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von Gefreite Mindorah Giandorrrh (FROG)
Online seit 08. 10. 2003
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Die frischbeförderte Gefreite Mindorah Giandorrrh beginnt nichtsahnend ihre Ausbildung zur Kommunikations-Expertin. Doch kaum ist der nächste Morgen angebrochen, wird sie Zeugin eines Mordes, was den Anfang rasanter Ermittlungen darstellt.

Dafür vergebene Note: 12

Mit einem flauen Gefühl im Bauch schlurfte Mindorah Giandorrrh den Gang entlang. Mit ihren Schritten wirbelte sie den Staub auf dem Boden auf, der kleine Wölkchen bildete und schließlich langsam wieder nach unten sank. Stolz strich die frisch Beförderte mit den Fingerspitzen über das unsauber angenähte Abzeichen auf ihrer Uniform, das jetzt zwei Striche mehr aufwies und sie als Gefreite kennzeichnete. Die Müdigkeit steckte noch in ihren Gliedern und sie schleppte sich trotz der Aufregung nur langsam durch das Wachegebäude. Durch die stumpfen Fensterscheiben sah sie einzelne Schneeflocken herab fallen und die eisige Kälte drang selbst durch die dicken Steinmauern. Gespannt trottete sie zu einer Holztür und blieb schließlich davor stehen. Sie warf einen Blick auf das zerkratzte Messingschild und vergewisserte sich, dass sie auch vor dem richtigen Büro stand. "Rascaal Ohnedurst", las Mindorah, "Agent von Intörnäl Affärs". Darunter klemmte ein kleines Papierfitzelchen, auf dem mit krakeliger Schrift geschrieben stand: "Venezia Knurblich, Abteilungsleiterin von FROG".
Na dann mal los, beschloss Mindy und klopfte mit den Knöcheln an das Holz.
"Herein", erklang eine helle Stimme.
Mit vor Aufregung zitternden Fingern öffnete die Gefreite die Tür und steckte ihren Kopf hinein. Sie erblickte eine Gnomin, die im Schneidersitz mitten auf dem Schreibtisch saß und zufrieden an einer Wurst herumknabberte. Es handelte sich um eine der berüchtigten Würstchen, die Schnapper verkauft und dessen Venezia wohl die einzige freiwillige Abnehmerin war. Unter der kleinen Frau hatte sich eine große Pfütze aus Fett gebildet, das unaufhörlich aus der Wurst tropfte.
Unterbrochen von lautem Schmatzen begrüßte Veni sie: "Guten Morgen, Gefreite!"
Mindorah schlüpfte vollständig in den Raum und salutierte: "Hallo Mä'äm!"
"Ich sehe, du bist pünktlich? Das ist lobenswert...Setz dich doch erst mal." Mit einem Nicken wies Venezia auf einen klapprigen Holzstuhl vor dem Schreibtisch.
Als Mindy dem Angebot nachkam, entdeckte sie aus dem Augenwinkel eine Fledermaus, die an einem der Deckenbalken des Büros hing. Sie glänzte samtschwarz und hatte die Flügel an den Körper gelegt. Ein Lid war millimeterbreit nach oben geschoben, sodass ein bernsteinfarbenes Auge herausblitzte. Mindorah durchfuhr ein Schauer und urplötzlich kam ihr der drohende Satz ins Gedächtnis: "IA iss wotsching juh". Schnell wandte sie sich ab und betrachtete stattdessen die vernarbte Frau, die ruhig neben Venezia stand. Sie war mit der Uniform der FROGs bekleidet. Weiße Flecken sprenkelten die Schultern der Jacke und teilweise lösten sich Fäden an den Nähten. Die schulterlangen Haare waren ungekämmt und verfilzt. Narben zogen sich über das Gesicht, was die Frau wie einen Zombie aussehen ließ.
"Das ist die Igorin Rogi Feinstich, unsere Kommunikations-Expertin und Sanitäterin. Sie wird deine Ausbildung übernehmen", stellte Veni sie vor.
Rogis verschieden farbige Augen musterten Mindy interessiert. Die Augenbrauen darüber standen in großem Kontrast zueinander. Die eine war dick und buschig und schien sich behaupten zu wollen, doch die andere, die dünn und zierlich war, beinahe nur ein Strich, wirkte durch ihre Feinheit entgegen.
Die Frau räusperte sich: "Du bift alfo die neue Kommunikationf-Ekfpertin, waf?"
"Genau", erwiderte Mindorah mit eifrigem Nicken.
"Freut mich", die Igorin lächelte freundlich, "komm mit, ich feige dir die Tauben!"
Mit diesen Worten trat sie um den Schreibtisch herum und schob sich an Mindy vorbei. Der strenge Geruch von Taubenmist stieg Mindorah in die Nase und sie verzog unmerklich das Gesicht.
Daran werde ich mich wohl gewöhnen müssen...
"Dann viel Spaß bei der Arbeit", meinte Venezia mit einem Grinsen und wendete sich wieder ihrer Wurst zu, die munter vor sich hin tropfte.
Die frischgebackene Gefreite salutierte noch schnell in Richtung Veni, schloss die Tür und lief Rogi nach. Diese führte sie zu einer kleinen, wackligen Treppe. Kritisch musterte Mindorah die Holzstufen, die reichlich instabil wirkten. Doch es blieb ihr nichts anderes übrig, als der Kommunikations-Expertin mit vorsichtigen Schritten zu folgen. Jedes Knirschen des morschen Holzes klang ihr laut in den Ohren und ließ sie zusammen zucken. Mit einem kleinen Sprung rettete sie sich schließlich auf den sicheren Boden am Ende der Treppe.
Rogi grinste: "Willft du jedef Mal, wenn du hier hoch fteigft, fo 'ne Akrobatik machen?"
Mindy wurde rot und wollte gerade zu einer hastig gestotterten Verteidigungsrede ansetzen, als die Igorin sich schon wieder abwendete und zielstrebig auf eine Tür zusteuerte. Sie zog einen Schlüssel aus ihrer Uniformtasche und steckte ihn ins Schloss.
"Fo, jetft paff auf: Mach die Tür gleich wieder fu, wenn du drin bift, verftanden?", wies Rogi die Gefreite an.
Mindorah nickte und machte sich startbereit. Der Schlüssel drehte sich und mit einem "klack" öffnete sich die Tür einen Spalt breit. Mindy hastete hindurch und zog die Tür sofort wieder in den Rahmen. Erleichtert atmete sie aus. "Geschafft", murmelte sie leise. Eine Welle großen Gestanks schlug ihr entgegen und setzte sich in ihren Nasenflügeln fest.
Da hörte sie verdutzt, wie Rogi draußen vor der Tür in lautes Gelächter ausbrach.
"Fo hab ich daf jetft auch nicht gemeint, mich hätteft du ruhig auch noch reinlaffen können", meinte sie grinsend, als sie den Raum jetzt ebenfalls betrat. "Aber daf Prinfip haft du verftanden", lobte sie zwinkernd.
Ein lautes Flattern hielt Mindorah davon ab, schon wieder eine rötliche Färbung anzunehmen. Schnell schob sich ein Schatten über die Wächterin. Mindy duckte sich und hob schützend die Hände über ihren Kopf. Gurrend flog die Taube über sie hinweg und landete auf Rogis Schulter.
"Keine Angft, daf ift nur eine von unferen Schütflingen", erklärte die Kommunikations-Expertin während sie die Taube im Nacken kraulte. Sie war grau und guckte mit ihren schwarzen Äuglein aufmerksam um sich. Erleichtert richtete Mindorah sich wieder auf und sah sich in dem kleinen, stickigen Raum um. Große Fenster bedeckten einen Großteil der Außenwand, durch die trotz des Schneefalls genug Licht drang, um das Zimmer karg zu beleuchten. Balken ragten quer durch den Raum, auf denen einzelne Tauben herumspazierten. Andere pickten auf dem Holzboden herum, der von Körnchen und Taubenmist übersäht war. An einer Wand war ein großes Regal befestigt, auf dem sich Kartons und Schachteln stapelten. Mindy sah sich die Etiketten darauf näher an. Eines war krakelig mit "Köhrnerfutta" beschriftet. Aus einer anderen drang leises Stimmengewirr. Staunend legte Mindorah die Hand an den Deckel der großen Kiste und wollte sie gerade anheben, als Rogi hinter sie trat und sie warnte: "Tu daf lieber nicht! Da find die Leuchtdämonen untergebracht. Die find damit allerdingf reichlich unfufrieden und ftürfen fich mit Wonne auf jeden, der ef wagt, die Kifte fu öffnen. Allein find fie ja noch fu ertragen, aber gemeinfam..."
Damit wurde Mindys Neugier schlagartig vertrieben. Schnell zog sie ihre Hand zurück und ging vorsichtshalber einen Schritt zurück.
"Diefef Futter", setzte Rogi währenddessen zu weiteren Erklärungen an und zeigte auf die Schachtel, die Mindorah zuletzt betrachtet hatte, "wird jeden Morgen fu Dienftbeginn auf dem Boden aufgeftreut, daran bedienen die Tiere fich dann den ganfen Tag." Die Taube auf Rogis Schulter gurrte zustimmend. Als nächstes wies die Igorin mit der Hand auf einen großen Behälter. "Daf ift der Waffertank. Für Flüffigkeit muff natürlich auch jeden Tag geforgt werden. Ef wird in diefe Schalen", die Kommunikations-Expertin zeigte auf sechs Porzellanschüsseln, die gleichmäßig im Raum verteilt waren, "gefüllt und notfallf mittagf oder abendf erneuert."
Die Igorin stockte kurz und bückte sich dann mit grüblerisch in Falten gelegter Stirn zu einer verstaubten Pappkiste im untersten Regalbrett hinunter. "Da war doch mal...", murmelte sie kaum hörbar vor sich hin. Nach einigem Suchen beförderte sie hustend einen kleinen Metallschlüssel zu Tage.
"Hier haft du einen Erfatfschlüffel, damit du immer hier rein kommft", kommentierte sie ihr Handeln und drückte Mindy den Gegenstand in die ausgestreckte Hand.
Ohne überragende Freude verstaute die Gefreite den Schlüssel in ihrer Uniform. "Und sonst?", wollte sie wissen, "was ist in den ganzen anderen Schachteln?"
Nach und nach ging Rogi alle Kisten durch: Frischfutter, Nachrichtenkapseln, Paddles, Literatur, die Kommunikation betreffend [1], Verbandszeug und Medikamente für kranke oder verletzte Tauben...
***

"Fo, daf ift eigentlich allef", schloss Obergefreite Feinstich ihre ausschweifenden Erklärungen.
Mindorahs Kopf brummte schon von all dem neuen Wissen, das in ihm abgeladen wurde. Bei solch einer Überfüllung drohte bald Wissensablassung, auch Vergessen genannt, einzutreten und all die Informationen begannen schon über den Rand des Gedächtnisses zu schwappen, doch Mindy ließ sich nichts anmerken und erwiderte fröhlich: "Schön, das kann ich mir bestimmt merken, ist ja nicht viel!"
Rogi guckte zwar etwas ungläubig, verkündete dann aber sogleich: "Ich mach jetft mal Mittagfpaufe, du kannft dich ja noch mit den Tauben bekannt machen." Mit diesen Worten schlüpfte sie aus der Tür.
"Schönen Tag noch, danke für die Einweisung", rief Mindy ihr noch hinterher, dann war sie allein mit den Vögeln. Ratlos sah sie sich um. Und jetzt?, überlegte sie eingehend, während sie sich langsam einer Taube näherte, die sich an einem Futterkörnchen zu schaffen machte. Die Gefreite ging vorsichtig in die Knie und streckte dem Vogel die Hand entgegen, welcher skeptisch zurückwich. Die Taube war mit Ausnahme des orangefarbenen Schnabels und Klauen nachtschwarz. Die ebenso schwarzen Äuglein waren nur durch ein Glänzen zu erkennen. Ein sachtes Schillern in blau und grau überzog das Gefieder, aber alles in dem Spektrum von unglaublich vollem Schwarz. Fasziniert beobachtete Mindorah das Farbenspiel und die Bewegungen der Taube. Einige Federn zitterten leicht. Die angehende Kommunikations-Expertin schnalzte leise mit der Zunge. Langsam schien die Taube Vertrauen zu fassen. Sie machte einen vorsichtigen Schritt nach vorn und reckte ihren Hals. Ihr Schnabel öffnete sich ein klein wenig und stupste Mindorahs Zeigefinger an. Die Mundwinkel der Gefreiten zuckten und machten sich schließlich zu einem Lächeln breit.
"Na komm...", flüsterte sie kaum hörbar.
Und tatsächlich hob die Taube ihren Fuß und setzte ihn probeweise auf Mindys Handballen. Das Tier verlagerte sein Gewicht nach vorn und zog den anderen Fuß nach, ebenfalls auf die Hand. Etwas wackelig stand sie nun da und guckte zu Mindorahs Gesicht hoch. Die Taube kippelte kurz nach hinten und flatterte erschreckt mit den Flügelspitzen, doch schließlich fing sie sich und gurrte zufrieden. Die Gefreite knabberte aufgeregt auf ihrer Unterlippe. Langsam hob sie ihren Arm und führte ihn zur Schulter. Sie zitterte merklich, wodurch die Taube sich nur schwerlich halten konnte und froh war, als sie die sichere Schulter betreten konnte. Nochmals gurrte sie kehlig und rieb sich an Mindys Hals. Die Kommunikations-Expertin in Ausbildung gab einen kurzen Laut der Freude von sich.
"Aber du brauchst noch einen Namen", beschloss die Gefreite im Flüsterton.
Aus den Augenwinkeln linste sie zu dem Kopf des Vogels und ging in Gedanken Name um Name durch: Hm... Laura... Laila... Lili... Trixi... Tina... Kora...
"Ah, ich hab's", freute sie sich schließlich, "Kira!"
Die Taube gurrte zustimmend. Da stieg Mindorah plötzlich ein unangenehmer Geruch in die Nase und eine unheilvolle Ahnung flog sie an. Ein dünnes, weißes Rinnsal, das an ihrer Schulter hinunterlief, bestätigte ihren Verdacht. Mindy verzog das Gesicht: "Dann hätte ich das also auch hinter mir..."
Kira breitete ihre Flügel aus und erhob sich in die Lüfte um kurz darauf auf einem der Balken zu landen. Die Gefreite grummelte: "Wenn du mich jetzt nur als Scheißplatz auserkoren hast, dann..."
Widerwillig kramte sie ein T.E.M.P.O.[2] aus der Uniformtasche und rubbelte an dem weißen Fleck rum. Doch nachdem sie selbigen auf ungefähr das Doppelte erweitert hatte, gab sie seufzend auf. Stattdessen betrachtete sie sich noch die anderen Tauben, die sich im Raum rumtrieben, wechselte bei zweien der Schalen das Wasser und blätterte in den Büchern herum, die ihr von Rogi gezeigt worden waren. Abends verließ sie geschafft den Raum, stieg die lebensgefährliche Treppe hinunter, trottete durch das Wache-Gebäude und machte sich durch den Schnee auf den Heimweg.
***

