Meister der Puppen

Bisher hat keiner bewertet.

von Lance-Korporal Araghast Breguyar (FROG)
Online seit 03. 10. 2003
PDF-Version

Im Hide Park wird eine junge Frau überfallen und kahlgeschoren. Wer ist so verrückt und stiehlt Haare?

Dafür vergebene Note: 14

Master of Puppets I'm pulling your strings
Twisting your Mind and smashing your Dreams
Blinded by me you can't see a thing
Just call my name 'cause I'll hear you scream...
(Metallica: Master of Puppets)



PROLOG


Es war stockfinster in der kleinen Kammer und der Wind heulte um den Dachfirst. Draußen jagten schwarze Wolkenfetzen über den Himmel und verschluckten immer wieder das kalte Licht des Vollmondes.
Schlaflos wälzte sich Lisaweta im Bett herum, nur um immer wieder in ihren rastlosen Bewegungen innezuhalten und an die gegenüberliegende Wand zu starren. Ihr Atem ging rasselnd. Schließlich stand sie auf, tappte zum Fenster und spähte durch einen Spalt zwischen den Vorhängen.
Für einen Moment schien der Mond auf ihr bleiches Gesicht, bevor er hinter einer weiteren Wolke verschwand. Irgendwo in den Straßen der Stadt heulte ein Werwolf.
Lisaweta wandte sich um und blickte in die Dunkelheit ihrer Kammer. Ein Hustenanfall schüttelte ihren mageren Körper. Schnell griff sie zu dem Fläschchen, welches auf dem Nachttisch stand, schraubte es hastig auf und inhalierte einige Male kräftig die daraus entweichenden Dämpfe.
Ein weiteres Mal schien der Mond für kurze Zeit ins Zimmer. Der dünne Lichtstrahl, der durch die Vorhänge drang, erleuchtete für einen Moment ein großes Gemälde in einem angelaufenen silbernen Rahmen. Es zeigte eine vornehm gekleidete Frau in sitzender Haltung.
Lisaweta warf einen verzweifelten Blick auf das Bild.
"Ich hoffe, du kannst mir verzeihen, was ich heute Nacht vorhabe, Mutter." sprach sie leise. "Aber was ist mein Leben noch wert mit dieser schrecklichen Krankheit, die mich mein ganzes bisheriges Leben lang an dieses Haus gefesselt hat? Das, was ich tun werde, bedeutet nicht die Verdammnis, sondern die Erlösung für mich."
Unruhig stellte sie das Fläschchen wieder auf seinen Platz, kehrte zum Fenster zurück und zog die Vorhänge auf.
Nur noch einige Minuten...
Dann würde sie endlich frei sein. Sanft strich sie sich mit dem Zeigefinger über den Hals. Endlich singen, ohne den Tod fürchten zu müssen. Nach Überwald wollten sie gehen, hatte er gesagt. Dort gäbe es gute Lebensbedingungen für Ihresgleichen.
Und so stand sie lange Zeit da, eine schmale Gestalt im weißen Nachthemd, das dicke, feuerrote Haar offen über die Schultern fallend, den Blick träumerisch in die Ferne gerichtet.
"Lisaweta!" flüsterte eine Stimme hinter ihrem Rücken.
Erschrocken fuhr das Mädchen herum und krümmte sich gleich darauf in einem erneuten, qualvollen Hustenanfall.
"Jakob?" rief sie leise, als sie wieder zu Atem gekommen war. "Wie bist du hier reingekommen?"
"Frage nicht, mein Kind." war die gehauchte Antwort.
Angestrengt blickte Lisaweta sich in der Kammer um, konnte jedoch niemanden erkennen.
"Wo bist du?" fragte sie ängstlich.
"Überall und nirgends, mein Kind."
Verwirrt runzelte Lisaweta die Stirn und versuchte die Richtung zu lokalisieren, aus der die Stimme kam.
"Und warum zeigst du dich dann nicht?"
"Weil ich vor vielen Jahren bereits gestorben bin, mein liebes Kind."
"Das weiß ich doch, mein Liebster. Und nun komm endlich her und laß es uns durchführen!" Langsam wurde Lisaweta mißtrauisch. Was sie hörte klang ihr gar nicht nach ihrem Geliebten. Ein weiteres Mal wurde der Mond für kurze Zeit enthüllt und warf sein Licht in die kleine Kammer.
"Ja, mein Kind, ich bin zurückgekehrt." sprach das Gemälde.
"Mutter!" hauchte Lisaweta und kämpfte mit einem plötzlichen Schwindelgefühl. Nach Atem ringend sank sie auf ihr Bett zurück und sog gierig den Duft ihres Fläschchens ein.
"So ist es gut, mein Kind." Die körperlose Stimme klang wohlwollend. "Bald ist deine Zeit gekommen, mein Kind. Doch bevor du für immer von mir gehst, habe ich noch eine Bitte an dich."
"Ja, Mutter?" Lisaweta setzte sich auf. "Was kann ich für dich tun?"
"Laß mich nur ein einziges Mal deine Stimme hören." bat der Geist aus dem Gemälde. "Ich habe mir schon immer gewünscht, dich auch nur ein einziges Mal singen zu hören, mein Kind."
"Aber ich darf doch nicht singen, Mutter!" rief das Mädchen entsetzt. "Doktor Sandmann hat es mir verboten! Ich werde keine Luft mehr bekommen, wenn ich mich anstrenge!"
"Spielt es denn jetzt noch eine Rolle?" Die körperlose Stimme klang fast flehend. "Es ist doch immer dein größter Wunsch gewesen, Sängerin zu werden. Und wenn dein Geliebter eintrifft, wird eh alles vorbei sein, mein Kind. Deswegen mach dir keine Sorgen wegen deiner Krankheit. Es wird dir nichts geschehen." Und wie von Zauberhand erklang aus dem Nichts eine leise Violinenmelodie.
Beinahe willenlos summte Lisaweta die Töne mit.
"Sing, mein Kind!" rief die Stimme aus dem Gemälde. "Singe nur immerfort! Es ist deine Bestimmung!"
Und wie in Trance begann Lisaweta, zu singen. Ihre klare Stimme füllte die Kammer bis in den hintersten Winkel. Die Melodie war diejenige einer alten überwaldianischen Volksweise, doch den Text hatte ihr Geliebter verfaßt. Jakob von Offenbach, der bekannte Dichter.

