich wie müde Greise über das dunkle Straßenpflaster zu beugen schienen.
Mina eilte mit gesenktem Kopf an ihm vorbei und hörte hinter sich das satte Klopfen seiner Knöchel auf dem wurmzerfressenen Holz. Sie durfte nicht merklich langsamer werden und so war sie schon zu weit entfernt, um die kurz darauf flüsternden Stimmen noch verstehen zu können. Als sie sich das nächste Mal unauffällig umblickte, war der Verdächtige verschwunden und die Gasse hinter ihr menschenleer.
Na toll! Dort hinein konnte sie nicht. Es gab noch keinen Beweis irgendeiner Schuld, der ihr unaufgefordertes Eindringen in den fremden Besitz hätte rechtfertigen können. Dahingegen gab es unzählige Verhaltensregeln und Vorschriften der Wache, um so etwas zu unterbinden.
Sie sah sich genauer um.
Eines stand fest: Wer freiwillig in diese Gegend kam, der hatte fast mit Sicherheit Dreck am Stecken. Aber davon waren sie bei Herribert Ascher ohnehin ausgegangen. Es passten nur zwei entscheidende Kleinigkeiten nicht ins Bild. Erstens konnte der Vampir in der kleinen Tasche, die er bei sich getragen hatte unmöglich die zu erwartenden Mengen der Trolldroge transportieren. Und zweitens war dies eine Gegend, in die es vor allem glücklose Gildenschüler verschlug, die Verhinderten und die Versager, all jene, die den Traum einer Lizenz endgültig begraben hatten. Es war ganz sicher keine Gegend, in der man als Plattehändler auf Kundschaft hoffen durfte.

~~~ Jagd ~~~


Der Salon erwies sich auch in der Verwendung zum Verhörraum als praktisch. Ophelia hatte darum gebeten, mit jedem Clanmitglied einzeln sprechen zu dürfen und darum, dass die Übrigen derweil hinausgingen, bis sie gerufen würden.

Die alte Herzogin nutzte Ophelias Anliegen sofort dazu, dem Unmut Luft zu machen. Ob das eine Vorladung vor Gericht sei und das Jungblut sich in seiner Lage dazu erdreisten wolle, unbescholtene Bürger im eigenen Heim herumzukommandieren? Es dauerte etwas, bis sie ihr mit geduldigen Worten versichert hatte, dass es nur darum ginge, die verschiedenen Erinnerungen zusammenzutragen, um dadurch womöglich ein neues Bild von den Stunden vor den jeweiligen Morden zu erhalten. Wesentlich hilfreicher wurde die Greisin dadurch allerdings nicht. Sie hatte ostentativ nichts zu berichten und konnte sich an kaum etwas erinnern. Mit Müh und Not wusste sie noch nörgelnd anzuklagen, dass sie am Abend des ersten Mordes gemeinsam mit ihrer Spenderin in der Innenstadt nach einem bestimmten Buchantiquariat gesucht, dieses aber nicht gefunden habe. Es sei eine Unverschämtheit, wie ungenau die Beschilderungen heutzutage umgesetzt würden! Von dem Unglück erfuhren sie sogar erst beim Heimkommen kurz vor dem Morgengrauen. Die folgende Aufregung setzte den schwächeren Gemütern unter ihnen natürlich sehr zu, auch wenn man sagen müsse, dass Samuel gewissermaßen selbst Schuld gewesen sei. Wie schließlich jedermann wusste, trieb man sich nicht ungestraft in der Nähe der Schatten herum. Das konnte doch quasi als Aufforderung zum Selbstmord angesehen werden und da sei es dann auch kein Wunder mehr gewesen, dass irgendein Irrer ihn hastig von der belebten Straße nahe dem Viehmarkt fort, in eine der verwinkelten Seitenstraßen hinter eine Hausecke gezerrt, fachgerecht mit einem Pflock übermannt, mit Petroleum übergossen und den Körper dann abbrennen lassen habe!
Auf die Frage hin, wie die Herzogin sich den Zusammenhang zu den anderen Morden erkläre, runzelte diese verwirrt ihre Stirn und antwortete aus dem Konzept gebracht unwirsch: "Woher soll ich das wissen? Das ist auch nicht meine Aufgabe, das herauszufinden, junge Frau! Um so etwas kümmern sich Andere. Wenn Du auch nur ein wenig mehr Erziehung genossen hättest, wüsstest du, dass eine Dame nicht in solchem Dreck herumwühlt!"

Zum zweiten Mord wusste Rosalind am meisten zu erzählen. Die Prinzessin berichtete auch noch vom kleinsten Detail, als wäre sie persönlich dabei gewesen, so intensiv hatte sie sich bereits mit dem Tatort und allen angrenzenden Fragen beschäftigt. Während sie für den Mord an Jahne nicht mehr als ein gleichgültiges Schulterzucken übrig hatte, listete sie als Antwort auf die ersten Fragen zu dem gewaltsamen Tod ihres Vorbildes eine so breit gefächerte Palette an Informationen auf, dass die Anderkaffer-Wächterin nicht mehr den geringsten Zweifel daran hegte, dass die Prinzessin eine hervorragende Kollegin abgeben hätte.
"Aus ihrem Kalender ging hervor, dass sie eine ganz normale Besorgung geplant hatte. Am Vorabend erzählte sie noch Desdemonia, dass sie neue Tinte kaufen wolle, weswegen ich davon ausgehe, dass sie in die Gegend rund um den Fünf-Und-Sieben-Hof unterwegs war. Kurz davor kommt man ja am Tintenstiftnah vorbei, wo sie in dem Fachgeschäft am Platze Stammkundin war. Normalerweise nahm sie den Weg durch den Hide Park." Rosalinds Gesichtsausdruck blieb unbewegt, als sie ausführte: "Außerhalb des Parks, an der Mumpitzstraße, steht ja erhöht der Galgen. Es gibt eine Gruppe Jugendlicher, die dort scheinbar regelmäßig herumlungert. Die Jungs hatten den Parkeingang am Übermass von der Plattform aus im Blick und zwei von ihnen erkannten Mathilde anhand meiner Beschreibungen und einer sehr alten Ikonographie wieder. Ihr kupferrotes Haar habe in der Sonne regelrecht geleuchtet. Etwa zehn Minuten später wurden sie von ihrem Lieblingsplatz vertrieben und wechselten stattdessen ebenfalls in den Park. Die Kinder haben Mathildes leblosen Körper bei der Baumgruppe am See gefunden - ohne Kopf. Der Täter muss sie gekannt haben! Es war immerhin helllichter Tag und viele Möglichkeiten, sich im Park zu verstecken gibt es nicht. Ich kann es mir nicht anders vorstellen, als dass sie nichts Böses ahnte und ihren Mörder arglos nahe genug an sich heran ließ, bis er sie erst pfählen und dann köpfen konnte. Den Kopf hat die Wache bis heute nicht gefunden." Rosalind schlussfolgerte mit beißender Ironie, was den Verbleib anging. "So zielstrebig und skrupellos, wie dieser Mord angegangen wurde, würde es mich nicht wundern, wenn es auch nicht mehr möglich ist, ihn zu finden. Bis zu den Ausgängen an der Unvergleichlichen Strasse sind es nur wenige Meter und von dort aus sind es knappe fünf Minuten, um auf halber Strecke zwischen Schlechter Brücke und Ankh-Brücke einen Durchgang zum stillgelegten Hafenbecken zu nehmen. Das Becken wird von hohen, fensterlosen Lagerhallen umstanden und ist auch sonst verwinkelt und uneinsichtig unterteilt, mit dieser mittigen Barriere auf dem Anlieger. Es ist absolut aussichtslos, etwas Bestimmtes aus dieser riesigen Sickergrube bergen zu wollen." Sie sah traurig auf ihre ruhig gefalteten Hände hinab.

Ophelia verglich unweigerlich gedanklich die verschiedenen Hinweise miteinander. Der erste Mord fand in der Nacht statt und wurde durch die Verbrennung der Leiche nur umso auffälliger. Der zweite Mord fand, ganz im Gegensatz dazu, im strahlend schönen Sonnenschein am Tage statt, wobei die Wahl des dazu erkorenen Ortes dennoch zum ebenso schnellen Fund hatte führen müssen.

Die dritte Tat stand von ihrer Art her zwischen diesen und entsprach nur in einem dem voran gegangenen Muster: sie folgte ebenso schnell. Nicht einmal eine Woche nach dem letzten Todesfall. Jahne Christine Ascher, vormals gutbürgerliche Erbin, Näherin mit außergewöhnlichem Ruf, fand mit aufziehender Morgendämmerung im trauten Heim, inmitten ihrer 'Lieben', ein unrühmliches Ende. Beinahe tat die Unbekannte Ophelia leid, wenn sie beobachtete, wie wenig dieser hinterher getrauert wurde. Konnte irgendjemand solch eine hartherzige Ignoranz seitens der eigenen Familie verdient haben?

Zumindest Audrey Ascher schien sich deswegen keine Vorwürfe zu machen. Sie war nicht einmal ganz beim Thema, als sie sich mit überschlagenen Beinen in empörend undamenhafter Aufmachung in den Sitz lehnte. Der Blick winziger Pupillen wurde von dem tiefschwarzen Haar verschattet, welches ihr kinnlang ins Gesicht fiel.
"Jahne? Ach, es gibt Schlimmeres."
Audrey antwortete in flüchtigem Tonfall, während ihre Blicke ganz allmählich, Zentimeter um Zentimeter, an Ophelias Hals hinab wanderten und, dem auslösenden Gefühl nach, dort wo sie trafen die Haut versengten.
"Wie ich schon sagte, wenn Marlies nicht gewesen wäre, hätten wir es vermutlich bis zum folgenden Abend nicht bemerkt."
Ophelia brachte es kaum über sich, dem unheimlichen Blick zu begegnen. Trotzdem erhaschte sie den Eindruck unnatürlich blauer Augen. Sie sah schnell wieder auf das Notizbuch hinab und räusperte sich.
"Kannst Du dich an den Fund erinnern, wie er genau von statten ging?"
Am Rande ihrer Wahrnehmung verzog Audrey die Oberlippe, weit genug, um zwei voll ausgefahrene Augenzähne hervorblitzen zu lassen.
Ophelia war sich plötzlich sicher, dass Aschers eroberungslustige Tochter mit ihr spielte. Audreys Verhalten entsprach zwar kaum derem alltäglichen Verhaltensmuster, umso mehr jedoch demjenigen ihres voraneilenden Rufes als skandalumwitterte Frauenheftchen-Schreiberin. Die Wächterin sah sich von unvorhergesehener Seite als Objekt der Begierde auserkoren. Die entblößten Fänge hatten etwas abstoßend Ordinäres an sich und drängten ihr den Begriff 'Jagd' nahezu auf.
Parsival würde gewiss nicht zulassen, dass ihr etwas zustieß, Audrey wollte sie nur ängstigen oder in Verlegenheit bringen, nicht wahr? Das musste alles sein. Während eines Verhörs jedoch kam es darauf an, niemals dem Befragten die Führung des Gesprächs zu überlassen! Sie standen auf gleicher Stufe und es lag an ihr, den Verlauf der Unterhaltung vorzugeben.
Bevor sie etwas sagen und damit die Flucht nach vorne antreten konnte, rutschte Audrey noch etwas tiefer in den Stuhl und stützte grinsend das Kinn auf. Sie kam ihr zuvor, wobei der desinteressierte Tonfall keinen Zweifel daran ließ, dass es für sie nur um das Aufrechterhalten des Rahmens ging, um ihr Spiel ungestört weiter führen zu können, und sie dem rein verbalen Teil des Gesprächs wenig Bedeutung beimaß; wenn überhaupt welche.
"Jahne hatte die letzten Nächte vor ihrer Ermordung Schwierigkeiten damit, ihre Gedanken für sich zu behalten, weswegen sie uns anderen noch mehr als sonst aus dem Wege ging. Samuel war meistens in Ordnung gewesen. Er war aber trotzdem auch ein Langweiler. Wer hätte sich schon freiwillig mit ihm abgegeben, wenn er nicht Mitglied bei der Spielergilde gewesen wäre? Für solche Verlierer hatte unser verwöhntes Mädchen nichts übrig und hätte daher, selbst wenn sie es darauf angelegt hätte, kein gutes Wort für ihn gefunden. Damit macht man sich bei denen, die den Verstorbenen länger kannten, nicht unbedingt beliebt." Sie grinste provokativ. "Und als dann auch noch Mathilde abdankte... Jahne hat sie regelrecht gehasst! Natürlich wussten wir das alle. Aber gerade dann durfte sie es auf gar keinen Fall an die große Glocke hängen! Die Nerven lagen blank! Rosalinde wäre ihr ohne Zögern an die Kehle gegangen. Es war jedenfalls nicht ungewöhnlich, dass Jahne an dem Morgen länger im Salon blieb, als wir Übrigen. Und dann hat Marlies den Rundgang gemacht, um die Kerzen und das Personal zu kontrollieren, nach leeren Gläsern zu suchen oder was sie sonst so macht in aller Herrgottsfrühe, nur um dabei über Jahnes matschige Überreste zu stolpern. Nicht sehr... appetitlich."
Das letzte Wort sprach sie deutlich verzögert aus und zog es in die Länge. Dabei fixierte sie einen Punkt dicht unterhalb von Ophelias Ohrring. Das blau hinter den schwarzen Strähnen funkelte aufgeregt.
"Bitte, lass das!"
Die Vampirin blickte sie sofort direkt an.
"Wie bitte?"
Zwar lag Ophelia ein so unsensibel direktes Vorgehen nicht unbedingt, doch da Einiges dafür sprach ließ sie sich nicht beirren.
"Es ist Dir vermutlich entgangen, dass Du mich auf eine mir unangenehme Weise angesehen hast. Es wird natürlich keine Absicht dahinter gestanden haben."
Sie würde sich nicht kleiner machen, als unbedingt nötig oder für etwas bei dieser unhöflichen Person entschuldigen, an dem sie keine Schuld trug. Diese Verdeckte Ermittlung schmeckte ohnehin schon viel zu sehr nach Opferritual, das musste nicht noch forciert werden.
Das teuflische Grinsen der Älteren vertiefte sich, doch diese neigte andeutungsweise den Kopf und sagte:
"Ein Versehen. Du sagst es."
Die Wächterin kam zum Kern der Ermittlungen zurück.
"Wie hat die Haushälterin auf ihre Entdeckung reagiert?"
"Du kennst Marlies nicht. Sie ist von Natur aus verschlossen und unglaublich beherrscht. Sie ist ungerührt zu Parsival gegangen und hat ihn über den Mord in Kenntnis gesetzt. Nicht anders, als wenn sie ihm einen unangekündigten Besucher gemeldet hätte. Parsival hat einen Narren an ihr gefressen und das vor allem genau deswegen, weil sie eben absolut undurchschaubar ist - selbst für ihn!" Audrey schlug sich gekünstelt die Fingerspitzen vor den Mund und heuchelte mit großen Augen nicht vorhandenes Schuldgefühl. "Ups! Da habe ich wohl versehentlich aus dem Nähkästchen geplaudert." Sie legte sich die Hand theatralisch ans Herz. "Das hast Du natürlich nicht von mir, dass Marlies gedankentechnisch unerreichbar für uns ist. Dass sie keinen Schutz benötigt, weil sie auf dieser Ebene sowieso nichts empfängt oder von sich preis gibt." Die Möchtegernschriftstellerin zwinkerte ihr verschwörerisch zu und fügte dann hinzu: "Bist Du schon versprochen?"
Ophelia erstarrte, bevor sie über diesen neuerlichen Vorstoß auf verbotenes Terrain wütend wurde.
"Diese Frage steht weder zur Debatte, noch ist es so, dass Du irgendein Anrecht darauf hättest, sie an mich zu richten. Ich werde zusätzlich zu meiner Freiheit nicht auch noch meine Privatsphäre opfern!"
Audrey beugte sich blitzschnell vor, so dass sie ihr ganz nahe war. Für eine Sekunde fesselte sie Ophelias erschrockenen Blick und es war nicht ersichtlich, ob sie noch weiter gehen würde. Dann schloss sie die Augen, atmete bewusst tief ein und ließ die Luft genießerisch gurrend wieder entweichen. Es lag ein Versprechen im Tonfall ihrer Stimme, als sie säuselte: "Du solltest Dir nicht nur die Grenzen deiner neuen Situation bewusst machen, sondern auch deren Möglichkeiten! Dein eigener Duft ist inzwischen stark genug, um zu locken, während die modrige Decke verfliegt. Parsival wird es wohl kaum lange aushalten, Dir gegenüber enthaltsam zu bleiben, das Kind im Haus ist schon die äußerste Grenze der Belastbarkeit. Egal, was er sich einzureden versucht, wir sind nun einmal keine Schwarzbandlerfamilie. Ich möchte nicht zu forsch erscheinen, indem ich mich dazu erdreisten würde, als Erste Anspruch auf Dich zu erheben. Aber früher oder später wird jemand auf Dich zukommen und Dir ein Angebot machen." Sie öffnete die strahlend blauen Augen und lächelte, nur eine Hand breit von Ophelias Gesicht entfernt. "Ich würde es Dich genießen lassen..."

~~~ Altlasten ~~~


Drei Tage! Nicht einmal eine halbe Woche und erst recht nicht die versprochenen zwei Wochen!
Ophelia wusste, dass ihr Verhalten unmöglich als höflich bezeichnet werden konnte. Sie ging die Straße viel zu schnell hinab, ließ sich nicht einmal durch das Schlagen und Schlingern der Röcke um ihre Beine im Tempo mindern, so dass die Anwältin ihr, trotz guter Kondition, nur schwer folgen konnte.
Es war später Abend. Die Sonne lag wie goldener Firnis schräg über die billigen Häuserfassaden geworfen und flimmerte in der Illusion anheimelnder Wärme.
Sie hatte raus gemusst; sofort! Und da ihr dies nur mit einer guten Begründung möglich war, hatte sie spontan Besuche bei den letzten Spendern der Mordopfer anberaumt. Ohne ihre verstorbenen Gönner stand es diesen nicht mehr frei, den Sitz des Clans zu betreten, selbst wenn sie Wert darauf gelegt hätten. Die menschliche Anwältin war ihr als Begleitperson ans Herz gelegt worden und um jegliche, zeitraubende Diskussionen im Ansatz zu ersticken, hatte sie sich sofort damit einverstanden erklärt, diese mitzunehmen.
Klara Greifzu wusste natürlich nichts von der verwickelten Situation um sie, so dass es mehr als nur unfair war, ihren Frust durch Atem raubende Eile und missgelauntes Schweigen an dieser auszulassen. Trotzdem konnte Ophelia sich nicht zügeln, um langsamer zu laufen.
Drei kümmerliche, schon verflogene Tage! Parsival hatte sie belogen und das von Beginn an!
Sie blickte verbissen voran.
Wahrscheinlich sollte sie dieser unmöglichen Person dankbar dafür sein, dass sie ihr die Augen geöffnet hatte! All die vielen Anzeichen, die sich gehäuft und die sie mit gutem Willen vor sich selber bedeutungslos geredet hatte: verschiedene Blicke, das ausbleibende Genörgel der Herzogin, die es sich doch sonst nicht nehmen ließ, wegen des Gestanks zu schelten. Moment! Die Herzogin hatte sie sogar regelrecht dazu aufgefordert, ihr bald wieder mit der Handarbeit behilflich zu sein! Und dann ihre steigende Nervosität, die plötzlich einen Sinn ergab. Es war nicht so, dass sie überempfindlich reagiert und in harmlose Vorfälle Unzutreffendes interpretiert hätte. Nein! Die dumpfe Empfindungslosigkeit der Droge war lediglich abgefallen und ihre ganz eigenen Sinne waren wieder zu Tage getreten, aufmerksam wie eh und je, und die Diskrepanz zwischen den beiden so unterschiedlichen Zuständen der Wahrnehmung war zu auffällig gewesen, um sie zu ignorieren. Wie hatte Parsival sich nur dazu erdreisten können? Wo er ihr doch versprochen hatte, dass er auf sie aufpassen und sie schützen würde! Und sie hatte ihm vertraut!
Ophelia musste schwer schlucken.
Sie vertraute ihm noch immer.
Sie runzelte die Stirn.
War das normal? Oder lief noch etwas nicht in vorgedachten Bahnen?
Aber was blieb ihr auch anderes übrig? Einfach zu gehen kam nicht in Frage. Die Ermittlungen waren noch nicht abgeschlossen.
Im Grunde hatte sich auch nur eine Schutzmaßnahme langfristig als unwirksam herausgestellt, was an allen anderen Voraussetzungen rein gar nichts änderte. Und davon abgesehen...
Sie wollte bleiben.
Natürlich nur, um den Fall zu klären!
Klara Greifzu standen, trotz der kühlen Witterung, Schweißperlen auf der Stirn. Sie hatte wieder einmal aufgeholt und blickte sie skeptisch von der Seite her an, sagte aber nichts.
So ging das nicht weiter!
Sie blieb mit einem Ruck stehen.
"Es tut mir leid! Ich bin etwas aufgewühlt. Das alles erinnert mich an meine Zeit in der Stadtwache. Wenn Parsival mich nicht darum gebeten hätte, mir eine Meinung zu all dem zu bilden... Ich wollte nicht mehr an meine Vergangenheit erinnert werden und er hatte mir zugesichert, dafür Verständnis zu haben. Und nun... Aber dafür kannst Du natürlich am allerwenigsten. Danke, jedenfalls, dass Du dazu bereit bist, mich zu begleiten, ich weiß das zu schätzen!"
Sie verschwieg wohlweislich, dass ihre Dankbarkeit auch damit zusammen hing, dass ihr sonst vielleicht doch Steine in den Weg geräumt worden wären, die das Verlassen des Haushaltes verhindert hätten.
Klara nickte knapp und nahm die Entschuldigung an.
"Kein Problem. Mit Max hab ich eh' noch ein Wörtchen zu reden. Und es ist einfach von Vorteil, wenn ich Dich vorstelle. Kurz nach den Morden wurden die drei regelrecht von deinen ehemaligen Kollegen und von den Reportern der Skandalpresse überrannt. Seit dem ist es schwer, mit ihnen über das Thema zu reden. Bei mir wissen sie, dass ich nur mit gutem Grund vorbeischaue und sie mich nicht einfach mit Bockigkeit wieder loswerden."
Klaras Ernsthaftigkeit war erfrischend. Kein falsches Lächeln, nur um die eigenen Motive dahinter zu verbergen. Es fühlte sich einfach so an, als wenn sie aufrichtig und zielstrebig wäre, schnörkellos.
Klara deutete auf das vor ihnen liegende Haus.
"Da wären wir: Michelle!"

Ophelia fiel bald auf, dass die Anwältin den sonst im Clanhaushalt so reichlich genutzten Begriff 'Spender' als Bezeichnung für die Menschen, die sie gemeinsam besuchten, vermied. Sie sprach stattdessen von den 'Begleitern' der Mordopfer. Viel Neues war von diesen allerdings nicht zu erfahren.

Michelle, die Begleiterin Mathildes, stellte sich als freundliche Näherin heraus, die ihre Anstellung bei der ehemaligen Kollegin als willkommene Ergänzung des Unterhalts angesehen hatte. Im Gegensatz zu den meisten anderen, hatte Michelle es stets vorgezogen, in ihren eigenen vier Wänden wohnen zu bleiben. Meist war sie zu den Aschers zu Besuch gewesen, wo Mathilde und sie sich in deren Gemach zurückgezogen hatten, manchmal war die Vampirin aber auch zu ihrer Freundin zu Besuch gekommen.
Die Trauerphase war nicht spurlos an der Näherin vorüber gegangen, doch sie hatte sich wieder gefasst.
"Sie war etwas Besonderes, ohne Frage. Es war schon ein Verlust für unser Gildenhaus, als sie den Herrn kennenlernte und nach ihrem Wandel und dem Umzug zu ihm, in den Ruhestand ging. Aber nun auch noch auf so vollständige und unwiederbringliche Weise von ihr loslassen zu müssen, fällt schwer."
Feinde habe Mathilde ihres Wissens nicht mehr oder weniger gehabt, als andere Menschen auch, Freunde dafür umso mehr.