Dicke, weiße Flocken machten es den Sonnenstrahlen schier unmöglich, die Scheibenwelt zu erklimmen und Ankh - Morpork zu erreichen. Weil die Sonne sowieso gerade schlecht drauf war [3], machte sie sich gar nicht erst die Mühe und blieb frustriert hinter den großen, grauen Wolken, die schwer am Himmel hingen, versteckt. Aus den Wolkenbergen strömten pausenlos Schneeflocken herab und wirbelten munter umeinander bis sie sich schließlich auf der Schneedecke niederließen, die sich über die Straßen und Dächer erstreckte und allen Müll und Dreck verdeckte, der gleichmäßig in Ankh - Morpork verteilt war und sich zu großen, stinkenden Bergen türmte. Nur ein paar surrende Fliegen, die gehetzt zwischen den Flocken herumschwirrten und ihnen hakenschlagend auswichen, verrieten die Essensreste.
Die weiße Pracht ließ Ankh - Morpork geradezu friedlich erscheinen. Ruhig segelten die Flocken vom Himmel. Vermummte Gestalten stapften durch den Schnee, an den verschneiten Häusern vorbei, von denen sich ab und zu kleine Lawinen lösten, schwungvoll nach unten sausten und den Schnee, auf dem sie landeten zu weißen Wolken aufwirbelten. Die Schneedecke dämpfte alle Geräusche und somit war es auch weitestgehend still in der Stadt. Über eins der Dächer huschte geduckt ein in schwarz gekleideter Mann, die Arme und Hände unter dem Mantel verborgen und die Mütze, unter der die dunklen Augen hervorblitzten, tief ins Gesicht gezogen. Nur die Todesschreie, die wie üblich aus den Schatten erklangen, durchschnitten die vorherrschende Stille und trübten die Atmosphäre.
Mindorah Giandorrrh drehte sich inzwischen in ihrem klapprigen Bett um. Die Decke lag zerknüllt neben ihr und machte sich gerade daran, das Bett zu verlassen und auf den fleckigen Holzboden zu rutschen. Die Gefreite hatte die Arme über der Brust verschränkt und die Beine angezogen. Ihre Haare hingen ihr quer über das Gesicht und die Augen waren noch geschlossen. Kälte breitete sich langsam in ihrem Körper aus und ließ sie schlottern. Schließlich erreichte der Frost auch ihre Traumwelt und sie blinzelte schläfrig.
"Brrr...", ging es ihr über die Lippen. Nach Wärme heischend rieb sie sich die nackten Arme. Mindy drehte ihren Kopf und schielte zwischen ihren Haarsträhnen hindurch nach der Decke. Sie streckte ihren Arm und angelte nach dem Zipfel, der noch über den Bettrand lugte. Mit erheblichem Kraftaufwand beförderte sie die dicke Wolldecke wieder aufs Bett und wollte sich gerade gemütlich reinlümmeln und sich vom wohligen Schlaf übermannen lassen, als sie der unbarmherzige Gedanke erreichte, dass sie Dienst hatte. Ausbildung zum Kommunikations-Experten. Noch ein Tag mit dem Federvieh in einem Raum. Und davor durch Schnee und Kälte zum Wachhaus. Etwas verzögert setzte eine Welle schlechter Laune ein, die Mindorah überrollte und mit rauschender Brandung ihr Gehirn einnahm. Mürrisch richtete sie sich auf und stieg aus dem knarrenden Bett. Sie war mit einem grauen Nachthemd bekleidet, dass ihr bis zum Knöchel reichte. Barfuss tapste sie zu dem Stück Spiegelglas, das neben ihrem Bett an der Wand hing. Der Anblick ihrer verquollenen Augen mit den tiefen Ringen darunter und ihrer zerzausten, schwarzen Haare, die nach allen Seiten abstanden, trug nicht gerade zur Besserung ihrer Laune bei. Die Gefreite wandte sich ab und warf stattdessen einen Blick auf ihr kleines Fenster, das sie seit ihrem Einzug nicht mehr geputzt hatte und das nun von Eisblumen übersäht war. Durch die undichten Ritzen pfiff kalter Wind in das Zimmer. Mindys Wohnung bestand aus einem kleinen Raum, der spärlich mit einem Bett, einem Tisch samt Stuhl, einem verwitterten Schrank und einem Bottich mit Wasser möbliert war. In einer der Schubladen des Schranks kramte sie jetzt herum. Zwischen abgerissenen Knöpfen, ein paar A-M-Dollar, Socken und einem zerfledderten Buch fischte sie schließlich einen Kamm heraus und fuhrwerkte damit in ihren schwarzen, schulterlangen Haaren rum. Doch nach kurzer Zeit gab sie es auf und schmiss den Kamm in die Schublade zurück. Sie klatschte sich eine Handvoll Wasser aus dem verbeulten Bottich ins Gesicht und zog ihre Uniform aus dem Schrank. Nachdem sie diese angelegt hatte, warf sie sich noch einen dunkelroten Umhang um und zog dicke Lederhandschuhe an. Danach schlüpfte sie in die gefütterten Schnürstiefel und zurrte sie fest. Schließlich befestigte sie noch ihr Schwert am Gürtel und trat nach einem letzten sehnsüchtigem Blick auf ihr Bett nach draußen. Sofort wehten ihr die weißen, kalten Flocken ins Gesicht. Seufzend schloss Mindorah die Tür und stapfte voran. Sie lehnte sich leicht nach vorne, um dem heftigen Schneefall entgegen zu wirken und kniff die Augen zusammen. Mühsam setzte sie einen Fuß vor den Anderen. Es waren schon eine Menge Bewohner der Stadt auf den Beinen. Marktfrauen bauten ihre Stände mit Obst und Gemüse auf und Eselskarren fuhren durch die Straßen und hinterließen Radspuren im Schnee. Doch die Flocken beeilten sich, die Fußabdrücke und Karrenspuren wieder zu füllen und die geschlossene Schneedecke wieder herzustellen, welche wiederum von neuen Abdrücken zunichte gemacht wurde. So lieferten sich Schnee und Lebensformen ein seltsames Duell und die Gefreite lief mitten hindurch, ohne Kenntnis davon zu nehmen, ganz und gar eingenommen von dem Gedanken an ihr halbwegs warmes Bett und der schlechten Laune, die sie plagte.
***

Der Schnee knirschte unter seinen Füßen. Zielstrebig bewegte er sich auf den Rand des Daches zu. Er ging in die Knie und blickte wachsam um sich. Da! Er hatte gefunden, was er suchte. Mit einem Schlag stieß er die rechte Seite seines Mantels beiseite. Hervor kam eine Armbrust, die er nun anhob und auf sein Ziel richtete. Schneeflocken rieselten auf ihn hinab und bedeckten ihn mit einer dünnen, weißen Schicht während er reglos auf den passenden Moment wartete. Die Spitze des Bolzens funkelte stählern in den vereinzelten Sonnenstrahlen. Ein unheilvolles Geräusch entstand, als er die Sehne der Armbrust spannte. Er linste durch die kleinen Schlitze, zu denen er seine Augen zusammen gekniffen hatte. Er verzog seinen Mund zu einem Grinsen, als der Moment kam, in dem er losließ und der Bolzen mit einem Zischen in die Häuserschlucht davonraste.
***

Erwin Aufschlitzer zog die morsche Holztür hinter sich zu und machte sich fröstelnd auf den Weg zum Gildenhaus. Er stellte seinen Kragen auf und schielte aufmerksam nach allen Seiten. Beunruhigt stellte er fest, dass der fallende Schnee seine Sicht beträchtlich einschränkte. Der Atem, den er ausstieß, wurde sichtbar und gefror zu einer milchig-weißen Wolke. Langsam beschlich ihn ein ungutes Gefühl, wie als Vorbote für einen ungewissen Vorfall und veranlasste ihn, sein Schritttempo zu beschleunigen. Er suchte Schutz unter den Markisen der Marktstände am Rand der Straße, was zur Folge hatte, dass die Marktfrauen lauthals um sein Geld buhlten und ihm allerlei Waren anpriesen. Eilig setzte er Fuß vor Fuß in den weißen Pulverschnee. Erwin war ein Mann mittleren Alters, er hatte einen kleinen Bauchansatz und war mit 1.75 nicht gerade ein Riese. Unter seiner spitzen Nase, die lang aus seinem Gesicht ragte und auf der sich ein kleines Mützchen Schnee gehäuft hatte, zeigte sich ein glatt gekämmter Schnurrbart. Herr Aufschlitzer gebot sich selbst zur Ruhe. Er verlangsamte seinen Schritt wieder und ging dennoch zielstrebig seinen gewohnten Arbeitsweg. Seine wachsamen, kleinen Augen schwenkten in alle Richtungen und versuchten, das Schneegestöber zu durchbohren. Tatsächlich durchbohrte nun etwas die eisige Luft, allerdings nicht Erwins Blick. Der Mann vernahm noch ein scharfes Rauschen, das entstand, als der Armbrustbolzen die Distanz durchschnitt, bevor sich besagter Gegenstand durch den Mantel in das Fleisch bohrte und sich urplötzlich Schwärze über Erwin ausbreitete, wie ein Gewicht, das langsam im Ankh nach unten trieb und schließlich auf dem Grund aufprallte. In diesem Moment sackte Erwin Aufschlitzer zusammen und landete dumpf auf dem weißen Teppich. Ein dünnes Rinnsal Blut floss an seinem Körper entlang und färbte den Schnee tiefrot. Ein Zettel steckte an dem Bolzen und bedeckte das fransige Loch im Mantel, aus dem der rote Saft quoll. Die Ecken des Blatt Papiers flatterten im frostigen Wind, bis sie von der Schicht Schnee gehalten wurden, die die gesamte Leiche bald bedeckte und sie friedlich wirken ließ, wie es heute ganz Ankh-Morpork zu sein schien. Doch wieder gab es etwas, das das Bild trübte: Die aufgebrachte Menge von Schaulustigen, die sich um den leblosen Mann drängelte.
***

Mindorah strich sich eine Strähne ihres Haares aus dem Gesicht, die mit Schneeflocken gesprenkelt war. Die Kälte ließ ihre ohnehin bleiche Haut noch blasser erscheinen. Aus dem Augenwinkel entdeckte die schmallippige Frau, wie sich eine Ansammlung von Leuten bildete. Einzelne Rufe wurden laut, die eine Leiche bekundeten. Mindy lachte verächtlich. Natürlich. Der Wächterin fällt auf dem Weg zur Arbeit eine Leiche vor die Füße. Das ist genau die Story aus dem schlechte Krimis gemacht sind... Sie achtete nicht weiter darauf, sie war in Ankh-Morpork aufgewachsen und kannte den Drang der Bewohner, eine nichtssagende Tatsache bis zur Unkenntlichkeit aufzubauschen. Trotzdem lenkte sie ihre Schritte auf die Menge zu.
"Lasst mich durch", rief sie energisch, als sie an dem Pulk angekommen war. Mit wachsender Ungeduld kämpfte sie sich durch die Menge. Schließlich stieß sie eine schlanke, große Frau, die laut vor sich hin keifte und einen deutlich kleineren Mann mit Vollbart auseinander und blickte auf eine Gestalt, die reglos im Schnee lag. Ein Armbrustbolzen ragte an der Stelle aus dem Oberkörper, an der sich etwa das Herz befinden musste. Trotz des Unbehagens, das sie ergriff, blieb die Gefreite einigermaßen ruhig. Geistesgegenwärtig sah sie nach oben und suchte die Dächer nach Schützen ab, doch die Schneeflocken, die selig herabfielen, verschleierten ihre Sicht und sie konnte nichts erkennen außer den grauen Schemen der Häuser und Schornsteine. Mindorah ließ sich neben der Gestalt nieder, streifte sich einen Lederhandschuh ab und fühlte nach dem Puls. Aber so sehr sie auch an der Hand herumfuhr und suchte, nichts zuckte, nicht mal der Hauch eines Pulses war zu spüren. Resigniert legte sie die Hand zurück neben den leblosen Körper. Ihr Blick fiel auf das Einschussloch. Übelkeit stieg in ihr auf, als ihr das Blut ins Auge stach, das an der Seite der Leiche hinunter rann und sich als roter Fleck im Schnee ausbreitete. Die Gefreite unterdrückte den Brechreiz, der sie beim Anblick des zerfetzten Mantels und der Vorstellung überkam, in welchem Zustand sich das Fleisch darunter wohl befand. Da entdeckte sie einen Zettel, der am Bolzen steckte. Er war von einer Schneeschicht verdeckt und aufgeweicht. Vorsichtig strich sie den Schnee vom Papier. Verschwommene Buchstaben tauchten auf. 'As-ass-ne' entzifferte sie. Die Wächterin wollte schon abwinken und die Sache als Gildenangelegenheit abtun, als ihr ein Wort auffiel, das die Situation drastisch veränderte. 'Kein' ließ sich da mit Mühe erkennen.
Der Zufall stand indessen nach wie vor unauffällig an einer Hauswand und beobachtete grinsend das weitere Geschehen.
Mindorah richtete sich hektisch auf und beäugte die Menge. Schließlich wandte sie sich an ein pummeliges Kind, das in der ersten Reihe der Ansammlung stand und sie erwartungsvoll anblickte.
"Du, lauf zum Wachhaus und verständige SUSI", befahl Mindy ihm und deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung Pseudopolisplatz. "Und sag ihnen, sie sollen mir eine Taube mitbringen", fügte sie nach kurzem Überlegen hinzu.
Der Junge nickte begeistert, was seine Pausbacken in heftige Schwingungen versetzte, und rannte sofort los. Die Gefreite klopfte sich währenddessen den Schnee von der Uniformhose, zog den Handschuh wieder über die klammen Finger und forderte die Menge auf: "Gehen Sie bitte weiter, es gibt nichts mehr zu sehen. Ausgebildete Wächter werden sich darum kümmern. Wenden Sie sich wieder Ihrer Arbeit zu und verlassen Sie den Tatort. Falls Sie sachdienliche Hinweise haben, melden Sie sich bitte bei mir oder einem anderen Mitglied der Stadtwache."
Da sie, wie schon erwähnt, die Bewohner der Stadt kannte, versuchte Mindorah nur halbherzig die Leute zum Gehen zu bewegen, womit sie dann auch, wie erwartet, keinen Erfolg hatte. Nach einiger Zeit hörte sie die laute Stimme von Larius de Garde, der sich zu der Leiche drängelte, gefolgt von Sillybos, Hegelkant und Alice. Erleichtert atmete Mindy auf.
"Puh", erklang es auch von Larius, als er endlich den Fängen der Schaulustigen entkommen war.
Die Gefreite salutierte: "Hallo Sör!"
Der Tatortsicherer nickte ihr grüßend zu. Alice stürmte fluchend an ihm vorbei. In den Händen hielt sie eine sich windende Taube.
"Nimm dein verdammtes Vieh zu dir", sagte sie aufgebracht und streckte Mindorah den Vogel hin.
Die Taube befreite sich wild flatternd und kreischend aus dem Griff der Spurensicherin und flog auf Mindys Schulter. Freudig stellte sie fest, dass es sich um Kira handelte.
"Danke", meinte Mindorah zu Alice, die immer noch wütend vor sich hin murmelte und ihre verkratzten Hände begutachtete. Die werdende Kommunikations-Expertin kraulte die Taube beruhigend am Hals.
Larius sah prüfend auf die Leiche hinab: "Was ist denn hier überhaupt vorgefallen?"
"Durch die Menge von Leuten wurde ich auf die Leiche aufmerksam, vermutlich wurde der Mann durch den Schuss einer Armbrust getötet. Ein Zettel hängt an dem Bolzen, auf dem 'Kein Assassine' steht, vorausgesetzt ich konnte die Buchstaben richtig entziffern. Auf der Hand und dem Zettel sind Fingerabdrücke von mir zu finden", erklärte Mindorah in leierndem Tonfall den Sachverhalt.
Der Tatortsicherer von SUSI nickte nachdenklich: "Gut, wir übernehmen die Angelegenheit." Er winkte seine Kollegen heran und begann damit, eine rot-weiß angepinselte Absperrung auszurollen. Sillybos, das neugierige Gesicht von Hegelkant immer über seine Schulter ragend, und Alice machten sich währenddessen an der Leiche zu schaffen.
Da wurden Stimmen in der Menge laut.
"Hey, geben Sie mir gefälligst meinen Arm wieder", drohte lauthals ein Zombie, der sich zum Tatort kämpfte. Ein fauliger Geruch zog gefroren, zu einer Art Wölkchen formiert in Mindys Richtung und kündigte Herrn Made an, der gerade aus der Menge stolperte. Der Ballistiker von SUSI drückte Mindorah seinen abgerissenen Arm in die Hand.
"Halt mal", forderte er sie knapp auf.
Mit spitzen Fingern hob sie das Körperteil in die Höhe und bedachte es mit einem leicht angewiderten Blick, während Kira neugierig daran pickte. Das gammlige Hautgewebe war mit einer dünnen Frostschicht überzogen und Schneeflocken hatten sich in den zerschlissenen Kleiderfetzen verfangen. Herr Made fummelte Nadel und Faden aus der Tasche seiner heruntergekommenen SUSI-Uniform und erklärte der Gefreiten, an welche Stelle des Rumpfs sie den Arm drücken solle. Mit ein paar Stichen nähte Made den Arm stümperhaft fest. Probeweise bewegte er seine mit fauligen Stellen versehenen Finger ein bisschen, drehte seine Hand hin und her und wendete knackend seinen Ellbogen.
"So", gab er schließlich von sich, "ich werde gebraucht?"
Mindy nickte: "Ja, ich hab's eben schon Larius beschrieben. Vermutlicher Tod durch den Schuss einer Armbrust, du sollst dir wahrscheinlich den Bolzen mal genauer anschauen."
Herr Made schlug erwartungsvoll die Hände gegeneinander. "Dann fang ich gleich mal a...mist!"
Wütend bückte er sich und wühlte seinen Zeigefinger aus dem Schnee.
Mindorah konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, biss sich aber schnell auf die Lippe und verkündete: "Ich mach mich dann mal auf den Weg!"
Ohne eine Antwort abzuwarten, entfernte die Gefreite sich von dem Geschehen und stapfte in eine unbestimmte Richtung davon. Welcher Mörder weist denn extra darauf hin, kein Assassine zu sein? Was macht das für einen Sinn?, zermarterte sie sich den Kopf. Gedankenverloren setzte sie Fuß vor Fuß. Plötzlich blieb sie stehen. Sie merkte, dass ihre Schritte sie unbewusst zur Assassinengilde geführt hatten. Es hat auf jeden Fall etwas mit den Assassinen zu tun, das ist klar..., mit diesem Gedanken klopfte sie kurzerhand an die Tür des großen Gebäudes. Eine kleine Luke öffnete sich im oberen Drittel der Holztür und zwei misstrauisch schauende Augen zeigten sich. Mindy setzte ein selbstbewusstes Gesicht auf und durchsuchte ihre Uniformtaschen nach der Dienstmarke. Umständlich kramte sie mit dem großen Lederhandschuh in der Tasche herum, bis sie endlich die Marke in die Hände bekam und zum Vorschein brachte. Ernst streckte sie den Gegenstand zur Tür, doch die Ungläubigkeit, die sich in den Augen des Pförtners widerspiegelte, machte sie stutzig. Sie lenkte ihren Blick auf die vermeintliche Dienstmarke und entdeckte eine angerostete Anstecknadel an der Rückseite. Schamesröte stieg ihr ins Gesicht und mit peinlichem Räuspern stopfte sie die "Kein Schmerz für Tiere" – Plakette eilig zurück in ihre Tasche. Stattdessen fischte sie nun die richtige Dienstmarke aus dem Chaos von Papierfetzen, bröckeligen Zuckerwürfeln [4], Fäden, die sich aus der Uniform gelöst hatten und sonstigem Kram, der nicht eindeutig definierbar war. Die Gefreite fuhr schnell mit ihrem Ärmel über die schmutzige Marke und hielt sie, unsicher lächelnd, vor den rechteckigen Ausschnitt des Gesichts, den sie durch die Luke erkennen konnte. Sie schnappte vergeblich nach der verlorenen Autorität und gab sich Mühe, Strenge in ihre Stimme zu bringen, doch es gelang ihr nicht gänzlich. Die verbliebene, schwach-rötliche Färbung ihres Gesichts trug auch nicht unbedingt zu mehr Respekt bei.
"Ich würde gerne mit Lord Witwenmacher sprechen. Führen Sie mich zu ihm, ich bin von der Stadtwache", forderte sie die grünen Augen auf, die sie leicht belustigt durch die Öffnung anblickten. Die Pupillen senkten sich auf die Dienstmarke, Falten zeigten sich kurz oberhalb der buschigen Augenbrauen und schließlich drang ein tiefes Brummeln durch die Tür. Kurz darauf öffnete sie sich quietschend einen Spalt breit. Mindorah atmete noch einmal tief durch und zwängte sich dann an der Tür vorbei in den Raum. Ein Wärmeschwall schlug ihr trocken entgegen, der die Schneeflocken auf ihrem Körper sofort schmelzen ließ. Sie tröpfelten von der Uniform auf den Parkettboden und formten sich zu kleinen Pfützen, die nach und nach zischend verdampften und sich als Dunstwölkchen auf den Weg zur Decke machten. Die Wärme rührte von einem großen Feuer her, das im Kamin brannte. Die Flammen züngelten flackernd nach oben und Funken stoben in alle Richtungen. Der Pförtner stand leicht gebückt zu einer spöttischen Verbeugung an der Tür. Er hatte spärliche, graue Haare und Falten des Alters zeichneten sein Gesicht. Doch unter den zitternden Lidern blitzten lebendige grüne Augen hervor und volle, dunkle Augenbrauen säumten seine Stirn. Er trug einen schwarzen, faltigen Anzug.
"Sie wollen zu Lord Witwenmacher? Darf ich Sie dann hier entlang bitten?", fragte der Pförtner förmlich und zeigte auf eine breite Wendeltreppe aus dunklem Holz. Seine Augen verrieten blanken Hohn, doch äußerlich gab er sich auf eine kühle, abweisende Art übertrieben höflich.
Unsicher bewegte sich Mindorah auf die Treppe zu, deren Stufen mit weinrotem, samtartigem Stoff ausgelegt waren. Kira gurrte leise auf ihrer Schulter. Die Gefreite legte ihre Finger fest um das Treppengeländer und stieg nach oben. Sie fand sich in einem kleinen Gang wieder, an den drei Türen grenzten. Die hinterste bestand aus schwarzem Holz mit feiner Maserung. Neben dem Rahmen war ein blank poliertes Schild angeschraubt, das den Raum als Büro von Lord Witwenmacher auswies. Mindy hob die Hand, schluckte und wollte gerade klopfen, als eine Stimme erklang: "Komm herein!"
Verdutzt schrak Mindorah zurück. Sich Mut machend fuhr sie über Kiras Flügel, wonach die Taube sofort anfing genüsslich zu gurren. Die Gefreite schloss kurz die Augen, sammelte den Mut aus den hintersten Ecken ihres Körpers und stieß schließlich die Tür auf. Mindy stand vor einem großen, weitläufigen Raum, an dessen Ende Witwenmacher hinter einem massiven Schreibtisch saß und verschmitzt lächelte.
"Soso, du willst mich also sprechen?", mit spöttisch hochgezogenen Augenbrauen musterte er die Wächterin.
Mit einem Schlag wurde Mindorah bewusst, dass die Assassinengilde und Witwenmacher eine Nummer zu groß für sie waren. Sie war gerade erst zur Gefreiten befördert worden und steckte mitten in der Ausbildung zur Kommunikations-Expertin. Weder war das ein Fall auf FROG-Gebiet, noch durfte sie, als Gefreite, sich ohne Erlaubnis daran wagen! Doch ihr war auch klar, dass sie sich jetzt nicht mehr einfach verdrücken konnte, es war zu spät: Sie war hier...
"Ähem, ja...", stimmte Mindorah kleinlaut zu.
Lord Witwenmacher schmunzelte: "Dann würde ich dir raten, dich nicht weiter in den Raum hinein zu begeben. Und mach schnell!"
Hektisch sammelte Mindy ihre Gedanken: Wann würde ich explizit benennen, nicht zu einer bestimmten Gruppe zu gehören...hm...natürlich! Wenn ich sie nicht mag!
"Können Sie mir eine Liste von Leuten geben, die mit der Assassinengilde nicht auf gutem Fuß steht?", fragte die Gefreite mit halbwegs fester Stimme.
Ihr Gegenüber starrte sie kurz ungläubig an, dann brach er in schallendes Gelächter aus.
"Klar", erwiderte er, nachdem er sich wieder gefasst hatte, "dazu bräuchte ich allerdings eine Liste mit sämtlichen Bewohnern Ankh-Morporks. Dann könnte ich die paar Ausnahmen wegstreichen, die nicht auf schlechtem Fuß mit uns stehen."
Erneut schoss Mindorah das Blut in den Kopf. "Das war's dann auch schon, danke für Ihre Hilfe", stammelte sie und trat beschämt aus der Tür. Eilig stolperte sie die Treppe hinunter und verließ das Gebäude unter dem spöttischen Blick des Pförtners.
Die frostige Kälte schlug ihr hart entgegen. Ein plötzlicher Schauer überkam Mindy, der sie zittern ließ.
"Da hab ich mich ja mal wieder schön blamiert", murmelte Mindorah zu ihrer Taube und setzte sich in Bewegung.
***