Der bleiche Mond wirft dunkle Schatten
auf die Straßen in der Nacht
Verloren ist die einz'ge Seele
Die dort einsam harrt und wacht.
Kalt sein Herz und kalt sein Denken
Kalt die Hand und kalt der Mund
langsam knüpft er seine Fäden
schweigend, einsam, Stund um Stund.
Den Verstand voll finst'rer Pläne
wartet er seit Jahr und Tag
Auf die Begleichung einer Rechnung
die seit langen an ihm nagt.
Zerstöret hat man seine Träume
Seine Liebe nahm man ihm
und so wurde er vom Manne
zum rachedürst'gen Ungetüm.
Menschenblut und hölzern Glieder
Farben, Samt und Knochenleim
Beseelt durch schwarze Zauberkünste
werden sie das Werkzeug sein
Glänzend hängen nun die Fäden
von dem dunklen Kreuz herab
Wo gehst du hin, oh Puppenmeister
öffnen tut sich schon dein Grab...


Bis ins Mark erschrocken hielt Lisaweta inne. Hatte sie dort in der Ecke des Zimmers wirklich einen tiefschwarzen Schatten gesehen? Panisch schnappte sie nach Luft- und keuchte erstickt. Ihr Hals war zugeschwollen. Ihr Gesicht wurde starr vor Angst. Hektisch griff sie nach den rettenden Fläschchen, während sie verzweifelt versuchte, Luft in ihre Lungen zu bekommen. Ihr Herz hämmerte in ihren Ohren, während vor ihren Augen bereits weiße Sterne zu tanzen begannen. Unbeholfen fuhr ihre Hand über den Nachttisch und wischte das Fläschchen hinunter. Es rollte unter das Bett.
Ein ersticktes Gurgeln entwich Lisawetas Mund als sie auf die Knie fiel. Ihr Gesicht lief blau an. Verzweifelt umklammerte sie ihre Kehle mit beiden Händen, während sie wie durch eine Schicht von dunklen Wolken spürte, wie ihr Körper auf dem kalten Boden des Zimmers aufschlug. Mutter, war ihr letzter Gedanke. Jakob. Wo seid ihr...
Und dann sah sie plötzlich die Konturen des Zimmers wieder klar vor sich.
Vor ihr stand eine schwarzverhüllte Person.
"Jakob!" rief sie glücklich und sprang auf. "Du hast es doch noch geschafft! Beinahe wäre ich erstickt!"
"ENTSCHULDIGEN SIE, JUNGE FRAU, ABER DA MUSS EIN KLEINES MISSVERSTÄNDNIS VORLIEGEN." antwortete die hochgewachsene Gestalt mit einer Stimme die klang, als würde jemand zwei schwere Bleiplatten aneinander reiben..
"Was wollen Sie..." stammelte Lisaweta verwirrt. Dann sah sie nach unten. "Nein..." flüsterte sie. "Mutter... Was hast du... Jakob..."
"DIE ANFÄNGLICHE VERWIRRUNG IST VÖLLIG NORMAL. SO GEHT ES FAST ALLEN." erklärte Tod und hob die Sense. "EIN TYPISCHES MENSCHLICHES VERHALTEN, WENN SIE MICH FRAGEN."