Jahnes Begleiterin, Tanja, trafen sie im Hause einer erst vor kurzem zu Wohlstand gekommenen Familie an.
Nur ein paar Minuten, hieß es dort. Die Neue sei schließlich zum Arbeiten angestellt worden, nicht zum Herumstehen und Reden. Sie seien diese dauernden Befragungen allmählich leid, wenn man das vorher hätte ahnen können, dass sie nur Müßiggang triebe und Wächter und anderes Gesocks ins Haus schleppte, dann hätte man jemand anderen wohl bevorzugt eingestellt.
Dementsprechend eingeschüchtert stand die kleine Angestellte dann auch mit Spitzenhäubchen und weißer Schürze vor ihnen.
Sie sei auf Jahnes Aufforderung hin mit dieser in den Ascher-Haushalt gewechselt.
"Ich war bereits im Alter von zehn Jahren bei den Herrschaften in Diensten und bin mit dem Fräulein gemeinsam aufgewachsen. Als sie sich dazu entschied, eine der Ewigen zu werden, benötigte sie jemanden, der mit ihr gehen und sie von da an mit frischem Blut versorgen würde. Ihre Wahl fiel auf mich."
Ophelia ahnte die Antwort, als sie fragte:
"Das klingt, als wenn deine Wünsche dazu nebensächlich gewesen wären. Warst Du denn mit solch einem Vorgehen einverstanden?"
Aus dem vorderen Teil des engen Hauses rief eine näselnde Stimme empört nach Bedienung.
Tanja trat von einem Fuß auf den anderen und blickte sich gehetzt um.
"Die Alternative wäre nicht viel besser gewesen. Entschuldigt bitte aber dauert das noch lange? Ich muss wieder an die Arbeit, sonst bin ich die los."
"Warum bist Du nach dem Tod des Fräuleins nicht einfach wieder in deren Elternhaus gewechselt?"
Tanja lachte bitter auf.
"Als beschmutzte Beute in den Haushalt der Wunderlichs heimkehren? Genauso gut könnte man versuchen, mit einem rohen Stück Fleisch Bettwäsche zu bügeln! Nein, dort will man mich nicht mehr. Ob ich mich freiwillig zum Ausbluten hingegeben habe oder sie mich selber dazu zwangen, mit ihrer Enkelin zu gehen, ist dabei egal. Für die Wunderlichs bin ich jetzt nur noch eine dieser 'billigen Personen', ordinär und auf keinen Fall gut genug für ihr feines Haus."
Das Wie war noch schlimmer, als das Was die Bedienstete sagte. Es tat sich vor Ophelia ein wahrer Abgrund an Schmerz und Verachtung auf, wobei nicht ganz klar war, auf wen die Frau in der Bedienstetenuniform den scharfen Zynismus mehr bezog - auf ihre ehemaligen Arbeitgeber oder auf sich selbst. Ophelia zögerte. Waren das Emotionen, die dazu geführt haben konnten, eine lästige Herrin zu eliminieren? Aber wie hätte solch ein Verhalten in das übrige Muster gepasst?
"Eine letzte Frage: Kannst Du dich an irgendwas erinnern, was Jahne über die vorangegangenen Morde gesagt haben mag?"
Der fordernde Ruf wurde ungeduldiger und Tanja antwortete im Gehen, über die Schulter gewandt: "Nur, dass der Gildenspieler sowieso nervig gewesen war. Über Mathilde hat sie nicht gesprochen."

Als letztes besuchten sie den Begleiter des Gildenspielers: Max! Klara hatte sie von Anfang an gewarnt, dass mit diesem Herrn nicht gut Kirschenessen sei. Sie würde die Konversation führen und Ophelia solle sich möglichst solange zurückhalten, bis sie mit ihrem Anliegen zum Ende käme.
Max stand, wenn man vom Hörensagen und seinem Aussehen ausging, seinem ehemaligen Brotgeber in Sachen Langweiler-Ruf kaum nach. Der Mann war klein aber stämmig, sein Haar zerwühlt, die Hose knittrig. Er trug eine erdfarbene Strickweste und ein wackliges Drahtgestell mit fettig verschmierten Gläsern auf der Nase. Die Jackenärmel waren mit kreisrunden Schonern an den Ellenbogen bestickt und man konnte sich regelrecht vorstellen, wie die beiden sich vor sehr langer Zeit in einer durchgezechten Nacht unter Studenten kennen gelernt haben mochten.
Kaum hatte er die Tür geöffnet und die Anwältin entdeckt, überschüttete er sie auch schon mit Vorwürfen.
"Ist er endlich zur Vernunft gekommen, der alte Knauser?"
Die Geschäftsfrau ließ diese schroffe Begrüßung unbeachtet. Sie nickte in Richtung der hinter ihm liegenden Wohnung.
"Dürfen wir hereinkommen oder möchtest Du alle Nachbarn mit dem Stand deiner Barschaften unterhalten?"
Grummelnd trat er beiseite und ließ sie beide durch.
"Wiegt schwer, so ein Schuldschein, hä? Sonst hätte ja eine von Euch beiden gereicht, um ihn herzubringen."
Der winzige Wohnraum war starr vor Schmutz und wirkte zusätzlich wie eine Höhle, weil große Tücher schief über die Fenster genagelt worden waren, als die ursprünglichen Vorrichtungen seitlich der blinden Scheiben abfielen.
Klara ignorierte das Szenario und blieb mit überheblichem Blick mitten im Raum stehen.
"Um das ein für alle Mal zu klären: Du hast nicht den geringsten Anspruch! Weder finanzieller noch sachlicher Art! Ascher war lange genug geduldig mit Dir aber langsam ist es an der Zeit, andere Seiten aufzuziehen."
Der Mann wurde nicht sympathischer, als er sie beide naserümpfend ansah.
"Erzähle Du mir nicht, auf was ich Anspruch habe oder nicht, Schätzchen! Das werde ich ja wohl viel besser wissen! Samuel schuldet mir noch was. Mehr, als gut für ihn gewesen ist! Wie oft hat er sich zu Tschentowitsch verdrückt und mich mit den Worten zurück gelassen, ich hätte dafür was bei ihm gut? Leere Worte! Ich habe nichts gesagt aber witzig war das nicht!"
Klaras Stimme hatte an Schärfe zugelegt.
"Es besteht keine Verpflichtung eines Vampirs gegenüber seiner Begleitung, von dieser zu trinken. Du kannst dich mit deinen Vorwürfen gerne an die Anwaltsgilde wenden. Wenn Du dich traust!"
Max spukte tatsächlich aus bei den Worten der kalt argumentierenden Frau - in seine Behausung, wie Ophelia entsetzt feststellte, auf den Teppich! Er fauchte sie hämisch an.
"Zu deinen Kumpels brauche ich deswegen nicht zu rennen. Die würden mir sowieso nur das Gold aus der Tasche ziehen. Aber bei den Frei-Beutern sieht das schon ganz anders aus!"
Nun war es an Klara, verächtlich zu gucken.
Doch Max lachte unbeirrt.
"Ja, einen so piekfeinen Ruf wie deine Freunde mit den gebauschten Krawattentüchern haben die nicht, das stimmt. Aber dafür haben die andere Möglichkeiten. Wenn ich da an ihre Verbindungen zur 'Schwesternschaft der Sterbenden Schwarzen Rose' denke, hüpft mir das Herz!"
Ophelia erinnerte sich an Parsivals Erklärungen. Scheinbar passierte es gar nicht so selten, dass anhand solcher, bisher eher unauffälliger Gruppierungen Druck auf den Teil der Bevölkerung ausgeübt werden sollte, der auf den ersten Blick so unbezwingbar durch das Nachleben stolzierte.
Klara war zu dem gleichen Schluss gekommen und kniff bei ihrer Erwiderung leicht die Augen zusammen.
"Willst Du Ascher erpressen?"
"Ich will ihn daran erinnern, dass nicht nur die hysterische Ziege seine besondere Aufmerksamkeit verdient. Es gibt auch noch andere Menschen, die dem Clan gedient und viel für sich behalten haben. Sein Sohn hatte eine Verantwortung mir gegenüber und ist stattdessen lieber zu dieser Hure gerannt. Und er als ach so tolles Clanoberhaupt hat nichts dagegen unternommen! Wie stehe ich denn vor all den anderen da, die davon wissen? Ich bekomme doch nie wieder ein Angebot! Da ist es nur recht und billig, wenn er mir den Schaden bezahlt und Wiedergutmachung für das übt, was Samuel mit seiner Gier kaputt gemacht hat!"
Ophelia blickte dem Mann direkt in die Augen und ging das Risiko ein, Klara zu unterbrechen.
"Du bist sehr wütend auf ihn, Herr."
Max stockte und blickte sie verwirrt an. Er war aus dem Konzept gebracht, antwortete aber trotzdem.
"Ja, klar! Er hat alles ruiniert! Alles! Warum hat er sich damals, als nicht nur er jung war, überhaupt für mich entschieden, wenn ihm nichts an unserer Freundschaft lag? Ich dachte, wir würden zusammen durch dick und dünn gehen und dann... Wer bist Du überhaupt?"
"Ich bin jemand, der helfen will, den Mörder zu finden. Dafür stelle ich Fragen. Waren sie wütend genug, um ihn umzubringen?"
Der Mann lachte hohl auf, nur um kurz darauf sichtlich in sich zusammen zu sacken. Er ließ sich in einen der Stühle fallen, gleichgültig, auf was er sich dabei setzte, und seine Schultern sanken herab. Nach einem Moment des Schweigens, in dem er nur vor sich hin gestarrt hatte, blickte er mit Schatten unter den Augen zu ihr auf und sagte müde: "Nein. Die Sache mit Jessica ändert nichts daran, dass wir Freunde waren. Er fehlt mir."
Sie erwiderte seinen Blick. Und glaubte ihm.

~~~ Kontakte ~~~


Als sie Max in gedrückter Stimmung verließ und vor dessen Haustür trat, war es bereits Nacht geworden. Auf den Straßen herrschte dessen ungeachtet viel Betrieb, so dass sie beinahe übersehen hätte, wie ihre Kollegin Fromm sich ihnen unauffällig anschloss. Beinahe empfand Ophelia es als bedauerlich, dass die verstörende Eigenart der Püschologin, unbeabsichtigt in anderer Leute Gedanken hinüber zu rutschen, Aschers Abschirmung wegen nicht zum Zuge kommen konnte. Es wäre so viel einfacher gewesen, diese Fähigkeit der Vampirin zu nutzen, um einen Statusbericht an Romulus weiter zu geben, als stattdessen in gut durchdachten Formulierungen mit der neben ihr laufenden Anwältin zu resümieren und auf die richtigen Schlüsse zu hoffen. Aber Frän war sozusagen intuitiv talentiert im Interpretieren, sie würde sie schon verstehen.
Das Auftauchen der Püschologin führte aber auch dazu, dass sich ein verdrängter Gedankengang wieder regte. Mehr noch als in all ihren vorangegangenen Einsätzen, sah sie sich in diesem Auftrag mit tragischen Einzelschicksalen konfrontiert: Maria, die blind in den Schatten aufgewachsen war, die leidlich geduldete Henrietta, ohne Hoffnung auf Respekt, dieses Dienstmädchen, das ihr Leben lang ausgenutzt worden war, Ascher selbst, der erpresst wurde, die drei Ermordeten... so unsagbar viele Opfer der Umstände! Auch Opfer ihrer selbst.
Sie würde auf keinen Fall die schrecklichen Rahmenbedingungen herab werten. Aber das Dienstmädchen Tanja gehörte mit zu dem am härtesten arbeitenden Bevölkerungsanteil überhaupt. Das wusste sie inzwischen sehr genau, nach den vielen Malen, in denen sie als Deckmantel das Dienstmädchen gegeben hatte. So unscheinbar diese jungen Mädchen und Frauen auch sein mochten, um das länger auszuhalten, erst Recht wenn man obendrein schlechten Herren diente, musste man taff sein. Und behauptete Tanja sich nicht auch jetzt allein, bei diesen unangenehmen Neureichen? Wie hatte sie sich da derart aufgeben und zuvor in all das fügen können? Hatte sie andere Pläne gehabt? Argumente dafür, warum sie das mit sich machen ließ, Gründe die mit der Zeit immer fadenscheiniger geworden waren? Hatte sie eine ehrenvolle Fassade wahren wollen? Für wen? Irgendwann musste eine letzte, innere Barriere gefallen sein. Tanja hatte es aufgegeben, sich selbst zu schützen!
Ophelia überspielte einen leichten Schwindelanfall. Das Dienstmädchen tat ihr unendlich leid, fast mehr, als die anderen Schicksale in dieser Sache. Sie war sich dessen bewusst, dass sie ihre professionelle Distanz nicht verlieren durfte aber sie würde sich auch nicht dazu zwingen, einer Tragödie unbewegt gegenüber zu stehen.
Die Anwältin an ihrer Seite erzählte von deren Zukunftsplänen und der großen Karriere, die sich ihr im Hause Ascher bot. Es war leicht, ihr nur mit begrenzter Aufmerksamkeit zu folgen, denn Klara schien nicht an einen Zuhörer gewöhnt zu sein.
Ophelias Gedanken jedoch folgten eigenen Bahnen.
Wenn der Einsatz vorüber wäre, würde sie sich endlich dazu überwinden, zu Frän Fromm zu gehen.
Woran es wohl lag, dass sie sich gerade jetzt dazu entschloss?
Sie würde Frän endlich das fragen, was ihr schon seit der Karakost-Sache keine Ruhe mehr ließ. Sie würde Frän darum bitten, an deren Kampftraining im Innenhof teilnehmen oder sogar Einzelstunden im Umgang mit Dolchen bei ihr nehmen zu dürfen! Mit einem Dolch zu kämpfen konnte sie sich vorstellen und andere Waffen kamen in einer Verdeckten Ermittlung ohnehin nicht in Frage. Frän würde zwar Fragen stellen, auch unangenehme, denn das lag in deren Natur und entsprach ihrer Spezialisierung. Aber damit würde sie eben umgehen müssen. Die Vampirin war so sehr an den emotionalen Belangen der Menschen interessiert, dass es eine angemessene Art von Bezahlung zu sein schien, wenn Ophelia im Gegenzug für das Kampftraining und etwas inneren Frieden, von all den chaotischen und ängstigenden Gefühlen Abstand nehmen würde, indem sie sie mit jemandem zu teilen gedachte.

Viel zu schnell erreichten sie ihr Heim. Als Ophelia sich nach dem Ziehen der Türglocke umsah, war die Kollegin bereits verschwunden. Frän würde die neuen Erkenntnisse an Romulus weiter tragen und diesen beruhigen können.
Der ältere Igor öffnete ihnen mit öligem Grinsen. Er ließ sie in den warm erleuchteten Eingangsbereich eintreten, sperrte die kühle Nachtluft mit mehrmaligem Klappern des schweren Schlüsselbundes aus, nahm ihnen die Umhänge ab und schlurfte dann mit betontem Hinken davon. Klara hatte noch einiges, worum sie sich kümmern wollte und ließ sie nach einem kurzen Nicken im Foyer stehen.

Was wäre nun das richtige Vorgehen? Die Nacht war, an den Maßstäben eines Vampirs gemessen, jung. Und es stand noch eine Befragung aus. Desdemonia hatte gesagt, dass Samuel vor seiner Ermordung guten Kontakt zu Herribert und Christopher gehabt hätte. Also würde sie Ersteren als nächstes befragen!

Offenbar hatte sie Herribert Ascher deswegen nicht bei den Übrigen im Salon finden können, weil er sich absichtlich in seine Räume zurückgezogen hatte. Das Büro lag einige Türen vor Parsivals. Die Wandleuchter verstärkten die merkwürdige Wirkung des schmalen, unterirdischen Flures noch, als sie ihn hinunter ging. Sie hatte nach seinem unwilligen 'Herein!' die Tür geöffnet und stand jetzt im Rahmen, unschlüssig ob sie eintreten dürfte oder nicht.
Er sah ihr unter gerunzelter Stirn entgegen. Der mürrische Eindruck wurde durch die zusammengezogenen Brauen verstärkt.
"Worum geht es?"
Er konnte noch so sehr wie ein Gentleman gekleidet sein, wäre er einer gewesen, hätten die Regeln des Anstandes es ihm geboten, sich bei ihrem Eintreten zu erheben. Stattdessen saß er am Schreibtisch und hielt seine Schreibfeder abwartend in der Hand. Das Zimmer war zwar annähernd gleich groß, wie jenes des Hausherrn, doch hier waren verschiedene Wohnbereiche gemeinsam untergebracht worden, an den persönlichen Habseligkeiten, wie einem geschlossenen Eichensarg in der Ecke, zu erkennen.
Wo Parsival wohl seine Schlafstatt untergebracht hatte?
Sie errötete in derselben Sekunde, da sie sich des unziemlichen Gedankens bewusst geworden war und blickte schnell fort, von dem fremden Sarg.
Herribert stellte die empfindliche Feder unwirsch in ihre Glastülle. Er kreuzte seine Arme vor dem Oberkörper und lehnte sich sichtlich entnervt zurück.
Ophelia beeilte sich, ihr Anliegen vorzutragen.
"Ich möchte nicht stören. Falls ich ungelegen kommen sollte, können wir das Gespräch auch verschieben. Solltest Du aber etwas Zeit haben, Herr, dann würde ich mich gerne mit Dir über die Morde unterhalten. Soweit ich das mitbekommen habe, verstandest Du dich zum Beispiel gut mit Samuel und könntest mir vielleicht etwas über seine Gewohnheiten erzählen."
Er überlegte kurz. Dann legte er ein vergilbtes Löschblatt auf die handgeschriebenen Zeilen und klappte die Schreibmappe darüber zu. Er beugte sich leicht über den Schreibtisch vor und schloss das Tintenfass.
"Es ist nicht so, dass wir Freunde gewesen wären. Wir haben nur ab und an einen drauf gemacht und die Nächte zusammen durchgezecht. Wenn es sich gerade ergab. Wenn nicht, dann nicht. Ich zumindest brauchte ihn nicht dafür, um mich gut unterhalten zu können."
Ophelia schloss die Tür und trat zu der kleinen Sitzecke.
"Darf ich?"
Herribert Ascher deute mit einem halben Wink seine Zustimmung an.
Sie setzte sich und formulierte ihre Fragen möglichst knapp.
"Gab es Orte, an denen man ihm nicht wohl gesonnen gewesen war?"
"Nein! Er war nicht besonders beliebt aber er war auch nirgendwo übermäßig gemieden. Wem seine Gesellschaft nicht zusagte, den sprach sein Geld trotzdem genug an."
"Sein Geld?"
Der Vampir sah sie spöttisch an.
"Samuel war eingetragener Spieler und er war es mit Leib und Seele. Wer mit ihm unterwegs war, der musste auch dazu bereit sein, die eine oder andere Wette zu halten und sein Schicksal den Karten oder den Würfeln anzuvertrauen."
"Gibt es jemanden, der ihm genug geschuldet hat, um es unter gar keinen Umständen zurückzahlen zu wollen?"
"Das kann ich nicht beurteilen. Allerdings wirkte er nicht so, als wenn ihm große Summen ins Haus stünden."
Ophelia dachte nach.
"Gibt es jemanden aus der Spielergilde, den ich mehr fragen könnte, der Zeit mit Samuel verbracht hätte?"
Herribert saß reglos, bevor er antwortete:
"Nein, bis auf zufällige Gelegenheiten, in denen sie sich auf die selben Einladungen hin über den Weg liefen, hatte er nicht viel mit den anderen Gildenspielern zu tun. Nur einmal im Monat, wenn alle gleichzeitig in die Gilde müssen, um ihre Mitgliedsgebühr zu begleichen, frischte er seine geschäftlichen Kontakte auf."
"Wenn Du mit ihm unterwegs warst, gab es dann Personen, die Samuel häufiger aufsuchte?"
Herribert wandte den Blick von ihr ab und betrachtete lieber das Gemälde eines traurig blickenden Mannes in Prunkrobe, welches über der Sitzecke und somit in ihrem Rücken hing. Sie konnte es zwar nicht sehen, wenn sie sich nicht verrenken wollte, sie erinnerte sich aber daran, bei ihrem flüchtigem Blick darauf während des Platznehmens gedacht zu haben, dass der Mann merkwürdig wirkte, wie eine undefinierbare Mischung aus Vampir und Schauspieler. Etwas zu blass für einen wirklichen Untoten und etwas zu emotional für eine Porträt stehende Person des öffentlichen Lebens.
Herribert antwortete zurückhaltend:
"Samuel hat vor etwa einem halben Jahr gute Bekanntschaft mit den Tschentowitschs gemacht und war dadurch regelmäßig zu deren Zockerrunden eingeladen. Ein oder zwei Mal hat er auch mich zu ihnen mitgenommen."
Etwas in ihren Erinnerungen klingelte, sie kam jedoch nicht darauf, was es war. Eine andere Frage drängte sich vor und beharrte darauf, gestellt zu werden.
"Du bist oft außer Haus unterwegs, Herr."
Sein Blick senkte sich bedrohlich langsam von dem Bild an der Wand auf sie herab.
"Soweit ich mich erinnere, ist das kein Verbrechen."
Die Wächterin straffte die Schultern, blieb aber unverändert freundlich.
"Natürlich nicht! Es könnte aber hilfreich sein, zu erfahren, welcher hauptsächlichen Tätigkeit Du nachgehst, durch die Du deinen Anteil zu den Haushaltungskosten beisteuerst."
"Wie ich mein Geld verdiene, geht niemanden was an! Du findest gewiss allein hinaus!"