Nach langem, gedankenverlorenem Streifen durch die Kälte begab sich Mindorah schließlich zur Wache. Mit klammen Fingern zog sie die Tür auf, die durch den Schnee heftig gebremst wurde und tapste mit wackligen Schritten hinein. Kira bibberte auf ihrer Schulter und klapperte mit ihren Schnabelenden aufeinander. Mindy zog sich die starren Lederhandschuhe von den rot gefrorenen Händen und stopfte sie in die Uniformtaschen. Fröstelnd rieb sie sich die Hände. Allmählich geriet wieder etwas Wärme in die abgestorbenen Finger. Langsamen Schrittes ging sie in Richtung der SUSI- Labors und Büros. Vor Larius de Gardes Kammer blieb sie zögernd stehen. Schließlich klopfte sie an die Tür und trat in den Raum. Der Tatortsicherer in Ausbildung saß an seinem Schreibtisch, über einen Stapel Papiere gebeugt und sah nur kurz auf, als Mindy hereinkam.
"Hallo Mindorah! Was ist? Willst du unsere Ergebnisse hören?", erkundigte er sich undeutlich nuschelnd, während er nachdenklich auf einem Bleistift herumkaute, was zur Folge hatte, dass in geringen Abständen kleine Holzspäne auf die Dokumente fielen und Sabberflecken darauf hinterließen.
"Ja, danach wollte ich fragen", bestätigte die Gefreite und schielte neugierig auf das Papier vor Larius.
"Also", wandte der sich endlich seiner Besucherin zu und nahm den Stift aus dem Mund, "wir haben in der Hosentasche des Mannes einen Beutel gefunden, indem sich unter anderem seine Ochsenkarrenlizenz befand. Deshalb wissen wir Namen und Adresse des Toten."
"Nämlich?", unterbrach Mindy ihn.
Grübelnd drehte sich der Chief-Korporal wieder zu den Dokumenten und blätterte darin herum. Schließlich hellte sich seine Miene auf und er zog ein Blatt Papier aus den Akten hervor. "Erwin Aufschlitzer hieß der Mann und er bewohnte eine Wohnung in der Brauerstraße. Nummer 11 um genau zu sein", informierte er die auszubildende Kommunikations-Expertin.
Mindorah nickte: "Gut, weiter!"
"In einer der anderen Taschen war ein Block mit Quittungen der Assassinengilde, was ziemlich sicher beweist, das wir es mit einem Assassinen zu tun haben. Ansonsten ein paar Ankh-Morpork-Dollar und ein Werbezettel, der den Beitritt zu den Ting-Mönchen anpreist. Diese neue Religion, die sich gerade rasendschnell ausbreitet. Ach ja, und ein Schlüsselbund, vermutlich für seine Wohnung. Dann der Zettel am Bolzen: Die Aufschrift heißt vollständig "Kein Assassine war hier" und ist mit gewöhnlicher blauer Tinte geschrieben, was auch der Grund dafür ist, wieso sie schon nach kurzer Zeit so verschwommen war. Außer von dir sind keine Fingerabdrücke drauf zu finden. Das wär' soweit alles, der Bericht des Ballistikers ist noch nicht da..."
Kaum hatte Larius den Satz ausgesprochen, klappte eine Luke neben seinem Schreibtisch auf und Reggie, einer der Rohrpostdämonen der Wache, schob ein paar zusammengefaltete Blätter durch die Öffnung, die schwungvoll zwischen dem Chaos auf dem Schreibtisch landeten, ein paar Mal auf und ab federten und schließlich still liegen blieben. Ohne ein Wort ließ der Dämon die Klappe wieder zu fallen. Ein dumpfes Tapsen drang zu Mindys Ohren und wurde immer leiser, bis es ganz verstummte. Der Tatortsicherer und stellvertretende Abteilungsleiter von SUSI rollte währenddessen geräuschvoll die Blätter auseinander.
"Jaja, wenn man vom Teufel spricht...",murmelte der Chief-Korporal und reichte Mindorah die Papierbögen. Es handelte sich um den Bericht von Herr Made.

Bericht

Von Ballisitiker Herr Made


Anlässlich des Fundes einer Leiche mit einem Armbrustbolzen in der Brust wurde eine Untersuchung durch den Ballistiker durchgeführt.

Eine Zeichnung über den Einschusswinkel, eine Ikonographie des Bolzens und in einem Tütchen gesicherte Stoffpartikel liegen bei.

Der Armbrustbolzen ist von der Firma "Treffsicher", die Schusswaffen aller Art herstellt. Es handelt sich um das Modell "Weitschuss", welches, wie der Name schon sagt, für Schüsse aus großer Distanz benutzt wird. Die dazugehörige Armbrust ist etwa 40 cm breit und sehr leicht. Ein weit verbreitetes Modell, das vor allem in Assassinenkreisen hohes Ansehen genießt.

(siehe die beiliegende Zeichnung)
Der Bolzen steckte in einem Winkel von 45 Grad zum Boden in dem Körper. Das heißt, der Schuss kam von oben, etwa von einem Balkon oder Hausdach. Da der Bolzen schräg stand und sofern die Leiche nicht bewegt wurde, muss der Schütze ein paar Meter vor dem Opfer auf einer Erhebung gegenüber gestanden haben.

(siehe beiliegendes Tütchen)
An der Spitze des Bolzens hing ein kleines Stück schwarzer Wollfaden. Nach eingehender Untersuchung lässt sich mit gewisser Sicherheit sagen, dass es sich um ein Überbleibsel des Mantels handelt, den das Opfer zur Tatzeit trug.

Gezeichnet,
Gefreiter Herr Made

Mindorah legte den Bericht bei Seite und betrachtete die Bleistiftzeichnung, die daran geheftet war. Sie zeigte den beschriebenen Aufbau der Szene. Dann folgte eine Großaufnahme des Armbrustbolzens und schließlich eine kleine, durchsichtige Tüte, in der Mindy mit Mühe schwarze Fussel erkennen konnte.
"Die sind wohl nicht sonderlich hilfreich", bekundete Larius, der sich neben die Gefreite gestellt hatte und ihr neugierig über die Schulter spähte.
"Wie geht's denn jetzt überhaupt weiter?", fragte diese nachdenklich, während sie weiter Mades Fund musterte.
"Ich nehme an, RUM wird mit dem Fall beauftragt. Es muss sich jemand Aufschlitzers Wohnung anschauen, vielleicht hat er ja Familie und diesen Ting-Mönchen wird wohl auch ein Besuch abgestattet werden", teilte Larius der werdenden Kommunikations-Expertin seine Vermutungen mit, "Du scheinst ziemlich interessiert an der Sache zu sein, was? Kannst ja mal bei Leutnant Lanfear anfragen, ob du helfen kannst. Die Ermittler schlagen sich bestimmt auch nicht darum, bei der Kälte durch Ankh-Morpork zu marschieren."
"Und mit der Taube scheinst du ja schon ganz gut zurecht zu kommen," fügte er aufmunternd hinzu und zeigte auf Kira, die inzwischen ihren Kopf nach vorne streckte und nach dem knisternden Tütchen schnappte. Mindorah zog es schnell weg, worauf die Taube das Gleichgewicht verlor und vornüber kippte. Mit einem Aufschrei des Entsetzens [5] breitete sie die Flügel aus und flatterte wild vor Mindys Gesicht herum.
Verschrocken wich Larius zurück und rief schrill: "Hilfe, ruf dein Federvieh zurück!"
Ruhig streckte die Gefreite den Arm aus und lockte die Taube mit Zungenschnalzen. Nach einer Darmentleerung auf Larius Büroboden ließ sich Kira endlich dazu überreden, sich zurück auf Mindorahs Schulter zu begeben.
Der Tatortsicherer fluchte lauthals und rümpfte die Nase: "Da scheine ich mich wohl geirrt zu haben!"
Mindy beeilte sich, Larius darüber zu informieren, das sie nun weg müsse und hastete durch die Tür.
***

Die Gefreite Giandorrrh stieg vorsichtig die morsche Holztreppe zum Taubenschlag hoch. Kira gurrte ungeduldig auf ihrer Schulter und die Stufen knarrten rhythmisch dazu. Wütend murmelte Mindorah vor sich hin: "Wenn ich gewusst hätte, dass hier so lebensgefährliche Bedingungen herrschen..."
Endlich erreichte sie den oberen Absatz der Treppe und ging die paar Schritte zur Tür. Sie fischte den kleinen Schlüssel aus ihrer Uniformtasche, den Rogi ihr gestern ausgehändigt hatte und öffnete die Tür. Schnell huschte sie in den Raum und der gewohnt beißende Gestank eines vollgeschissenen Taubenschlags umfing sie. Kira erhob sich sofort von ihrer Schulter und flog in einem weiten Bogen auf einen der Balken. Kurz darauf begann sie, ausgiebig jede einzelne Feder durch ihren Schnabel zu ziehen und sie so mit Spucke zu versehen.
"Tolle Säuberungsmethode", meinte Mindy kopfschüttelnd und suchte in dem Regal die Kiste mit dem Körnerfutter. Sie nahm eine Hand der groben Körnermischung heraus und verteilte sie gleichmäßig auf dem Boden. Auf einen Schlag stürzten die Tauben sich mit lautem Geschnatter auf das Futter und pickten es mit Heißhunger auf. Während sie den Vögeln beim Fressen zusah, füllte sie auch noch die Wasserschalen auf.
"So", schnaufte sie schließlich und klopfte sich die Hände ab, "fertig!"
Kira kann ich es nicht zumuten, sie gleich wieder mit zunehmen, entschied sie nachdenklich.
Mindorah ging unschlüssig um ihre Schützlinge herum und ließ ihren Blick suchend über die Tauben schweifen. Schließlich blieb sie bei einem silbergrauen Vogel hängen, der sie mit offenen Augen anblickte. Die Gefreite sah erstaunt zurück und bewegte sich langsam auf die Taube zu. Sie ließ sich auf die Knie sinken und bot der Taube ihre Hand an, doch das Federvieh guckte ihr nur weiter starr in die Augen. Mindy griff neben sich und hob zwei-drei Körner auf. Lockend schnalzte sie mit der Zunge und hielt der Taube das Futter entgegen. Endlich kam Bewegung in die Taube. Mit einem staksigen Schritt betrat sie den Arm und pickte nach den Körnern.
"Au", schrie Mindorah leise auf und steckte sich ihren blutenden Finger in den Mund. Dadurch ließ die Taube sich allerdings nicht stören. Ruhig zermalmte sie die Körner und stolzierte dann langsam Mindys Arm hoch zur Schulter. Mit einem Gurren ließ sie sich darauf nieder. Die Gefreite leckte grummelnd ihren Finger: "Ob ich mit dir so 'ne gute Wahl getroffen habe..? Auf jeden Fall weiß ich einen Namen für dich: Silberblick!"
Die Taube gab keinen Laut von sich.
"Das deute ich jetzt mal als stumme Zustimmung", sagte Mindorah schulterzuckend und richtete sich auf. Aus der Futterkiste bediente sie sich an Körnern, die sie kurzerhand in ihre Uniformtasche rieseln ließ, dann verließ sie mit Silberblick den Taubenschlag und machte sich bereit für ein schwieriges Gespräch.
***