Wenige Minuten später ließ sich ein schwarzer Schatten auf dem Dachvorsprung vor Lisawetas Zimmer nieder. Ein leises 'Plop' ertönte und wo eben noch eine Fledermaus gehockt hatte, saß nun ein totenbleicher, junger Mann.
"Lisaweta, Liebling!" rief er leise und klopfte gegen das geschlossene Fenster.
Nichts geschah.
"Lisaweta!" rief er ein wenig lauter. "Schläfst du noch?"
Nichts rührte sich in der Kammer hinter dem Fenster.
Leise seufzend blickte der Vampir auf den Mond, der sich gerade wieder hinter einer Wolkenbank hervorgekämpft hatte. Heute Nacht...
...war es endlich soweit, konnte er den Satz für sich beenden. Nur ein einziger Biß... und seine Geliebte würde endlich von ihrem Leiden für immer erlöst sein. Vor seinem geistigen Auge sah er noch in dieser Nacht zwei Fledermäuse in Richtung Überwald davonfliegen.
Anscheinend hatte er den Schlaf seiner Geliebten doch unterschätzt.
Bedächtig wickelte er einen Zipfel seines Umhangs um seine Hand und schlug die Scheibe ein. Nach einigem Tasten fand er schließlich den Riegel und öffnete das Fenster.
"Lisaweta?" rief er noch einmal.
Immer noch keine Antwort.
Geschmeidig glitt der Vampir ins Zimmer und sah sich um.
Das Bett seiner Geliebten war leer, die Decke zerwühlt. Ein Zipfel hing über den Rand und berührte den Boden. Nachdenklich folgte der Blick des Vampirs einer Längsfalte in dem weißen Leinenstoff.
Und dann sah er sie, zusammengekrümmt vor seinen Füßen, das Gesicht grotesk verzerrt und blau angelaufen.
"Lisaweta!" rief er entsetzt und kniete neben dem Körper seiner Geliebten nieder. Hastig ergriff er ihre kühle Hand und tastete nach ihrem Puls.
Nichts.
Dann gewahrte er das Fehlen des Fläschchens.
"Neiiiiin!" schrie er seinen Schmerz heraus. "Lisaweta!"
Schluchzend barg er seinen Kopf an ihrem langsam erkaltenden Hals. "Warum?" flüsterte er. "Warum ausgerechnet heute Nacht... Und was hast du getan, daß es so enden mußte... Warum konntest du nicht nur noch ein paar Minuten durchhalten... Meine Liebste... Mein Ein und Alles... Ohne dich hat meine Existenz doch keinen Sinn mehr..."
Er wußte nicht, wie lange er dort auf dem Boden gesessen hatte, den toten Körper seiner Geliebten eng umschlungen, als plötzlich der Lichtschein einer Laterne in die kleine Kammer fiel und eine rundliche Silhouette im Türrahmen erschien.
"Was zum Pandämonium ist denn hier los, Kind..." setzte der Besucher an und stockte, als sein vom Schlaf noch getrübter Blick auf die Szenerie fiel.
Mit tränenüberströmtem Gesicht und rotgeränderten Augen blickte der junge Vampir hilflos zu ihm auf.
"Du!" flüsterte der Mann in der Tür mit zitternder Stimme und starrte wie hypnotisiert auf den schlaffen Leichnam seiner Tochter. "Du... Du... Mörder..."
Der Vampir ließ die Tote sinken und wich zurück.
"Ich habe sie gefunden!" Seine Stimme war zu einem erstickten Quieken geworden.
"Mörder!" Der Mann trat auf ihn zu, das Gesicht vor Wut und Trauer verzerrt. "Der Pflock ist noch zu gut für dich, du Ungeheuer!"
Ein leises 'Plopp' ertönte und eine kleine Fledermaus flatterte durch das Loch im Fenster hinaus in die stürmische Nacht. Eine weitere schwarze Wolke jagte an der Mondscheibe vorbei.
Resigniert ließ der Mann die Schultern sinken und wandte sich um.
"Was hat er dir angetan, Kind?" Liebevoll hob er den Leichnam auf und legte ihn auf das Bett. "Wo ist dein Fläschchen hin?" Er beugte sich über die Tote und gab ihr einen sanften Kuß auf die Wange. "Es ist nicht wahr." sagte er wie in Trance zu sich selbst und ergriff die eiskalten Hände seiner Tochter. "Du lebst. Es mag zwar anders scheinen, aber du lebst. Du bist nicht tot. Niemals. Er hat es nicht geschafft, dich zu töten. Zum Singen hat er dich gebracht, nicht wahr, Lisaweta? Er hat dich immer so gern singen gehört. Und dann erkannte er was er angerichtet hatte. Und er trauerte um dich, Lisaweta, um die Liebe seines Lebens die er selbst sich genommen hatte. Doch mir kann dich niemand nehmen, mein Kind. Auch wenn du jetzt für eine Weile fort bist, bald wirst du wieder bei mir sein. Und dieses Mal für immer..."
Ein zufälliger Beobachter hätte das wahnsinnige Aufblitzen in den Augen des Vaters wahrnehmen können.
Und wenn er dazu auch noch ein besonders scharfes Gehör besessen hätte, hätte er das leise, hinterhältige Kichern hören können, welches aus dem Gemälde drang.


MITTWOCH, 29. JUNI / DONNERSTAG, 30. JUNI


"Bregs! Wo ist dein Gesicht geblieben? Ohne meine Brille finde ich hier gar nichts mehr!"
"Wenn der Deckel zu ist, hilft auch keine Brille mehr."
"Ist das hier dein Knie?"
"Nein, meine Schulter. Ich bin hier, Lea... Aua! was ist denn da so hart?"
"Das sind meine Korsettstangen."
"Kannst du das Ding nicht ausziehen?"
"Wenn du es mir morgen früh wieder schnürst gerne. Ich muß eh zusehen, daß ich mein Bein wiederfinde."
"Als ich's zuletzt gesehen habe lehnte es unter dem Fenster."
"Oh je... wenn uns jetzt jemand hören könnte, der würde uns auch für vollkommen bescheuert halten."
"Na ja, sind wir das nicht irgendwie auch? Eine Mathematikerin und ein Püschologe, zusammen in Besitz von 3 Augen und 3 Beinen, quetschen sich zu zweit in einen Ein-Personen-Sarg und versuchen derzeit vergeblich, ihre Gliedmaßen zu sortieren. Von so was hat bestimmt noch nicht mal der Autor von 'Die Froiden des tantrischen Sex' was gehört."
"Unwahrscheinlich. Ach ja, und was ich dir eigentlich schon vorhin sagen wollte, es aber komplett vergessen hatte: Meine Familie möchte dich gern kennenlernen."
Einige Sekunden herrschte Schweigen in der Dunkelheit. Dann fragte eine entgeisterte Stimme: "Was?"
"Nun, als meine Cousinen spitzgekriegt haben, daß ich einen Freund habe, wollten sie ihn natürlich sehen um sich hinterher das Maul über ihn zerreißen zu können, die beiden ach so wunderbaren Fräuleins. Und mein Onkel und meine Tante wollten dich natürlich daraufhin auch gern besichtigen, um sicherzugehen, daß ich auch ja eine standesgemäße Verbindung eingehe. Ich bin dafür denen zeigen wir's."
"Ich glaube da bin ich auch für."
Ein langer Kuß erstickte für einige Zeit jegliche Unterhaltung.
Blenden wir an dieser Stelle einige Stunden aus...