~~~ Wie es sich für eine glückliche Braut geziemt ~~~


Großtante Pätrischa war von ihrer persönlichen Meinung überzeugt wie ehedem.
"Entzückend! Parsival, mein Lieber, Du hättest es nicht besser machen können!"
Kathrine Ziegenberger lächelte dem Vampir wohlwollend über die runde Kaffeetafel hinweg zu und reichte ihm ein blütenreines Leinentüchlein.
"Eine Serviette?"
Ihr Auftraggeber schien sich in dem Trubel wohl zu fühlen. Er nahm das Tuch dankend entgegen und plauderte ungezwungen mit der Familie, während er dicht an ihrer Seite saß und ihren Arm fest im Griff hielt.
Ophelia starrte entsetzt auf die entblößte Armbeuge, die er mit dem Tuch, dessen Zipfel er in das Wasserglas vor sich getaucht hatte, frisch zu tupfen begann. Dabei blickte er weder sie, noch das an, was er tat, sondern lächelte ausgesprochen freundlich zu der gestrengen Witwe hinüber.
"Amalgam, ich möchte betonen, dass die Ehre ganz auf meiner Seite liegt. Eure Großnichte ist bezaubernd geraten! Eine ansehnliche Figur, ebene Gesichtszüge, Ansätze zu einem gewitzten Intellekt, was in Maßen selbst einer Frau gut zu Gesicht stehen kann, dezente Manieren und nicht unerfahren im Umgang mit unsereinem. Und natürlich eine köstliche Gesellschaft."
Die hagere Alte klopfte ihm kichernd mit dem geschlossenen Fächer auf die Schulter. Auf ihre Art flörtete die Greisin mit ihm.
"Nicht doch! Das ist zu viel der Ehre! Man tut eben sein Bestes, nicht wahr?"
Ophelia schluckte trocken und wollte ungläubig protestieren, bekam aber kein Wort heraus. Parsival tastete derweil mit der anderen Hand über die frei liegende Haut ihres Armes. Sie konnte spüren, wie seine kalten Fingerspitzen die Adern fanden und ihr wurde schlagartig übel. Sie zuckte instinktiv unter seinen Berührungen weg, doch er zog den Arm nur umso nachdrücklicher wieder zu sich heran.
"Mama! Was passiert hier? Ich will das nicht! Mama, lass das nicht zu!"
Die beiden Frauen wandten ihre Blicke ab, um ihnen Privatsphäre zuzugestehen.
"Mama!"
Kathrine seufzte deutlich vernehmbar und ließ sich zu einer Antwort herab.
"Ophelia, mein Schatz, nun hab' Dich doch nicht so! Man könnte meinen, wir hätten Dir kein Benehmen beigebracht! Diese Lautstärke beim Kaffeekränzchen, das ziemt sich nicht. Wo der Graf so ein netter Mann ist. Und Mittagsruhe ist auch, das weißt Du doch!"
"Aber seht Ihr denn gar nicht, was er vorhat?"
Parsivals Stimme klang amüsiert und nervös zugleich.
"Was habe ich denn vor?"
Kathrine wandte sich ihrer Teetasse zu und an ihrer Stelle antwortete Amalgam Pätrischa in scharfem Tonfall.
"Er nimmt sich, was ihm zusteht. Du solltest deine untergeordnete Rolle als Frau endlich anerkennen, Ophelia! Sei froh, dass Dich überhaupt noch ein Mann von Stande haben will, junge Dame, mit einem so ruinierten Leumund, wie dem deinen! Du hast Eurer Vermählung zugestimmt, nun mach uns keine Schande, Kind, sondern benimm Dich gefälligst wie es sich für eine glückliche Braut geziemt!"
"Vermählung? Braut? Aber ich habe doch niemals..."
"Bist Du zu ihm in sein Haus gezogen oder nicht?"
"Ja aber doch nur wegen..."
"Na also! Dann erübrigt sich jede weitere Debatte und..."
Ein scharfer Brandgeruch fegte durch den Raum, ließ sie nach Luft ringen und mit tränenden Augen blinzeln. Es stank so intensiv nach verkokeltem Fleisch, als wenn der Geruch unterschwellig schon immer da gewesen wäre und sämtliche Ecken ausgefüllt hätte.
Sie blickte in Dunkelheit und erkannte ein Stück weit entfernt Ascher, der sie, von beiseite gezogenen Vorhängen umrahmt, wütend beobachtete.
Bleierne Müdigkeit zog sie zurück in den Schlaf.
Aschers Abbild inmitten der Schatten verschwamm, nur um sich als sein farbenfrohes Traumabbild wieder zu verfestigen - welches sie jedoch ebenso zornig anstarrte, wie das bleiche Original es zuvor vom Bettpfosten aus getan hatte.
"Wo hast Du ihn herbekommen? Während deines kleinen Ausfluges kannst Du ihn dir unmöglich beschafft haben."
Zumindest hatte sich der Abstand zwischen ihnen vergrößert. Er befand sich gerade so außerhalb ihrer Reichweite.
"Ihn herbekommen? Wen denn?"
Er bezwang die Aggressionen, warf den Umhang in großer Geste über seine Schulter und verabschiedete sich formvollendet mit einem Diener.
"Es spielt keine Rolle. Wenn nicht in dieser Nacht, dann in der nächsten."
Er verwandelte sich mit lautem Zischen in eine schwarze Rauchwolke, aus der ein dicht gedrängter Schwarm kleiner Fledermäuse hektisch fort flatterte.
Ihre Mutter und die alte Dame waren verschwunden. Sie selbst saß verwirrt an dem Tisch. Irgendwann wurde ihr bewusst, dass sie leises Weinen hörte. Nicht von diesem Ort, sondern von dort, wo die Realität auf sie wartete.
Sie driftete dem beunruhigenden Geräusch entgegen.

~~~ Schwarzbandler ~~~


Das Morgengrauen musste vor wenigen Minuten eingesetzt haben, denn das wenige Licht, welches durch die Vorhänge filterte, war grau und milchig. Das alte Haus war so still, als hielte es den Atem an.
Ophelia zog die Tür noch ein Stück weiter auf.
Das unterdrückte Schluchzen klang weiblich und kam von dem kleinen Treppenaufgang, der unter das Dach abzweigte.
Sie raffte das dünne Morgenkleid zusammen und schritt ebenso leise, wie entschlossen auf die Stiege zu. Sie erreichte den Fuß der Treppe und entdeckte dort auf den Stufen, zusammengekauert wie ein Häufchen Elend, Julietta.
"Um Himmels Willen, was ist denn passiert?"
Julietta blickte erschrocken auf und versuchte sich mit ungelenken Bewegungen der flatternden Hände die Tränen vom Gesicht zu wischen. Dabei hickste sie vor Aufregung und ihr Atem ging furchtbar zittrig.
"Nichts... ich... mir geht es gut. Ich bin hier hin, weil ich niemanden stören wollte. In meinem Zimmer unten... ich dachte, je weiter oben ich bin, desto weniger können sie mich unten hören... Ich... Alles ist in... Ordnung." Sagte sie und schlug sich im gleichen Moment von Neuem die Hände vor das Gesicht. Ihr Körper bebte von der Anstrengung, das schluchzende Schütteln zu unterdrücken.
"Ich sehe es." Ophelia schritt eilig die wenigen Stufen hoch und setzte sich dicht neben die zierliche Frau. Sie legte einen Arm um deren Schulter und strich ihr beruhigend übers Haar. "Sch-sch-sch, ist ja gut! Ich bin hier. Ganz ruhig." Sie begann, leicht vor und zurück zu wiegen und Julietta lehnte sich weinend gegen sie. Irgendwann strich Ophelia ihr die Haarsträhnen hinter die Ohren und drückte ihr aufmunternd die Hand.
"Nun? Geht es wieder einigermaßen?"
Ihre Stimmen waren nicht mehr als ein Raunen und trotzdem klangen sie laut auf der schlafenden Etage.
Julietta schniefte ein letztes Mal und nickte bedrückt.
"Ja," hauchte sie unglücklich, "es geht schon wieder. Danke!" Sie setzte sich aufrecht hin und ordnete ihre Röcke.
"Was ist passiert?"
Die blonde Frau schaute sie kurz verunsichert an und sofort stieg ihr wieder das Wasser in die Augen.
"Es ist... es ist sicher nicht so schlimm, wie es aussieht. Du wirst mich albern finden."
Die Verdeckte Ermittlerin schüttelte lächelnd den Kopf.
"Etwas, was Dich so sehr in Mitleidenschaft zu ziehen vermag, ist gewiss nicht albern."
Julietta seufzte. Sie wich ihrem Blick aus, faltete die Hände vor den hochgezogenen Schienbeinen und seufzte tief.
"Ich bin... schon lange Christophers Spenderin. Seine Freundin. Und... und ich bin das wirklich gern. Er ist mir wichtig. Mehr als das, wenn Du verstehst, was ich meine."
Innerlich schmunzelte Ophelia.
"Du bist in ihn verliebt."
Julietta schien trotz allem von der schlichten Feststellung überrascht.
"Man sieht es an deinen Augen, wenn Du in seiner Nähe bist und ihm zuhörst."
Julietta errötete, nickte dann aber.
"Ja, ich liebe ihn." Ihre Unterlippe begann verräterisch zu zittern.
Ophelia sprang hilfsbereit mit einer Frage ein.
"Was hat er getan?"
Obwohl Julietta inzwischen die Kraft zu fehlen schien, richtig zu weinen, liefen ihr lautlos neue Rinnsale über die runden Wangen. Sie ignorierte die kleinen Tropfen, die ihr in den Schoß fielen.
"Er will mich nicht mehr berühren." Die Stimme war so kraftlos dahin gehaucht gewesen, dass Ophelia sich wirklich anstrengen musste, um die einzelnen Worte zu verstehen. Julietta flüsterte. "Er will nicht mehr von mir trinken. Er hat gesagt, dass er die Schwarzbandler bewundert und dass er es ihnen nachmachen will. Sein Freund sei so standhaft und mit ihm als Vorbild, könne er es schaffen, ebenso willensstark zu werden. Er sagt, Hannes hätte ihn davon überzeugt, dass Vampire und Menschen gleichermaßen Opfer ihrer Gewohnheiten wären und dass jeder Einzelne etwas dagegen tun müsse. Er sagt, nur weil ich mir noch nicht klar darüber wäre, wie zerbrechlich ich sei, hätte er trotzdem kein Recht darauf, von meinem Wesen zu zehren. Er wolle mich unversehrt lassen, mir nicht wehtun." Sie blickte Ophelia verzweifelt an. "Ich verstehe das nicht. Was habe ich falsch gemacht? Warum stößt er mich so von sich? Wenn wir zusammen sind, dann sind das die schönsten Stunden meines Lebens, das muss er doch wissen! Ein Schwarzbandler zu werden und von mir Abstand zu halten, das schmerzt mich tausendmal mehr, als die winzigen Male unserer Verbundenheit!"
Die Wächterin in ihr wollte zu Christophers Ausführungen applaudieren - die Romantikerin hingegen sah nur die schmerzerfüllten Augen Juliettas und wollte Trost spenden.
"Vielleicht ist es ja nur eine Phase und er besinnt sich bald wieder?"
Ein erschöpftes Kopfschütteln war die Antwort.
"Nein, das glaube ich nicht mehr. Zuerst hatte ich mich auch an diesen Gedanken geklammert. Aber inzwischen denke ich, dass Christopher es ernst meint. Er hat so lange nicht mehr getrunken, dass man es ihm anzusehen beginnt. Er ist noch ruhiger als sonst und wirkt leer, wie ausgeblichen. Er legt sich früher als sonst in den Sarg und geht mir aus dem Weg. Hannes ist nicht nur sein Vorbild, er ist auch sein einziger Freund. Er will ihn nachahmen und beeindrucken, koste es, was es wolle. Er wird sich selber schaden. Und wenn die anderen von seinem Vorhaben erfahren, dann wird alles noch schlimmer werden."
Die schmale Hand krampfte sich um Ophelias Finger.
"Sein Freund, dieser Hannes, hast Du schon mal versucht, mit ihm darüber zu reden? Ihm die Situation zu erklären?"
Julietta überraschte Ophelia, indem sie die Frage bejahte.
"Aber es ist hoffnungslos. Hannes ist in seiner Familie auch der einzige Schwarzbandler und sieht das nicht als Hindernis dafür an, zu den eigenen Überzeugungen zu stehen. Dass ich Christopher liebe und es mir nichts ausmacht, mit Blut und Seele für ihn da zu sein, das ist ihm gleichgültig. Und er sieht auch nicht, wie sehr Christopher sich von ihm unterscheidet und dass die Reaktionen der Familie bei ihnen beiden unterschiedlich schwer wiegen können. Er ist besessen von der Idee, seinem Vater zu beweisen, dass das Tier im Vampir kein selbstverständliches Anrecht auf freien Auslauf habe. Hannes trägt mit seiner Mitgliedschaft bei den Schwarzbandlern eine Art Privatkrieg gegen sein Clanoberhaupt aus. Er will unter allen Umständen erreichen, dass dieses ihn als Nachfolger der Tschentowitschs akzeptieren muss und er zieht Christopher in seine Privatfehde hinein."
Ophelia hielt unbewusst den Atem an und fragte betont ruhig nach.
"Christophers Freund ist vom Clan der Tschentowitschs?"
"Ja, warum?"
Dieser Name war in ihrer Gegenwart einmal zu oft erwähnt worden, als dass sie an einen Zufall glauben mochte. Wenn sie sich richtig erinnerte, hatten die Herzogin und Audrey kurz über die Familie gesprochen. Und Herribert hatte von einer Familie gleichen Namens geredet, als er sagte, Samuel sei dort vor seiner Ermordung regelmäßig zu Gast gewesen, um zu wetten. Und jetzt, wo sie darüber nachdachte, erinnerte sie sich auch an die Vorwürfe des gealterten Menschen, in Samuels Begleitung. Sein Freund sei immer und immer wieder zu den Tschentowitschs gegangen, um sich dort mit einer besonders verführerischen Spenderin einzulassen!
Warum war vor ihr noch niemand auf diese Querverbindungen gestoßen?
"Julietta?"
Die blonde Frau sah unter verklebten Wimpern zu ihr auf.
"Ja?"
"Ich werde mit Christopher sprechen. Und wenn es sein muss auch mit diesem Hannes. Keine Sorge, ich werde taktvoll sein."
Julietta lächelte zaghaft.
"Das würdest Du wirklich für mich tun?"

~~~ Juliettas Glück ~~~


Das Frühstück zog sich in die Länge. Anna fiel ihrer Mutter immer wieder mit nörgelnder Stimme ins Wort und selbst Juliettas dankbare Blicke bewirkten nur ein Ansteigen ihrer Unruhe. Ophelia war froh, als die Tafel aufgehoben wurde und niemand einen Gedanken daran verschwendete, dass sie den Weg nach unten einschlug.
Es war nicht schwer, Christophers Raum auszumachen. Als er sie auf das Klopfen hin herein bat, war sie überrascht. Aus irgendeinem Grund hatte sie nicht damit gerechnet, er könne ähnlich der Herzogin der Gewohnheit anhängen, tagsüber zu ruhen. Zwar vermittelte ihr irgendetwas den Eindruck, er habe auf der Chaiselongue gelegen und den demonstrativ geöffneten Sarg ignoriert, an seiner schläfrigen Langsamkeit änderte das aber nichts. Er beschwichtigte sie.
"Keine Sorge, es geht schon. Ich bin im ersten Moment nur etwas verwirrt aber das legt sich gleich. Es wäre sowieso richtiger, tagsüber zu wachen. Alles eine Frage des Willens! Wenn Du mich aufsuchst, dann wird es einen guten Grund dafür geben und vielleicht bietet sich mir dann die Gelegenheit, Dir in deiner schwierigen Aufgabe zu helfen, nicht wahr?" Er sah sie erwartungsvoll an. "Nun?"
Ophelia musste sich daran erinnern, dass es um Juliettas Glück ging, dass sie ihr diese Intervention versprochen hatte. Und dass seine Antworten ihr womöglich in den Ermittlungen weiterhelfen konnten.
"Ich hatte heute am frühen Morgen ein längeres Gespräch mit Julietta. Sie ist sehr unglücklich über die Situation zwischen Euch und weiß sich nicht mehr zu helfen. Sie macht sich Sorgen um Dich, Herr."
Aschers Erstgeborener stutzte. Mit einer solchen Wendung hatte er nicht gerechnet. Das Thema war ihm unangenehm, denn er blickte sich betroffen auf die Hände.
"Ja. Ähm... das tut mir sehr leid. So richtig weiß ich nicht, was ich da jetzt noch machen soll, denn ich habe ja auch schon mit ihr geredet."
Das Schweigen zwischen ihnen wurde peinlich. Ophelia lächelte vorsichtshalber. Das konnte nie schaden.
"Natürlich bin ich nur zufällig involviert und mir steht es nicht zu, irgendein Urteil zu fällen. Julietta ist nur so bedrückt, dass ich ihr versprach, zumindest das Gespräch zu suchen. Ich glaube, Herr, sie versteht die Begründung für deine Ablehnung nicht gänzlich. Vielleicht würde es helfen, wenn Du bereit wärest mich einzuweihen und ich mich darum bemühe, ihr die Situation noch einmal mit anderen Worten aus deiner Sicht zu erklären?"
Vielleicht lag es an seinem glatten Gesicht und dem tief schwarzen Haar, vielleicht aber auch daran, dass die besorgte Julietta sie darauf hingewiesen hatte aber Ophelia bemerkte viele kleine Anzeichen von Erschöpfung an ihm. Der Dämmerzustand nach seinem todesähnlichen Schlaf war inzwischen von ihm abgefallen und doch wirkte er langsam in seinen Bewegungen, wie zögerlich, eine Nachdenklichkeit, die sie ihm in Anbetracht seiner Nervosität nicht abnahm.
Er ließ sich resigniert auf das breite Polster fallen und bot ihr einen beistehenden Stuhl an.
"Was soll das schon helfen?", fragte er an den niedrigen Tisch gewandt. "Sie tut sich so oder so schwer damit. Ich glaube, dass sie es nicht verstehen will. Sie hat gedacht, dass das mit uns ewig so weitergehen würde, was natürlich Unfug ist. Das wäre schon deswegen nicht möglich gewesen, weil sie irgendwann..."
Ophelia ergänzte den unbeendeten Satz milde.
"Weil sie nicht die Lebensspanne eines Vampirs in sich trägt."
Christopher nickte traurig.
"Ich mag sie wirklich gern. Aber sie muss auch akzeptieren, dass ich lange genug versucht habe, es anderen recht zu machen. Es ist mein Nachleben, es sind meine Entscheidungen. Und für die Menschlichkeit im Gegensatz zum Tier zu stimmen, das kann doch nicht verkehrt sein!"
Ophelia fragte in besonders rücksichtsvollem Tonfall nach:
"Ist es denn wirklich deine Entscheidung? Oder nur ein Versuch, es diesmal einem neuen Freund, Hannes Tschentowitsch, recht zu machen?"
Christopher rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. Er kämmte mit den Fingern das kurze Haar nach hinten und stützte sich dann mit den Armen hinter sich auf. Sein unsicherer Blick blieb an seinem linken Knie hängen.
"Hat sie das gesagt?"
"Es ist eine mögliche Interpretation der Situation, Herr."
Er grinste schief, sagte aber nichts dazu.
Ophelia nutzte die Pause im Gespräch, um leicht vom Thema abzuschweifen und zu den Kernfragen zu wechseln.
"Es kann sein, nur eventuell, dass Ratschläge von Freunden zwar gut gemeint aber dennoch schädlich sind. Nur weil das für andere funktioniert, muss es nicht auch bei einem selber so sein. Die Voraussetzungen sind nicht immer die gleichen, ebenso wenig wie die Rahmenbedingungen."
Christopher Ascher sah sie mit verwirrtem Ausdruck an und lachte abgehackt.
"Willst Du mich zum blutdürstendem Vampir bekehren, Fräulein Ziegenberger?"
Sie verneinte schnell.
"Ich kann nur Juliettas Standpunkt nachvollziehen und dass sie sich Sorgen macht. Dazu kommt, dass ich nicht richtig einordnen kann, in welchem Verhältnis die Familie Tschentowitsch zu den Ereignissen rund um die Morde steht."
Dem Vampir knickte vor Schreck einer der Stützarme weg. Er konnte sich fangen und saß kurz darauf mit schreckgeweiteten Augen kerzengrade vor ihr.
"Woher...?"
Ophelia zog fragend eine Braue in die Höhe. Sie wartete ab, was er sagen würde.
Christopher faltete seine Hände in stetem Rhythmus ineinander.
"Das kann jetzt aber keine von Juliettas Vermutungen sein, denn davon wüsste ich."
Als er auch nach weiterem Zögern keine Erklärung folgen ließ, sagte sie auffordernd:
"Ich möchte keine voreiligen Schlüsse ziehen..."
Das Lachen blieb ihm im Halse stecken.
"Nein, natürlich nicht. Ich auch nicht."
Ophelia seufzte leise und gab ihm ein weiteres Stichwort.
"Wie würdest Du denn die Vorkommnisse erklären, Herr? Vor allem, wenn Du solche Dinge berücksichtigst, die Dir aufgefallen und anderen vielleicht entgangen sind. Es muss schließlich nicht so sein, wie es auf den ersten Blick scheint. Vielleicht hat dieser Hannes auch gar nichts damit zu tun gehabt?"
Zugegeben, das war jetzt eine der seltenen Gelegenheiten, in denen sie ihrem Gefühl weit genug vertraute, um einen Schuss ins Blaue zu wagen. Christopher war nicht Parsival, er konnte nicht in ihre Gedanken sehen. Zumindest hatte sie das angenommen.
"Wenn ich Dir von meinen Überlegungen erzähle, wird er es sofort wissen."
Nein, Christopher konnte auf keinen Fall wissen, was sie eben gedacht hatte, er musste lediglich seinem eigenen Gedankengang gefolgt und dabei auf seine größte Sorge gestoßen sein. Er fehlinterpretierte ihr atemloses Schweigen als Verwirrung dazu, auf wen er sich bezöge.
"Ich meine Parsival. Er würde es wissen und das wäre fatal. Das Verhältnis zu den Tschentowitschs ist ohnehin nicht besonders gut. Jeder noch so kleine Verdacht könnte ihn zu irgendetwas Unvorsichtigem verleiten."
"Wenn es solche Anspannungen zwischen Euren Clans gibt, wie Du sie andeutest, Herr, wie kommt es dann, dass Ihr - Herribert, Samuel und Du - vor Samuels Tod häufig zu Gast im Hause des gegnerischen Clans wart? Hatte Parsival dem nichts entgegen zu setzen?"
"Oh doch, das hätte er wohl gehabt - wenn er davon gewusst hätte!"
Ophelia hielt inne.
"Ihr habt es ihm verheimlicht?"
Christopher rollte gleichzeitig genervt und schuldbewusst mit den Augen.
"Es sind Parsival und Hendrik, die nicht miteinander klarkommen, warum auch immer. Natürlich wollten wir Parsival nicht provozieren, indem wir es ihm gesagt hätten, gleichzeitig sahen wir aber auch keinen Grund, warum deren Streit uns betreffen sollte. Wir kamen prima miteinander aus, verbrachten viel Zeit zusammen und haben unsere Interessen geteilt. Hannes ist ganz anders als sein Clanvater und dieser hat uns immer gewähren lassen, in seinem Hause. Es ist ja nicht so, als wenn wir uns mit dem Feind verbündet hätten." Seine Stimme klang gezwungen heiter und auch sein Grinsen fiel nicht sonderlich überzeugend aus. Sein Erzählfluss intensivierte sich, wurde zu einer Rechtfertigung seiner selbst und sie hatte den Eindruck, dass er fast schon erleichtert reagierte, jetzt, da jemand Unbeteiligtes auf das kleine Geheimnis gestoßen war. Er breitete in einer umfassenden Beichte all das vor ihr aus, was ihn selber die letzte Zeit über belastet hatte. "Auch die anderen halten nichts von Hendrik, wir sind nur wegen der Wett-Runden zu Hannes gegangen. Und wegen Jessica[27], das natürlich auch. Aber das hing ja zusammen. Nicht, was Du jetzt vielleicht denkst. Ich habe sie nicht einmal berührt, also braucht Julietta nichts zu befürchten. Ich meine das mit der Enthaltsamkeit ernst. Aber Samuel war ganz hingerissen von ihr und hat keine Wette ausgelassen, in der Hendrik sie gesetzt hat."
Die Verdeckte Ermittlerin konnte nicht verhindern, dass ihr Gesichtsausdruck sie verriet.
Christopher wurde aschfahl und rutschte auf die Sitzkante vor, als wenn er sie mit seiner Nähe wirkungsvoller von den Gedanken hinter ihrer Stirn ablenken könnte.
"Sie macht das gerne, wirklich! Sie war früher Näherin und seit sie bei den Tschentowitschs ist, ist sie es gewohnt, dass viele Wetten mit ihrem Blut als Einsatz abgeschlossen werden. Das ist jetzt so etwas wie ihre Passion. Sie hat ihre Ernährung auf spezielle Früchte und Kräuter umgestellt und so, trinkt furchtbar viel gennuanisches Wasser und cremt sich mit Duftölen ein. Also... sie macht das wirklich sehr gern. Sie wollte mich auch mal zu einem Wetteinsatz auf sich überreden und als wir später darüber sprachen hat sie mir erzählt, dass sie sich keine bessere Anstellung vorstellen könne, da sie das locker wegsteckt, sich nicht mehr dauernd ausziehen muss und außerdem ständig neue Leute kennen lerne."
Ophelia musste diesen Gedanken erst einmal verdauen. Sie räusperte sich, um ihrer Stimme wieder trauen zu können.
"Und Samuel setzte regelmäßig auf diese... Jessica?"
"Ja, zum Schluss war es eine regelrechte Besessenheit. Herribert wollte kurz vor dem Mord mit ihm darüber reden. Immerhin hätte es ziemlichen Ärger mit Parsival geben können, wenn er dahinter gekommen wäre. Nicht nur wegen der hohen Wetteinsätze. Sondern vielmehr... ich vermute, dass Parsival das mit Jessica in den falschen Hals bekommen und davon angefangen hätte, dass sich bei Samuel so etwas wie eine Abhängigkeit zu den Tschentowitschs entwickeln würde. Aus seiner Sicht betrachtet. Obwohl das natürlich Quatsch gewesen wäre."
Christopher sah peinlich berührt aus.
"Hat Herribert denn noch mit ihm darüber geredet?"
"Ich bin mir nicht sicher aber ich vermute..."
Da war es wieder, dieses Zögern das einen verbalen Anstoß benötigte.
"Ja?"
Christopher machte eine groteske Grimasse, als er sich zu der Antwort überwand.
"Aber das ist nicht sicher, ja? Ich möchte keine haltlosen Verdächtigungen aussprechen oder so. Es gibt keinen Beweis. Und ich glaube auch nicht, dass er ernsthaft irgendwie dafür in Frage kommt."
Eine Erkenntnis dämmerte ihr und sie hielt die Luft an.
Christophers Stimme zitterte fast, als er endlich gestand:
"Er wollte an dem Abend, bevor Samuel ermordet wurde, mit ihm darüber reden." Schnell fügte er hinzu: "Aber in der betreffenden Nacht kann er nichts mit dem Mord zu tun gehabt haben, denn da waren wir zusammen unterwegs! Deswegen habe ich das bis jetzt auch niemandem erzählt."

~~~ Gebannt ~~~


Romulus hatte der S.U.S.I.-Kollegin einen Kaffee spendieren wollen, diese lehnte aber mit leichtem Anheben ihres Bechers ab. Die herbe Kräutermischung aus Überwald, an der sie immer wieder genießerisch nippte, sagte Laiza Harmonie wohl mehr zu. Sie einigten sich wortlos darauf, der Kantine den Rücken zu kehren und in Romulus' Büro, zur zweiten Etage, zu wechseln. Dort flimmerte die pralle Mittagssonne über mehr oder weniger gestapelte Akten und führte zu einem unerwarteten Wärmestau in dem Eckraum. Aus dem Hundekorb an der Wand stieg ein muffiger Geruch auf.
Sie setzten sich und Romulus hielt sich regelrecht an seinem Kaffeepott fest.
"Und? Wie lief es heute Nacht? Ich wäre ja wenn irgend möglich im Wachhaus geblieben aber das duldete keinen Aufschub. Ich habe Valdimier heute noch nicht gesehen und seine kurze Nachricht war nicht sonderlich aussagekräftig. Was hat es damit auf sich?", fragte er und winkte mit dem kleinen handschriftlichen Vermerk auf einem billigen Stück Papier.
Die junge Frau mit der dunklen Lockenmähne schielte über den eigenen Tassenrand auf die Nachricht. Sie hatte sie schnell überflogen.
"Es lief alles wie geplant. Ich denke, der Hinweis deiner Püschologin, dieser Frän Fromm, dass der Kräutersud seine Wirkung verloren haben muss, kam gerade rechtzeitig. Ich habe mich für eine Erbse als Trägerstoff entschieden, weil die runde Form den Zauber unterstützt und ihn, während sie ihn absorbiert, sozusagen abrundet. Außerdem war sie für unsere Zwecke klein genug und geht auch nicht zu sehr ins Büdschee." Sie gestattete sich ein schwarzhumoriges Grinsen. "Ich habe zwar eine Weile gebraucht aber pünktlich um Mitternacht war der Spruch stabil. Valdimier erzählte, als er zurückkam, dass er unbemerkt durch ihr Fenster in den Haushalt eindringen konnte. Die Clanmitglieder und deren Gäste hielten sich wohl alle in den unteren Etagen auf, nur eine der Angestellten hätte ihn beinahe entdeckt. Das ist aber auch noch mal gut gegangen und so hat er die Erbse unter der Matratze platziert." Sie räusperte sich mit einem verlegenen Lächeln. "Der Satz dort", sie deutete auf den vergilbt wirkenden Zettel, "der bezieht sich wohl auf seinen kleinen Ausrutscher."
Romulus zog beide Brauen in die Höhe.
Die Okkultismusexpertin trank mit einem kräftigen Zug aus und blickte ihn dann herausfordernd an.
"Ich habe es ihm gesagt, dass sein Blut den Bann aktivieren würde - er war gewarnt!"
Der Abteilungsleiter verstand nicht ganz und die Frau ihm gegenüber erklärte die Bedeutung des Gesagten genauer.
"Da der Bann gegen Vampire wirken soll, mussten es eben auch ein paar Tropfen Blut eines Vampirs sein, die die Erbse ummantelten. Theoretisch hätte der Bann sich zwar sofort aktivieren, seine volle Kraft aber erst nach einigen Sekunden entfalten sollen." Sie suchte nach einem passenden Vergleich. "Wie eine Öllampe, deren Docht man langsam hochdreht."
Romulus nickte ungeduldig, schwieg aber, um sie nicht zu unterbrechen.
"Na ja, ich glaube, allmählich habe ich den Dreh raus, mit den Bannkreisen." Sie wirkte fast etwas stolz auf sich. "Der hier ist mir jedenfalls etwas zu stark geraten." Sie winkte schnell beschwichtigend ab, als sie die alarmierte Miene des Abteilungsleiters sah. "Keine Angst! Das ist für die Ziegenberger überhaupt nicht von Nachteil! Wirklich! Es war halt nur ein wenig unangenehm für Valdimier, weil er sich einen kräftigen Wisch eingefangen und ordentlich die Hände verbrannt hat. Aber das war nicht übermäßig schlimm. Er hat zwar etwas geflucht und sich über die verkohlten Manschetten beschwert aber Rea hat diese Woche oft Nachtschicht und war im Haus. Sie hat sich in Abwesenheit von Rogi um ihn gekümmert."
Romulus lehnte sich sichtlich etwas entspannter zurück und atmete tief durch.
Sie schwiegen beide einen Moment, bevor er sich bei der Okkultismusexpertin bedankte.
"Danke!"
Laiza Harmonie legte den Kopf leicht schräg und bedachte ihn mit einem langen Blick aus ihren hellen, blauen Augen.
"Tagsüber wird sie wohl selbst auf sich aufpassen können, auch wenn dieser Kräutersud seine Wirkung eingebüsst hat. Nächtens jedoch, wenn sie schläft, wird nun der Schutzkreis um ihr Bett sie vor jedem zu neugierigen Vampir beschützen. Ich weiß zwar nicht, wie weit der Bannkreis auf mentaler Ebene wirkt aber zumindest körperlich werden sie sich hüten, sie auch nur anzurühren." Sie nippte wieder an ihrem Tee. "Du machst Dir mehr Sorgen um sie, als Du zugeben willst, kann das sein?"
Er grinste schief.
"Na, wenigstens bin ich, was das angeht, nicht der Einzige. Ich werde gleich mal zu Bregs rüber gehen und ihm die guten Neuigkeiten mitteilen, damit er nicht versehentlich eine Schneise durch seinen Büroboden läuft."