"Wieso willst du denn unbedingt an dem Fall mitarbeiten?", fragte Rina Lanfear entnervt und raufte sich gestresst die Haare.
"Ich war nur wenige Meter entfernt, als der Mann ermordet wurde und war als erster Wächter bei der Leiche, ist das nicht Grund genug?", erwiderte Mindorah mit einer Stimme, in der deutlich die unterschwellige Bitte mitschwang.
Die RUM-Abteilungsleiterin rutschte auf ihrem Stuhl herum und kaute auf der Unterlippe. Man sah förmlich, wie sie mit ihren Gedanken rang.
"Na gut", gab sie endlich nach, "du kannst dich mit der Hauptgefreiten Schwertschleifer zusammentun, ich habe sie auf den Fall angesetzt. sie wollte gerade zu der Wohnung des Mannes, soweit ich weiß. Wenn du dich beeilst, müsstest du sie noch erwischen."
"Danke, Mä'äm", rief Mindorah aus, salutierte und eilte schnell aus der Tür.
Rina seufzte. Vor ihr auf dem Schreibtisch türmten sich Aktenberge. Ihre Haare waren zerzaust und unter den Augen zogen sich dunkle Ringe entlang. Kurz gesagt: Rina Lanfear hatte eine Menge Arbeit und war ziemlich fertig. Eigentlich hatte sie Wichtigeres zu tun, als sich um die Extrawünsche von frischgebackenen Gefreiten zu kümmern, aber sie musste gestehen, dass das immerhin eine Ablenkung von der Arbeit bedeutete. Sie seufzte erneut und erinnerte sich an die Zeiten, als sie noch Gefreite war und voll von überschüssiger Energie. In Erinnerungen versunken machte sie sich wieder an die Arbeit.
***

Mindy stürmte die Gänge entlang zum Hauptausgang der Wache, sodass die Taube Silberblick sich nur dadurch auf der Schulter halten konnte, dass sie die Krallen tief in die Uniform bohrte. Eine schlanke Frau in der rötlichen RUM-Uniform kämpfte gerade gegen den Widerstand des Schnees an, indem sie sich gegen die Tür stemmte, als die Gefreite ankam. Glatte, braune Haare fielen ihr über die Schultern und schimmerten golden. Schnaufend blieb Mindorah hinter der Hauptgefreiten stehen. Myra Schwertschleifer drehte sich verwundert um und blickte sie aus großen Augen fragend an.
"Hallo Myra", begrüßte Mindorah sie außer Atem, "Rina hat zugestimmt, dass ich mit dir ermitteln darf."
Die Frau zog staunend die Augenbrauen hoch. "Tatsächlich? Wieso das denn?", fragte sie und warf einen Blick auf das Abbild des Krustenbrecherfrosches auf Mindys Uniform, "ist doch ein Mordfall, was hat FROG damit zu tun?"
"Ich war in der Nähe des Tatorts, als der Mann umgebracht wurde und habe die Leiche gesehen...deswegen habe ich Rina gebeten, ob ich den RUM-Ermittlern helfen kann", erklärte Mindorah bereitwillig und half Myra die Tür aufzudrücken. Sofort knallte ihnen die eisige Luft entgegen. Die Hauptgefreite rieb sich die Arme. "Puh, ist das kalt!"
Mindorah nickte und zog sich die dicken Lederhandschuhe wieder an.
Neidisch warf Myra einen Blick auf den Stoff und schweifte dann mit den Augen zu den dünnen Baumwollhandschuhen über ihren Fingern.
Langsam machten sich die beiden Wächterinnen auf den Weg. Da das Zähneklappern das Reden schwer machte, liefen sie weitestgehend schweigend nebeneinander her, bis sie zum Tatort kamen. Die Schaulustigen hatten sich zerstreut, nachdem die Leiche weggeräumt worden war, nur der große Blutfleck im Schnee erinnerte noch an den Toten. An den Hauswänden duckten sich Stände, deren Warentische sich vor Last nach unten bogen. Myra kramte einen Zettel aus ihrer Uniformtasche.
"Brauerstraße 11", las sie murmelnd ab und ging an den Haustüren entlang. Schließlich blieb sie vor einer verwitterten, alten Holztür stehen, neben der die bronzene Zahl Elf prangte und die mit einem Kranz aus Zweigen verziert war.
"Hier ist es", erkannte sie und winkte Mindorah heran, die neben dem Blutfleck kniete und zu den Hausdächern hinauf blickte. Der Schneefall hatte etwas nachgelassen, sodass sie das Dach mühelos erkennen konnte. Grübelnd legte sie die Stirn in Falten.
"Hey, komm endlich her", drängte die Hauptgefreite ungeduldig, während sie an das dunkle Holz klopfte.
Langsam richtete Mindy sich auf und schlenderte zu Myra. Die Taube auf ihrer Schulter pickte und zog an den schwarzen Haaren herum, was die Gefreite veranlasste, die Strähnen immer wieder hinter die Schulter zu schieben.
Eine laute, freundliche Frauenstimme erklang aus der Tür: "Ich komme gleich!"
Myra warf ihrer Kollegin einen hilflosen Blick zu. "Sie weiß es noch nicht...wie sollen wir ihr das bloß erklären?", fragte sie kläglich.
Mindorahs Gehirn gab ihrem Kiefer gerade die Anweisung den Mund zu öffnen und machte sich daran, den Stimmbändern den Code zu übermitteln, der besagte welche Laute sie von sich geben sollten, da wurde schwungvoll die Tür vor ihnen aufgerissen, sodass der Kranz aus geflochtenen Tannenzweigen Anstalten machte, sich von der Tür zu verabschieden und den Schneehügel am Straßenrand zu erkunden. Doch er überlegte es sich noch mal anders und folgte der Tür nach innen. Eine beleibte Frau mit roten Backen und offenem Blick stand vor den Wächterinnen und wischte sich die Hände an einer fleckigen Schürze ab.
"Hallo, wir sind von der Stadtwache und hätten ein paar Fragen an Sie", begann Myra Schwertschleifer das Gespräch.
"Kommen Sie doch rein", forderte die Frau sie mit tiefer, voluminöser Stimme auf und machte ihnen Platz. Schneeflocken rieselten durch die Tür auf die Fließen im Hausflur und zeigten kurz das volle Ausmaß ihrer prachtvollen Formen, bevor sie anfingen zu schmelzen.
Die zwei Frauen in Uniform betraten das Gebäude und wurden von der Hausbesitzerin in die Küche geführt.
"Ich koche gerade das Essen für mich und meinen Mann, der müsste gleich Heim kommen", erklärte sie und nahm einen Holzlöffel zur Hand, mit dem sie in einem großen Topf mit Suppe rührte. Dampfwolken stiegen von dem Essen auf und gesellten sich zu dem appetitanregenden Geruch in dem Raum.
Silberblick reckte ihren Hals in die Höhe und wedelte mit dem Schnabel wild durch die Wolken.
"Sehen Sie, gute Frau, da gibt es ein Problem", fing Mindy zögerlich an zu reden und ließ sich auf einem der massiven Holzstühle nieder, die an einem großen Tisch lehnten.
"Ihm ist doch nicht etwa was passiert?", rief die Frau entsetzt auf.
"Doch....er wurde ermordet. Direkt vor Ihrer Haustür", brachte die Gefreite schließlich heraus.
Frau Aufschlitzer riss den Mund auf und gab kurze, gestotterte Laute von sich. Ihre Hände umgriffen fest die Platte neben der Kochstelle. Sie zitterte merklich und Myra eilte schnell zu ihr, um sie zu stützen.
"Es tut uns Leid", murmelte sie, doch die Frau reagierte nicht.
Alle Farbe entwich aus dem Gesicht der Witwe und zurück blieb ein aschfahles Weiß.
"Setzen Sie sich besser", riet Mindorah mitfühlend und erhob sich.
Myra geleitete die Frau zu dem Stuhl, auf den sie sich erleichtert fallen ließ.
"Ist es in Ordnung, wenn wir später noch einmal wieder kommen? So Leid es uns tut – wir müssen Sie zu ihrem Mann befragen. Es könnte sein, dass wir dadurch wichtige Hinweise zur Lösung des Falls bekommen. Und Sie wollen dich sicher auch, dass wir den Mörder so schnell wie möglich fassen?", erkundigte sich die Hauptgefreite besorgt.
Die Witwe nickte. "Soll ich Sie zur Tür begleiten?", fragte sie tonlos.
"Nein, danke. Beruhigen Sie sich erst mal, das war sicher ein schwerer Schlag für Sie", lehnte Mindorah ab und ging schnell durch die rot angestrichene Tür zurück in den Flur. Sie war froh, der gedrückten Stimmung zu entkommen. Angespannt stieß sie die Haustür auf und trat nach draußen. Myra folgte ihr unsicheren Schrittes. Ein blasser Ring wand sich um ihre Nase.
"Kein Wunder, dass die Obrigkeit diese Arbeit auf uns abgewälzt hat...", erkannte sie mit belegter Stimme.
Mindy erwiderte nichts und schritt stumm zu dem am nächsten gelegenen Marktstand. Auf der rot-weiß gestreiften Markise türmte sich ein Schneehügel, der den Stoff tief durchhängen ließ. In schlecht zusammengezimmerten Holzkisten häuften sich weinrote Äpfel. Hinter der Ware lief hektisch eine Frau hin und her. Als sie die Wächterinnen bemerkte, blieb sie stehen und sah sie über ihre spitze Nase hinweg hoffnungsvoll an. Ihr Kinn versank in einem dicken Pelzkragen, der wiederum an einen braunen Mantel genäht war, der die Gestalt völlig einhüllte und nur schwerlich ihre schmale Statur vermuten ließ.
"Wie lange stehen Sie schon hier?", fragte Mindorah und musterte das rote, geschwollene Gesicht, an dessen Seite struppige blonde Haare abstanden.
"Seit heute früh...", gab die Frau mürrisch Auskunft. Sofort sprach sie hastig weiter: "Wollen Sie vielleicht ein paar von diesen wunderbaren Äpfeln?"
Sie griff mit der Hand in eine der Kisten und streckte den Wächterinnen penetrant das Obst entgegen. Mindys Taube machte den unmöglichen Versuch, mit ihrem Schnabel an die Äpfel zu gelangen, wodurch ihr Hals zwar um einiges länger wurde und sie sich ein paar unangenehme Blicke der Verkäuferin einheimste, dessen Erfolg aber im Endeffekt Null war.
Die Gefreite ignorierte die aufdringlichen Verkaufsstrategien genauso wie das Rekordhalsstrecken ihrer Taube und fragte weiter: "Haben Sie mitbekommen, wie ein Mann von etwa Ein Meter Siebzig hier heute Morgen umgekippt ist?"
Die Verkäuferin ließ ein hysterisches Lachen hören: "Umgekippt? Ermordet wurde der! Direkt vor meinem Stand!" Mit der freien Hand deutete die Marktfrau vage zur Stelle des Mordes.
"Können Sie mir das etwas genauer erzählen?", bat Mindy.
Myra war inzwischen neben sie getreten, blickte erstaunt die sich immer noch haltende Hand samt Äpfeln an und lauschte den Ausführungen der Marktfrau.
"Aber natürlich! Ich hab ja sonst nix zu tun, es will ja niemand meine Äpfel kaufen", ein vorwurfsvoller Klang schwang in ihrer Stimme mit, "also gucke ich mir halt gelangweilt die Leute an, die durch die Gasse kommen. Und der eine, der fiel mir gleich auf! Wissen Sie, der hat sich schon so verdächtig umgeguckt, als würde er was ahnen! Und dann hat er einen ganz schönen Zahn zugelegt und lief ganz nah bei den Ständen, bis dann plötzlich dieser Pfeil runter gesaust kam, man hat ihn kaum gesehen, da steckte er schon in dem Kerl drin und der sackt zusammen...und dann das Blut! Also ein schöner Anblick war das nicht, das können Sie mir glauben! Aber was red ich denn da? Sie kamen doch auch gleich zum Tatort!"
Misstrauen schlich sich in den Blick der Frau.
"Ja, da haben Sie sogar recht. Deswegen bin ich ja hier. Konnten Sie erkennen, aus welcher Richtung der Pfeil, wie Sie sagen, kam?", führte Mindorah das Gespräch fort, ohne das Beäugen der Verkäuferin zu beachten.
"Von da", bestimmt zeigte die Frau auf ein gegenüberliegendes Dach.
"So?", fragte Mindy verschmitzt, "ich dachte, man hat den Pfeil kaum gesehen, da steckte er schon in dem Kerl drin..?"
Einen kurzen Moment stutzte die Frau, um die Gefreite dann mit holpriger Stimme anzuschnauzen: "Wieso wollen Sie das überhaupt alles wissen?"
"Für die Ermittlungen in dem Mordfall", antwortete Mindorah schlicht, "das wär's auch schon."
Damit wandte sie sich ab. "Ich glaube nicht, das es Sinn macht, die anderen Verkäufer noch zu befragen, sie werden uns wohl auch nichts Neues erzählen", teilte sie Myra im Weggehen mit.
Die Marktfrau grummelte wütend vor sich hin und ließ die Äpfel endlich wieder aus der Hand fallen. Der Arm war langsam wirklich schwer geworden...
Die Hauptgefreite nickte zustimmend: "Wahrscheinlich hast du Recht."
"Dann gehen wir jetzt zu den Ting-Mönchen?", fragte Mindorah.
"Ja, das wollte ich auch grade vorschlagen", meinte Schwertschleifer. Kurz darauf gestand sie beschämt: "Gut, dass du überhaupt daran gedacht hast, die Marktfrau zu befragen, das hätte ich glatt vergessen..."
***

Staunend sah Mindorah an dem knallbunten Gebäude hoch. Es sah aus, als hätte da jemand eifrig mit Farbtöpfen herumgealbert. Tupfen, Flecken, Punkte und Striche fanden sich in allen erdenklichen Farben neben-, über-, unter- und aufeinander. Nur ein paar runde Fenster waren verschont geblieben. Die beiden Wächterinnen standen vor dem Tor, das in das Haus führte und an dem ein großes Plakat hing. "Tag der offänen Tühr", war in vollem Dunkelblau darauf gepinselt. Darunter, etwas kleiner, fand sich in rosa die genauere Beschreibung.
"Was für ein Farbgeschmack", murmelte Myra fassungslos.
"Wohl eher Farbgeschmacklosigkeit", erwiderte Mindy sarkastisch und las weiter:
"Am Mittwoch, ab sieben Uhr am Morgähn sint die Tore bis abents für jedermann geöffnet. Die Mönche des Ting-Ohrdens stehen gärn für Frahgen alla Art zur Fervügunk. Treten Sie ein!"
"Na dann mal los", beschloss Myra und klopfte mit dem grünen Metallring, an dessen Ende der Kopf einer Ente geformt war und der am Tor befestigt war, an das Holz. Obwohl Mindorah in dieser Umgebung eher ein schrilles Quietschen als Reaktion erwartet hätte, erklang ein dumpfes Pochen und kurz darauf eilige Schritte. Der Torflügel ächzte und stöhnte, als er nach innen aufgezogen wurde. Ein Mann mittleren Alters mit Halbglatze und einer quietschgelben Kutte strahlte sie freundlich an.
"Guten Tag, kommt rein, Ting sei mit euch", empfing er sie und schubste sie in das Gebäude.
Innen war der Anstrich fast noch geschmackloser als draußen. Grelle pinkfarbene und gelbe Tupfen zogen sich über alle Wände. Große schwarze Fliesen bedeckten den Boden, was immerhin mal ein angenehmer Anblick war und die beiden Kolleginnen veranlasste, ihre Augen fast ausschließlich auf den Boden zu richten[6]. Gegenüber des Eingangstores befand sich eine kleine Erhebung, auf der sich das bombastische, steinerne Abbild einer Ente erhob. Um die Skulptur herum sammelte sich ein Grüppchen Leute, die mehr oder weniger aufmerksam einem zweiten Mann in gelber Kutte lauschten, der mit viel Mimik und Gestik die Hintergründe des Ting-Ordens erläuterte.
"...weshalb wir den großen, gefiederten Ting als Überbringer der Freude und Ausgelassenheit verehren und uns zu seinen Ehren in bunte Gewänder hüllen und in bunten Gebäuden hausen, da wir die Farbenvielfalt als Abbild der Heiterkeit betrachten...", schallte es durch den Raum.
Myra Schwertschleifer wendete sich an den Mönch, der sie begrüßt hatte.
"Sagen Sie, kennen Sie einen Herrn Erwin Aufschlitzer?", fragte sie ohne Umschweife.
"Nein, der Name sagt mir nichts, aber ich kann gerne in unserer Mitgliederliste nachsehen, ob er zu dem glücklichen Kreis der Ting-Mönche gehört", antwortete er mit einem scheinbar unauslöschbarem Lächeln im Gesicht, das sich von einem Ohr zum andern zog.
Die Hauptgefreite nickte: "Ja, das wär nett!"
Sofort eilte der Mann mit wehender Kutte zu einer Tür und schlüpfte hindurch.
Die zwei Wächterinnen standen ungeduldig in der Halle und warteten.
"...wir sind immer darauf berufen, neue Anhänger zu finden, die an die Freude als puren Lebensinhalt glauben und sich unserem vergnügten Orden anschließen wollen. Bunte Informationsblätter finden sie in den fröhlichen Holzständern am Eingang..."
"Hoffentlich sind wir hier bald fertig", klagte Mindy mit einem genervten Seitenblick auf den heiteren Sprecher.
Da öffnete sich die Tür wieder und der Mönch lief mit schnellen Schritten zu ihnen zurück.
"Leider befindet sich der gute Mann nicht in unserem Orden, aber Ting wird ihm sicher noch die allmächtige Freude schenken", verkündete der Mann fröhlich.
"Das bezweifle ich", erwiderte Mindorah grimmig, doch Myra unterbrach sie eilig: "Können Sie uns sagen, warum der Mann einen Werbezettel von euch in der Tasche hatte?"
"Wahrscheinlich von einem unserer vielen, freiwilligen Anwerber, die sich mit der freudigen Aufgabe beschäftigen, die Bewohner Ankh-Morporks durch das Verteilen von bunten Info-Blättern zur Möglichkeit der Freudenentdeckung verhelfen", plapperte der Mann strahlend.
"Diese Spur können wir dann wohl abhaken", seufzte Mindorah und drehte sich zum Tor um.
"Wartet", rief der Mönch und eilte zu einem Holzständer rechts neben dem Tor, der über und über mit knallig bunten Broschüren und Blättern gefüllt war. Der Mann zog einen Haufen Info-Material heraus und drückte es den Wächterinnen in die Hände. Sogar der Taube streckte er einen Zettel hin, die verdutzt mit dem Schnabel zupackte und jetzt verärgert mit dem Kopf wedelte und das Blatt Papier an Mindys Hals schlug. Mit Werbung für den Ting-Orden bepackt verließen die beiden endlich das Gebäude.
***

Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend klopfte Mindorah an Frau Aufschlitzers Tür. Es kam ihr reichlich unhöflich vor, die frische Witwe jetzt schon wieder zu belästigen. Aus den Uniformtaschen der beiden Wächterinnen ragten quietschbunte Zettelenden. Bei Mindorah war eines darunter, das an einer Seite mit Taubenspucke versehen war und langsam begann, aufzuweichen. Unsichere, ungleichmäßige Schritte näherten sich der Tür und schließlich öffnete die Frau des Hauses zaghaft. Alle Röte war aus ihrem Gesicht gewichen und gab blasse Wangen frei. Ihre zuvor so lebendigen Augen wirkten stumpf und traurig. Spuren auf den Backen verrieten, dass sie geweint hatte. Einzelne hellbraune Strähnen hingen ihr übers Gesicht, die sich aus dem Pferdeschwanz, der am Hinterkopf mit einem schwarzen Band gebunden war, gelöst hatten. Stumm ließ sie die Wächterinnen hinein.
Myra räusperte sich: "Würden Sie uns einige Fragen beantworten?"
"Ja, fragen Sie nur", antwortete Frau Aufschlitzer matt.
"Also", begann die Hauptgefreite zögerlich, "stimmt es, dass ihr Mann von Beruf aus Assassine war?"
Die bleiche Witwe nickte. "Ja, er wurde vor ein-zwei Wochen erst aufgenommen und war furchtbar stolz darauf..."
Ein Seufzen ließ das Gesicht der Frau erbeben und ließ Myra verstummen, die schon zur nächsten Frage angesetzt hatte. Wortlos klappte sie den Mund wieder zu und sah Frau Aufschlitzer besorgt an. Mindorah ließ ihren Blick zur Wasserleitung schweifen.
"Wollen Sie ein Glas Wasser?", bot sie an.
"Ja", erwiderte die Frau leise, "danke!"
Mindy legte die paar Schritte zur Spüle zurück und öffnete verschiedene Schranktüren, bis sie schließlich ein angestaubtes Glas aus einem mit geschwungenen Schnitzereien versehenem Holzschrank nahm. Sie pustete einmal kurz hinein, wodurch das Glas milchig anlief und rieb mit ihrem Uniformärmel über das beschlagene Trinkgefäß. Dann ließ sie Wasser hinein laufen und reichte es der Witwe, die es mit dankendem Blick entgegennahm. Sie spitzte die Lippen und nippte vorsichtig daran. Mindorah blieb unschlüssig hinter ihr stehen.
"Hatte Ihr Mann Feinde?", rang sich Myra dann endlich die nächste Frage ab.
Entsetzt weiteten sich die Augen der Frau. "Nein, nein, mein Erwin ist sehr beliebt, jede Woche spielt er mit seinen Kumpanen Karten und er hat viele Bekannte", ereiferte sie sich.
Plötzlich versiegte ihre Stimme. Sie schien eine Erkenntnis zu erfassen und schlug die Augen nieder. "Das heißt...er war beliebt...und hatte viele Bekannte.." Ein leises, unkontrolliertes Wimmern stieg aus ihrer Lunge empor und ihre Finger krampften sich zusammen.
Myra sandte der Gefreiten hilflose Blicke zu, die sie geradezu anzubetteln schienen, die Befragung zu übernehmen. Mindorah schluckte und gab sich einen Ruck. Beruhigend legte sie die Hand auf die Schulter der Witwe und fragte in ruhigem, freundlichem Tonfall: "Wie heißen Sie überhaupt?"
"Elvira", schluchzte die Frau jämmerlich.
"Sehen Sie, Elvira, wir würden Sie nur allzu gern vor alldem verschonen, aber um weitere Ermittlungen anstellen zu können, müssen wir so viel wie möglich über Ihren Mann erfahren. Es könnte wichtige Hinweise über den Täter geben", erklärte Mindorah sanft.
Frau Aufschlitzer nickte ergeben.
Ohne den Klang der Stimme zu verändern und mit dem Versuch, ihre Unsicherheit vollständig zu überspielen, fuhr Mindy fort: "Sie sagten etwas von Kumpanen Ihres Mannes, wer waren diese Leute?"
"Sie kamen jeden Sonntag Abend zum Karten spielen vorbei, dann saßen sie immer bis in die Nacht am Tisch und lachten", erzählte Elvira traurig und führte immer wieder das Glas Wasser zu ihrem Mund.
"Könnten Sie uns Namen und Adressen der Männer geben?", bat die Gefreite.
"Ja, die müsste ich irgendwo haben", die Witwe richtete sich auf und suchte zerstreut in einem kleinen Schubladenschränkchen. Schließlich holte sie ein zerfleddertes schwarzes Buch heraus, auf dem goldene Lettern prangten, dessen Farbe teilweise abgeblättert war. Elvira ging zurück zum Tisch und ließ das Buch darauf fallen. "Adressen" stand auf der Vorderseite. Suchend blätterte sie in dem Buch herum und zog die Stirn kraus.
"Warten Sie, ich schreib' sie Ihnen kurz raus", meinte die Frau und holte sich noch einen Stift und ein Blatt Papier heran. Mit zittriger Hand kritzelte sie etwas darauf. Dann drückte sie Mindorah den Zettel in die Hand, auf dem mit wackeliger Handschrift vier Adressen standen.
"Danke....ist Ihnen in den letzten Tagen irgendwas an Erwin aufgefallen? War er irgendwie anders als sonst?", erkundigte Mindy sich während sie das Blatt Papier zu den Ting-Werbezetteln in ihre Uniform stopfte.
"Nein, er war ganz normal", befand Elvira und schüttelte verwundert den Kopf.
"Wann und warum hat er heute morgen das Haus verlassen?", fragte die Gefreite weiter, immer noch mit dem Zettelwirrwarr in ihren Taschen kämpfend.
"Das wird wie üblich so gegen halb acht gewesen sein. Zur Arbeit natürlich, zur Assassinengilde", ein Schluchzen verirrte sich in die Antwort der Witwe.
"Waren Sie wach, als Ihr Mann raus ging?", fiel Myra wieder in die Befragung ein.
Elvira schenkte der Hauptgefreiten einen seltsamen Blick. "Natürlich! Ich habe ihm sein Frühstück gemacht!" Ihr Gesichtsausdruck verklärte sich und leise murmelte sie vor sich hin: "Zwei Brotscheiben mit Wurst und ein in Streifen geschnittenes Spiegelei, so dass die Brote schön mit dem Dotter getränkt sind...so wie er's immer mochte..."
Mindorah runzelte die Stirn über Erwin Aufschlitzers Frühstücksgewohnheiten, ging aber nicht näher darauf ein und fragte stattdessen ungläubig: "Haben Sie denn nicht bemerkt, was sich vor Ihrer Haustür abgespielt hat?"
"Ich habe Stimmengewirr gehört, aber das kommt doch öfter vor in dieser Stadt, ich dachte doch nicht an so was", jammerte die Frau und eine Träne schwappte über die Wimpern und bahnte sich einen Weg über Elviras Gesicht.
Mindy und Myra sahen sich an und kamen schließlich nickend überein, dass es genug sei.
"Danke für Ihre Antworten", sagte die Hauptgefreite lächelnd, "ich hoffe Sie haben noch einen verhältnismäßig schönen Tag!"
Der Mund der Witwe verzerrte sich und ein Heulen drang daraus hervor. Zwischen Schluchzen und Jammern brabbelte sie einzelne Worte und immer wieder klagte sie: "Erwin, mein Erwin..."
"Tschüss, Elvira, es kann sein, dass wir noch einmal wiederkommen....aber jetzt lassen wir Ihnen erst mal Ruhe", mit gemischten Gefühlen blickte Mindorah auf die trauernde Frau hinab, die in keiner Weise auf die Worte der Wächterin reagierte. Sie hatte ihren Kopf in die Arme gestützt, Tränen tropften auf den Tisch und bildeten eine kleine, salzige Lache. Die Haare fielen in wirren Strähnen hinunter, der Pferdeschwanz war kaum noch zu erkennen. Schließlich wandte die Gefreite sich ab und verließ gemeinsam mit Myra das Haus.
"Wir sollten einen Püschologen herschicken", empfahl Mindorah und kaute auf ihrer Unterlippe. Gedankenverloren kraulte sie Silberblick, die starr auf ihrer Schulter saß.
Myra nickte schweigend und starrte auf den schmutzigen Schnee vor ihren Füßen.
Inzwischen war die Sonne am Untergehen und warf lila- und rosafarbenes Licht an den Himmel. Fasziniert betrachtete Mindy das prächtige Farbenspiel. Faserige Wolken hingen in Fetzen vor der Halbkugel, die gerade dabei war, den Horizont zu verlassen, und strahlten in einem kräftigen Orange. Das farbige Licht zog sich in gewundenen Bahnen über den Himmel und wurde von blutroten Streifen durchbrochen, die sich in die Farbstränge einfügten. An den Seiten wurde das Schauspiel krass von dem dunklen Nachthimmel abgegrenzt, was die Farben noch deutlicher hervorstechen ließ.
Leben und Tod, Freude und Leid, Verzweiflung und Hoffnung, alles vereinigt in dem kraftvollen Bild des Sonnenuntergangs, bildeten sich die poetischen Worte in Mindorahs Kopf.
Die Hauptgefreite neben ihr scharrte mit dem Fuß im Schnee herum. "Ich mach mich mal auf den Weg nach Hause und mach Feierabend", unterbrach sie die Gedanken ihrer Kollegin.
Mindys Mund verzog sich zu einem ausgiebigen Gähnen: "Ja, ist auch allerhöchste Zeit, morgen nehmen wir uns dann mal diese Freunde von Aufschlitzer vor, vielleicht kommen wir damit ja weiter..."
"Ja", stimmte Myra zu, deren Augenlider es mit aller Kraft nach unten zog. Sie wünschte Mindorah noch müde eine gute Nacht und stapfte durch die Gasse hinfort.
Die Gefreite warf noch einen ratlosen Blick gen Himmel und machte sich dann auch auf den Heimweg.
***

Tiefrote Wolkenberge türmten sich vor Mindorah zu einer Wand auf, die nach oben hin immer dunkler wurde und sich am Horizont in eine nachtschwarze Unendlichkeit verlor.
Begleitet von dumpfen, drohenden Bassklängen waberten die Wolkenballen hin und her. Schließlich brach das Gebilde vor ihr in der Mitte auf und gleißend helle Strahlen strömten herein. Mindy schloss geblendet die Augen, doch das Licht gelangte selbst durch die Lider zur Netzhaut und stach mit der Gewalt eines Blitzes darauf ein. Die Gefreite krümmte sich zusammen und hielt schützend die Arme über ihren Kopf. Die grellen Lichtstrahlen fanden trotzdem ihren Weg und schlugen unbarmherzig auf Mindorahs Kopfhaut ein. Ein spitzer Schmerz durchfuhr sie. Urplötzlich schlug sie die Augen auf und fuhr hoch. Mit einem schrillen Kreischen und viel unkoordiniertem Geflatter erhob sich Silberblick von Mindys Kopfkissen. Zwei Federn segelten sanft auf die zerzausten Haare der Gefreiten herab und blieben in den verknoteten Strähnen hängen. Pochende Schmerzen dröhnten in Mindorahs Kopf und verursachten ein heftiges Wummern gegen die Schädelwände. Die Taube landete aufgeregt gurrend auf dem Schrank und legte ihre Flügel zurecht. Die angehende Kommunikationsexpertin legte seufzend die Hände an den Kopf und sah auf das zerwühlte und zerfetzte Bett. Lange Risse zogen sich durch die Decke und Federn quollen daraus hervor. Silberblick tat unbeteiligt und ging dazu über, sich die Flügel zu putzen. Ein Schwall Flüche verließ in geröchelter Form Mindys Mund. Mühsam rappelte sie sich auf und setzte die Füße auf den Boden. Vorsichtig tastete die Gefreite über ihre Stirn und entdeckte dabei den Ansatz einer riesigen Beule. Schwankend richtete sie sich auf und tapste zum Waschtrog. Das kalte Wasser dämpfte die Kopfschmerzen etwas und beförderte kleine Sabberflecken und Federn aus Mindorahs Gesicht. Wütend sah die Gefreite zu Silberblick hoch, die unauffällig ihre Federn musterte.
"Grrrr", gab Mindy krächzend von sich.
Sie griff mit einer Hand in die Tasche der Uniform mit der sie gestern hundemüde ins Bett gefallen war und angelte ein paar krümelige Körner daraus hervor. Begleitet von einem missmutigem Blick warf sie das Futter in Richtung der Taube, die daraufhin jauchzend ihren Schnabel aufsperrte und nach den Körnern schnappte, die durch die Luft flogen. Mindorah machte sich indessen grummelnd fertig.
"Woher kam nur diese blödsinnige Idee, zur Wache zu gehen?", schimpfte sie leise.
Nach wenigen erfolglosen Versuchen gab sie es auf, die Uniformhose zu glätten und stieß einen lauten Pfiff aus.
"Silberblick, hier her", befahl Mindy und klopfte sich auf die Schulter.
Die Taube machte keinen Mucks und verzehrte schmatzend weiter ihre Körner.
"Bitte", fügte die Gefreite genervt hinzu.
Daraufhin bewegte sich Silberblick widerstrebend auf Mindorah zu und landete schließlich auf dem Platz, der ihr angeboten wurde. Du kommst sofort zurück in den Taubenschlag, wenn ich in der Wache bin, darauf kannst du dich gefasst machen..., brütete sie wütend vor sich hin.
Türenknallend verließ die Wächterin ihre Wohnung.
Es schneite nicht mehr und die Luft war kalt und klar. Eine dünne, matschige Schneeschicht lag über allem und dünne Stimmchen kämpften sich zu Mindys Ohr.
"Oh schöner Tag", intonierten sie säuselnd.
Gereizt blickte Mindorah sich um und entdeckte drei in Fetzen gekleidete, dürre Männer, die am Straßenrand kauerten. Vor ihnen auf dem Stein lag ein großer schwarzer Schlapphut, in dem es leise klimperte.
"Oh schöner Tag", sangen sie mehrstimmig weiter.
Mindy warf ihnen grimmige Blicke zu, die sie kurzzeitig verstummen ließen....bis die Wächterin um die nächste Straßenecke verschwunden war. Danach trug der Wind ihr wieder die leisen Stimmen zu.
"Grrrr", machte die Gefreite wieder.
***

"Also, was wissen wir jetzt alles über Aufschlitzer?", fragte Myra und spielte mit ihrem Bleistift herum.
Mindy hing zusammengefallen auf ihrem Stuhl und begann mit genervter Stimme: "Er ist Assassine..."
Schwertschleifer nickte und senkte den Stift aufs Papier. Ein leises Kratzen war zu hören, als sie schrieb. "Und zwar erst seit kurzem...was sagte die Frau noch? Ein-Zwei Wochen?"
"Mhm", murmelte Mindorah unmotiviert.
"Apropos Frau, er ist verheiratet", sagte Myra und machte sich selbige Notiz auf dem Zettel.
Kurz darauf richtete sie sich mit fragender Miene auf: "Hmmm...was noch?"
Die Kommunikations-Expertin in Ausbildung verzog das Gesicht und erwähnte mit Ekel in der Stimme: "Dass er mit Dotter aufgeweichte Brote zum Frühstück ist..."
Ihre Kollegin warf ihr einen genervten Blick zu: "Du bist ja heute auch wahnsinnig hilfreich!"
"Na gut, na gut", nuschelte Mindy und raffte sich auf. Mit aller Kraft verdrängte sie die Kopfschmerzen in die hintersten Kammern ihrer Wahrnehmung und fing mit nachdenklichem Gesichtsausdruck an, herunter zu leiern: "Er ist beliebt..."
"Zumindest nach Aussage seiner Frau", unterbrach Myra sie während ihr Bleistift eifrig übers Papier huschte.
"...jeden Sonntag trifft er sich mit seinen Freunden zum Karten spielen..."
"Genau, hast du die Adressen?", platzte Schwertschleifer in den Satz.
Mindorah ließ sich nicht beirren: "...jahabbich...er verlässt jeden Morgen ungefähr um halb acht das Haus..."
"Und das war's", beendete die Ermittlerin die Aufzählung, "hab ich Recht?"
Mindy ließ die aufgestaute Luft aus ihren Lungen entweichen und antwortete danach: "Ja, das war's wohl."
Kritisch musterte Myra das Blatt Papier: "Ist noch etwas spärlich, das Ganze..."
Mindorah wühlte in ihren Taschen und zog schließlich einen zerknitterten Zettel hervor.
"Hier, lass uns die doch mal besuchen!"
Schwertschleifer lugte auf das Papier und bestätigte dann: "Ja, mal sehn, ob wir da was rauskriegen." Ein kleiner Hoffnungsschimmer schwang in der Stimme mit.
"Aber warte, ich muss mir noch eine neue Taube holen", erklärte Mindy hastig und machte sich auf den Weg zur Tür.
Myra winkte ab: "Ach was, die brauchst du doch sowieso nicht..."
Die Gefreite grübelte und kam schließlich zu dem Schluss, dass die RUM-Ermittlerin Recht hatte. Silberblicks Aktion von heute Morgen spielte eine nicht gänzlich unwichtige Rolle bei der Entscheidung, heute ohne Taube loszuziehen...
***