...und klinken uns wieder in den Handlungsfluß ein, als Valdimier van Varwald einige Stunden später ziemlich unsanft mit der Faust auf den Sargdeckel hämmerte.
"Was issn los?" erklang es dumpf aus den Tiefen der Schlafstätte.
"Erstens hat die Schäffin nach dir geschickt und zweitens haben wir bereits halb neun."
Der Vampir entschied sich für die Radikalmethode und zog kräftig am Deckel.
Der sich jedoch nicht einen Zentimeter von der Stelle bewegen ließ.
"Mensch, Bregs, es ist dringend!" beschwerte sich Val. "Veni klang wirklich nicht gerade sehr geduldig!"
"Ich komme ja schon. Geh einfach und frag nicht. Ich erklärs dir nachher."
"Was ist denn los?" Valdimier versuchte vergeblich, durch die schmale Ritze zwischen Sarg und Deckel zu spähen. "Geht’s dir gut?"
"Könnte nicht besser sein. Aber bitte geh und laß den Deckel in Ruhe! Ich bin in drei Minuten in Venis Büro!"
Valdimier seufzte. "Na schön... also bis gleich." Er erhob sich und schickte sich an, das Büro zu verlassen. Doch dann gewahrte er das Holzbein, welches friedlich an der Wand unter dem Fenstersims lehnte. Soso, dachte er bei sich. Darum hat er also den Deckel festgehalten. Erstaunlich allerdings, daß beide überhaupt in den Sarg reingepaßt haben... muß ja ziemlich ungemütlich sein da drin. Und vor allem eng... Allerdings sind beide auch ziemlich dünn. Aber wenigstens scheint er dieses Mal mit Lea wirklich Glück gehabt zu haben, dachte er grinsend, als er die Bürotür hinter sich zuzog. Da bleibt einem in Zukunft hoffentlich das ständige Gejammer über Frauen, die etwas gegen angespitzte Eckzähne haben, erspart.

* * *


"Einfach abrasiert?" staunte Araghast wenige Minuten später im Büro seiner Schäffin. "Wer ist denn so geistesgestört, eine junge Frau zu überfallen und ihre Haare zu stehlen? Meine Güte, die Kerle von der Diebesgilde scheinen ja wirklich Probleme zu haben..."
"Wir glauben nicht, daß es die Diebesgilde war." erklärte Venezia Knurblich seelenruhig und nahm einen Schluck Kaffee aus ihrem Fingerhut. "Zumindest wurde keine Quittung am Tatort gefunden."
"Trotzdem..." Verwirrt schüttelte Bregs den Kopf. "Haare... Was um alles auf der Scheibe will jemand mit Haaren? Billig an eine Perücke kommen?"
"Wer weiß." Die Gnomin zuckte mit den Schultern. "Und eben das sollst du herausfinden. Nein, sag nichts." warf sie schnell ein, als sie sah, daß der Hauptgefreite den Mund öffnete, um zu protestieren. "Ich weiß, daß du jetzt sagen willst, daß es eigentlich ein Fall für RUM ist, aber trotzdem haben Tricia und ich beschlossen, daß du dich erstmal um die Sache kümmern sollst. Die junge Frau ist ziemlich am Ende mit ihren Nerven. Sie muß eine Menge auf ihr Haar gegeben haben."
Unwillkürlich tastete Araghast nach seinem eigenen dicken, beinahe gürtellangen Zopf. Was würde er tun, wenn ihn plötzlich jemand überfallen und kahlscheren würde? Vermutlich ziemlich sauer sein, war sein erster Gedanke.
Venezia beobachtete ihn gespannt und grinste breit.
"Ich glaube, ich weiß, was du denkst." erklärte sie und lehnte sich gegen den Ständer des Kerzenhalters, welcher auf ihrem Schreibtisch stand. "Dir scheinen deine Haare auch eine Menge zu bedeuten, stimmts oder hab ich recht?"
"Nun, ich würde mir mit Glatze schon ein wenig komisch vorkommen." nickte Bregs. "Aber Haare wachsen wieder nach. Anders als Augen..." Sein hagerer Fingerknöchel klopfte gegen das schwarze Stück Stoff, welches die Stelle bedeckte, an der sich normalerweise sein linkes Auge befunden hätte.
"Na ja, aber zumindest Fräulein Finkenstein scheint es etwas anders zu sehen." kam die FROG-Schäffin auf das ursprüngliche Thema zurück. "Mit anderen Worten, sie sitzt zu Hause und heult sich die Augen aus." Ein vergnügtes Augenzwinkern verriet Araghast, daß die Gnomin nicht besonders viel von allzu auf ihr Aussehen bedachten, zarten jungen Damen hielt.
"Ah ja." grinste er zurück. "Und ich soll den Seelentröster spielen, wenn ich richtig verstanden habe."
"Exakt." Die Mundwinkel Venezias erreichten beinahe ihre Ohren. "Da du es zur Zeit eh mit den Damen zu haben scheinst..."
"Äh..." Ein zartes Rot erschien auf den bleichen Wangen des Püschologen. Hämisch kichernd verabschiedete sich seine Schlagfertigkeit und verkroch sich in den hinteren Regionen seines Bewußtseins.
"Wie hast du das bemerkt?" fragte er lahm.
"Nun, du hast Lippenstift auf deiner Wange."
"Oh." Abwesend rieb sich Bregs mit der Hand über das Gesicht.
"Die junge Mathematikerin, nicht wahr?" verschwörerisch neigte sich Venezia vor.
Araghast nickte. Hilfe, dachte er. Das Ganze mußte sich ja wirklich mit Rekordgeschwindigkeit verbreitet haben. Nun ja, egal. Er war verliebt. Und einzig und allein das zählte.