~~~ Die kühle Kutsche ~~~


Nichts, rein gar nichts, lief in gewohnten Bahnen. Niemand scherte sich um den Ruf des Clans, alle waren sie leichtfertig und selbstzentriert! Die Sache lief Gefahr, aus dem Ruder zu laufen. Erst ignorierte Ophelia den ihr im Schlaf suggerierten Befehl, sich mit den Ermittlungen zurückzuhalten, dann brachte sie es auch noch fertig, irgendwie einen Abwehrzauber ins Haus zu schmuggeln und jetzt stieß sie zu allem Überfluss auch noch auf diesen Verrat in den eigenen Reihen! Die Wächterin stellte sich als ein kaum zu kontrollierendes Sicherheitsleck heraus, etwas, was nicht absehbar gewesen war.
Solch ein Desaster! Wie hatte er das nur übersehen können? Im Nachhinein betrachtet war es wirklich merkwürdig, dass Herribert, Christopher und Samuel gemeinsame Interessen gefunden haben sollten. Aber warum ausgerechnet Tschentowitsch? Als wenn die Kinder einen Pflock genommen hatten und ihm diesen zielgerichtet ins Herz rammen wollten!
Hendrik lachte sich wahrscheinlich regelrecht ins Fäustchen. So lange waren sie einander aus dem Wege gegangen und hatten trotz der gemeinsamen Vergangenheit immer das Territorium des Anderen gemieden. Vielleicht war eine direkte Konfrontation längst überfälliges Schicksal gewesen? Er jedenfalls hätte gerne darauf verzichtet. Aber Hendrik hatte sich auf dieses Spielchen eingelassen und die Kinder zu sich gelockt. Christopher war so blauäugig, wenn er die begründete Befürchtung, Hendrik habe bewusst versucht, Samuel in die Abhängigkeit zu ziehen, verlachte.
Der Ansatz, Hendrik könne etwas mit den Morden zu tun haben, war noch mal eine andere Sache. Natürlich war sich Christopher selber nicht sicher gewesen. Vielleicht waren die Anzeichen trügerisch und Hendrik mit seiner Sippe unschuldig - so wie er es sich die ganze Zeit über gesagt hatte? Deren Alibi waren lückenlos! Und warum hätte Hendrik sich nach all den Jahren derart weit aus dem Fenster lehnen sollen, zudem auf so völlig atypische Weise? Hendrik war immer der Jüngere von ihnen beiden gewesen, ebenso wie der mit den größeren Skrupeln. Wenn auch der zynischere. Aber Hendriks Zynismus war stets passiver Natur gewesen. Er hatte sich beschwert und mit wütenden Blicken um sich geworfen. Scharfe Worte waren ihm leicht über die Zunge gekommen aber Taten, Mord womöglich? Nein, das passte so gar nicht zu seinem Bruder!
Schluss mit den Vermutungen und dem Rätselraten! Es war Zeit zu handeln und so oder so würde er bald Genaueres wissen.
Die Mittagszeit war um und die Liga der Enthaltsamkeit musste gleich ihre Sitzung beenden. Hendriks Junge würde wie jede Woche um diese Zeit das Gebäude verlassen und den Weg heim zu Fuß einschlagen. Wo mit dem Vater kein vernünftiger Austausch möglich war, musste er eben mit dem Jungen reden. Er brauchte dringend Antworten und Gewissheit.
Wie hatte es zu den Morden kommen können? Wusste sein Bruder etwas darüber? Oder dessen Sohn?
Herribert war das eigentliche Problem gewesen, keines der anderen Kinder. Nur Herriberts unselige Neigungen waren absolut indiskutabel und gefährlich genug, um die Aufmerksamkeit des Patriziers auf den Clan zu ziehen. Es stand natürlich dennoch absolut außer Frage, dass er als Clanoberhaupt direkt dagegen vorging. Dieses Amt stand für unverbrüchliche Loyalität seinen Kindern gegenüber, wie hätte er da eines von ihnen anschwärzen und an den Despoten verraten können? Nein, das war ausgeschlossen! Er wusste ohnehin nicht, warum Vetinari nicht von sich aus eingegriffen hatte. Vielleicht hing das alles tatsächlich mit dessen fast sprichwörtlicher Überzeugung zum gesellschaftlichen Gleichgewicht zusammen? Ohne die Morde hätte alles unter der Hand geregelt werden können, so aber war auch der Patrizier zum Umweg über seine ermittelnde Institution bereit gewesen?
Vetinari hatte ihm damit jedenfalls Handlungsspielraum gegeben. Und Parsival war der andere Weg gangbarer vorgekommen.
Hätte Katharina seine unverfänglichen kleinen Hinweise mit Herriberts Benehmen verglichen und sich, ihren eigenen Vorlieben und Abneigungen entsprechend verhalten, so wie er es sich vorgestellt hatte, dann wäre Herribert durch sie bloßgestellt worden. Er selber hätte schicksalsergeben die Hände heben, ein Urteil im Namen der Anklägerin fällen und sich unschuldig geben können. Vetinari hätte bekommen, was er von Anfang an gewollt haben musste und so viele andere Probleme, wie Katharinas unantastbare Stellung innerhalb des Clans, wären damit auch gelöst gewesen. Denn damit hätte Katharina sich des Verrats am Clan schuldig gemacht, egal aus welchen Gründen, und solch ein Verhalten wäre ihr von keinem der anderen Kinder verziehen worden.
Stattdessen ein Mord! Und zwei weitere Morde dazu! Schlimmeres und dazu noch die Aufmerksamkeit mehr auf sich Lenkendes hätte es nicht geben können. Irgendwas war gründlich schief gelaufen. Und plötzlich stand ihm sogar Hendriks Abbild wieder vor Augen und verdunkelte den Blick auf die Zukunft mehr denn je. Konnte Hendrik an all dem überhaupt unschuldig sein?

Parsival Ascher richtete sich in gespannter Aufmerksamkeit auf und pochte mit dem Knauf des Gehstocks an das Dach der Kutsche.

Der Igor auf dem Kutschbock setzte das Gespann mit einem eleganten Schwung der Peitsche aus dem Handgelenk heraus in Bewegung. Er hielt die Zügel locker und die Pferde trabten langsam an, dem dünnen jungen Mann auf dem parallel verlaufenden Bürgersteig hinterher. Dicht hinter ihm hielt der Kutscher das Gefährt an und ließ seinen Herrn schnell aussteigen.

"Hannes![28]"
Der bleiche Vampir drehte sich überrascht zu ihm um. Erkennen huschte über sein Gesicht und seine Halsmuskeln spannten sich deutlich an. Er blieb trotzdem stehen, mitten in der Sonne und nur unzureichend durch einen schmalkrempigen Hut und die neuerdings so beliebten, gerußten Augengläser geschützt. Bis auf diese war alles an ihm braun, um trotzig die Distanz zu den Traditionen seiner Art zu unterstreichen.
"Was willst Du, Ascher?"
Parsival lächelte nervös. War Hendrik letztlich doch über seinen Schatten gesprungen und hatte seinem einzigen Kind gegenüber die Familiengeschichte offenbart? Aus den Worten des Sohnes sprachen jedenfalls die gleiche Bitterkeit und ein ähnlicher Anflug von Hass, wie aus dem Verhalten des Vaters.
"Ah, Du erkennst mich, was für eine Freude!" Er konnte sich einen angedeuteten ironischen Diener nicht verkneifen. Der nächste Schritt brachte ihn nahe genug an den feindlichen Spross, dass er ihn hätte berühren können, weswegen er es sich erlauben konnte, den Ton der Stimme zu senken. "Ich muss mit Dir reden!"
Es war nicht zu übersehen, dass er einem anämischen Vampir gegenüber stand. Einem dummen Kind, das sich schon beinahe zu Tode gehungert hatte und sich nur noch aus reiner Willenskraft auf den Beinen hielt. Hannes' Haut sah faltig und fast durchscheinend aus, die Augen lagen wie schwarze Kohlen tief in den Höhlen, das hungrige Glühen dicht unter ihrer matten Pupillenoberfläche. Die Hände des Jungen waren so dürr, dass die weißen Fingernägel umso scharfkantiger in den Blick sprangen und seine herausfordernde Begrüßung entblößte die freiliegenden Fangzähne, die aufgrund von permanentem Hunger nicht mehr in ihre Plätze im Kiefer eingefahren werden konnten.
"Ich wüsste nicht, was ich mit Dir zu bereden hätte. Mein Vater hat mir oft genug zu verstehen gegeben, was er von solch einer Begegnung hielte."
Parsival stützte sich tief durchatmend mit beiden Händen auf den Gehstock ab und sammelte sich.
"Lassen wir bitte einmal deinen Vater und seine Ansichten außen vor! Glaube mir, es gäbe Schöneres, was ich mir für einen so angenehmen Nachmittag vornehmen könnte, nichtsdestotrotz muss ich mit Dir reden. Über meine Söhne und ihre Besuche einer ganz bestimmten Adresse."
Der dürre Vampir zuckte sichtlich zusammen und mit einem Mal schien ihm bewusst zu werden, was auf ihn zukommen mochte. Was auch immer Hendrik in seinen Hetztiraden gesagt haben mochte, er konnte nicht wirklich gewollt haben, dass es zur Konfrontation käme. Keiner der Beteiligten hatte ernsthaft damit gerechnet, dass er dahinter kommen würde, was seine Kinder heimlich trieben, das wurde Parsival in diesem Moment klar. Das hier konnte, wenn er es darauf ankommen ließe, offenen Krieg bedeuten.
Der junge Tschentowitsch war so weiß wie ein Blatt reinsten Büttenpapiers und mit gehetztem Ausdruck im Blick wandte er sich rasch ab.
"Ich weiß nicht, wovon Du redest, Herr. Und ich habe noch einiges zu erledigen. Sei gegrüßt!"
"Nicht so schnell, mein Lieber!"
Er hatte schneller reagiert, als er darüber hätte nachdenken können, als er den arroganten kleinen Emporkömmling am Arm gepackt und ihn festgehalten hatte. Etwas in ihm erschrak und dann gefror sein Inneres. Es war zu spät, um noch zurück zu rudern! Und den widerspenstigen Burschen hier hatte er nicht nur in einem Sinne in der Hand! Das Kind war schwach und würde nicht viel Gegenwehr aufbringen können.
"Ich will mit Dir reden und ich werde mit Dir reden!"
Hannes Tschentowitsch zögerte in seiner Empörung eine Sekunde zu lange, um um Hilfe zu rufen und als ihm sein Fehler bewusst wurde, war es dafür schon zu spät. Die Panik des Jungen war nur noch in seinen weit aufgerissenen Augen zu sehen, sein Kampf gegen den Angreifer auf die unsichtbare Ebene begrenzt.

Die verdunkelte Kutsche der Aschers fuhr ungewöhnlich dicht an den Bordstein heran und ein unbeteiligter Passant hätte beobachten können, wie der besorgte Gentleman-Vampir seinem Freund, der offenbar etwas schwach auf den Beinen war, untergehakt anbot, ihn ein Stück des Weges in der kühlen Kutsche mitzunehmen.

~~~ Im Netz der Traditionen ~~~


Die junge Igorina überprüfte alle paar Minuten ihren rasenden Herzschlag, murmelte düstere Prophezeiungen und eilte angstvoll fort, nur um sofort darauf, von morbider Faszination getrieben, wieder aufzutauchen.
Gerade eben stürmte sie mit verzweifeltem Blick in den kleinen Aufenthaltsraum zurück und rief erstickt: "Fie werden daf Hauf niederbrennen! Du weift, daff ich Recht habe. Erft letften Gruni haben welche genau daf mit dem grofen Anwefen am Latfenden Tor gemacht und dabei hatten die Herfaften dort fich nichtf fu Fulden kommen laffen!" Ihren Puls messend stürmte sie wieder aus der Dachkammer.
Igor war noch jung aber selbst wenn er die fatalen Visionen seiner Kollegin nicht teilte, eine Gefahr konnte er dennoch erkennen. Sein Vorgesetzter war der selbstzerstörerischen Neigung der Igors, dieser allgegenwärtigen Tendenz verfallen: dem Meisterwahn! Was auch immer Ascher dem alten Diener fortan befehlen mochte, dieser würde seinem Herrn bedingungslos bis in den Wahnsinn folgen und dabei keinerlei Rücksicht mehr auf die Auswirkungen für sein Umfeld nehmen.
Igor knirschte frustriert mit den Zähnen.
Dafür war er ganz sicher nicht in die Stadt gekommen!
Abgesehen vom moralischen Standpunkt, der in dieser Sache ziemlich fragwürdig schien, sprachen gleich mehrere Argumente gegen Entführung, Gefangennahme und ähnliches. Es gab in Ankh-Morpork für alles Gilden und fraglos würde irgendeine davon schon bald einen Spürhund auf den Herrn ansetzen: "Eine Entführung? Oh, ich weiß nicht. Vielleicht die große schwarze Kutsche letztens mit dem irren Igor an den Zügeln?" Und gleichgültig ob sie sich aktiv wähnte oder nicht, sie hatten diese Wächterin im Haus! Ophelia Ziegenberger war eine von jenen Frauen, die kein Unrecht duldeten. Wenn sie jemals hiervon erführe, und wie sollte man es in ein paar Tagen oder in ein paar Wochen noch verbergen können, es gab immer verräterische Anzeichen für so etwas, dann würde sie ganz sicher das Naheliegendste tun und sich an ihre ehemaligen Kollegen wenden. Man musste ihr irgendwie zuvorkommen, das verhindern und guten Willen zeigen. Nicht allein um des Herrn Willen, sondern auch um Igorina und um seinetwillen.
Igor stützte sein narbiges Grinsen mit einem von Herzen kommenden Stöhnen in die Handflächen ab.
Woher hätte er bei seiner Flucht vor den überkommenden Werten Überwalds auch ahnen sollen, dass er sich gerade hier, im Herzen der trendigen Metropole, im Netz der Traditionen verfangen würde? Würde er später mit seinem Verrat leben können?
Widersprich niemals!
Er würde innerhalb der Familie zum Geächeteten werden.
Igorina lief schluchzend ins Zimmer, um ihn über das weitere Geschehen drei Etagen tiefer zu unterrichten.
"Er hat unauffällig dafür geforgt, daff alle in den Fimmern bleiben und dann haben sie den Entführten fufammen nach hinten gebracht. Ef ift frecklich! Der Vampir fteht völlig neben fich. Er hat einen ganf glafigen Blick und fie ftütfen ihn von beiden Feiten. Ich weiß nicht, waf fie mit ihm gemacht haben aber Igor hat mich nur ganf feurig angefehen und auf dem Weg gejagt. Fie werden ihm irgendwaf antun, irgendwaf ganz Flimmef, ich weif ef. Und dann kommen die Leute mit den Fackeln und bald danach werden unfere Einfelteile auf dem Fchwarzmarkt angeboten."
Igor betrachtete das Problem von allen Seiten, dann stützte er sich schwer mit beiden Händen auf der Tischplatte ab und erhob sich.
"Nicht, wenn ich ef verhindern kann. Noch können wir etwaf unternehmen."
Die kleine Frau sah ihn entsetzt an, sie hatte eine Weile gebraucht, um das Konzept hinter seinen Worten zu verstehen.
"Du willft... widerfprechen?" Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände. "Damit will ich nichtf fu tun haben!"
Der junge Igor sah ihr traurig hinterher, als sie vor ihm flüchtete. Doch sein Entschluss stand fest.
Die Einen würden ihre ehemalige Kollegin wohl kaum im Stich lassen - der andere seinen Sohn nicht. Einer von ihnen würde seinem Ruf auf jeden Fall Folge leisten. Die Frage war nur, wer schneller wäre; oder effektiver.
Er zog die wollene Jacke über und trat den schwersten Weg seines Lebens an.
Wo waren sie zu finden? Ja, richtig, am Pseudopolisplatz.