Sein von Eifersucht und Neid geplagtes Gehirn projizierte das Bild von Witwenmacher auf das feuchte Dach und die vereinzelten, spärlichen Schneeflecken. Das Oberhaupt der Assassinengilde trug blanke Verachtung im Blick und wandte ihm den Rücken zu. Er spuckte auf die halluzinierte Erinnerung und zischte voller Hass durch die Zähne: "Ich werde ihn ruinieren, entgültig ruinieren!"
Mit einem Augenzwinkern wischte er Witwenmachers Abbild fort, doch das ewige Gefühl von Hass blieb. Mit leisen Schritten und in gebückter Haltung trat er an den Dachrand. Die Luft war klar und krasse Konturen bohrten sich in seine Netzhaut. Mit der Hand schirmte er seine Augen ab und schielte durch eng zusammengekniffene Schlitze in die Häuserschlucht. Mit einiger Anstrengung entdeckte er sein nächstes Opfer. Er holte langsam die Armbrust hervor und richtete sie auf sein Ziel. Knirschend spannte sich die Sehne und sprang mit einem Schnalzen zurück, als der Armbrustbolzen zischend und erbarmungslos in die Tiefe sauste. Blind von seinen finsteren Gefühlen verzog sich sein Gesicht in ein stummes Lachen.

***

Tiefe Ringe zogen sich unter Herbert Draufgängers Augen entlang. Müdigkeit und ein heftiger Kater lag über seinen Sinnen und dämpfte sie wie ein dichter Nebel. Die letzte Nacht hatte er mit ein paar Kumpels in einer Kneipe verbracht und dabei wohl ein paar Gläser zuviel geleert.
"Mist", fluchte er vor sich hin, während er mit unsicheren Schritten die Gasse entlang schwankte, "vielleicht sollte ich das Arbeiten heute ganz lassen..."
Seine strohigen blonden Haare waren kurz geschoren und wirkte ungewaschen. Sein rundes, volles Gesicht war leicht gerötet, genau wie die großen Segelohren, die rechts und links seines Gesichts abstanden. Der Mund unter seiner Stupsnase war quälend verzogen und die hellblauen Augen von tiefen Falten der Stirn überdeckt. Mit dem verlockenden Gedanken des Freimachens ringend kämpfte er sich voran. Er hatte einen stämmigen Körper und war an die zwei Meter groß, was man allerdings durch seine zusammengesunkene Haltung im Moment nicht sah. Ein weiß-blau gestreifter Wollpullover spannte über seinen kleinen Bierbauch. Herbert merkte nicht, wie ein Armbrustbolzen auf ihn zugeschossen kam. Erst als die Spitze sich unbarmherzig in sein Fleisch bohrte und höllische Schmerzen über ihn hereinbrachen, kam ihm in den Sinn, das etwas nicht stimmte. Zwei Gedanken ereilten ihn vor seinem Tod. Sie lauteten: "Scheiße, ich will was zu Trinken" und "Wenigstens muss ich jetzt nicht zur Arbeit". Kaum waren sie bei seinem Bewusstsein angekommen, hörte sein Herz auf zu schlagen. Laut knallte er auf das Pflaster. Der Bolzen steckte mitten in seiner Brust. Blut quoll aus der Wunde und tränkte die Wolle seines Pullovers mit dem roten Lebenssaft. Bald wurden die weißen Streifen rot und auch der Zettel, der an dem Armbrustbolzen hing, färbte sich mit der Zeit tiefrot und die Tinte der Buchstaben verschwamm mit dem Blut. Eine Menschenmenge bildete sich laut diskutierend um den Toten. Und ein kleiner, dicker Junge erinnerte sich an die Wächterin, die ihm befohlen hatte, er solle SUSI informieren. Gestern, in der Brauerstraße...Sofort rannte er los, in Richtung Wachhaus.
***