* * *


Vor genau einem Jahr war es passiert.
Trübsinnig schloß Jakob von Offenbach den Deckel seines Sarges über sich, um sich zur Tagruhe zu begeben. Ein ganzes Jahr. Und doch sah er die Szene vor sich, als wäre es erst gestern gewesen. Die Liebe seines Lebens [1] reglos vor ihm auf dem Boden ausgestreckt, das feuerrote Haar wie ein feiner Schleier über dem im Todeskampf blau angelaufenen Gesicht. Was hatte sie nur getötet, nur wenige Minuten bevor er ihr den Kuß geben und sie für immer von ihrem Leiden erlösen konnte? Verfluchte ewige Existenz, dachte er bitter. Muß ich denn nun in alle Ewigkeit als tragischer Dichter existieren? Doch Freude, wo bist du hin? Gestorben mit Lisaweta...
Unter seinem Kopfkissen raschelte es. Zärtlich strich Jakob über das Pergament. Heute Nacht hatte er es vollendet. Ein Gedicht voller Trauer und Klage zum Gedenken an seine Geliebte. Sobald der alte Tom zwölf Mal schlug würde er an ihrem Grabe stehen und seinen Schmerz in die Nacht hinausschreien. Nur noch einige Stunden...
...und zumindest in seiner Vorstellung würde sie ihn hören, wo auch immer sie jetzt war.

* * *



Mit knirschenden Rädern kam die Kutsche in der kiesbestreuten Auffahrt zum Stehen.
Ein Mann mit einem Arztkoffer, den Hut tief ins Gesicht gezogen, stieg aus.
Nur noch wenige Augenblicke...
Der Mann erreichte die Haustür und zog kräftig an der Klingelschnur. Vermutlich war der Butler bereits unterwegs, um zu öffnen. Eigentlich wäre es jetzt Zeit...
"Leonaaaataaa!"
Leise vor sich hinfluchend legte Lea den Füllfederhalter beiseite und schob das Papierchaos auf ihrem Schreibtisch zusammen, welches sich nur insofern von dem ihres Freundes unterschied, als daß die Akten mit püschologischen Gutachten durch mathematische Formelsammlungen ersetzt waren. Sehnsüchtig wanderte ihr Blick zu dem neuesten Eddie Wollas, welchen sie heute eigentlich noch angefangen haben wollte. Aber nein, Doktor Sandmann kam. Und das bedeutete, daß sie wieder einmal die Anstandsdame spielen mußte, während der Doktor ihre hypochondrische Cousine untersuchte, und gleichzeitig seine Avancen abwehren mußte. Mal sehen was dieses Mal die Krankheit des Tages ist, dachte sie bissig, als sie nach ihrer Krücke griff und sich auf den Weg zum Ankleidezimmer Antonia Bolzano-Bläulich-Permanents machte.

"Ah, das Fräulein Leonata!"
Ein schmieriges Lächeln, gepaart mit einer übertriebenen Verbeugung, begrüßte die junge Frau, als sie mit versteinerter Miene den Raum betrat. Auf der Liste 'Welche Personen ich zuerst erschlagen werde falls ich irgendwann mal Amok laufen sollte', welche in der wohlverschlossenen Schublade von Leas Schreibtisch lagerte, war Doktor Sandmann ein Dauergast in den oberen Zeilen.
"Was ist Ihnen denn über die Leber gelaufen? Diese wütende Miene ist gar nicht gut für Ihr Gesicht! Sie bekommen Falten davon." Ein übertrieben besorgter Blick aus einem Paar dunkler Augen hinter dicken, runden Brillengläsern traf sie.
"Nun, ich glaube nicht, daß mir etwas über die Leber gelaufen ist." gab Lea zurück und sah sich nach einer Sitzgelegenheit um. "Jedenfalls war meine Bauchdecke heute Morgen noch intakt."
"Schlecht gelaunt heute, das Fräulein." stellte der Doktor fest. "Warten Sie, da habe ich etwas. Das wird Ihnen bestimmt gut tun." Er machte Anstalten, seinen Koffer zu durchwühlen
"Danke, ich brauche nichts." entgegnete Lea kühl und lehnte sich gegen die Wand. Was bildete sich dieser Quacksalber eigentlich schon wieder ein?
"Leonata, laß doch den Doktor in Ruhe." kam eine gequälte Stimme von der Couch. Antonia Bolzano-Bläulich-Permanent hob den Kopf und funkelte ihre Cousine böse an.
"Immerhin bin ich hier diejenige mit dem kranken Magen und du hältst den Doktor nur immer auf mit deinen dummen Witzen."
Lea schnaubte nur und wandte sich ab. Wie das Spiel weitergehen würde wußte sie bereits aus dem Kopf. Übertrieben besorgt würde sich der Doktor um Antonia kümmern, sie auf eine Art und Weise untersuchen, die beinahe ans Unschickliche grenzte und ihr schließlich diverse Mittelchen verschreiben, die allesamt nicht helfen würden da sich Antonia ihre diversen Wehwehchen lediglich einbildete. Lea vermutete, daß ihre Cousine das Getue des Doktors nach zwei gescheiterten Ehen quasi als eine Art Selbstbestätigung nötig hatte. Dennoch mochte sie kaum hinsehen, als Sandmann sich an Antonias Rücken zu schaffen machte. Eher würde sie sich auch noch ihr verbliebenes Bein absägen lassen als sich von Doktor Sandmann abhorchen zu lassen. Doch wenn er so weiter machte... Vielleicht sollte sie sich doch eine jener Dolchtaschen vorn in ihr Korsett einsetzen lassen, wie sie die Assassininnen angeblich trugen. Nur zur Sicherheit, falls der Doktor wirklich einmal handgreiflich werden sollte.