~~~ Vereinigung ~~~


Herribert hatte eine weitere Unterhaltung mit ihr verweigert, Parsival war laut Marlies' Aussage seit den Mittagsstunden außer Haus und in den übrigen Gesprächen, die sie über den Nachmittag verteilt mit der Familie geführt hatte, konnte Ophelia nichts neues Relevantes erkennen. Unruhe machte sich in ihr breit und ließ sie im leeren Esszimmer auf und ab gehen.
Desdemonia hatte sie mit milder Nachsicht betrachtet und gesagt, das Verhältnis zwischen den Tschentowitschs und ihnen sei von jeher etwas angespannter gewesen, einen speziellen Grund könne sie dafür aber nicht benennen.
Katharina, die Herzogin von Lomond, hatte sie scharf ausgelacht, wieder einmal betont, dass sie von all dem nichts wissen wolle und ihren Standpunkt kundgetan, so ein neugieriges Ding wie Ophelia müsse sich mit einer derart unverschämten Frage wohl dazu überwinden, das Clanoberhaupt direkt darauf anzusprechen.
Und Christopher war mit den Gedanken woanders und irgendwann ziemlich mit den Nerven am Ende. Er hätte vielleicht doch lieber nichts sagen und das alles auf sich beruhen lassen sollen, Parsivals Abwesenheit mache ihm Sorgen, im Kalender sei gar nichts von einem Kundentermin in der Stadt eingetragen gewesen und er hätte ein ungutes Gefühl bei all dem.
Unwillkürlich übertrug sich seine Schwarzmalerei auf Ophelia und die Ermittlerin hatte das erdrückende Empfinden, eine Katastrophe würde sich anbahnen und ihnen allen Schlimmes bevorstehen.
Was für ein Unfug! Sie war doch kein kleines Mädchen mehr, das sich vor dunklen Wolken fürchtete.
Sie machte am Ende der Tafel kehrt und lief die lange gerade Strecke ein weiteres Mal ab, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Parsival war vermutlich gerade in irgendeinem kleinen Antiquariat am Rande der Stadt in seiner freundlichen Art am Verhandeln über einen Preis, völlig ahnungslos, was den kindischen Aufruhr in seinem Haushalt betraf.
Sie blieb kurz stehen, sein wärmendes Lächeln vor Augen.
Vielleicht, wenn sie den Deckmantel aufgäbe und wirklich bei ihm bliebe...
Sie verspürte eine leichte Übelkeit im Magen und war abgelenkt. Dieses häufige Unwohlsein in letzter Zeit war umso merkwürdiger, wo die Verköstigung in Parsivals Haus so tadellos war. Wenn sie nur wüsste, was sie nicht vertrug! Sie würde am Abend mal in der Küche nachfragen, ob dort irgendein ungewöhnliches Gewürz häufige Verwendung fand.

Die Tür sprang auf und flog mit ungeminderter Wucht gegen die Wand.
Christopher stand mit panischem Blick im Türrahmen, sein kalkweißes Gesicht ließ ihn wirken, als wenn er kurz vor einer Ohnmacht stünde. Er rannte auf sie zu, so schnell, dass er erst verschwand und dann übergangslos vor ihr auftauchte, schon ihre Hand hielt, bevor sie etwas sagen konnte und sie atemlos aus dem Essraum zog.
"Schnell! Ich hatte es geahnt. Du musst helfen, bitte! Er ist völlig verrückt geworden und hat Hannes ins Haus geschleppt, unfreiwillig. Also Hannes ist unfreiwillig hier. In Parsivals Schlafkammer. Schon seit heute Mittag und ich bin jetzt erst dahinter gekommen. Wir müssen ihm helfen!"
"Hannes Tschentowitsch ist hier?"
"Ja, Parsival hat ihn entführt und versteckt ihn hinter der Gedankenmauer. Aber ich war in den letzten Wochen so oft mit ihm zusammen, dass ich Hannes' Aura gleich bemerkt habe, auch wenn ich sie erst nicht zuordnen konnte. Wie hätte ich auch ahnen sollen, dass Parsival wirklich etwas so Unglaubliches wagen würde?"
Das flaue Gefühl wurde zu einem Vakuum in ihrem Magen, nur um in tausende Schmetterlinge zu explodieren, die in ihrem Körper ausschwärmten und ihn kribbeln ließen. Tatendrang packte sie! An Christophers Hand rannte sie den Gang hinunter zur Treppe und, ungeachtet des Lärms, den sie dabei verursachten, in das Untergeschoss der Vampire hinab.
"Wo ist Parsival jetzt?"
Christopher biss sich auf die Unterlippe.
"Ich weiß es nicht. Aber es ist mir auch egal. Hauptsache er ist gerade nicht in seinen Räumen, um uns aufzuhalten. Du bist neutral, auf Dich muss er hören, falls er doch auftaucht! Wir befreien Hannes. Das ist das einzig Richtige und alles danach wird sich irgendwie finden."
Sie näherten sich schnellen Schrittes der Tür am Ende des Familienganges, stießen diese auf und stürmten Parsivals Büro.
Christopher ließ ihre Hand los und rannte um den Schreibtisch herum.
Sie sah sich um, konnte aber weder vom Hausherrn, noch von dem vermeintlichen Gefangenen eine Spur entdecken.
"Wo..."
"Hier entlang!" Christopher stand vor einem der falschen Fenster, dessen Vorhänge soeben beiseite glitten - ebenso wie die dahinter befindliche Steintür. Der Fensterbogen öffnete sich mit lautlosem Schwung in einen niedrigen Durchgang, auf dessen Rückseite ein kerzenbeleuchteter Raum zu erahnen war. "Seine Privatkammer, schnell!"
Ophelia wollte ihm in den dahinter liegenden Raum folgen, als der alte Igor ihnen beiden mit funkelnden Augen entgegen trat.
"Keinen Fritt weiter! Dief ift daf Refugium def Herrn und er wünft keine ungebetenen Befucher!"
Christopher zeigte ungeahnten Mut, als er den stechenden Blick des Buckligen ignorierte und ihn mit einer Hand am Kragen packte.
"Aus dem Weg!"
Er schleuderte den Igor beiseite, dass dieser an die nächste Wand fiel und dort stöhnend zu Boden ging.
In dem edel eingerichteten Schlafgemach stand ein mächtiges Bettgestell mit schwerem, rotseidenem Baldachin. Rund um das Bett herum spendeten mit dicken Kerzenstumpen bestückte Leuchter Licht. Der Raum war nicht groß und von diesen wenigen Dingen vollständig gefüllt, doch das Vorhandene war kostbar. Dunkles Holz schmeichelte dem Auge, ebenso wie die schweren Stoffe. Entlang der Wände hingen tiefe Rahmen, in denen kostbarer Schmuck, gesiegelte Pergamente und handliche Waffen längst vergangener Epochen als Raritätensammlung präsentiert wurden.
Auf dem Bett lag reglos und mit geschlossenen Augen ein Mann, dessen Hände und Füße zu den vier Bettpfosten hin ausgestreckt und festgebunden worden waren. Er war so blass, dass Hände und Gesicht fast zu leuchten schienen. Links und rechts des Bettes stand jeweils ein Gestell mit einer Waschschüssel, doch als Ophelia näher kam, sah sie, dass nicht etwa Wasser darin bereit stand, sondern Blut. Der schwere, süßliche Geruch legte sich wie ein öliger Film auf ihre Haut und sie musste sich zwingen, weiter zu atmen.
Christopher ignorierte sie und lief stattdessen direkt zu seinem Freund hin, um dessen Fesseln zu lösen.
Ophelia taumelte, als sich dem vertrauten Geruch andere Erinnerungen hinzu gesellten und die Bilder vor ihren Augen einander überlagerten.
Der Duft von Chlor, kaltem Felsen und Algen. Das Geräusch von fließendem Wasser, das Plätschern des unterirdischen Sees an sein steiniges Ufer, der Blick toter Augen, die sie bis unter die Wasseroberfläche verfolgten...
Sie stütze sich an der gedrechselten Säule ab und die glatt polierte Oberfläche half ihr, in die Realität zurückfinden.
Fort aus meinem Gemach! Diese Angelegenheit geht Euch nichts an!
Parsivals Stimme dröhnte zornig in ihrem Kopf. Er war auf dem Weg hierher und würde sie aufhalten, wenn sie sich nicht beeilten.
Sie keuchte leise in dem Bemühen, seine Präsenz zu ignorieren.
"Schneller, Christopher! Nicht mehr lange und er..."
Parsivals Erstgeborener nickte hektisch und zerrte an den Fesseln.
"Ich weiß."
Hinter ihnen war ein leises Rascheln zu hören und bevor sie sich auch nur hatte umdrehen und nachsehen können, war Christopher zur Stelle, um sich dem Igor entgegen zu stellen.
"Undankbaref Kind, Du verrätft den Herrn!"
"Mach weiter! Binde ihn los und bring ihn hier raus, während ich unseren treuen Diener auf seinen Denkfehler aufmerksam mache!"
"Denkfehler! Ha!"
Ophelia dachte nicht länger darüber nach, wie ihrer aller Chancen standen, sondern beendete hastig, was ihr Verbündeter begonnen hatte.
Der Gefangene regte sich mit schwachen Bewegungen und öffnete ein winziges Stück weit die Augen.
Die bodenlos schwarzen Pupillen, kaum mehr als raubtierhafte Schlitze, ertranken in glühendroten Iriden! Er schien sie kaum wahrzunehmen und als sein Kopf haltlos beiseite kippte, schlossen sich die Augen wieder, ohne sich zuvor auf irgendetwas fokussiert zu haben.
Wie sollte sie allein einen erwachsenen Mann tragen können, selbst wenn er derart unterernährt war?
Sie drängte die Zweifel beiseite, griff ihn unter den Armen und zog ihn zum Bettrand, näher zu sich.
Hinter ihr schepperte das Metallgestell und die Porzellanschüssel zerbarst auf dem Boden.
Sie ließ den Vampir erschrocken los und drehte sich um.
Frische Rinnsale feuchter, roter Flüssigkeit zeichneten die nahe Wand, eine dunkle Lache zitterte unter den Scherben. Die Spritzer in der Bettwäsche und in ihren Röcken verliefen ineinander.
"Bei Om!"
Christopher sah sie entsetzt an und selbst der Igor hielt mit erhobener Schlagwaffe inne, den Blick fassungslos auf sie gerichtet.
Oder besser gesagt: auf etwas hinter ihr.
Ein modriger Hauch wehte rote Haarsträhnen vor Ophelias Augen.
Und dann packte sie der Schmerz.
Irgendwie war sie sich dessen bewusst, dass der gefährlichste Anteil dieser Agonie durch die linke Seite ihres Körpers schlug, regelmäßig pulsierend, wie ein persönliches Uhrwerk, dass anzeigte, wie ihr die Zeit durch die Finger rann.
Ihre Gedanken jedoch wurden von einem einzigen, mörderischen Angriff fortgespült.
Hannes Tschentowitsch hatte in seinem Wahn unbeabsichtigt Parsivals Gedankenblockade niedergerissen. Seine unkontrollierten Emotionen prallten auf Ophelias schutzloses Wesen und überschwemmten ihren Geist mit seinem Rausch.
Hunger!
Die Sucht krampfte ihr Sein zusammen und höhlte sie aus. Sie kratzte an den Magenwänden, unter der Haut, hinter den Augen und am trockenen Gaumen. Sie ließ die Hirnschale jucken. Sie schaltete ihr Denken aus, höhnte unerträglich.
Das einzige Mittel dagegen war das brennende, heiße Feuer eines lebenden Körpers in den Armen. Der Trank, der die Kehle hinab rann wie Balsam, kühlender Honig auf den Wunden, Erlösung. Er musste trinken! Es gab keine Alternative. Und wenn er das tat, würde der Schmerz nachlassen.
Letztendlich auch der ihre.
Etwas an dem Gedanken ließ sie wieder zu sich finden und sie öffnete die Augen.
Der Vampir hielt sie umklammert, wie eine geliebte Puppe, die er niemals wieder hergeben würde. Sie konnte seine Arme rund um ihren Körper spüren, seinen Körper hinter dem ihren.
Sie waren gemeinsam zu Boden gesunken und lehnten an dem Bettgestell, wobei sie halb in seinen Armen hing, halb über seinen Schoß gestreckt lag. Sein eines Bein stütze angewinkelt ihren Rücken, das andere war mit ihrem und den Röcken verheddert. Sie konnte die Arme nicht vom Körper spreizen und ihr Kopf hing überdehnt an seine Brust gelehnt.
Sein keuchender Atem strich über ihre Haut und wirbelte ihr Haar auf, so dass die Spitzen sie in den Augenwinkeln kitzelten. Er roch nach Krankheit und Verfall.
Sie öffnete müde mehrmals hintereinander die Augen, bevor ihre Wahrnehmung sich weiter klärte.
Dabei bemerkte sie wieder die nähere Umgebung und die anderen Personen.
An der Tür standen die herrische Alte und Christopher, der verzweifelt mit dieser diskutierte und immer wieder zu ihr deutete.
Die Herzogin von Lomond, Katharina, beobachtete sie mit unübersehbarer Schadenfreude und ließ sie keine Sekunde aus den Augen. Der Tumult beim Hinunterpoltern der Treppen hatte sie zufällig auf den Plan gerufen, doch was sie sah, das genoss sie in sadistischer Freude als brutales Spektakel. Sie ignorierte den auf sie einredenden Jüngeren weitestgehend.
Daneben stand der alte Bedienstete, verwirrt und nutzlos, sich nicht darüber im Klaren, was nun im Interesse seines Herrn zu tun sei.
Der Vampir hielt sie so fest an sich gedrückt, dass sie kaum atmen konnte und sein ruckendes Saugen an ihrer Haut ekelte sie.
Er war so nah! Sie konnte ihn überall spüren! In ihren Kleidern, in den Haaren, auf der Haut!
Sie merkte, wie ihre wenige Kraft innerhalb dieser Vereinigung zu schwinden begann. Selbst die Augen geöffnet zu halten, fiel unsagbar schwer.
Von Weitem waren laute Rufe, Wummern gegen Holz und schweres Getrampel zu hören.
Das verwirrte Gesicht von Anna-Sophie tauchte auf, die sie allerdings tranceähnlich keines Blickes würdigte. Mit argloser Stimme fragte sie: "Du hast gerufen, Herrin, soll ich mich um den verräterischen Vampir kümmern?"
"Dummes Ding! Halt den Mund! Möchte mal wissen, wie Du auf so eine Frage kommst? Soll ich erst wieder deine Erinnerungen sortieren, damit Du weißt, was Dir zusteht und was nicht? Nicht zu fassen! Zu dämlich, um den Einen vom Anderen zu unterscheiden, das habe ich ja schon verstanden. Aber jetzt auch noch Befehle durcheinander bringen? Ich hab Dich zum Speisen gerufen, weil es mich dürstet. Bleibe hier und vergiss!"
Ophelia registrierte müde, wie die zierliche Menschenfrau ihren Arm entblößte und dann teilnahmslos ins Leere starrte, als sie das gleiche Schicksal miteinander teilten.
Derart zur Bewegungslosigkeit verdammt, rutschte ein Puzzlestück mit enervierender Langsamkeit an seinen Platz.
Die Herzogin hatte hinter dem Mord an Samuel gestanden! Sie hatte Anna-Sophie als Handlangerin missbraucht und diese wiederum musste, an einen ungenauen gedanklichen Befehl gebunden, einen Fehler begangen haben. Sie hatte 'den Einen vom Anderen' nicht unterscheiden können? Wen hatte die Herzogin in Wirklichkeit umbringen lassen wollen?
Ihre Gedanken waren jetzt so träge, dass sie schon im ersten von ihnen, der ihr intuitiv durch den Sinn ging, hängen blieb.
Sie krächzte undeutlich: "Herribert... ihn hätte es eigentlich treffen sollen, nicht wahr?"
Auf einmal war wenigstens dieser Mord klar, selbst wenn sie das Motiv für ihn nicht verstand.
Die Herzogin prostete ihr boshaft mit Anna-Sophies Armbeuge zu, antwortete sonst aber nicht.
Katharina musste ihrer Spenderin falsche Erinnerungen an den betreffenden Abend eingegeben haben. Und sie alle hatten es als normal hingenommen, dass Anna-Sophies Erinnerungen immer konfuser geworden waren!
Christopher bekam ihr kurzes Gespräch überhaupt nicht mit, so sehr war er in Panik aufgelöst. Er hatte auf den Vampir hinter ihr eingeredet, hatte versucht, dessen Griff um sie zu lösen und lief inzwischen verzweifelt im Kreis, während er sich die Haare raufte und immer wieder betonte, dass sein Freund nichts dafür könne, dass diese Attacke ein Unfall gewesen sei, ausgelöst durch die Umstände und Hannes ihr ganz sicher niemals etwas Böses gewollt hätte, wenn dieser noch bei Sinnen gewesen wäre.
Das Rucken an ihrem Hals war langsamer geworden, dafür wurde der Schwindel stärker.
Die Geräusche kamen näher und sie klangen entfernt nach Kampfeslärm. Es musste eine Sinnestäuschung sein, die ihr vorgaukelte, die Stimmen einiger Kollegen zu hören.
Plötzlich aber wurde die Herzogin unsanft beiseite geschubst und im Zugang stand Frän.
Die rothaarige Vampirin sah ihr direkt in die Augen und lächelte ihr kurz aufmunternd zu. Dann bewegte sie sich so schnell, dass sie förmlich verschwand.
Hannes Tschentowitsch musste die neue Gefahr instinktiv gespürt haben, denn er löste zumindest einen Arm von seiner Beute, um die Angreiferin aus der Luft zu schlagen.
An der Tür tauchte der nächste Beteiligte auf, dieses Mal der junge Bedienstete, der sofort mit einer Schüssel in der Hand den Raum durchquerte. Kaum nahe genug, schüttete der Igor dem Vampir eine nach Knoblauch stinkende, bröckelige Flüssigkeit über den Kopf. Die Hälfte davon landete auf Ophelia.
Hannes Tschentowitsch zuckte so stark von ihr zurück, dass er nicht einmal die Zeit dazu fand, seine Fangzähne aus ihrem Hals zu lösen. Haut zerriss und sie fiel wimmernd auf die Dielen, während er sich strampelnd aus ihren Kleidern löste.
Der Igor packte sie in Windeseile, nahm sie auf seine Arme und trug sie so schnell er konnte aus dem Raum.
Die R.U.M.-Kollegin gab ihnen Rückendeckung.
"Wenn Dir dein Leben lieb ist, Igor, dann sorgst Du dafür, dass sie das übersteht! Ich halte ihn solange auf, bis sein Gemüt sich etwas abgekühlt hat. Der Rausch ist noch nicht ausgestanden und er wird gewiss seine Kräfte mobilisieren, um sich auch noch den Nachtisch zu holen."
"Ich paff auf fie auf!"
Igor hatte den Durchgang schon passiert, als hinter ihnen Hannes ein unmenschliches Brüllen ausstieß und sich der Wächterin in der roten Uniform entgegen warf. Das Fundament des Hauses erbebte, als zum dritten Mal innerhalb kürzester Zeit ein Körper gegen eine Wand geschleudert wurde. Etwas fiel klappernd von selbiger und kaum hörbar zersplitterte Glas.
"Was bei allen sieben-plus-eins..."
Frän klang überrascht.