Myra Schwertschleifer stand vor einer langen Häuserreihe und beugte sich über einen zerknitterten Zettel. Angestrengt versuchte sie die Hausnummer zu erkennen, die unsauber darauf niedergeschrieben war.
"Ich glaub ich hab's", erklärte sie schließlich, "es ist 'ne drei!"
Mindorah schaute sie mit zweifelndem Blick an.
Myra geriet wieder ins Wanken. "Vielleicht ist es auch eine neun, ich weiß nicht genau..."
Die Gefreite verdrehte die Augen und riss ihr schroff den Zettel aus den Händen. "Zeig mal her!"
Plötzlich flogen mehrere weiße Tropfen durch die Luft. Sie strömten einen beißenden Gestank aus und steuerten zielstrebig auf das Blatt Papier zu. Mit einer Art Plumpsen landeten sie mitten auf der Adresse. Entsetzt richtete Mindy den Blick nach oben, wo sie eine pechschwarze Taube erblickte, deren Gefieder in der fahlen Sonne glänzte.
"Kira", rief sie erstaunt aus, kurz bevor selbiges Tier auf ihrer Schulter Platz nahm.
Sie brauchte einige Sekunden, um sich bewusst zu werden, dass die Taube geschickt worden sein könnte. Nervös tastete sie nach Kiras Klauen und tatsächlich spürte sie eine kleine Metallkapsel. Mit Fingerspitzengefühl fummelte sie an der Kapsel herum. Nach langem Zuppeln und Ziehen hielt sie einen kleinen zusammengerollten Zettel in der Hand. Vorsichtig rollte sie ihn auseinander.
"Neuer Mord in der Kehrergasse, kommt sofort her", entzifferte Mindorah die offensichtlich eilig geschriebene Nachricht. Der Adresszettel war augenblicklich vergessen.
Myras Augen weiteten sich erschrocken. "Schon wieder ein Mord? Oh scheiße..."
Kira gurrte fordernd, woraufhin die Kommunikations-Expertin suchend in ihren Taschen kramte und schließlich ein paar Körner zu Tage beförderte und der Taube anbot. Kurz darauf waren sie verschwunden und Kira ließ sich mit genüsslich geschlossenen Augen von Mindy kraulen. Mindorahs Gedanken überschlugen sich.
Wir müssen was tun, unbedingt! Wenn wir nicht bald etwas herausfinden, werden vielleicht noch viele mehr sterben – und es liegt in unserer Hand! Mit unangenehmer Klarheit wurde ihr die Verantwortung bewusst, auf die sie sich eingelassen hatte.
"Wo liegt die Kehrergasse?", brachte sie schließlich mit belegter Stimme hervor.
Unbestimmt zeigte Myra in eine Richtung. "Irgendwo da hinten, glaube ich..."
"Dann los", entschied Mindorah mit Nachdruck und lief hastig auf eine Straße zu.
Die Hauptgefreite beeilte sich hinterherzukommen. Hastig kämpften sich die beiden Wächterinnen durch die Leute, die all die kleinen und großen Straßen Ankh-Morporks verstopften. Mit häufigem Einsetzen ihrer Ellenbogen und noch häufigerem Ertragen von Flüchen, Beschimpfungen und Drohungen der angerempelten Personen schafften sie es schließlich...
...sich entgültig zu verlaufen.
"Scheiße", rief Mindy laut aus und kickte in einen schmutzigen Schneehaufen am Straßenrand. Ein Quieken ertönte und mit Scheppern und Rascheln wühlte sich eine Ratte zum Vorschein. Essensreste klebten in ihrem Fell und der Verschluss einer Dose klemmte an ihrem ramponierten Schwanz. Ein Stück ihres Ohrs fehlte und das Maul samt gelben Zähnen weit aufgerissen funkelte sie Mindorah wütend an. Kurz blieb sie fauchend vor den Wächterinnen stehen und blickte sie durchdringend an. Ein Schauer überfiel Mindy. Sie konnte die Augen nicht von dem grausigen Anblick der Ratte nehmen. Doch schließlich wendete sich das Tier ab und huschte in eine Häusernische. Die Gefreite schüttelte sich.
Myra drehte sich zu ihr um. "Was ist?", fragte sie besorgt.
"Ach nix", beschwichtigte Mindorah sie wenig überzeugend. Nach einer kurzen, unangenehmen Pause seufzte sie: "was machen wir denn jetzt?"
Schwertschleifer zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung, wir könnten jemanden fragen..."
Mindy winkte ab und meinte spöttisch: "Du glaubst doch nicht tatsächlich, dass ein Bewohner von Ankh-Morpork uns einfach so hilft? Nein, glaub mir, das bringt nichts, außer du hast Lust, bestenfalls dein Geld zu verlieren!"
Die Gefreite sah nachdenklich die Straße rauf und runter und kraulte dabei abwesend Kira. Plötzlich hielt sie inne. Mit verdutztem Gesichtsausdruck schielte sie nach der Taube.
"Natürlich", rief sie dann auf einmal und klatschte sich mit der Hand auf die Stirn.
Vorsichtig nahm sie Kira von der Schulter und hob sie hoch. Leise flüsterte sie der Taube ins Ohr: "Hey, führ uns zur Kehrergasse. Zu den Wächtern zurück, die dich geschickt haben, das findest du doch bestimmt!"
Mit diesen Worten ließ sie Kira los und beobachtete gespannt, wie sie sich in die Lüfte erhob.
Anerkennend sah Myra sie an. "Super Idee", gab sie verblüfft zu.
"Naja, es ist ja nicht sicher, dass es klappt", wiegelte Mindy ab und stieß ihre Kollegin an, um die Verlegenheit zu überspielen. "Los, sonst verlieren wir Kiras Spur!"
Gehetzt rannten die Wächterinnen durch die Straßen. Die Köpfe immer zum Himmel erhoben, um Kira im Blick zu behalten, stolperten sie über das Pflaster.
"Nicht so schnell", keuchte Myra erschöpft.
Trotz der Kälte tropfte Schweiß an den Köpfen der Frauen herab auf die Uniformen. Die Glieder begannen zu schmerzen und rhythmisches Schnaufen begleitete den Lauf. Doch grade, als ihre Beine den Dienst zu verweigern drohten, verlangsamte die Taube ihr Tempo. Am Rand der Straße verkündete ein zerkratztes Holzschild, dass sie in der Kehrergasse angelangt waren. Vor Anstrengung hechelnd blieben die beiden Wächterinnen stehen und rieben sich die vom dauernden Hochstarren steifen Hälse. Kira flog zurück auf Mindys Schulter und forderte in Form eines Gurrens Lob. Mit schwitzigen Fingern kraulte und streichelte Mindorah sie. Langsamen Schrittes näherten die beiden sich der Menge von Schaulustigen, die sich um ein mit rot-weißem Band abgesperrtes Gebiet gescharrt hatte. Erschöpft drängelten sie sich näher an das Geschehen, was ihnen weitere Beschwerden einbrachte.
"Was erlauben Sie sich eigentlich?", rief eine zierliche Frau aufgebracht.
Und sogleich fiel die Menge mit ein. Mit von Keuchen genährten Stimmen erklärten die Wächterinnen, wer sie waren, doch die Leute beachteten sie kaum, sie waren viel zu beschäftigt damit, sich aufzuregen. Endlich hatte Mindorah das Band erreicht. Es kam ihr vor, als würde sie nach einem langen Marathon das Ziel abschlagen. Kurz darauf drängte Myra sich stöhnend neben sie.
Als Larius sie entdeckte, schrie er etwas verärgert zu ihnen hinüber: "Da seid ihr ja endlich, was habt ihr denn die ganze Zeit getrieben?"
Die wütenden Blicke der zwei Frauen brachten ihn zum Schweigen. Die verschwitzten, strähnigen Haare fielen ihnen in die schweißnassen Gesichter. Larius Stimme wechselte ins Besorgte, als er zu ihnen eilte. "Was ist denn mit euch passiert?", erkundigte er sich mitfühlend und hob das Abtrennungsband für sie an.
Erschöpft krochen sie darunter hindurch.
"Wir haben uns durch Menschenmassen gekämpft und mussten der Taube folgen", erklärte Mindy grimmig und deutete mit dem Daumen auf Kira, die pflichtbewusst gurrte.
Verdutzt starrte Larius sie an.
"Frag lieber nicht weiter", riet Myra ihm und ließ sich auf einen wackligen Klappstuhl fallen, den die Wächter von SUSI mitgebracht hatten und der nun am Rande der Absperrung auf der Straße stand und unter dem Gewicht der Frau bedenklich quietschte und knarrte.
"Ähm...na gut", sagte der Tatortsicherer ergeben. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Larius die beiden Wächterinnen an und fing zögernd an zu berichten, "also, der Fall ist haargenau gleich wie der erste. Einziger Unterschied ist der Ort und das Opfer. Ansonsten: Gleicher Bolzen, gleicher Zettel samt gleicher Aufschrift, ebenfalls keine Fingerabdrücke. Es war auch die gleiche Einschussstelle - das Herz - und es wurde wohl ebenfalls von einem der Dächer aus geschossen. Und was wohl das Wichtigste ist: Er hatte ebenfalls Quittungen in einer der Taschen!" Gegen Ende war Larius' Bericht immer schneller geworden und so sog der angehende Tatortsicherer jetzt hastig Luft in seine Lungen.
"Wisst ihr, wie das Opfer hieß?", erkundigte Myra sich nachdenklich.
"Ja, der Mann hatte einen zerknitterten Ausweis in einer der Hosentaschen. Er hieß", Larius bückte sich kurz und hob eine Plastiktüte vom Boden auf, in der ein rechteckiges Stück Papier zu sehen war, "Herbert Draufgänger!"
Mindorah stand währenddessen vor der Leiche und wischte sich nachdenklich die verschwitzten Hände an der Uniform ab. Der blutdurchtränkte Pullover des toten Mannes war vom Frost gefroren. Kleine Eiskristalle hingen in der Wolle. Der Bolzen war entfernt worden und an dessen Stelle klaffte nur noch ein kleines Einschussloch. Mindys Blick schweifte zum Kopf des Toten. Der Gesichtsausdruck wirkte leicht dümmlich und etwas überrascht.
Wieso musste dieser Mann sterben? Was hat er getan?
"Mindy?", schreckte eine laute Stimme nah an ihrem Ohr sie aus ihren Gedanken.
Sofort verkrampfte sie sich und fuhr herum. Sie blickte in das aufgeregte Gesicht von Myra direkt vor ihrer Nase.
"Wir müssen sofort zur Assassinengilde", stellte die Hauptgefreite fest.
Perplex glotzte Mindorah die RUM-Ermittlerin an. "Z..zur Assassinengilde?"
Eilig suchte sie in allen Ecken ihres Gehirn nach einer Ausrede, sie hatte nicht vor, Witwenmacher nach der gestrigen Blamage schon wieder unter die Augen zu treten. "Das geht nicht!"
Myra zog verwirrt die Augenbrauen nach oben. "Wieso das denn?"
"Weil", die Gefreite durchgrub all ihre Erinnerungen, um eine brauchbare Entschuldigung zu finden, "weil...ich weg muss", stotterte sie schließlich ziemlich unglaubwürdig.
Misstrauisch musterte Schwertschleifer Mindys Gesicht. Schließlich gab sie sich einen Ruck.
"Ach was, jetzt komm schon mit", forderte Myra und zupfte an Mindorahs Uniformärmel.
Widerstrebend ließ die werdende Kommunikations-Expertin sich mit auf die Straße ziehen, die zum Gildenhaus führte.
"Du glaubst doch nicht, dass ich allein zu Witwenmacher gehe?", fragte die Hauptgefreite spöttisch und tippte sich an die Stirn.
"Nein, aber", startete Mindy erneut einen Versuch, sich vor der Befragung zu drücken, doch sie wurde abrupt von Myra unterbrochen: "Keine Chance, wir müssen ihn verhören. Beide Opfer waren Assassinen und dann auch noch diese seltsamen hinterlassenen Nachrichten des Mörders..."
Mindorah seufzte und trottete niedergeschlagen neben ihrer Kollegin her. Kira nestelte eifrig in Mindys Haaren herum. Sie zupfte an den verschiedenen Haaren herum und riss hier und da eines aus, welches dann bald von einem Luftzug ergriffen wurde und hinfort segelte.
Bei jedem Ziepen murmelte die Wächterin ein leises "Au" vor sich hin, doch sie war zu sehr damit beschäftigt, wie sie einem Haufen blöder Kommentare des Gildenoberhaupts entgehen könnte. Die klammen Hände in die Uniformtaschen gesteckt, lief sie stumm neben Myra die Straße entlang. Nach einer halben Stunde Fußmarsch waren sie vor dem großen Gildenhaus angelangt. Mindorah stupste ihre Kollegin zur Tür und hielt sich im Hintergrund. Unauffällig starrte sie auf die Pflastersteine. Die Zwischenräume waren mit festgetretenem Schnee ausgefüllt und hoben sich so kaum von dem tristen, grau-weißen Bild der Straße ab. Mindys schwarze Haare fielen ihr wie ein faltiger Vorhang vors Gesicht. Ein dumpfes Pochen erklang, als Schwertschleifer an die Holztür klopfte. Kurz darauf folgte das Schaben des Pförtnerausgucks.
"Hallo, Stadtwache Ankh-Morpork. Wir wollen zu Lord Witwenmacher", erklärte Myra mit fester Stimme.
"Ach was", kommentierte der Mann hinter der Tür nicht sehr überrascht, "Sie waren wohl bei ihrem letzten Besuch nicht sehr erfolgreich?!? Dann zeigen Sie mal Ihre Dienstausweise!"
"Letzter Besuch?", hakte die Hauptgefreite verwundert nach.
Doch der Pförtner ging nicht darauf ein: "Ihre Ausweise bitte!"
Mindorah linste vorsichtig zwischen den Haarsträhnen hindurch und sah, wie Myra umständlich in ihren Taschen wühlte und schließlich ihre Dienstmarke zückte.
Die Ermittlerin drehte sich um und verdrehte die Augen. "Los jetzt, du übertreibst maßlos, so schlimm ist das hier jetzt auch wieder nicht!"
Sie machte kurzerhand die zwei Schritte zu Mindy und packte sie am Arm. Grob schleifte sie sie zur Tür.
"Ja, ja, ist ja gut", motzte Mindorah begleitet von ein paar grimmigen Blicken und tastete in der vollen Uniformtasche nach der Dienstmarke. Unter einer Broschüre der Ting-Mönche, die immer noch in ihrer Tasche weilte, spürte sie dann endlich die Marke und fischte sie heraus. Mit Erleichterung stellte sie fest, dass es sich dieses Mal tatsächlich um ihre Dienstmarke handelte und hielt sie dem Pförtner vor die Augen. Natürlich immer genau darauf bedacht, ihr eigenes Gesicht nicht zu zeigen. Sorgsam versteckte sie sich hinter ihren Haaren und schielte nur vorsichtig zwischen den Strähnen hindurch. Quietschend wurde die Tür zurück geschoben und rief dabei noch ein zweites Geräusch, ein unangenehmes Kratzen, hervor, das entstand, als die Tür über den Holzboden glitt. Hastig trat Myra ein, während Mindorah knapp hinter ihr blieb. Wieder loderte das Feuer im Kamin und strahlte wohlige Wärme aus.
"Die Treppe hoch", informierte der Pförtner sie mit spöttischer Höflichkeit. Seine Mundwinkel zuckten leicht und die Augen blickten sie mit abweisendem Hohn an.
Betont langsam stiegen die beiden Wächterinnen die samtbesetzten Treppenstufen hinauf.
"Das ist vielleicht ein komischer Typ", knurrte Myra sobald sie sich außer Hörweite wähnte.
"Oh ja, der Meinung bin ich auch", pflichtete Mindy ihr schnell bei.
Suchend sah Hauptgefreite Schwertschleifer sich in dem schlichtgehaltenen Gang um. Nacheinander musterte sie die Türen.
"Die da ist es", teilte Mindorah ihr mit und zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die letzte Tür. Als sie Myras verwunderten Blick auffing, fügte sie eilig hinzu: "Glaube ich zumindest..."
Prüfend schritt die Ermittlerin zu besagter Tür. Erstaunen zeigte sich in ihren Augen und behutsam strich sie über das edle, schwarze Holz.
"Wow", flüsterte sie fasziniert, "Ebenholz!"
"Herein", ertönte da die ernste Stimme von Witwenmacher.
Nach einem kurzen Schreck öffnete Myra die Tür und setzte einen Fuß in das Zimmer.
"Guten Tag", sagte sie bestimmt und visierte Witwenmacher, der am anderen Ende des Raumes hinter seinem Schreibtisch saß, fest mit den Augen an, "wir haben ein paar Fragen."
"Ihr?", fragte das Gildenoberhaupt künstlich verwundert, "Wer ist denn der zweite im Bunde?"
Myra wendete sich um und sah Mindy genervt an. "Stell dich nicht so an", zischte sie wütend und zerrte die Frau ins Zimmer. "Sie", erwiderte die Hauptgefreite und zeigte mit dem Daumen auf Mindorah. Diese hatte sich kurzerhand Kira von der Schulter geschnappt und hielt sie jetzt auf beiden Händen vor ihr Gesicht.
"Hallo", nuschelte Mindy an ihren Haaren vorbei, ohne den Blick von der Taube zu nehmen, die verdutzt gurrte.
Schwertschleifer verdrehte unmerklich die Augen. "Es ist so, Herr Witwenmacher, es gab einen Mord – genauer gesagt zwei – und es hat sich herausgestellt, dass beide Opfer Assassinen waren."
"So?", fragte Witwenmacher kühl.
Myra wurde unsicher, auch wenn sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. "Ja, und zwar handelt es sich um Erwin Aufschlitzer und Herbert Draufgänger. Können Sie uns etwas zu diesen beiden Menschen sagen?"
"Aber natürlich kann ich, mein Fräulein", begann er in herzlichem Tonfall, um dann kalt fortzufahren, "aber warum sollte ich? Wir werden uns schon selbst um den Fall kümmern, verlassen Sie sich drauf!"
Mindorah widmete sich indessen eingehend der Taube. Mit den Daumen fuhr sie über die Flügel und leise redete sie auf das Tier ein: "Putputput...jaa, du bist ein liebes Tier!"
Sie verschloss ihre Ohren vor dem Gespräch. Die Worte ihrer Mitwächterin und des Gildenoberhaupts rauschten an ihrer Wahrnehmung vorbei und versuchten ihr Glück woanders. Krampfhaft versuchte Myra die seltsamen Verhaltensweisen ihrer Kollegin zu ignorieren und ruhig zu bleiben. "Herr Witwenmacher, seien Sie doch vernünftig, es wäre wirklich besser, wenn Sie mit uns zusammen arbeiten würden!"
"Ach", erwiderte ihr Gegenüber unbeeindruckt.
Wut begann in der Hauptgefreiten aufzuflammen. "Jetzt helfen Sie uns schon, wir sind von der Stadtwache, es wäre wirklich besser für Sie, mit uns zu kooperieren!"
"Tatsächlich?", meinte Witwenmacher spöttisch.
Myra stieß Mindy heftig in die Seite. "Jetzt sag du doch auch mal was", flüsterte sie grimmig.
"Ich?", schrak die Wächterin auf und ließ hilflos ihren Blick an Kira vorbei durch den Raum und ihre Gedanken durch die Erinnerung schweifen.
Wie? Was? Worum ging's?, versuchte sie die Geräuschfetzen wieder einzufangen, die zuvor ungeachtet vorbei gezogen waren.
Schließlich blieb ihr Blick wahllos an einem Bild hängen, das auf Witwenmachers Schreibtisch postiert war. Mindorahs Züge härteten sich und sie deutete gespielt wissend mit einem Kopfnicken auf den Gegenstand. "Was ist das für ein Bild?", fragte sie willkürlich.
Ungläubig starrte Myra sie an. Witwenmacher legte die Stirn in Falten und sah die Gefreite höhnisch an. Schließlich drehte er das Bild etwas, so dass die Wächterinnen erkennen konnten, was auf dem Bild zu sehen war. Es handelte sich um eine Ikonographie. Drei junge Menschen lachend vor dem Ankh.
"Ein Jugendbild. Meine Frau, ich und ein alter Freund", gab das Gildenoberhaupt etwas belustigt Auskunft.
Die Ikonographie war vergilbt und die Ecken eingerissen. Das Mädchen auf dem Bild war hübsch, sie hatte lange Haare bis zur Hüfte, war schlank und hatte ein sonniges Lächeln. Sie stand zwischen den beiden Jungs. Der eine war deutlich als Witwenmacher auszumachen. Auf der anderen Seite befand sich ein kleiner Junge mit glatt gekämmten Haaren und starrem Scheitel. Er kniff die Augen fest zusammen, war wohl geblendet von der Sonne. Sein Gesicht war bleich und etwas eingefallen.
Mindorah zeigte fest auf den angeblichen Jugendfreund von Witwenmacher, was Kira zu einem spitzen Aufschrei und einem umständlichen Balanceakt veranlasste, da ihr plötzlich eine Stütze entrissen wurde. "Erzählen Sie mir von ihm!"
Witwenmacher zog die Augenbrauen hoch. "Sind das Ihre Ermittlungsstrategien?" Doch kurz darauf gab er mit Hohn in der Stimme Auskunft: "Er stand immer im Hintergrund, war von Selbstmitleid geplagt und hatte etwas mit den Augen...er sah besser als normale Menschen, deshalb kniff er bei Sonne meist die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen. Sonst schmerzte ihn der große Lichteinfall. Das reicht jetzt aber, ich habe zu tun."
"Warten Sie", ergriff Myra noch mal das Wort, ohne Mindy eines Blickes zu würdigen, "wie lange arbeitete Herr Draufgänger schon bei Ihnen?"
"Ich habe Sie doch hinaus gebeten", zischte das Gildenoberhaupt scharf und bedachte sie mit einem verachtendem Blick.
Furcht schlich sich in Myras Züge und sie trat unsicher zurück. Ihr Schritt verschnellte sich und schließlich sprintete sie geradewegs aus der Tür. Mindorah drehte sich eilig um, nahm Kira zwischen beide Hände, weshalb diese sie verdutzt anblickte, und sprang schnell hinter Schwertschleifer aus dem Raum. Sobald die Tür sie von Witwenmacher trennte, schickte Myra ihr einen Schwall von finsteren Blicken. "Was sollte dieses Theater?", fragte sie drohend.
Beschämt schlug Mindy die Augen nieder. "Ich...ich....ich", stammelte sie und kraulte Kira im Nacken.
"Du WAS?", hakte ihre Kollegin wütend nach und ballte eine ihrer vor Wut zitternden Hände zur Faust.
"Ich war gestern schon hier", stieß Mindorah nachgiebig zwischen zusammengepressten Lippen hervor, "..und hab mich ziemlich blamiert!"
Ungläubig starrte Myra sie an. "Dann bist du hiermit Wiederholungstäter – und mich hast du gleich noch mit reingezogen", meinte sie schließlich kopfschüttelnd. "Aber das erklärt natürlich einiges", gab sie zu.
Mindy scharrte mit ihren Füßen auf dem Boden rum und Röte stieg ihr ins Gesicht. "Ähm...es kam einfach so über mich, plötzlich war ich hier...", murmelte sie zerknirscht.
"Das kann Ärger geben", stellte die Hauptgefreite sachlich fest.
In Mindorahs Blick mischte sich ein unausgesprochenes Flehen. Gut sichtbar hing es in der Luft und umschwirrte Myras Gedanken.
Schwertschleifer verdrehte die Augen und seufzte. "Schon gut, komm mit", bereitete sie der unangenehmen Stille ein jähes Ende, "wir müssen einen Assassinen finden!"
Mit diesen Worten drehte sie sich zackig weg und schritt die Treppe nach unten. Ein erleichtertes Lächeln zeigte sich auf Mindys Gesicht, als diese ihr folgte. Unten räkelte der Pförtner sich auf seinem Stuhl. Die Lider waren halb gesenkt und die Hände steckten lässig in den Taschen. Als er bemerkte, dass die beiden Wächterinnen hinunter kamen, riss er erschreckt die Augen auf und straffte seinen Rücken. Gleich darauf hatte er seine Fassung wiedergewonnen und legte den gewohnt spöttischen Ausdruck in seinen Blick.
"Was kann ich für Sie tun?", erkundigte er sich abweisend.
Myra bemühte sich um ein bestimmtes Auftreten. "Wo finden wir einen Assassinen?" Einen Rangniederen am besten", fragte sie ernst.
"Im Nebengebäude, klopfen Sie einfach an die erstbeste Tür", gab der Pförtner kühl Auskunft und wies mit den Armen zum Ausgang.
"Danke", erwiderte Mindorah ebenso kühl und marschierte an dem Mann vorbei aus der Tür.
***

Die beiden Wächterinnen standen in einem kleinen, schlichten Raum mit beige gestrichenen Wänden. Vor ihnen lehnte ein großer, dürrer Mann mit gerade begrenztem Bürstenhaarschnitt am Schreibtisch. Seine Lippen waren schmal und blass. Die himmelblauen Augen über seiner kantigen Nase sahen die Frauen fragend an. Als er die pechschwarze Taube auf Mindys Schulter erblickte, rümpfte er kurz die Nase, fasste sich aber gleich darauf wieder.
"Ähm...Hallo", begrüßte Mindorah den Assassinen unsicher, "wir hätten einige Fragen an Sie." Die Wächterin fummelte etwas nervös an der Uniformjacke herum und zupfte die losen Fäden zurecht.
Der Mann nickte: "Schießen Sie los...mit Fragen selbstverständlich." Ein hohles Lachen drang aus seiner Kehle und erfüllte den karg eingerichteten Raum.
Die Kolleginnen wechselten einen seltsamen Blick. Schließlich schob Mindy sich Mut zusammen nehmend eine Strähne aus dem Gesicht und begann: "Sagen Ihnen die Namen Erwin Aufschlitzer und Herbert Draufgänger etwas?"
"Ja, das waren unsere beiden Neulinge, wenn ich mich nicht irre", sagte der Mann nachdenklich und strich sich über seine faltige Hose.
"Waren? Sie wissen von ihrem Tod?", vermutete Myra misstrauisch. Eine Augenbraue schob sich skeptisch geknickt nach oben und veranlasste die Haut im näheren Umkreis dazu, sich ebenfalls in Falten zu legen.
"Lord Witwenmacher berichtete uns davon", gab ihr Gegenüber zu, "aber was wollen Sie von mir?" Gegenseitiges Misstrauen flatterte in der trockenen Luft.
"Wann wurde Herr Draufgänger denn in die Assassinengilde aufgenommen?", fragte Mindorah aufgeregt.
"Müsste so um die sechs Wochen her sein", grübelte der Assassine und rieb sich sein Kinn.
Die Gefreite kaute ungeduldig auf ihrer Unterlippe.
"Dann war er der zweitneueste Assassine? Nach Erwin Aufschlitzer?", sprang Myra helfend ein.
Der Mann stimmte mit einem Nicken zu. "Ja, genau. Aber worauf wollen Sie hinaus?"
"Wer wurde vor Draufgänger in die Gilde aufgenommen?", fragte Mindy, deren Stimme sich vor Aufregung beinah überschlug. Die Gefreite beugte ihren Oberkörper leicht nach vorne, als ob sie hoffte, der Antwort ihrer Frage somit näher zu kommen.
"Kalle...wie hieß er noch? Schießgut, das war's", bestätigend sah der Assassine den Frauen in die Augen und ein stolzes Leuchten zeigte sich kurz am Rande seiner Pupillen.
Erneut tauschten die Wächterinnen ihre Blicke – diesmal waren sie allerdings von knisternder Spannung erfüllt.
"Können Sie uns auch noch die Adresse von diesem Herrn Schießgut geben?", forderte Myra mit merklich zittriger Stimme. Ihre Augen waren geweitet und starrten den Assassinen aufgeregt an.
Der Mann stutzte. Ein raffiniert ausgeklügeltes Labyrinth aus Falten entstand in seiner Stirn und zwischen den Augenbrauen. Langsam und ohne die beiden Frauen aus den Augen zu lassen schritt er zu seinem Schreibtisch. Still zog er eine stockende Schublade auf und fuhr mit den Händen darin herum. Schließlich beförderte er ein fettiges Butterbrotpapier zutage, auf dem sich einige Buchstaben erkennen ließen. Mit spitzen Fingern hielt er den Zettel in die Höhe. "Hier ist sie...und jetzt?" Forschend blickte er die Frauen an.
Mindy wurde sich bewusst, dass auch dieser Assassine nicht so ohne Weiteres mit ihnen zusammenarbeiten würde. Eine Idee formte sich in ihrem Bewusstsein. Kurzerhand raunte sie der Taube, die gelangweilt auf ihrer Schulter zwei Schrittchen hin und zwei Schrittchen her machte, etwas zu. Diese stockte in ihrem Lauf und streckte Mindorah den Schnabel entgegen. Es schien, als habe sie einen verwirrten Ausdruck im Gesicht. Unauffällig deutete die Gefreite zu dem Papier. Kira folgte ihr mit den Augen und kurz darauf auch vollständig. Schnell legte sie die kurze Strecke zurück und flog eine Kurve über dem Kopf des Assassinen. Als sie sich genau über den gepflegten Haaren befand, verabschiedete sie sich von einer dickflüssigen weißen Masse, die direkten Weges nach unten sauste. Die Taube kehrte, verfolgt von einem spitzen Aufschrei, auf Mindys Schulter zurück, während der eben noch so ruhige Mann mit vor Ekel verzerrtem Gesicht mit den Armen wedelte und laut fluchte. Das Papier mit der Adresse war ihm aus der Hand geglitten und segelte langsam auf den Fußboden hinab. Myra reagierte blitzschnell und schnappte sich den Zettel. Eilig stolperten sie nach hinten.
Das war zwar nicht mein Plan, aber die Wirkung war umso perfekter, dachte Mindorah grinsend und fuhr Kira lobend über den Kopf.
"Danke", riefen die Wächterinnen noch einstimmig und stürmten aus der Tür.
Leise drang das wütende Rufen des Assassinen hinter ihnen her: "Hey, bleibt stehen..."
***