* * *


Neugierig sah sich Araghast in der Wohnung Katja Finkensteins um. So viele rosa Rüschen und Blümchenmuster hatte er noch niemals auf einem Haufen gesehen. Die billige Kopie einer ephebianischen Statue blickte von einem Sockel auf ihn herab und der Püschologe wunderte sich, wie das Modell des Künstlers es geschafft hatte, das Feigenblatt vor den pikanten Stellen des muskulösen Kolosses zu befestigen. Schnur schien er nicht verwendet zu haben... Vielleicht irgendwelchen Klebstoff? Dann würde das anschließende Entfernen allerdings ziemlich schmerzhaft gewesen sein.
"Ach wissen Sie, es war so schrecklich!" zerrte ihn das Schluchzen Fräulein Finkensteins gewaltsam in die Wirklichkeit zurück. "Glauben Sie mir, ich habe meine Plakette der Diebesgilde immer pünktlich bezahlt. Meine schönen Haare! Ich war so stolz darauf!"
"Wie sahen sie denn aus?" erkundigte sich Bregs. Insgeheim schüttelte er immer noch den Kopf über den Fall. Was mochte wohl als nächstes kommen? Eine Skalpierung wie bei den wandernden Stämmen des oktarinen Graslandes?
Traurig strich sich Fräulein Finkenstein über das rotgeblümte Tuch, unter dem sie ihre Glatze verbarg. "Feuerrot waren sie." sagte sie leise. "Feuerrot, dick und hüftlang. Alle haben mich um sie beneidet. Ich habe sogar einen Preis für sie gewonnen, sehen Sie?" Die junge Frau wies auf eine goldgerahmte Urkunde, welche unübersehbar über dem Kamin hing.
Araghast seufzte innerlich. Für was es alles Urkunden gab... Vermutlich gab es sogar welche für das Überleben des Verzehres von über 5 Würstchen von Schnapper. Obwohl in diesem Fall seine Schäffin längst eine goldene Auszeichnung mit Stern verdient hätte.
"Und nun bin ich entstellt." fuhr Fräulein Finkenstein unter umständlicher Benutzung eines rosa Spitzentaschentuches fort. "Verschandelt für mindestens das nächste Jahr. Was für ein Mensch muß man bloß sein, einer armen Frau so etwas anzutun?"
"Ich kann es Ihnen auch nicht sagen." versuchte Araghast, das Gespräch in etwas rationalere Bahnen zu lenken. "Wir stehen mit unseren Ermittlungen auch erst am Anfang. Und Sie können uns eventuell dabei helfen."
"Aber mein Aussehen!" Mit einer Geste, die offensichtlich dramatisch wirken sollte, schlug Fräulein Finkenstein die Hände vor das Gesicht. "So kann ich mich doch nicht mehr auf die Straße trauen!" Durch ihre wohlmanikürten Finger warf sie dem Püschologen einen verzweifelten Blick zu.
Dieser unterdrückte nur mit Mühe eine bissige Antwort.
"Vielleicht sollten Sie es so lange mit einer Perücke oder einem Hut versuchen." schlug er vor und schwor sich gleichzeitig, niemals eine Frau zu heiraten, die ihr Selbstbewußtsein vom Zustand ihrer Haare abhängig machte. Zum Glück schien Lea ihr Aussehen nicht wichtiger als alles andere zu sein.
Die nackte Statue schien von ihrem Sockel hochnäsig auf ihn herunterzublicken, als wollte sie sagen: Dein Pech, daß du Püschologe geworden bist. Als Experte für den Patrizierpalast, dessen Stelle bei der DOG leider nicht ausgeschrieben war, säßest du jetzt nicht hier.
"Perücke?" Fräulein Finkensteins Stimme klang, als hätte er soeben etwas Ungeheuerliches erwähnt. "Ich soll die Haare einer anderen Person tragen?"
"Nun, es würde zumindest eine gewisse Verbesserung des Erscheinungsbildes mit sich bringen." bemerkte Araghast. "Aber wenn ich jetzt noch einmal auf den Überfall zurückkommen dürfte..."
Weiter kam er nicht. Entsetzt und wütend zugleich sprang Fräulein Finkenstein auf und richtete einen anklagenden Zeigefinger auf den Püschologen.
"Wollen Sie etwa damit sagen, daß ich häßlich bin?" brachte sie mit zitternder Stimme hervor, jeder Zoll eine beleidigte Diva.
"Äh, ganz und gar nicht." beeilte sich Araghast zu sagen. "Hören Sie mir bitte zu, Fräulein. Ich weiß, es ist nicht leicht für Sie. Aber was Sie zumindest tun können ist uns zu helfen, denjenigen zu fassen, der Ihnen das angetan hat." Der Püschologe atmete tief durch. Manchmal erwies es sich doch als nützlich, Standardsprüche aus der 'Phänomenomenologie des Geistes' auswendig zu lernen.
Und er konnte sich ziemlich sicher sein, daß sie ihre Wirkung entfalteten.
"Oh ja." Fräulein Finkensteins verweinte Augen leuchteten auf. "Schnappen Sie ihn. Bringen Sie ihn hinter Gitter. Lassen Sie ihn aufhängen!"
"Na na na." versuchte Araghast, sie zu beruhigen. "Über das Aufhängen haben wir nicht zu entscheiden. Aber wenn wir ihn erwischen wird er schon seine Strafe bekommen. Vorausgesetzt natürlich, Sie helfen uns."
"Wunderbar." Fräulein Finkenstein schenkte ihm ein selbstzufriedenes Lächeln und ließ sich wieder auf ihr Sofa sinken, welches, wie Bregs zu seinem Entsetzen hatte feststellen müssen, mit dunkelrotem Rosenmuster verziert war. Doch gleich darauf verzog sie wieder das Gesicht, auf dem sich bereits dunkle Spuren aus verlaufener Schminke gebildet hatten. "Sie können sich gar nicht vorstellen wie schrecklich das Ganze für mich war..." begann sie mit weinerlicher Stimme, während Araghast sich insgeheim einen Knopf wünschte mit dem er die 'Ich bemitleide mich selbst'-Funktion abschalten konnte. "Ich ging nichtsahnend spazieren, wissen Sie, ich liebe die kühle Abendluft so sehr."
Und den Knopf für prolixe Lokution gleich dazu, dachte Bregs und bemühte sich, ein aufmerksames, anteilnehmendes Gesicht zu machen. Prolixe Lokution. Der Begriff gefiel ihm. Er hatte ihn von Charlie Holm aufgeschnappt und er bedeutete im Klartext so viel wie Geschwafel.
"Ach, der Hide Park ist so schön in der Dämmerung... Und dann weiß ich nur noch wie mir jemand einen Lappen mit einer stechend riechenden Flüssigkeit vor das Gesicht drückte. Und am nächsten Morgen wachte ich in einem Gebüsch auf und meine Haare..." Fräulein Finkenstein schluchzte auf und griff sich ein weiteres besticktes Taschentuch von dem mit Liebesromanen von Barbara Kartenhand und roséfarbenen Häkeldeckchen bedeckten Wohnzimmertisch. "Meine schönen Haare..."
"Haben Sie irgendwas von Ihrem Angreifer erkennen können?" fragte Araghast schnell, um dem nächsten Tränenausbruch zuvorzukommen.
Stumm schüttelte Fräulein Finkenstein den Kopf und schniefte.
"Wirklich nicht?" hakte Bregs nach. "Keine Hand, die den Lappen hielt und an der irgendwas ungewöhnlich war, kein fehlender Finger oder so was?"
"Mein Haare..." weinte Fräulein Finkenstein. "Meine schönen Haare..."