Igor rannte mit ihr auf den Armen fort von dem Geschehen, durch Parsivals Büro, auf den Flur mit den Fackeln, er öffnete eines der Zimmer, welches sie blinzelnd als Christophers erkannte, eilte auf den dort offen stehenden Sarg zu und legte sich mit ihr zusammen in diesen hinein.
Dicht gedrängt lagen sie beieinander, als er den Deckel über ihnen schloss und von innen mehrere Riegel vorlegte.
"Keine Angft, hier drinnen bift Du erft einmal ficher. Daf Holf ift ftabil genug, um feinen Angriff auffuhalten, bif die Wache kommt. Aber erft mal muff daf hier irgendwie geftoppt werden..."
Dünne Finger bohrten sich in ihre Halswunde und suchten nach den richtigen Druckpunkten.
Sie zuckte zusammen, gab aber keinen Laut von sich.
Die Finsternis war von ihrem unregelmäßigen Atem und von Knoblauchgestank erfüllt.
Der viehische Schrei setzte von Neuem ein und näherte sich schnell. Niemand hielt ihn auf. Kurz darauf krachte etwas hart gegen den Sarg, so dass Ophelia in diesem gegen Igor geschleudert wurde.
Hannes begann, auf den Deckel einzuschlagen und wild an dem engen Versteck zu rütteln, bis dass der Sarg über den Boden tanzte.

~~~ Zinseszinsen ~~~


Es hatte nur ein kurzer Spaziergang am Abend werden sollen, um in all dem Wahnsinn den Kopf frei zu bekommen.
Die Entführung war eine katastrophale Überreaktion gewesen, keinesfalls eine seiner besten Entscheidungen, dessen war Parsival sich bewusst. Dass der Junge nur unbrauchbare Antworten von sich gab, selbst nach dem unangenehmen Einsatz nicht ganz lauterer Druckmittel, machte es nicht besser.
Er war schon auf dem Rückweg gewesen, als die bruchstückhaften Eindrücke aus ihrem Blickwinkel sich in seinen Geist einzuschleichen begannen. Ophelias Aufregung trug dazu bei, dass sie zu einem hervorragenden Sendebewusstsein wurde und ihn, trotz der zwischen ihnen liegenden Entfernung, unfreiwillig an ihren Bemühungen teilhaben ließ, den Gefangenen zu befreien. Zusammen mit Christopher.
Er begann zu rennen.
Selbstverständlich waren sie zu sehr von ihrem Vorhaben überzeugt, um auf seine Warnungen zu hören.
Stattdessen erhaschte er einen Blick auf Hannes, als dieser kurz die Augen öffnete.
Die vom Durst verschleierten Iriden des Jungen trafen ihn wie ein Schuldspruch.
Er hatte die Waschschüsseln absichtlich mit im Raum stehen lassen, um ihn mürbe zu machen. Ein Vorgehen, für das er sich insgeheim schämte. Aber diese Kette von Ereignissen hatte er nicht einmal ansatzweise voraussehen können!
Tschentowitsch war längst über Messers Schneide, jenseits von Gut und Böse. Und die gutmütige Wächterin zog und zerrte an den Stricken, berührte ihn, summte regelrecht vor Lebensenergie und gab auch sonst das perfekte Opfer ab.
Dann brach der Sturm los und die Raserei zog über seine gedankliche Verbindung zu ihr hinweg und löschte diese aus.
Solch einen Hunger, wie Parsival ihn für den einen Augenblick litt, hatte er nur ein einziges Mal in seiner Existenz erlebt. Kurz nach seiner Wandlung, als er seine Erschafferin vernichtet hatte und den vermeintlich toten Körper seines Bruders im Stich ließ, damals, als ihm die alte Bauersfrau zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt, auf seiner Flucht, über den Weg lief. Auch für ihn gab es damals keinen klaren Gedanken mehr. Er hatte die alte Frau angegriffen und sie vollständig ihres Blutes beraubt. Und dann war er seinem Sühnebedürfnis erlegen.
Wenige Stunden später erhob Katharina sich als unbarmherzige Greisin, verpflichtete ihn, schuf sich das einflussreiche Selbstbild, welches sie im Laufe der Jahre mit seiner Duldung und seinen Einkünften vervollkommnet hatte und begann ihrer beider Umfeld zu terrorisieren. Sie wusste von seinen Selbstvorwürfen und zögerte nie, ihm alles abzuverlangen, was ihr in den Sinn kam. Er würde seine damalige Schwäche für immer bei ihr begleichen, ohne diese dadurch jemals abtragen zu können.
Schloss sich nun der Kreis? Kam er zu spät? Starb die Wächterin, um als Untote wiederzukehren? Ein Rachegeist, all dessen beraubt, was ihre mitfühlende Persönlichkeit bisher so ausgezeichnet hatte?
Er erreichte die Haustür und öffnete sie in aller Eile. Es war ein alarmierendes Anzeichen, dass Igor ihm nicht darin zuvor kam.
Er hastete ins Haus. Ein Fuß landete zwischen Tür und Rahmen und schlug ihm den Griff aus der Hand.
Leuchtend grüne Augen und die Uniform der Abteilung für Raub und Mord schlüpften im Bruchteil einer Sekunde schweigend an ihm vorbei. Noch während er seine Hand nach der Vampirin ausstreckte, trafen die Kollegen der Wächterin hinter ihm ein und verlangten Einlass.
Der Werwolf, mit dem er damals um Ophelia gehandelt hatte, deutete beinahe anklagend auf ihn und sagte zu der Autoritätsperson neben sich: "Das ist er, Sör!"
Sie hielten ihn auf, wo es nicht sein durfte. Ophelia war im unteren Geschoss in Gefahr und er wollte ihr beistehen. Gleichzeitig brachte er es nicht über sich, einfach nur die Tür aufzustoßen und dem Schicksal freien Lauf zu lassen. Wenn die Wache gerade jetzt ins Haus käme, dann konnte nichts und niemand mehr den Skandal verhindern!
Der Kerl mit der Augenklappe trat einen drohenden Schritt näher.
"Geh aus dem Weg, Ascher! Wir repräsentieren die Stadtwache und fordern Einlass! Du stehst in dringendem Verdacht, gegen das Gesetz verstoßen zu haben und..."
Der schwere Duft von frischer Lebensessenz zog durch das Haus, hinauf bis zu ihnen an die Tür.
Ihm begannen die Knie zu zittern. Er war zu spät!
Der Wächter wurde harsch von einer schwarzhaarigen Vampirin in grauer Uniform unterbrochen.
"Sör! Wir haben keine Zeit mehr, es stinkt nach Angst und es wurde Blut vergossen!"
Hinter sich hörte Parsival den rauen Schrei des Jungen und das Krachen von Holz gegen Stein.
Der anführende Wächter schickte sich dazu an, den Eingang zu stürmen, wurde aber in den Rücken gerempelt und konnte sich gerade noch so fangen. Beim Aufblicken hatte er einen leeren Türrahmen vor sich.

Parsival lag drei Meter weiter, innerhalb des Hauses, auf dem Kachelboden des Vorraums. Er schätzte die unerwartete Situation neu ein. Und warf sich schnell beiseite.
Der Schlag mit dem Breitschwert ging ins Leere und die Fliesen splitterten dort, wo er eben noch gelegen hatte.
"Du Ratte! Bleib stehen, wenn ich mit Dir reden will! Wo ist er? Wo hältst Du meinen Sohn gefangen?"
Die schwere Klinge folgte seinem Sprung nach hinten in weitem Bogen und die Wächter strömten mit großzügigem Sicherheitsabstand an ihnen vorbei.
Der dürre Mann keifte seine Befehle in alle Richtungen.
"Val', Bergig, sichert den Ausgang und behaltet die Fenster im Blick! Jeder im Haus, der Euch vor die Nase rennt, wird in Sicherheitsverwahrung genommen! Breda, Rea und von Nachtschatten, mit mir!"
Parsival griff nach einem Schirm und wehrte den nächsten Hieb damit ab. Seine Konzentration galt nun zwangsläufig dem eigenen Überleben, denn mit seinem erbosten Bruder war noch nie zu spaßen gewesen.
"Beruhige Dich, Hendrik![29]"
"Das hättest Du wohl gern, was? Ich weiß, dass er hier ist! Ich schwöre Dir, wenn Du ihm auch nur ein Haar gekrümmt hast, dann kann Dir auch dein Patrizier nicht mehr helfen. Im Gegensatz zu Dir, habe ich meine Vergangenheit als Jäger niemals verleumdet!"
Der groß gewachsene Mann lächelte diabolisch und schob mit dem Schwertknauf seinen Mantel auf. Ein Patronengürtel, bestückt mit Silbergeschossen, -Klingen und -Wurfsternen, durchsichtigen Glasphiolen, einem Hammer und mehreren Holzpflöcken kam zum Vorschein.
Hinter sich hörte er die höhnische Antwort des kommandierenden Wächters auf eine Frage, die ihm entgangen war.
"Lasst sie einfach! Solange sie das Haus nicht verlassen, können wir leider gerade so gar keine Zeit dafür erübrigen, ihn zu beschützen."
Eine kräftige Fledermaus zischte im Sturzflug durch das Foyer, dem sich schließenden Türspalt entgegen und nach draußen.
Herribert!
Die beiden Wächter an der Tür fluchten und einer von ihnen schmiss kurzentschlossen den Umhang von sich, transformierte mit einem 'Plopp!' und nahm in gleicher Gestalt die Verfolgung auf, während sein muskulöser Kollege die Tür endgültig ins Schloss fallen ließ, um sie grimmig zu verteidigen.
Von der Treppenbrüstung eine Etage über ihnen hörte er die verwirrten Stimmen der Frauen.
"Bei den Göttern des Pandämoniums, was geht hier vor sich?"
Parsival Ascher fühlte sich plötzlich unsagbar alt. Und einsam.
Hoffnungslosigkeit nistete sich in seinem Brustkorb ein, die durch den Blick in das Gesicht, welches sein eigenes hätte sein können, verstärkt wurde.
Hendrik näherte sich ihm zielstrebig.
"Ich schulde Dir noch was, Bruderherz! Und nicht zu vergessen: In den letzten Jahrzehnten haben sich reichlich Zinsen angesammelt."

~~~ Blutrausch ~~~


Breda rannte dem Kommandeur hinterher und in ihrem Gefolge wusste sie dichtauf Mina von Nachtschatten und von Grauhaar. Für sie war es ein Kinderspiel, der frischen Duftspur zu folgen, selbst wenn es noch andere gab. Woher der Einäugige jedoch den Weg wusste, war ihr ein Rätsel.
Der Geruch von verbrannter Asche drehte ihr kurzzeitig den Magen um. Mit eisigem Schaudern stellte sie fest, dass sie keinerlei Gedanken mehr von Frän empfing, die es immerhin nur wenige Minuten vor ihnen hier hinunter geschafft haben musste. Das blitzartige Aufglühen im Geiste hatte also vermutlich eine Entsprechung auf der stofflichen Ebene.
Unangenehme Erinnerungen stiegen in ihr auf.
Um Frän würden sie sich später immer noch kümmern können. Jetzt galt es, Ophelia aus diesem Natternnest raus zu schlagen.
Sie landeten in einem unterirdischen Gang mit Fackelbeleuchtung. Mehrere der Türen, die von ihm abgingen, standen offen. Einige jedoch blieben demonstrativ geschlossen, obwohl sie hinter diesen die Anwesenheit von anderen Personen spüren konnte.
Feiglinge!
Sie näherten sich dem hinteren Bereich und eine dichte Wolke Knoblauchgestanks waberte um sie herum und schlug über ihnen zusammen.
Mina hatte gerade aufgeholt, torkelte aber kurzzeitig, als wenn sie gegen eine Wand gelaufen wäre.
Breda konzentrierte sich auf die verlockende Note, die unter dem Gestank mitschwang. Es handelte sich dabei eindeutig um Ophelias Blut.
In der Nacht, als die Freundin nach der Karakost-Sache in die Wache eingeliefert worden war, waren deren Kleider vor allem mit dem Blut anderer getränkt gewesen. Das viele Wasser und ihr Erbrochenes taten sein Übriges. Aber schon damals waren Breda die kleinen Wunden an Ophelias Händen, deren aufgeschürfte Fingerspitzen, sehr bewusst gewesen.
Breguyar wandte sich nach rechts, dorthin wo der permanente Lärm her kam, und blieb stehen.
Sie schloss dicht auf und erfasste den Raum mit einem Blick.
Eine kleine Sitzecke, ein Schreibtisch, ein Sarg und ein Vampir, der sich an letzterem mit roher Gewalt zu schaffen machte. Der Vampir war von junger Gestalt, das schulterlange Haar klebte ihm nass am Kopf, er wirkte ausgezehrt. Seine geschlitzten Pupillen waren die einer großen Raubkatze, die Augen glommen in dem tiefen rot eines Blutrausches. Bis zur Hälfte des Schnürhemdes tropfte helles Püree von ihm herab und kennzeichnete ihn als Quelle des Knoblauchgestanks. Er war völlig auf den Sarg fixiert und verschwendete nicht den geringsten Gedanken an die Personen um ihn herum. Seine Fingernägel waren überlang herausgefahren, viele von ihnen schon gesplittert.
Breda blendete den olfaktorischen Faktor weitestgehend aus.
Der malträtierte Sarg war das Zentrum der Szene.
Sie hörte darin zaghafte Bewegungen und den verhaltenen Atem zweier Personen. Einer der beiden Herzschläge war merklich schwächer, als der andere.
"Sör, sie ist dort drin!"
Der Vampir stürzte sich erneut auf den länglichen Kasten, packte ihn mit beiden Armen und versuchte, ihn anzuheben und gegen die Wand zu schleudern. Dem Aussehen von Wand und Behältnis nach, war es nicht sein erster Versuch. Er brüllte dazu aus Leibeskräften und selbst wenn er ihn nicht angehoben bekam, der Sarg schlidderte und rutschte mit ungeminderter Wucht gegen das Hindernis und knackte daraufhin bedenklich. Innerhalb des Beisetzungsmöbels kollerten zwei Körper gegeneinander. Breda konnte ein knappes Ächzen und ein leises Wimmern hören.
Schluss damit!
Sie flog dem ungelenken Vampir regelrecht entgegen, wich seinem halbherzigen Schlag geschickt aus und platzierte den ersten Tritt an die Brust des Irren, bevor der Kommandeur überhaupt hatte Luft holen können, um Befehle zuzuweisen.
Breguyar murmelte halblaut "Oder so!" und setzte ihr nach.
Breda wirbelte um die eigene Achse, trat mit dem anderen Fuß nach, zog dabei den Rist zum Kinn des Fremden durch, dass dessen Unterkiefer nur so gegen seinen Oberkiefer knallte und verpasste ihm gleich darauf noch eine Salve gut gezielter Faustschläge gegen die Stirn.
Der Kommandeur versenkte sein Knie in den Bauch des Angreifers und setzte ihm, als dieser zusammenklappte, Handkantenschläge in den Nierenbereich.
Mina von Nachtschatten lief zu der Sitzecke, zog dort von einem der Kissen die Hülle ab und diese dem Vampir über den Kopf.
Der R.U.M.-Abteilungsleiter schließlich zwang dem Vampir die dürren Arme auf den Rücken und legte ihm Spezialhandschellen an.
Breda wandte sich zu der S.E.A.L.S.-Kollegin um und beobachtete angespannt, wie diese auf den Sarg einredete.
"Du kannst öffnen. Er ist unschädlich gemacht. Er kann Dir nichts mehr tun, wir sind da und passen auf. Hast Du gehört?"
In der plötzlichen Stille war das mehrmalige Klacken von Spannriegeln und Schiebern zu hören, dann schob der massive Deckel sich ein winziges Stück beiseite.
Der Duft nach Blut wurde unsagbar köstlich. Als wenn von einer köchelnden Delikatesse der Topfdeckel gelüpft worden wäre.
Der am Boden Knieende sog knurrend die Luft ein.
Die Deckelbewegung stoppte.
Breguyar versetzte dem Störenfried auf Ellenbeugenhöhe einen kräftigen Schlag gegen den Kopf, der Vampir kippte endgültig um und es herrschte Ruhe.
"Wirklich, vertraue uns! Er ist unter Kontrolle."
Der Deckel fiel polternd zu Boden und ein Igor entstieg umständlich dem Versteck. Die blutverschmierten Hände hielt er weiterhin in den Sarg, um die Wunde am Hals der Verdeckten Ermittlerin abzudrücken.
Ophelia trug statt ihrer Uniform ein schlichtes Baumwollkleid, dessen Kragen auseinandergebeult und nach hinten gezerrt worden war. Den Hals bis unter den Kragen hinab zierte eine große Wunde, halb verdeckt von den Händen des Igors. Auch sie war mit Knoblauchbrühe übergossen worden. Wenigstens ruhten ihre Hände nicht überkreuzt auf dem Oberkörper. Trotzdem sah sie aus, als wenn sie das irdische Dasein bereits hinter sich hätte, die Augen geschlossen, die Atmung kaum zu erahnen, absolut reglos. Hatte der Fremde sie etwa verwandelt, bevor sie mit Hilfe des Igors in dieses letzte Bollwerk hatte flüchten können?
Rea Dubiata winkte ihr und Mina zu, während die Männer neben dem Vampir Posten bezogen.
"Helft mir mal bitte, sie aus dem Sarg zu heben. Das ist so makaber. Und richtig behandeln kann man über die hohe Kante auch nicht."
Breda hätte die Freundin ohne Anstrengungen allein heraus heben können, doch es war Mina von Nachtschatten deutlich anzusehen, wie willkommen dieser die Möglichkeit war, zu helfen. Und es war ja auch einfacher, wenn einer den Körper auf die Arme nahm, während der andere Kopf und Füße stützte.
Ophelia war so leicht!
Der Igor blieb die ganze Zeit über an ihrer Seite und korrigierte den Druck seiner Hände.
Sie legten die Bewusstlose auf die blanken Dielen und Breda zögerte nicht, das hoch geschlossene Tageskleid links und rechts am Kragen zu packen und mit einem Ruck soweit aufzureißen, dass Rea Dubiata es bis zu den Armen hinunter schieben und die Halswunde freilegen konnte.
Die Hexe kniff nervös die Lippen zusammen, bevor sie sie unsicher fragte: "Kannst Du das Korsett vielleicht auch so schnell lockern?"
Breda beugte sich hinab. Ein Korsett war von der Konstruktion her schon darauf ausgelegt, eine Menge Zug auszuhalten. Dazu kamen unzählige Stücke geschlauften Metalls. Und die Schnürung einzeln zu lösen hätte zu viel Zeit gekostet. Sie blickte zur R.U.M.-Kollegin auf die andere Seite des unbewegten Körpers.
"Ich drücke es zusammen, Du entriegelst die Schließe!"
Sie legte ihre Hände beidseitig an die Rippenbögen und schob sie vorsichtig zur Körpermitte hin zusammen.
Von Nachtschatten fasste die Planchette jeweils ober- und unterhalb und hebelte mit einer geschickten Drehung die Haken von den Pilzköpfchen.
Zumindest war jetzt wieder eine gewisse Atmung bei Ophelia zu erkennen.
Rea Dubiata säuberte mit schnellen Bewegungen die Wunde, wobei sie dem Igor leise Anweisungen gab.
"In Ordnung, so halten. Ich brauche einen kleinen Moment für die Bestandsaufnahme. Wenn ich es sage, dann mit dem Tuch hier noch mal andrücken!"
Die blonde Frau zog die Wundränder beiseite und begutachtete den Schaden.
"Verdammt!"
Die beiden Männer schien es nicht mehr lange bei dem Gefangenen zu halten. Sie fragten zeitgleich.
"Was?"
Rea gab dem Igor das Zeichen, dass er die Wunde wieder abdrücken könne und begann in ihrer Tasche zu wühlen, um die nötigen Materialien zusammen zu suchen.
"Allein die Blutung zu stoppen wird schon kompliziert genug werden. Aber er hat sie ohne Rücksicht auf Verluste gerissen und dabei auch Nervenbahnen erwischt. Nur wenige. Aber das macht es nicht besser. Falls das schief geht... also dann kann es passieren, dass sie danach gelähmt ist."
Betroffenes Schweigen herrschte plötzlich.
Ein dumpfes Geräusch erklang, als der Kommandeur dem Vampir am Boden einen Tritt verpasste.
Die anwesenden Wächter ignorierten dieses Vorkommnis ebenso geflissentlich, wie beifällig.
Breguyars Stimme klang rau, als er neue Anweisungen gab.
"Breda, Du kommst mit ihm klar, sollte er mucken, richtig?"
Selbstverständlich kam sie das.
"Ihr Anderen kommt mit mir und durchkämmt das Haus. Ihr habt meine volle Befugnis dazu, jedes Zimmer auf den Kopf zu stellen und nach Beweisen wofür auch immer Ausschau zu halten. Im ersten Stock muss es einen größeren Aufenthaltsraum geben oder wir nehmen das Esszimmer. Da kommen alle Hausbewohner rein, um sie im Blick zu haben. Und dann fangen wir in einem der Nebenräume mit den Befragungen an, solange Rea hier operiert." Er sah Breda mit besonderer Bedeutung im Blick an. "Falls Du Hilfe brauchst, sag Bescheid!"
Der Raum leerte sich merklich und sie selber setzte sich kurzerhand auf den Vampir drauf. So würde ihr keine noch so kleine Regung entgehen.
Sie beobachtete Rea Dubiata dabei, wie diese die letzten Vorbereitungen traf, die wenigen Hilfsmittel unnötig hin und her schob und sich endlich die Gummihandschuhe der Firma Keine Sorge überstreifte.
Es war ein offenes Geheimnis, dass es niemand in der Wache mit den Fertigkeiten Rogi Feinstichs aufnehmen konnte, wenn es um die Behandlung schwerer Verletzungen oder um komplikationsfreie chirurgische Eingriffe ging.
Die S.E.A.L.S.-Kollegin hatte zwar einige Übung im Herstellen von Salben und auch tote Körper hatte sie zur Genüge untersucht aber hier würden ihr weder Knochensäge, noch Tinkturtöpfchen weiterhelfen.
Breda witterte Reas ansteigende Nervosität, die beinahe in Furcht umzuschlagen drohte.
Das war nicht gut.
Rea griff nach einem kleinen Fläschchen, tränkte das Tuch mit rostfarbenem Jod und tupfte die Wunde rundum ab - zum zweiten Mal.
"Nun gut, es nützt ja alles nichts. Fangen wir an!"
Mehr im Selbstgespräch, als im Dialog mit dem aufmerksamen Igor, erklärte sie:
"Das ist fürs Grobe." Sie nahm bei diesen Worten die dickere der beiden Nadeln auf und zog einen braunen Faden durch das Öhr. "Und das ist das Garn für innen. Ich fange mit den durchtrennten Blutgefäßen an."
Die Zeit verstrich quälend langsam.
Objektiv betrachtet arbeitete die Hexe schnell und vor allem wesentlich effizienter, als Breda es ihr nach den ersten, von Selbstzweifeln gezeichneten Minuten zugetraut hatte. Zehn Minuten später glänzten die Handschuhe zwar von hellroter Feuchtigkeit, doch es trat kein neues Blut mehr aus dem geöffneten Hals aus. Stattdessen war nicht zu übersehen gewesen, dass die operierende Kollegin zum Ende hin, bevor sie den Faden letztlich kappte, bedeutend langsamer geworden war, ohne dass ein Grund dafür ersichtlich gewesen wäre.
Rea saß mit gesenktem Kopf vor ihrer Patientin, die Hände seitlich auf den Boden gestützt.
Es war der bisher schweigende Igor, der sie ansprach.
"Wo liegt daf Problem?"
Rea blickte auf, sah bei ihrer verzweifelten Antwort aber nicht den Igor an, sondern Breda.
"Ich kann noch ein oder zwei kleine Stellen vom Muskelgewebe verbinden und die Wunde schließen. Aber mir fehlt das nötige Material dafür, vorher die Nerven zu koppeln. Ich habe schlichtweg keine Nadel, die fein genug dafür wäre und auch nicht das dringend benötigte Garn dafür. So etwas gehört nicht in meine normale Notfallausrüstung."
Breda runzelte die Stirn.
"Kann man da nichts machen?"
Rea warf den Kopf in den Nacken und schnaufte frustriert.
"Wenn Rogi hier wäre... die hätte bestimmt alles Nötige dabei! Aber so... Ich kann die Wunde nur schließen. Wenn ich sie offen lasse, erhöht sich die Infektionsgefahr. Andererseits... sobald ich die Chance fahren lasse und eben nicht mit dem Verbinden der Nerven beginne..."
Breda starrte Ophelia an, als wenn sie diese allein mit Blicken zum Aufstehen zwingen wollte.
"Rogi wurde aber per Klacker von der Kröselstraße angefordert, richtig?"
Rea nickte erschöpft.
"Wo kann sie nur so lange bleiben?"
"Vermutlich ist sie auf dem Weg und..."
"Ich bin hier!"
Breda zuckte überrascht zusammen, denn sie hatte das Auftauchen der Sanitäterin mit keinem ihrer Sinne registriert.
Rogi Feinstich hielt sich nicht mit unnötigen Erklärungen auf, stattdessen eilte sie mit einer prall gefüllten Umhängetasche um sie herum und rutschte sofort auf den Knien dicht an Rea heran, um einen sehr kritischen Blick auf deren Arbeit zu werfen.
Breda beobachtete, wie der Igor mit dem eingenarbten Grinsen nervös zu schlucken begann und sich in Anwesenheit der Artgenossin besonders aufmerksam gab.
Sieh einer an!
Rea hatte sichtlich erleichtert den Platz an Ophelias Seite geräumt. Dazu brauchte es keine ranggebundenen Anweisungen, lediglich das absolut selbstsichere Auftreten der Igorina. Dies war der Schauplatz einer Notfalloperation und somit Rogis absolutes Hoheitsgebiet! Rogi wusste das - jeder wusste das.
Die wortlos abgelöste S.E.A.L.S bemühte sich zumindest noch um eine korrekte Übergabe, indem sie kurze Erklärungen zu ihrem bisherigen Vorgehen abgab.
Rogi nahm die Hinweise schweigend zur Kenntnis und begann in Windeseile damit, ihre Utensilien bereit zu legen. Sie breitete ein weißes Tuch auf dem Boden neben sich aus und entrollte darauf schwungvoll eine Ledermappe. Das makellos polierte Skalpell blinkte auf, ebenso wie drei Klemmen, zwei Spreizer und eine umfangreiche Sammlung dicht an dicht aufgereihter Nähnadeln der unterschiedlichsten Stärken. Sie zog eine schwere Glasflasche mit durchsichtiger Flüssigkeit aus der Tragetasche und stellte sie neben das Besteck. Es folgte ein flacher Beutel, aus dem sie schnell hintereinander mehrere Wachspapierumschläge herauszog und sie deren Nummerierung entsprechend untereinander aufreihte.
Sie drückte Rea eine Schachtel mit Zündhölzern in die Hand und eine haarfeine Nadel, die kaum zu sehen war.
"Erhitze fie!" Die Igorina nahm ein kleines Stoffstück zur Hand und tränkte es großzügig mit der durchsichtigen Flüssigkeit. Scharfer Alkoholgeruch breitete sich im Raum aus. "Damit abreiben!"
Sie selber wandte sich den bisher unberührten Gerätschaften zu und desinfizierte diese in gleicher Weise, bevor sie schon die erste Klammer an dem länglichen Wundrand ansetzte.
Rogi zögerte kurz und schien den Igor erst jetzt bewusst zu registrieren.
Er klammerte sich an der getränkten Kompresse fest, die er seit Reas Anweisungen festgehalten hatte. Mit dem Schließen der Arterien und Venen hatte er das mehrfach gelegte Stoffstück nur noch zum Tupfen genutzt.
Er grinste die Wächterin ungewollt an und beeilte sich, ihrem intensiven Blick Rede und Antwort zu stehen.
"Ich bin nicht in den klaffifen Künften unterwiefen, helfe aber auf jeden Fall, wenn Du daf möchteft."
Rogi schien eine Sekunde nachzudenken.
"Du bift derjenige, der die Wache gerufen hat?"
Igor presste schuldbewusst seine Lippen aufeinander.
Rogi ließ ihn nicht aus den Augen, deutete aber gleichzeitig Rea an, dass diese sich ihr gegenüber hinknien und assistieren sollte.
Igor nickte zögerlich. Er nahm all seinen Mut zusammen, um ihrem Urteil standzuhalten, straffte seine Schultern und antwortete würdevoll: "Daf war meine Pflicht."
Rea nahm ihren neuen Platz ein und wartete auf Anweisungen.
Breda konnte dem Drang zu kommentieren nicht widerstehen.
"Richtig so! Wir sind jedenfalls keinen Augenblick zu früh hier angekommen."
Rogi Feinstich warf ihr unter zusammengezogenen Brauen einen undeutbaren Blick zu. Sie entschied, das Gespräch dabei zu belassen und befestigte auch die übrigen Klammern, um die Wunde gleichmäßig geöffnet zu halten.
Rea hielt die inzwischen sterilisierte Nadel parat.
Rogi führte mittig des aufgerissenen Fleisches den Spreizer ein und überließ Rea dessen Handhabung.
"Fo halten! Daf erfpart Finger, die doch nur im Wege wären."
Sie öffnete das unterste der Wachspapierpäckchen. Es war leer. Jedenfalls hätte Breda darauf geschworen, wenn sie nicht kurz darauf das Gespinst feinster Fäden erkannt hätte, die penibel genau in Schlaufen gelegt worden waren.
Die Sanitäterin nahm einen davon in höchster Konzentration auf und fädelte ihn in die ebenso kaum erkennbare Nadel ein. Das Material war so fein, dass es allein durch Rogis Atem waagerecht in der Luft flog.
Die Igorina fing noch einmal Igors Blick auf.
"Du kannft helfen. Hole eine helle Lampe, die nicht flackert, und halte fie dicht hier hin, damit ich waf fehen kann."
Kaum hatte sie das gesagt, beugte sie sich tief über Ophelia und suchte in der vorsichtig gespreizten Wunde nach eben jenen blass-weißen Fasern, die die gedanklichen Befehle der jungen Frau in ihre Arme und Beine weiterleiten sollten.
Rea war sehr neugierig.
"Was für Nahtgarn ist das? So dünnes habe ich noch nie gesehen."
Rogi antwortete geistesabwesend.
"Eine fpezielle Füchtung auf dem achatenen Reich. Die Raupen produfieren dadurch Feide mit Verfallfrate. Daf Garn löft sich innerhalb einer Woche im Körper auf. Nicht ganf billigef Feug."'
Rea nickte beeindruckt.
Igor tauchte wieder auf und nahm am Kopf der Bewusstlosen Platz, um die Laterne möglichst nahe an die Wunde halten zu können, ohne mit dem Wachs zu tropfen.
Breda wäre vor lauter Ungeduld am liebsten durch den Raum getigert. Stattdessen begann ihr Untergrund mit kleinen Bewegungen zu sich zu kommen.
Sollte er nur! Wenn der Kerl sich nicht benahm, bekam er noch eine Kostprobe ihrer Stimmung, so viel stand fest.

~~~ Nachlese ~~~



20. Gruni im Jahr des Randallierdenden Zwerghamsters


! ! ! ! ! Ehrbarer Vampirclan unserer Stadt durch wahnsinnigen Pantomimen bedroht ! ! ! ! !



Wie unlängst aus gut unterrichteten Kreisen bekannt wurde, konnte die Stadtwache die mysteriöse Mordserie an dem angesehenen Clan der Aschers aufklären.

Wir hatten unsere Leserschaft mit den Artikeln "Brennender Hass - Verrohung der Sitten durch wachsenden Tourismus?", "Kopflos im Park" und "Der Fluch der Aschers - Wer hat ihm dieses Süppchen eingebrockt?" über die vorangegangenen Ereignisse unterrichtet und auf dem Laufenden gehalten.

Es steht nunmehr fest, dass der Täter aus dem engen Familienkreis stammte. Der Vampir H. Ascher geriet schnell in den Fokus der heimlichen Ermittlungen und verriet sich durch einen Ausbruch roher Gewalt, als die Wache ihn in seinem ureigenen Versteck in die Enge trieb. Der Kommandeur der Stadtwache, A. Breguyar, wollte zu den Vorkommnissen nicht Stellung nehmen. "Keinen Kommentar!" Von etwas zugänglicherer Seite her erfuhr unser Reporter jedoch mehr. So bleibt festzuhalten, dass die Ermittlungen durch den Einsatz verdeckter Spezialkräfte zum Erfolg führten. Der Verdächtige konnte nur unter Aufbietung aller Kräfte festgenommen werden. Dabei kam es auch bei den Wächtern im Einsatz zu schweren Verlusten. Der wahnsinnige Pantomime ergab sich nicht kampflos, sondern wehrte den Zugriff der Wächter erst blutig ab.

Die Wiederherstellung der Ordnung in unserer schönen Stadt gelang erst, nachdem ein weiterer Toter zu beklagen war und zwei namentlich unbekannte Personen schwere Verletzungen erlitten. Eine der beiden Personen war sogar ein beherzter Zivilist, der sich zum Zeitpunkt des Einsatzes als Gast im Haushalt aufhielt, was unter Beweis stellt, mit wie viel Courage unsere Bürger dem Bösen entgegen treten! Unsere Redaktion möchte an dieser Stelle einen Gruß an den jungen Mann richten, der laut unserer Quellen derzeit außerhalb der Stadt zur Genesung auf einem friedlichen Anwesen untergebracht ist, und ihm für seinen Mut danken!

Es stellt sich natürlich die Frage, ob die Wächter heutzutage noch mit dem modernen Verbrechen Schritt halten können oder ob die veralteten Ausbildungsmethoden zu einem solchen Unglück führen mussten. Letztendlich werden die verletzten Wächter auch aus den Mitteln unserer rechtschaffenen Bürger wieder aufgepeppelt und da sei die Fragen schon mal gestattet: Kann die Stadtwache uns wirklich wirkungsvoll vor Angriffen solcher Wahnsinnigen schützen? Oder ist es an der Zeit, das Einwanderungsprogramm "Mehr Helden braucht Ankh-Morpork!" wieder aus der Schublade hervor zu ziehen?

Lord Vetinari jedenfalls antwortete auf die Fragen unseres Korrespondenten mit den Worten: "Die Morde an den Clanmitgliedern der Aschers haben wieder einmal deutlich gezeigt, dass von den Pantomimen eine nicht zu unterschätzende Bedrohung ausgeht. Jeder einzelne von ihnen bedeutet ein unkalkulierbares Risiko für die Gesellschaft und es stellt zweifellos einen Verdienst dar, dem Risiko ebenso entschlossen entgegen zu treten, wie es in diesem Falle getan wurde."

Tatsächlich verwundert es mit dem neuen Wissen, dass der wahnsinnige Dreifachmörder nicht bereits Wochen zuvor gestellt werden konnte. Hätte ein aufmerksamerer Beobachter mehr gesehen, als der von Zuneigung zu seinen Schützlingen verblendete Clanvater? H. Ascher wohnte jedenfalls nachweislich in einem sehr geschützten Umfeld. Sein Vater, P. Ascher, ein ebenso geschätzter wie begüterter Gentleman mit ausgezeichneten Manieren, kommentierte die schlimmen Ereignisse in seinem Hause sichtlich erschüttert: "Wir waren immer eine Familie, die sich gegenseitig geliebt und unterstützt hat. So etwas hätte keiner von uns für möglich gehalten! Ja, er war manchmal etwas ruhiger und er war oft außer Haus aber man möchte ja auch nicht aufdringlich sein, sondern den Kindern gewisse Freiräume lassen." Können wir dem von Schicksalschlägen getroffenen Vater Vorwürfe machen? Oder stellt eine so rücksichtsvolle Einstellung nicht eher das Ideal dar? Es ist zweifellos Ironie, dass den Aschers ihr freundlicher Zusammenhalt dabei im Wege stand, das Übel in den eigenen Reihen zu erkennen. Immerhin wurde der Clan dadurch drei seiner Kinder beraubt.

Von dem schändlichen Nebenerwerb des Mörders wusste dessen Familie nichts. Die Stimmung nach der Verhaftung und Hinrichtung des H. Ascher war dementsprechend gedrückt im Kreise der Familie. Eine Vampirin des Clans bestätigte uns im Laufe unserer Rescherschen, dass man dem Pantomimen, wenn man etwas geahnt hätte, selbst in seiner pyschischen Not noch eine hilfreiche Hand geboten hätte, um den Morden zuvorzukommen. "Hätte er etwas gesagt, irgendetwas! Vielleicht hätten wir dann etwas für ihn tun und die grauenhaften Taten verhindern können?"

Es bleibt zu hoffen, dass es dem Clan von nun an vergönnt sein wird, Ruhe zu finden.


S. Schnulzi