Hibbelig rutschte Mindorah auf ihren Stuhl herum. Rina Lanfear stützte den Kopf auf ihre Hände und sah die beiden gehetzt wirkenden Frauen nachdenklich an. Vor ihr auf dem Schreibtisch saß Venezia Knurblich im Schneidersitz zwischen den Papierstapeln. Soeben war der aufgeregt wiedergegebene Bericht der Ermittlungen abgeklungen. Zuletzt hatte Mindorah versichert, man müsse unbedingt FROG auf die Hausdächer rund um die Wohnung dieses Schießgut schicken und Myra hatte den fleckigen Zettel samt Adresse vor die beiden auf den Tisch geknallt. Mit grüblerisch in Falten gelegter Stirn und gebeugtem Rücken starrte Veni ins Leere. Schließlich straffte sich ihre Gestalt und sie nickte entschlossen.
"In Ordnung", gab sie bekannt, "wir dürfen keine Zeit verlieren. FROG übernimmt die Sache. Sofort die ganze Einheit zu Schießguts Haus."
Das Gesicht der Abteilungsleiterin bekam strenge Züge. Sie erhob sich rasch und klopfte sich den Staub von der Uniformhose, die schon reichlich geschunden von Würstchenfett war und einige Flecken aufwies. Sie schnappte sich das Papier und hielt es kämpferisch in die Höhe.
***

Er trat ins Haus. Die Holzdielen knarrten unter seinen schweren Stiefeln. Suchend ließ er seinen klaren Blick durch das finstere Treppenhaus gleiten. Seine Schritte trugen ihn in einen kleinen Seitengang. Sacht ließ er sich an der kalkweißen Wand hinab rutschen und knöpfte seinen schwarzen Mantel zu. Geräuschvoll zog er die Arme durch die Ärmel hinein. Vorsichtig tastete er in dem engen Kleidungsstück herum, bis er den kalten Stahl der Armbrust spürte. Zart strich er über die Waffe...
***

Fröstelnd kauerte Mindorah hinter dem Backsteinschornstein auf dem Haus gegenüber von Kalle Schießguts Wohnsitz. Es war eine kalte, klare Nacht und nur wenige, faserige Wolken trieben an der Mondsichel vorbei, die fahles Licht auf das Spitzdach warf. Vereinzelt blinkten Sterne in der Finsternis. Das Klappern ihrer Zähne klang Mindy laut in den Ohren. Zum x-ten Mal ging sie die FROG-Mitglieder durch, die auf dem Haus postiert waren. Nacheinander blieb ihr Blick bei jedem Schatten einzeln haften: Valdimier van Varwald, der unbeweglich auf der Seite des Daches stand, die nicht vom Mond beschienen wurde. Aufrecht ragte er in die Lüfte, den Umhang elegant umgehüllt. Nur die Eckzähne blitzten manchmal verräterisch, wenn es ein einzelner Lichtstrahl schaffte, zu ihnen hervor zu dringen; Sidney, der hinter dem nächsten Schornstein lauerte. Die Armbrust im Anschlag, behielt er die kleinen, verstaubten Fenster fest im Auge, die vom Dachboden des Hauses nach oben führten; Venezia Knurblich, die flach ausgestreckt auf den Ziegeln lag und leise schmatzend an dem Würstchen knabberte, das sie vor sich postiert hatte und von dem ein stetiger Strom aus Fett hinab tropfte und sich einen Weg über das Dach bahnte; Ortbe auf dem Dach gegenüber, den man nur als massige Gestalt wahrnahm. Das leise Plappern und Meckern des Ferndämons wurde vom sachten Wind herüber getragen und gab Mindy durch Wortfetzen wie "nein, du musst...Armbrust...nein, anders...weiter rechts" einen kleinen Einblick in das einseitige Gespräch; Rogi Feinstich, die sich zusammen mit einer Taube vor dem Hauseingang befand und den Befehl erhalten hatte, sie nach oben zu schicken, sobald jemand das Haus betrat. Somit konnte die Gefreite sie im Dunkel der Häuserschlucht nur erahnen – genau wie Araghast Breguyar, der vor der Haustür des mutmaßlichen Opfers herumlungerte und es im Zweifelsfall zurück halten sollte.
Mindorah drückte ihren Körper eng an den Stein und versuchte, die beißende Aufregung, die feurig in ihrem Körper brannte[7], mithilfe eines Zuckerstückes zu zähmen. Langsam zerbröckelten die süßen Kristalle und füllten ihren Mund, aber es half nichts, der Zucker prallte ohne Wirkung an der Aufregung ab. Doch bald übernahm selbige Zähmung jemand ganz anderes – die Langeweile, die sich zusammen mit den vergehenden Stunden einschlich und das Feuer der Spannung lähmend zum Erlöschen brachte. Träge ließ die Gefreite ihre Beine rechts und links vom Dachfirst baumeln und starrte in die finstere Nacht. Hin und wieder sorgte ein Besoffener für Abwechslung, der nach Hause torkelte und lauthals die neuesten Kneipenschlager lallte. Doch das hielt Mindy nicht davon ab, zunehmend schläfrig zu werden. Bleierne Müdigkeit überfiel ihr Gehirn und ließ es erlahmen. Die Augenlider bemerkten die Schwerkraft und wurden verstärkt nach unten gezogen. Ein lautes Gähnen entwich dem Mund der Wächterin. Krampfhaft kämpfte sie gegen den Schlaf an [7a] und rief sich die grausigen Bilder der Ermordeten zurück in die Erinnerung. Mit großer Anstrengung schaffte sie es auch tatsächlich, die Nacht durchzustehen. Völlig benebelt vor Müdigkeit entdeckte sie endlich die ersten Sonnenstrahlen, die sich vorsichtig zur Stadt heran tasteten. Langsam wanderten sie die Hauswände am Stadtrand hinauf und näherten sich der für uns wichtigen Szene auf dem Dach. Zeitgleich schob sich ein durchdringendes Knirschen in Mindorahs Ohrmuschel und erreichte schließlich ihre Wahrnehmung. Erschrocken drehte sie den Kopf zu einem Fenster, von dem kleine Staubwölkchen hoch wirbelten, als es aufgedrückt wurde. Urplötzlich loderte die Aufregung wie eine Stichflamme durch den ganzen Körper und vertrieb Müdigkeit und Langeweile. Gehetzt rasten Gedanken durch Mindys Gehirnwindungen.
Wieso hat Rogi keine Taube geschickt? Wurde sie überwältigt? Nein, die Taube wäre auf jeden Fall gekommen – man muss sie verständigen! Aber wie? Ist das der Mörder? Was soll ich tun?
Die Gedanken purzelten übereinander, überschlugen sich und stießen sich gegenseitig zur Seite. Währenddessen beobachtete die Wächterin, wie sich ein Kopf durch das Dachfenster schob. Die Haare verdeckt von einer schwarzen Wollmütze, die tief ins Gesicht gezogen war. Entsetzt suchte Mindy die Blicke ihrer Kollegen. Doch diese waren alle tief in ihre Verstecke zurück gesunken. Alle Blicke lagen auf der Gestalt, deren Hände, von schwarzen, löchrigen Handschuhen bedeckt, sich nun aus der Öffnung tasteten und einen festen Halt auf den Ziegeln suchten. Verzweifelt versuchte Mindorah ihre Gedanken zu ordnen – Rogi Bescheid geben!
Darauf bedacht, keinerlei Geräusch von sich zu geben suchte die Gefreite das Dach nach irgendwelchen Möglichkeiten, zu kommunizieren, ab. Eine von Rost befallene Regenrinne stach ihr ins Auge. Eilig und so leise wie möglich kramte sie Zettel und Stift aus ihrer Uniformtasche und kritzelte eine Nachricht "Es iST SchOn JehmAnNd aufFm DaCh". Nervös lugte sie zu der Gestalt, die gerade dabei war, sich durch das Fenster zu stemmen. Der Fensterrahmen ächzte unter dem Gewicht des Mannes, der seinen Blick stur geradeaus hielt. Vorsichtig hob Mindorah ein Bein an und schwang es über den First, während sie ihre Finger fest in den Stein des Schornsteins krallte. Nervosität ließ sie am ganzen Körper zittern. Behutsam rutschte sie auf den Ziegeln abwärts, die Hände immerzu nach den Ritzen zwischen den Ziegeln suchend. Bei jedem noch so kleinen Geräusch schrak sie auf und schickte angstvolle Blicke zu dem mutmaßlichen Mörder, der allerdings nichts davon zu bemerken schien. Endlich war sie so nah am Dachrand, dass sie mithilfe eines aufwändigen Balanceaktes und der schmerzhaften Streckung ihres Armes die Regenrinne erreichen konnte. Sie ließ das Zettelchen fallen, welches genau in dem nach unten führenden Rohr landete und zischend hinunter sauste. Erleichtert lehnte Mindy sich aus der wackeligen Haltung zurück. DAS wäre schon mal geschafft!
***

Rogi Feinstich lehnte frierend und in Zivil an der gräulichen Hauswand. In einem Brustbeutel trug sie eine Taube, die laut nach Futter verlangte. Entnervt stopfte Rogi ihr mit ein paar Körnern den Schnabel, ohne die rote Tür aus den Augen zu lassen, die etwas schief in den Angeln hing und von der schon reichlich viel Farbe abgeblättert war, unter der wiederum ein hässliches dunkelbraun zum Vorschein kam. Bibbernd kaute sie auf der Unterlippe, als plötzlich mit einem leisen Rascheln etwas neben ihr aus der Regenrinne geschossen kam. Ungläubig riss sie die Augen auf. Hektisch suchte sie die Umgebung ab, bevor sie das kleine zusammengeknüllte Zettelchen aufhob und mit den vor Kälte roten Fingern auseinander faltete. Stumm bewegte sie die Lippen, als sie den Satz entzifferte. Wieder stutzte sie überrascht, um kurz darauf den Zettel achtlos in die Uniformtasche fallen zu lassen, die Tür auf zu stoßen und in das Treppenhaus zu treten. Der Zufall, der kopfüber von einem etwas höher gelegenen Balkon baumelte, klatschte sich zufrieden in die Hände und begann lächelnd, zum Dach hinauf zu turnen, um die weiteren Geschehnisse zu beobachten...
***

Er zog sich angestrengt auf das Dach. Lächelnd spürte er die Armbrust unter seinem Mantel. Das überhebliche Lachen Witwenmachers klang immerzu in seinen Ohren. Vor seinen Augen zog das Bild vorbei, wie selbiger sich von ihm abwendete. Der Gestank des Zurückbleibens hing in seiner Nase. Der Gedanke der Rache beherrschte sein Gehirn. Die Geräusche der Umwelt prallten von seiner Wahrnehmung ab. Wie mechanisch trieb es ihn seinem Ziel entgegen...
***

Mindorah harrte nervös in ihrer Position aus. Die Gestalt schälte sich langsam, aber sicher ganz aus dem Fenster. Die Gefreite ertappte sich dabei, wie ihre Hand zu dem Knauf ihres Schwertes tastete und ihn fest umklammerte. Der Mann richtete sich auf. Angstschweiß tropfte Mindy von der Stirn und durchnässte ihre Haare. Schritt für Schritt näherte die schwarz gekleidete Gestalt sich dem Dachrand. Mindorahs Zittern nahm stetig zu. Die Hand des Mannes näherte sich dem Mantel und fuhr schließlich unter den Stoff. Die Wächterin war wie gelähmt, starren Blickes verfolgte sie die Bewegungen des mutmaßlichen Mörders. Langsam zog die Gestalt eine metallisch blitzende Armbrust hervor. In diesem Moment erreichte ihn die Sonne. Sie erstrahlte den Mann und warf seinen großen Schatten über das Dach. Urplötzlich riss die Gestalt die Hand vor die Augen und krümmte sich elendig zusammen. Gleichzeitig waren Sidney, Valdimir und Venezia heran geeilt. Die beiden leichten Armbrustschützen richteten ihre Waffen auf den Mann, der seine Armbrust fallen ließ, welche mit einem blechernen Geräusch auf die Ziegel fiel und schabend einige Zentimeter hinabrutschte. Venezia krallte sich währenddessen die Hände des Mörders, der alles reglos mit sich machen ließ.
"Gefreite Giandorrrh, herkommen", erschallte der schrille Ruf der Abteilungsleiterin.
Jäh erwachte Mindy aus der Starre und kletterte schnell über das Dach, um Veni zu Hilfe zu kommen. Sie löste das grobe Seil, das sie als Gürtel trug und fesselte damit die rauen Hände des Mannes. Mindorah fühlte sich seltsam leer – plötzlich war alles vorbei...
Sidney zerrte den Mörder grob nach oben. "Mitkommen", raunzte er.
Da sah Mindy das Gesicht des Mannes: Die Augen halb zusammengekniffen. Er war bleich und viele Falten zierten seine eingefallene Stirn.
"Sie kenne ich doch", rief Mindorah erschrocken aus. Der Jugendfreund von Witwenmacher, fiel es ihr plötzlich siedend heiß ein. Überrascht starrte sie den Mann an. In seinem Gesicht lag ein Ausdruck, der grenzenlosen Hass, gemischt mit unendlicher Trauer widerspiegelte und Mindorah einen Schauer über den Rücken jagte.
Da ertönte ein Klappern hinter ihnen. Rogi Feinstich steckte den Kopf aus dem Dachbodenfenster. "Verdammt, ist das staubig hier", schimpfte sie und blickte dann auf, "was ist los? Hab ich was verpasst? Ist das der Mörder?"
***

Am Tag darauf saß Mindorah im Schneidersitz im Taubenschlag. Kira pickte neben ihr an ein paar Körnern herum und vor ihr lag ein Stapel Wälzer. Seufzend blätterte Mindy eine staubige Seite von "Dressieren Sie Ihr Federvieh" um. Mühsam ging sie Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, das dicke Buch durch, ohne dass sie sich irgendetwas von dem trockenen Fachwissen behalten würde. Stöhnend sah die Gefreite von dem Buch auf und blickte Kira an.
"Na? Da hat meine peinliche Aktion mit dir bei Witwenmacher ja doch noch was gebracht... Immerhin wussten wir deswegen, wer der Mörder war", Mindorah schüttelte mit einem entsetzten Ausdruck in den Augen den Kopf und murmelte mehr zu sich selbst, "das es Leute gibt, die so wenig Selbstvertrauen haben...tragisch ist das! Nachdem Witwenmacher ihm das einzige Mädchen ausspannte, das ihn jemals geliebt hat und sich dann auch noch als Freund von ihm abwandte, ist er vollkommen durchgedreht..."
Gedankenverloren kraulte sie Kira am Hals.
"Seit da bestimmte der Gedanke an Rache sein Leben. Er trainierte das Schießen und Kämpfen und arbeitete den Plan aus, so viele Assassinen zu töten, bis allen klar sei, dass Witwenmacher ein Nichtsnutz ist. Und dann...", Mindy schluckte, "dann wollte er als Krönung Witwenmacher selbst ein qualvolles Ende bereiten!"
Eine Gänsehaut überfiel die Wächterin und schaudernd schüttelte sie sich. Der grauenhafte Ausdruck des Mannes würde sie nicht mehr so schnell loslassen...

[1] "Tauben – Nicht nur zum Braten", "Dressieren Sie Ihr Federvieh", "Leuchtdämonen und wie Sie sie zum Schweigen bringen", "Funktion und Anwendung von Paddles" und schließlich "Larry Flatter und der Stein der Scheiße", "Larry Flatter und die Kammer des Schreckens" und "Larry Flatter und der Wasserkelch", die Geschichte einer Taube und ihren alltäglichen Problemen als Haustier des Menschen (oder jeder anderen Lebens- und Todesform)

[2]  Tuch zum Entfernen von Mist, DrecksPartikeln Oder anderem

[3] Es war ihr mal wieder nicht gelungen, den Mond einzufangen und war ihm umsonst gefolgt

[4] Mindorah hat eine Schwäche dafür, in Stresssituationen heimlich puren Zucker zu lutschen, das beruhigt sie

[5] Zumindest deutete Mindorah den Laut der Taube auf diese Weise. Genauso gut konnte Kira gemault haben: "Die Schulter ist ungemütlich, ich will auf meinen Balkäääään..."

[6] Sie entdeckten spannende Dinge wie Schnee im Eingangsbereich, dreckige Fußstapfen, Staub, Papierfetzen und einige kleine Risse in den Steinfliesen.

[7] Die aber leider keinesfalls wärmte...

[7a] Nicht zuletzt, um nicht vom Dach zu fallen

Zählt als Patch-Mission.



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