Zwei Stunden später, die Sonne befand sich bereits auf dem halben Weg ihrer Strecke vom Mittag zum Horizont, stand Araghast in einer Toreinfahrt gegenüber der Wohnung Katja Finkensteins und lehnte die Stirn gegen die angenehm kühle Mauer. Was für eine Frau... Obwohl, hübsch waren ihre Haare ja schon gewesen, daß mußte der Püschologe zugeben. Unwillkürlich tastete er nach der Ikonographie in der Brusttasche seines Uniformhemdes. Aber was sollte er schon groß unternehmen? Eine Fahndung nach einem Bündel Haare veranstalten? Wohlmöglich noch mit detailliertem Steckbrief? Gesucht: Rotes Kopfhaar, Länge zirka einen Meter, tot oder lebendig?
Das Knurren seines Magens weckte Araghast aus seinen Gedanken und ihm fiel ein, daß er an diesem Tag noch gar nichts gegessen hatte. Essen... überlegte er, als er sich auf den Weg zurück zum Wachhaus machte, da war doch irgendwas gewesen... Was hatte Lea noch gesagt? Oktotagsessen mit ihrer Familie. Der Hauptgefreite seufzte. Wie sollte er es bloß überstehen, von hochnäsigen, reichen Kaufleuten unter die Lupe genommen zu werden?
'Klatschianischer 24-Stunden-Imbiß' lockte ihn ein Schild über einem kleinen Laden. Nun, zumindest heute würde das Essen formlos ausfallen. Eine Pizza auf die Faust und dann mal schauen was die zweieinhalb Stunden Gejammer Fräulein Katja Finkensteins letztendlich an verwertbaren Informationen gebracht hatten.