~~~ Zwei Wochen später ~~~


Der Abteilungsleiter von 'Raub und Mord' schloss den Aktendeckel und stützte seinen Kopf müde auf den Händen auf.
Trotz allen Einsatzes und der immensen Verluste, konnten sie die Ereignisse um die drei Morde im Ascher-Haushalt nicht vollständig aufklären!

Frän war tot, endgültig. Sie hatten ihre grün glitzernden Überreste an der Wand neben dem Bett des Clanoberhauptes gefunden, in diesem abgeschotteten Extra-Raum. Ihre Asche schwamm reaktionslos inmitten einer angetrockneten Blutlache. Einer der Vitrinen-Rahmen war während Fräns Kampf von der Wand gefallen. Die Ärmste hatte keine Chance gehabt. Wer hätte schon damit gerechnet, dass im Schlafzimmer eines Vampirs ausgerechnet historische Kuriositäten zur Vernichtung seiner Art zu Dekorationszwecken aufbewahrt wurden? Die unscheinbare Glaskugel war entzwei gebrochen, hatte sich über die Püschologin ergossen und diese innerhalb von Sekunden pulverisiert. Breda Krulock hatte ihm erklärt, dass das wenige Verbliebene nicht wiedererweckt werden konnte. Die Asche der Kollegin war gewissermaßen seelenlos. Alte gennuanische Waffen löschten auch den inneren Funken aus. Die Beisetzung der Toten fand in kleinem Kreise statt, wie es so oft bei gefallenen Wächtern geschah. Der einzig tröstende Gedanke war der, dass die Püschologin es geschätzt hätte, dass Menschen ihres selbstlosen Einsatzes mit Gefühlen gedachten. Sie hatte sich dem blutberauschten Vampir ohne Zweifel oder Zögern entgegen gestellt und so die wenigen Minuten für die Rettung der Kollegin teuer erkauft. Sie würde als Heldin in Erinnerung bleiben, eine jener Legenden, die Wächter sich in den langen, eisigen Winterwachen am Feuerkorb erzählten.
Es war eine Überraschung gewesen, dass Frän tatsächlich ein Testament hinterließ. Anscheinend hatten ihre unbeabsichtigten Ausflüge in die Gedanken der sie umgebenden Menschen noch häufiger stattgefunden, als sie alle es bereits vermutet hatten, denn sie gab vielen ihrer Kollegen persönliche letzte Worte mit auf den Weg. Sie blieb ihrer Profession treu bis zuletzt. Der Vertreter der Anwaltsgilde hatte sich an ihn gewandt, da Frän ausdrücklich auch "von Grauhaar, meinen Abteilungsleiter", als Vertrauensperson benannte. Ophelia war zu diesem Zeitpunkt noch nicht wieder ansprechbar gewesen, so dass es ebenfalls an ihm lag, ihr später das Erbe der zwei gläsernen Dolche in die Hände zu legen und Fräns Botschaft zu überbringen.

"...Ophelia vermache ich meine beiden Lieblingsdolche mit dem Farbverlauf. Ich weiß, dass Du mich um Kampfstunden bitten möchtest, Dich aber noch nicht traust. Wenn Du diese Worte liest, wird es dafür leider zu spät sein aber meine beiden Schätze werden es Dir erleichtern, trotzdem mit dem Training zu beginnen. Sie sind perfekt ausbalanciert, liegen gut in der Hand und sind sehr scharf. Am besten übst Du zu Beginn noch mit den Lederhüllen an ihnen.
Du fühlst Dich oft schwach und wehrlos und hast Angst, uns zur Last zu fallen. Löse Dich von dieser Angst! Sie ist deine größte Schwäche. Jeder braucht die Hilfe von Anderen, auch den Starken geht es da nicht anders. Und glaube mir, der F.R.O.G. hat zwar damals seinen Dschob gemacht und das war für ihn selbstverständlich. Aber es ist auch eine angenehme Sache, Dir zu helfen, weil Du so etwas nie als selbstverständlich annimmst.
Du brauchst die Dolche nicht wirklich, weil Du selbst ohne sie stark bist.
Natürlich schaden sie aber auch nicht."


Ophelia hatte ihm ohne sichtbare Regung zugehört und noch lange auf die beiden Klingen in ihren Händen hinabgeblickt, nachdem er Zelle 6 verließ.

Sie hatte den Vampirangriff überlebt, sprach aber seit sie aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war nur das Nötigste. Sie wirkte lethargisch und reagierte nicht einmal nennenswert auf die besorgten Besuche ihrer Mutter oder Schwester. Rogi hatte darauf bestanden, Ophelia als Patientin vorerst in ihrer Nähe zu behalten und der Verdeckten Ermittlerin war es recht gewesen, ja, sie schien auf stille Weise froh darum zu sein, nicht heim zu müssen, zu all den Fragen und bekümmerten Blicken ihrer Familie. Sie hatten den Raum so gut wie möglich dekoriert, ihn vor allem mit einer Waschmöglichkeit ausgestattet. Mina von Nachtschatten hatte das kleine Fenster mit einem Blumenstrauß bestückt. Und die Sanitäterin war ohnehin jeden Abend aus der Kröselstraße zurückgekommen. Nun konnte sie es zusätzlich auffällig häufig so einrichten, ihre Arbeit ins Hauptwachhaus zu verlegen und im Nachbarraum, ihrem Büro, auf Abruf bereit zu stehen. Es stand noch nicht endgültig fest aber Rogi hatte angedeutet, dass Ophelias Unfähigkeit, deren linke Hand zu bewegen, vielleicht auf eine irreparabel geschädigte Nervenverbindung hinwiesen und dauerhaft sein könnten. Und natürlich blieb seiner Stellvertreterin eine lange Narbe, vom Schlüsselbein bis hinauf hinter ihr linkes Ohr.
Er hatte beobachtet, dass sie sich ausschließlich Blusen mit sehr hohem Kragen von daheim hatte bringen lassen.
Er rieb sich frustriert übers Gesicht.

Was den Fall betraf... sie hatten den Beweis dafür, dass es sich um mindestens zwei unterschiedliche Täter gehandelt haben musste, wenn nicht sogar um drei verschiedene, und dass die einzige Verbindung zwischen diesen die Gelegenheit war.

Die Herzogin von Lomond, diese herrische Alte, hatte sich während des Überfalls auf Ophelia durch Zufall verraten und sie hatten es nur deren Professionalität, selbst unter den zu diesem Zeitpunkt herrschenden Extrembedingungen, zu verdanken, dass sie überhaupt davon erfahren hatten. Doch auch mit dem Wissen in der Hinterhand, dass die Alte die Drahtzieherin hinter Samuel Aschers Ermordung war, kamen sie nicht zu einem befriedigenden Abschluss. Die Greisin berief sich allen Ernstes auf Ophelias zerrütteten Geisteszustand zum Zeitpunkt des Gehörten. Sie argumentierte, die Wächterin habe tragischerweise unter Schock gestanden und könne daher alles Mögliche gehört zu haben behaupten. Und sie hatte es irgendwie einrichten können, dass Parsival Ascher ihr trotz sichtlichen Widerwillens die Anwältin des Clans, Klara Greifzu, zur Seite stellte! Die vermutliche Handlangerin und Auftragsmörderin, diese dürre Frau mit dem stets erschrockenen Gesichtsausdruck, war absolut nicht zurechnungsfähig. Schon in einem kurzen Gespräch mit ihr war deutlich geworden, dass sie kaum das Heute vom Morgen unterscheiden konnte, geschweige denn einen klaren Gedanken zu ihren eigenen Aktivitäten zu fassen imstande war. Das einzige, worum die dürre Frau sich ständig Sorgen machte, waren eine verlegte Brille, sowie das Wohlwollen ihrer Herrin. Und da es als Beleg zur Theorie über den Tathergang nicht viel mehr als Ophelias Aussage gab, standen sie auf verlorenem Posten.
Das Motiv für die Tat schälte sich bei einem Verhör Herribert Aschers heraus. Da die Herzogin ursprünglich ihn tot hatte sehen wollen, lag eine peinlich genaue Befragung des Geflüchteten nahe. Nachdem Valdimier ihn gestellt und mit einem exakten Holzbolzenschuss zur Strecke gebracht hatte, brachten sie ihn ins Hauptwachhaus und zogen den vergleichsweise kleinen Splitter, um ihm seine volle Bewegungsfreiheit wieder zu geben - abgesehen von den Handfesseln natürlich. Erst verweigerte er eine Aussage. Als Reaktion legten sie die Fundstücke aus seinem Zimmer demonstrativ in die Mitte des Tisches, in den Lichtkegel der Kerze. Die Schminke lag anklagend und beschämend zugleich vor ihnen. Es war dieser Moment, in dem Herribert Ascher die Maske des Unnahbaren fallen ließ. Die Angst in den Augen des Laien-Pantomimen war deutlich zu sehen gewesen, bevor seine Hoffnung erstarb und er die ganze Geschichte vor ihnen ausbreitete.
Er gestand, der weißen Leidenschaft anzuhängen und sich mit Anderen seiner Art zu treffen. Mit gescheiterten Narren, exmatrikulierten Musikern, mit Schaustellern und Gauklern, die als untalentiert fort gejagt worden waren, mit Spielern, die der Sucht verfallen waren und jegliche Regularien der Gilde ignoriert hatten. Sie erhielten unter der Hand Aufträge von Gönnern, die alles getan hätten, um sich mit dem Außergewöhnlichen zu profilieren. Natürlich war die Gefahr, in den Fokus des Patriziers zu geraten, bei solch einem Lebensstil groß. Herribert hatte das von Beginn an gewusst, es aber nicht allzu ernst genommen. Bis ihm klar geworden war, dass Parsival gewisse Andeutungen Katharina gegenüber fallen ließ. Und deren Ansichten waren allgemein bekannt. Katharina liebte nichts mehr, als ihre bevorrechtigte Stellung und alles, was dieser entgegenwirken konnte, sah sie als persönliche Kränkung an. Was noch lange nicht bedeuten musste, dass sie sich deswegen selber die Hände schmutzig gemacht hätte. Herribert hatte ihre wachsende Aufmerksamkeit gespürt, ihr penetrantes Hinterherspionieren. Er hatte geahnt, wann der Zeitpunkt gekommen war, dass sie irgendetwas gegen ihn unternehmen würde. Und hatte seinerseits ein Ablenkungsmanöver eingeleitet. Samuel und er sahen einander in den nächtlichen Straßen ähnlich genug, um diesen zu einer Wette zu verlocken, wegen derer sie für einen Abend in die Schuhe des Gegenübers schlüpfen wollten. Herribert hatte als Einsatz etwas geboten, dem Samuel unmöglich hatte widerstehen können: die Prunkkette, die vor wenigen Monaten bei einer legendären Pokerrunde als Hauptpreis ganz unvermutet an Herribert gegangen war. Er hatte als Gast teilgenommen, keinesfalls als einer der Favoriten. Samuel hatte ihn um sein damaliges Glück und den Preis heftig beneidet und legte sich dementsprechend ins Zeug, als sie sich an dem schicksalhaften Abend getrennt auf den Weg zu Hannes machten. Herribert hatte bemerkt, wie Anna-Sophie ihnen gefolgt war, doch selbst da hatte er sie noch nicht als wirkliche Gefahr verstanden. Er hatte vermutet, dass Katharina durch sie Erkundigungen einzog. Dass sie Fakten sammeln wollte, um ihn zu erpressen, ihn unter Druck zu setzen und ihn vielleicht dazu zu verleiten, sich selber zu verraten. Kurz darauf beobachtete er von Weitem, wie die dünne Spenderin Samuel scheinbar zufällig an einer Straßenecke abpasste und dieser ihr arglos in die dunklere Gasse folgte, triumphierend und belustigt ob des Irrtums, dass sie ihn für Herribert hielt. Anna-Sophie hatte ihre Sichtgläser vergessen, wie so oft, und verließ sich daher auf Samuels gelogene Aussage, den Richtigen vor sich zu haben. Er musste richtig gut gewesen sein und die Vorstellung seines Lebens gegeben haben. Sie pfählte ihn kurzerhand!
Herribert hatte mit Vielem gerechnet, nicht aber mit einem so kaltblütigen Vorgehen. Er stand wie gefroren in seinem Versteck und beobachtete, wie Anna-Sophie sich zu dem wehrlosen Clanbruder hinabbeugte und dort in der Dunkelheit etwas aus der großen Umhängetasche an ihrer Seite zog. Er wollte sich gerade in Bewegung setzen, als der Geruch von Lampenöl herüberwehte und sein Wett-Partner in einer riesigen Stichflamme in Rauch aufging. Da war die kleine Frau schon fort und die ersten Passanten riefen aufgeregt in die Nacht.
Später, am frühen Morgen, hatte die Wache bei ihnen daheim vorgesprochen und allen Familienangehörigen Fragen gestellt. Aber genau so, wie Katharina ihn lediglich mit eisigen Blicken bedachte und Anna-Sophie ahnungslos den Tag bestritt, hielt auch er sich mit seinem Wissen zurück. Denn ein Wort zuviel hätte dazu führen können, das eigene Doppelleben auffliegen zu lassen.

Araghast hatte zwiegespalten gewirkt, dann aber angewiesen, den Zeugen vorerst in Gewahrsam zu nehmen, für eventuell noch auftauchende Fragen. Dessen ungeachtet ließ er den Palast darüber informieren, dass diesem in den folgenden Tagen ein Pantomime überstellt werden würde. Letztlich ließ der Patrizier keine Zeit verstreichen. Die Tinte auf der Nachricht war sinnbildlich gesprochen kaum getrocknet, als sämtliche Vorbereitungen bereits abgeschlossen worden waren. Man hätte meinen können, dass Vetinari es geahnt hatte.

Um den zweiten Mord aufzuklären brauchten sie, wie sich ironischerweise heraus stellte, keinen Finger rühren, sondern bloß ein trauriges Ereignis abwarten. Eine ehemalige Spenderin der Aschers, die Vertraute des letzten Mordopfers, nahm sich das Leben. Der Abschiedsbrief des Dienstmädchens, Tanja war ihr Name gewesen, konnte den gewaltsamen Tod des zweiten Mordopfers restlos klären.
Wie schon Ophelias ausführliche Zwischenberichte während der Ermittlung ihnen gezeigt hatten, gab es deutliche Spannungen zwischen Mathilde Ascher und Jahne Ascher. Letztere hatte ihrem verhassten Idol mit großem Ehrgeiz nachgeeifert. Jahne hatte damit zwar berufliche Erfolge erzielt aber so wie die Dinge standen, hatte es auf lange Zeit hin keine reelle Chance gegeben, auf diese Weise aus dem Schatten der Ex-Näherin heraus zu treten. Der Clan nutzte zwar Jahnes finanzielle Mittel, bevorzugte aber eindeutig den charismatischeren Neuankömmling. Jahnes Hass schwelte, bis er in dem Mord an Samuel eine Quelle der Inspiration fand. Sie beschloss, es dem unbekannten Straßenmörder nachzutun. Selbst wenn zwei Morde so kurz hintereinander Aufsehen erregt hätten, konnten die Spekulationen der Stadtwache doch nur von ihr fortführen, hin zu dem Verdacht auf eine kriminelle Serie.
Sie kannte Mathilde und deren Angewohnheiten sehr genau und so passte sie sie bei schönem Wetter im Park ab. Das Überraschungsmoment war auf ihrer Seite. Während ihr das Pfählen noch relativ leicht von der Hand ging, um die Rivalin zur Bewegungslosigkeit zu verdammen, bescherte ihr das anschließende Enthaupten in den Folgetagen- und Nächten ernsthafte Horrorvisionen. Mathildes Kopf versank tatsächlich, wie Rosalind es vermutet hatte, am stillgelegten Hafenbecken neben dem Park, in den unergründlichen Tiefen des Ankh.
Irgendwann hatte Jahne ihre Spenderin in diese ganz persönlichen Schrecken eingeweiht, nicht ohne Tanja durch ein Erneuern des Blutsbandes zwischen ihnen zum Stillschweigen zu verdammen.
Das Dienstmädchen schrieb in ihrem letzten Brief, dass sie seit dem Tod ihrer Herrin gespürt habe, wie der gedankliche Zwang sich von ihr löse. Und dass sie nicht als Mitwisserin und somit mehr oder weniger auch als Verbündete ihrer langjährigen Peinigerin in den Freitod gehen wolle. Sie werfe endgültig allen Ballast von sich, wolle nur noch für sich selbst verantwortlich und frei sein!
In einer Vollmondnacht setzte sie ihr Vorhaben zielstrebig um. Sie kappte mit Hilfe eines gut geschärften Küchenmessers, die letzte Verbindung zu ihrer Vergangenheit.
Der Wasserspeier in der Gerichtsmedizin hatte im Protokoll vermerkt, dass die Haut, um die Handgelenke des Dienstmädchens herum und an ihren Armbeugen hinauf von so dermaßen vielen, alten Bisswunden vernarbt gewesen sei, dass sie die langen Schnitte nicht einmal gerade hatte ansetzen können - obwohl der Wille dazu an deren nachdrücklicher Tiefe klar abzulesen gewesen wäre.
Den letzten Arbeitgeber der jungen Frau verleitete deren Selbstmord zu regelrecht hysterischen Reaktionen. Die fensterlose Kammer neben dem Kohlekeller sei niemals wieder als Dienstbotenunterkunft nutzbar, bei so vielen so hartnäckigen Flecken in Boden und Wänden.
Im letzten Satz des Abschiedsbriefes bat die Tote darum, falls der Mörder Jahne Aschers gefunden werde, ihm einen von Herzen kommenden Dank auszurichten, denn er habe Menschlichkeit bewiesen und stellvertretend allen Spendern einen ehrenvollen Dienst erwiesen.

Bis hierhin bewegten sie sich im Morast der Fakten oder zumindest der gut belegten Vermutungen. Für alles Weitere blieben ihnen nicht einmal diese, sondern nur noch vage Ahnungen.

Der dritte Mord war als einziger innerhalb des Hauses begangen worden. Die Herzogin hatte von den finanziellen Regelungen zum damaligen Zeitpunkt ausschließlich profitiert. Auch sonst war bei ihr kein Motiv erkennbar, welches dazu hätte führen können, dass sie ein unkalkulierbares Risiko, wie einen zusätzlichen Mord, in Kauf genommen hätte. Und den zweiten Mord als Referenz einer Verdächtigung heranzuziehen war sinnlos, da Jahne sich nicht selber umgebracht hatte. Dazu kam, dass der Mord wie das skrupellose Werk eines Serienmörders hatte aussehen sollen, was nahe legte, dass der Täter sich bewusst dafür entschieden hatte, auf den Zug aufzuspringen, die Gunst der Stunde für seine eigenen Pläne zu nutzen.
In Ermangelung ihrer Püschologin hatte Romulus sich mit dem Kommandeur höchstselbst zusammengesetzt, um ein mögliches Täterprofil zu erstellen. Araghast war ohnehin schon so sehr in den Fall Ascher involviert, dass es keinen Unterschied mehr gemacht hatte.
"Der Täter muss kaltblütig sein, so viel steht fest! Nicht mal unbedingt wegen des Mordes an sich, der ziemlich unsauber über die Bühne ging, sondern vor allem in Anbetracht der Umstände!", hatte der F.R.O.G.-Veteran ihm erklärt. "Es hatte schon zwei Morde gegeben und jede Person mit einem schwachen Nervenkostüm hätte das nahe Umfeld unserer Ermittlungen gemieden. Und gleichzeitig schränkte die Tat innerhalb des Hauses den wahrscheinlichen Täterkreis zusätzlich ein! Wenn der Täter logisch geschlussfolgert hatte, dass die Hinweiskette so oder so stark genug auf das Anwesen deutete, um alle Vorsicht über Bord zu werfen, dann muss er zumindest einen gesunden Intellekt haben, was auch immer sonst an seiner Püsche nicht stimmen mag. Und wenn wir dann noch davon ausgehen, dass es tatsächlich einer der Hausbewohner gewesen ist und er sich trotzdem bis jetzt nicht verraten hat, dann muss er Nerven aus Stahl haben."
Gemeinsam hatten sie ihre Schlussfolgerungen Ophelia vorgetragen und um deren Einschätzung der Hausbewohner gebeten. Die Wächterin hatte lange schweigend auf der Zellenpritsche gesessen, eine wollene Decke eng um die Schultern geschlungen, und die Frage durchdacht, bevor sie antwortete.
"Es gibt nur wenige Personen, die meinem Empfinden nach dafür infrage kämen. Strategisches Denken, Organisationstalent, Selbstkontrolle und Skrupellosigkeit, bei freundlichem Auftreten als wirkungsvolle Tarnung... Desdemonia oder Marlies? Aber das sind Spekulationen."
Sie richtete ihren Blick wieder auf die Blumen am Fenster und sofort kam Rogi Feinstich aus dem Nachbarraum herüber gerauscht, als wenn sie nur auf ihr Stichwort gewartet hätte.

Ascher selbst ging für Breguyars Geschmack zu unversehrt aus den Ereignissen hervor. Den tragischen Herzschmerz über den Verlust der Geliebten, nahm er dem Vampir nicht ab. Und selbst wenn Ascher darunter zu leiden hätte! Lächerlicher Liebeskummer konnte niemals aufwiegen, was Frän und Ophelia in dem Haushalt des Clanherrn geschehen war!
"Wie kann die Presse ihn zum bemitleidenswerten Opfer eines Geisteskranken stilisieren? Für den Rest ihres Lebens gezeichnet! Wenn ich nur daran denke, dass all die Mühen ihrer Ermittlung über einen Kamm geschert und die Morde allesamt dem Pantomimen in die Schuhe geschoben wurden! Seitens Vetinaris! Der letzte Mörder bleibt auf freiem Fuße, der schmierige Ascher bleibt unbehelligt und selbst die übrigen Vogelscheuchen in dieser Sache werden in Watte gepackt." Der Kommandeur fluchte unwillig. "Sogar der Tschentowitsch hat ihn verschont, obwohl er erst so enthusiastisch wirkte mit seinem Schwert! Und ich habe mich wahrlich nicht in den Weg gestellt! So feige zurück zu stecken! Von wegen, er würde ihn keinesfalls anzeigen, sondern der gesamte Vorfall des Weiteren unter tragischem Familienstreit laufen."
Romulus nickte ernüchtert.
"Es war eben ein schwerer Schock für Tschentowitsch, als er mitten in Rogis Operation platzte. Ophelia auf der Schwelle des Todes, all das viele Blut! Dass sein Sohn sich jemals zu so einer Raserei würde hinreißen lassen, egal unter welchen Umständen, damit hatte er nicht gerechnet. Sein Gerede über das Tier in Menschengestalt mag ja bei den Freunden gut angekommen sein aber so direkt mit der Unvollkommenheit des eigenen Kindes konfrontiert zu werden... Irgendwie kann ich nachvollziehen, dass er einen kleinlauten Rückzieher gemacht hat und inständig darum bat, ihm den Jungen mitzugeben und den Namen Tschentowitsch aus der Presse heraus zu halten."
Der Kommandeur ballte in Erinnerung an seine eigene Zustimmung die Fäuste.
"Wenn Tschentowitsch auf unser Schweigen nicht so verdammt versessen gewesen wäre, dann hätten wir Ascher sofort für die Entführung drankriegen können! Ohne Probleme! Wenigstens dafür..."
Es war ein Kuhhandel gewesen: Hannes Tschentowitsch war weder der Täter bei einem der drei zur Debatte stehenden Morde, noch konnte man ihm boshaftes oder bewusst selbstsüchtiges Fehlverhalten vorwerfen. Von einem sehr verqueren Blickwinkel aus betrachtet, war der Amokläufer selber ein Opfer; so grausam das Resultat dessen auch ausgefallen war. Das musste er sich immer wieder vor Augen führen, um seine Entscheidung vor sich selber zu rechtfertigen. Denn im Gegenzug für die Diskretion der Wache sicherte Hendrik Tschentowitsch Ophelia Ziegenberger eine Leibrente zu.
Die Mutter der Wächterin hatte, nachdem er sie von dem Angebot in Kenntnis setzte, persönlich die Verhandlungen mit dem Vormund des Angreifers geführt. Kathrine Ziegenberger war ihr Kummer anzusehen gewesen und doch hatte sie sich das Treffen nicht nehmen lassen. Sie hatte der Regelung zugestimmt. Keine Anzeigen, kein Gerede. Dafür ein finanzieller Ausgleich. Sie war eine praktisch veranlagte Frau und konnte die Verbitterung zum Großteil aus ihrer Stimme heraus halten, als sie Romulus erklärte:
"Meine Tochter mag sich innerhalb deiner Stadtwache einen respektablen Ruf erworben haben, Herr. Außerhalb dieser Mauern jedoch ist sie verbrannte Erde und steht allein da. Welcher Mann aus besseren Kreisen würde eine Wächterin zur Frau nehmen wollen? Eine Entstellte jedoch muss gänzlich ohne Hoffnung bleiben. Auch wird sie sich nicht auf Dauer bei Euch aufhalten. Himmel, wer weiß, wie lange es noch dauert, bis diese Arbeit sie endgültig umbringt? Nein, irgendwann wird sie zu dem unvermeidlichen Schluss kommen, dass es Zeit ist, zu gehen. Und spätestens dann wird sie das Geld dringend brauchen. Das hier ist ausgleichende Gerechtigkeit. Die Tschentowitschs haben sich an ihr... satt getrunken. Nun wird sie diese bluten lassen!"
Die rothaarige Frau, die ihrer Tochter in so vielem ähnelte, hatte seine Erwiderung nicht abgewartet, sondern auf dem Absatz kehrt gemacht und war mit schwerem Vorwurf im Blick gegangen.

Breguyar sprang unruhig vom Stuhl auf und lief durch das enge Büro.
Romulus hatte geahnt, was dem Freund keine Ruhe ließ, noch bevor dieser damit herausrückte.
"Hat Rogi Dir auch von Ophelias... unruhigem Schlaf erzählt?"
Sie sahen einander schweigend an.
Breguyar zischte durch die Zähne.
"Glaube mir Romulus! Wenn ich nichts davon erfahren hätte, dann wäre ich längst mit meinen zusammengekratzten Ersparnissen zu den Meuchlern gegangen und hätte ihnen einen netten kleinen Auftrag zukommen lassen, ganz egal, ob er jemals irgendeiner Art von Schuld überführt werden könnte. Dieses Monster!"
Der R.U.M.-Abteilungsleiter seufzte tief.
"Ja. Andererseits... Ohne Aschers dauernde Nähe werden die falschen Gefühle zu ihm wahrscheinlich von selbst schwächer werden. Die Zeit hat schon einmal ihre Wunden geheilt. Sie kann es bestimmt wieder tun. Und Rogi ist ja auch noch da. Ophelia wird es packen und über ihn hinwegkommen. Sie hat selber gesagt, dass sie sich dessen bewusst ist, dass er es war, der ihr diese Empfindungen von Liebe und Sehnsucht suggeriert hat."
"Dass sie das weiß ist aber kaum mehr als ein schwacher Trost!" Der Kommandeur blieb abrupt stehen. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er einen Entschluss getroffen hatte. Er bebte fast vor unterdrückter Anspannung und Tatendrang, als er sich mit der geballten Faust in die offene Handfläche schlug.
"Ich werde nachhelfen! Das Testament der Fromm war eindeutig: Die Ziegenberger ist sich längst darüber im Klaren, dass sie Training benötigt. Sie wird unmöglich ablehnen können! Ich informiere sie morgen darüber, dass sie ab sofort von mir persönlich im Nahkampf ausgebildet werden wird. Das wird zwar kein Gentleman-Stil werden aber seien wir mal ehrlich: Den hätte sie auch in keinem ihrer Einsätze bisher gebrauchen können."
"Du denkst nicht zufällig auch an Gespräche während Eurer Trainingseinheiten über einschneidende Erfahrungen und Traumata?"
Der Kommandeur schaute seinen Freund grimmig an, stritt dessen Vermutung aber nicht ab.
"Wenn sie reden will, werde ich zuhören."

~~~ Zwei Stockwerke tiefer ~~~


Rogi war gegangen und das Beruhigungsmittel begann seine volle Wirkung zu entfalten. Die Schmerzen ließen nach, der bewegungslose Arm zu ihrer linken verlor an Bedeutung. Und die Worte der Igorina machten mehr Sinn, als zuvor.
Vampire waren selbstsüchtig! Sie folgten großen Plänen, in denen Menschen zu kleine Rollen zugewiesen bekamen, um ins Gewicht zu fallen. Sie hatten so weite Distanz zu den Lebenden erreicht, dass Vertrauen in einen der ihren eine selbstzerstörerische Tendenz darstellte, die es zu meiden galt.
Sie musste sich selbst verteidigen, das war nichts, was sie sich in blinder Zuneigung abnehmen lassen durfte.
Tanja hatte aufgegeben - sie wollte nicht ebenso enden.
Jetzt fiel es ihr schwer, zu sich zurück zu finden. Wo war die Lebensfreude geblieben, wo die unbändige Neugier?
Natürlich würde sie beide wieder finden, etwas anderes durfte sie nicht einmal in Erwägung ziehen, denn dann konnte sie es auch gleich aufgeben und es entweder Tanja gleichtun oder den langsameren Weg wählen und dem inneren Drang nachgeben, zu Parsival 'heimzukehren'. Als Spenderin, als emotional Abhängige, als was immer er ihr die Gnade zuteil werden ließe, sie wieder aufzunehmen und letztlich in seine Arme zu schließen. Damit sie ihm nahe sein konnte.
Ophelias teilnahmsloser Blick hielt sich an den welkenden Blumen im fahlen Mondlicht fest.
Es stimmte nicht ganz, das mit den egoistischen Vampiren.
Frän war anders gewesen.
Das Bild der Vampirin tauchte zum hundertsten Mal in Ophelias Erinnerungen auf, wie diese aus dem niedrigen Gang aufgetaucht war und sie ungeachtet des sie beide umgebenden Chaos angelächelt hatte. Übermut im Blick, die leuchtend rote Uniform tadellos gepflegt, bereit für alles, was da kommen mochte.
Lautlos liefen Ophelia Tränen über das Gesicht.
Frän hatte ihr das Leben gerettet. Und dazu noch, hatte sie ihr Worte hinterlassen, die es Ophelia erlaubten, dieses Geschenk anzunehmen. Es war mit einem unerschwinglichen Gegenwert erkauft worden und allein deswegen kostbar und unbedingt in Ehren zu halten.
Sie würde wieder auf die Füße kommen!
Etwas hatte sich allerdings geändert.
Sie hatte zu Viele in dieser Ermittlung kennen gelernt, die Opfer der Umstände und dennoch mit Schmach besudelt gewesen waren.
Es gab keine Unschuldigen!
Und somit gab es auch wesentlich weniger, als sie früher gedacht hatte, für das es lohnte, aufopferungsvoll Lasten auf sich zu nehmen.
Mitgefühl nahm noch immer einen gewissen Stellenwert ein.
Aber um diese Emotion zu hegen, benötigte man keine Vertrauensbasis.
Außer unter den Kollegen, würde sie nur noch Wenigen ihr Vertrauen schenken - vor allem keinem Vampir mehr!

Eine eisige Stimme kratzte in verdrängter aber alt vertrauter Weise an ihren inneren Wunden entlang und ließ sie zusammenzucken.
Es hat etwas Erfrischendes an sich, dass deine Naivität nachlässt.
Racul!
Raus aus meinen Gedanken!
Die zweckmäßige Kooperation mit ihm lag lange zurück und er hatte sich seitdem niemals bemerkbar gemacht.
Es dauerte, bis ihr Herzschlag sich wieder soweit beruhigt hatte, dass sie den angenehmen Taumel des Serums spürte, in den sie sich gerne fallen ließ.

Die Stellvertretende Abteilungsleiterin von R.U.M. schloss ihre Augen und vergaß die kahlen Wände der Zelle 6.

Vielleicht würde sie von ihm träumen?

ENDE

[1] Parsival Ascher, Clanoberhaupt

[2] Samuel Schaufflermann, Mitglied der Spielergilde, erstes Mordopfer

[3] Mathilde Ascher, ehemalige Näherin, Parsivals erwählte Gefährtin, zweites Mordopfer

[4] Jahne Christine Ascher, vormals Wunderlich - reiche Erbin, ambitionierte Näherin, drittes Mordopfer

[5] Beziehungsstrukturen der Aschers

[6] Teleri Kurvika Ascher, Gräfin von und zu Eichdorf, ehemalige Borogravierin, erfolgreiche Modedesignerin

[7] Katharina Lilliane Natalie Ascher, Herzogin von Lomond, Grande Dame mit Hang zur guten alten Zeit

[7a] Desdemonia Charlotte Karellia Ascher, Gräfin von Pine, Gesellschaftsdame schwieriger Vampirzöglinge

[9] Christopher Ascher, unsicherer Erstgeborener

[10] Herribert Ascher, schweigsamer Zweitgeborener

[11] Audrey Ascher, Schriftstellerin mit einer Vorliebe für amouröse Abenteuer

[12] Rosalind Ascher, Prinzessin von Kohlfurten, emanzipierte Frauenrechtlerin, Rausschmeißerin

[13] Susanne Bleibstduwohlhier, Parsivals Spenderin, lebenslustige Weltenbummlerin

[14] Eric, bewandert in der Fechtkunst, Audreys Spender

[15] Marlies Hammersohn, schweigsame Haushaltsvorsteherin, Parsivals Spenderin

[16] Ramona, größtenteils missgelaunt, talentfrei, gestaltgewordener Männertraum, Herriberts Spenderin

[17] Anna-Sophie, verwirrte Spenderin der alten Herzogin

[18] Odett Keller, Mutter, Sängerin, Parsivals Spenderin

[19] Anna Keller, ungestümes Kind der Sängerin

[20] Sakura, Achaterin, gleichgestellte Spenderin/Diskussionspartnerin Rosalinds

[21] Henrietta Gerber, eifersüchtig, leicht labil

[22] Maria Monticelli, aus den Schatten, Parsivals Spenderin

[23] Engelbrecht, Leser, Spender Desdemonias

[24] Julietta, freundlich und aufmerksam, Christophers Spenderin

[25] Halofenn, Klavierspieler, Teleris Spender

[26] Klara Greifzu, Anwältin der Aschers

[27] Jessica Feingarn

[28] Hannes

[29] Hendrik

Ich danke ganz herzlich für die viele Unterstützung in den vergangenen zwei Jahren, die es gedauert hat, diese Geschichte reifen zu lassen. Ohne Eure motivierenden Chats und E-Mails, das fleißige Feedback zu den einzelnen Figuren und Szenen, sowie nicht zuletzt das erstaunlich intensive Korrekturlesen, hätte ich vermutlich irgendwann mittendrin aufgegeben. So aber konnte ich meine Herzblut-Single mit einem zufriedenen Gefühl vollenden.

Mein besonderer Dank geht daher an Bregs, Rea, Mina, Rogi, Romulus, Breda und Laiza - wenn ich mich revanchieren kann, dann sagt bitte Bescheid! ;)

Zählt als Patch-Mission für den Verdeckte Ermittlerin-Patch.



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Feedback:

Von Laiza Harmonie

23.10.2012

Endlich, endlich, endlich bin ich dazu gekommen deine Single komplett zu lesen. Nach zwei Jahren ... Asche auf mein Haupt! Wenn ich es damals geschafft hätte, dann hätte ich dir ebenfalls 15 Punkte gegeben. Vorallem der Finale Kampf hat mich sehr gefesselt!

Von Kanndra

18.11.2010 19:31

Wow, was für eine Leistung! Nicht nur von der Länge, sondern auch der Komplexität der Story, der liebevollen Ausgestaltung der Figuren und dem gekonnten Umgang mit der Sprache war ich absolut begeistert. Man merkte wirklich, wieviel Herzblut du darin investiert hast. Deshalb kann es dafür nur die volle Punktzahl geben.Die Scheibenwelt habe ich zwar nicht mehr gefunden, aber das ist ok. Du hast dir deine eigene Welt geschaffen.

Von Rea Dubiata

18.11.2010 19:31

Ich glaube ich habe über die Entstehungszeit der Single schon genug Kritik, positive und negative, abgegeben. Mir bleibt nur zu sagen dass es wieder mal toll war, was von dir zu lesen. Die Genauigeit und Präzision mit der du deine Charaktere "malst" ist in der Wache mE einzigartig. Du hast das Talent, lange Spannung zu erhalten, den Leser immer wieder anzuregen zu überlegen wer es denn nun war. Man spürt die Liebe und Sorgfalt, die in die Single ging, trotzdem fühlt sie sich, nicht an wie ein geplantes Konstrukt sondern etwas Lebendiges.LG,Rea

Von Mina von Nachtschatten

18.11.2010 19:31

Mein "großes" feedback hast du ja schon; hier jetzt nochmal ein kleines:Ich habe diese Single sehr gern gelesen; ich mag den doch recht formalen Stil in dem du schreibst, das Detaillierte und das du es trotz des großen Figurenpersonal geschafft hast, jeden Charakter plastisch vor dem Auge des Lesers erscheinen zu lassen.Generell bin ich kein Freund von offenen Enden, aber hier passt es wirklich gut zur Geschichte und der Grundstimmung des Schlusses - mal ganz abgesehen davon, dass ich schon jetzt sehr gespannt bin, wie es mit Ophelia weitergeht.Die Charakterzeichnungen finde ich übrigens eine hübsche Idee - das ist nochmal so ein i-Tüpfelchen für das Gesamtpaket.

Von Valdimier van Varwald

19.11.2010 19:08

So, nachdem ich die Geschichte etwas sacken gelassen habe, will ich mich auch noch dazu äußern ;)



Eigentlich kann ich mich den Anderen nur anschließen. In jeder Zeile dieser Geschichte liest man die Liebe zum detail, mit der du sie angegangen bist. Zu der Ausarbeitung der Charaktere wurde ja schon alles gesagt :D Wenn ich meckern wollte, würde ich aber auch genau hier die Bohnen aus der Suppe klauen. Stellenweiße war es für mich doch etwas zu viel, was die ganzen Namen und die entsprechende Rolle der Person anging. Auch braucht die Geschichte in meinen Augen etwas, bis sie in fahrt kommt. Aber das ist alles zu verschmerzen gewesen. Dafür war der Rest dieser "Kurzgeschichte" nahezu perfekt :D Zu Recht verdientes Gold.

Von Rib

02.12.2010 00:20

Wenn diese Geschichte in mir eins gezeigt hat, das ich in letzter Zeit zu salopp geworden bin.

Die Mühe und Feinarbeit, die du in jede Szene steckst, ist bewundernswert und was mich angeht... nachahmenswert.

Von Ophelia Ziegenberger

02.12.2010 22:43

:) Vielen Dank für Euer Feedback und das damit verbundene Lob! Man selber findet ja meistens noch Verbesserungspotential. Aber in dem Fall habe ich versucht, alle Möglichkeiten dazu vorher auszuschöpfen. ;) Die nächste Single soll denn auch im direkten Vergleich mit dieser hier vor allem anders werden. ^^

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