* * *


Der bereits zu drei Vierteln volle Mond veranlaßte die Grabsteine dazu, unheimliche Schatten zu werfen. Eine Nacht wie geschaffen für eine Totenklage, dachte Jakob von Offenbach, als er über die Kieswege schlurfte, die Pergamentrolle mit dem Gedicht sorgfältig in einer Tasche seines Umhangs verborgen. Die diversen heiligen Symbole, die sich zuhauf auf den Grabsteinen zeigten, bereiteten ihm ein leichtes Unwohlsein. Dennoch schritt der Vampir kräftig aus und blickte sich immer wieder suchend um.
"Hier muß es doch irgendwo sein..." murmelte er. "Lisaweta, wo bist du?"
Doch er brauchte nicht lange ziellos herumzuirren. Schon bald stand er vor einer zierlichen marmornen Figur, deren polierte Oberfläche im Mondlicht leicht schimmerte. Jakob von Offenbach bückte sich, um die Inschrift auf dem Sockel zu entziffern.

Hier lieget die letzte Ruhestätte meiner über alles geliebten Tochter Lisaweta Lindendorf. Mögen die Götter ihrer reinen Seele gnädig sein.


Ehrfurchtsvoll trat der Vampir einen Schritt zurück und kreuzte die Hände vor der Brust, wie er es immer tat während er tagsüber in seinem Sarg lag. Reglos verharrte er für einige Minuten in dieser Haltung, während der Schatten des Grabmals Zentimeter für Zentimeter über den schwärzlichen Boden wanderte.
"Warum hast du nur gesungen, Lisaweta." flüsterte er schließlich heiser und griff in seinen Umhang. Das Pergament knisterte leise, als es von einem Paar schmaler, bleicher Hände entrollt wurde.
Dann erfüllte eine klagende Stimme den Friedhof der geringen Götter und strebte gen Himmel:

"Schweigend steh ich Stund um Stunde
Am Grabe welches dich verschlungen
Auf dem Blatt die Klageverse
welche meinem Herz entrungen
Unter ach so großen Schmerzen
Schrieb ich auf was ich einst fühlt'
Zu jener Zeit als deine Jugend
blütenweiß und voll erblüht
Doch fort sind all die schönen Tage
welche wir voll Glück erlebt
Und mir bleibt nur die Totenklage
Die zu dir ins Jenseits schwebt...


Jakob ließ das Blatt sinken und verbarg sein Gesicht im weiten Kragen seines Umhangs. Niemand sollte ihn weinen sehen. Ein Vampir zeigte seine Gefühle nicht in der Öffentlichkeit. Selbst ein vampirischer Poet nicht. Obwohl, überlegte er, was tat er denn gerade anderes? Schniefend putzte er sich die Nase mit einem Zipfel seines Umhangs und fuhr fort.

"Kraftlos waren deine Glieder
kreidebleich dein Angesicht
Unter deinem weißen Mieder
regte sich dein Herze nicht
Verstummt auf ewig deine Stimme
tönend gleich der Nachtigall
So bleibt mir nur in meinen Träumen
ihr schwacher, ferner Wiederhall..."


Der mit Knoblauch bestrichene und mit dem heiligen Pinguin der ephebianischen Göttin Patina bemalte Pflock zischte aus dem Dunklen heran und bohrte sich direkt in das Herz des Vampirs. Ein schriller Schrei beendete das dichterische Klagelied abrupt, und wo eben noch Jakob von Offenbach der Welt im Allgemeinen seinen Schmerz mitgeteilt hatte, lag nun ein Haufen Asche auf dem Kiesweg. Eine einsame Pergamentrolle trudelte zu Boden.
Ein Mann trat aus den Schatten. Mit umständlichen Bewegungen verstaute er die Armbrust unter seinem Mantel und löste einen Handfeger und ein Kehrblech von seinem Gürtel. Ächzend bückte er sich und fegte die Asche des Vampirs zusammen. Begleitet von leisem Knistern öffnete er eine Papiertüte und schüttete die sterblichen Überreste Jakob von Offenbachs hinein. Fröhlich pfeifend schob er das Päckchen in seine Manteltasche, befestigte seine Kehrutensilien wieder am Gürtel und marschierte davon.
Von ihm unbemerkt blieb ein Blatt Pergament ein wenig abseits im Schatten eines Grabsteins liegen.


FREITAG, 1. GRUNI


Eine Taube flog gurrend über den Streifen blaßblauen Morgenhimmels, den Araghast Breguyar vom Fenster seines Büros aus überblicken konnte. Vor ihm auf der Schreibtischplatte lag eine hastig zusammengeschriebene und durch diverse Querverweise beinahe unlesbare Liste: Die bisherigen Ergebnisse des gestrigen Gespräches.
Doch weitaus mehr Sorgen bereitete ihm ein anderes, mit gestochen scharfer Handschrift bedecktes Blatt. Lea hatte es ihm am vorigen Abend gegeben, 'um dich seelisch und moralisch schon einmal auf den Alptraum namens Verwandtschaft vorzubereiten', wie sie es ausgedrückt hatte.
Und bisher klangen die Beschreibungen der einzelnen Personen, in Leas üblichem direktem Ton abgefaßt, nicht gerade erbaulich.
Am meisten Sorgen bereitete ihm Ephraim 'Schwallsack' Farrux, Alleinerbe eines hohen Tieres in der Kaufmannsgilde und Verlobter Elisabeth Bolzanos, der jüngeren Schwester der ewig kränkelnden Antonia. Wenn wirklich nur die Hälfte von dem stimmte, was Lea über ihn aufgeschrieben hatte, schien er ja wirklich ein reizender Zeitgenosse zu sein...
Nachdenklich beobachtete der Püschologe seine Papageiendame Havelock Vetinari II., welche auf ihrem Käfig hockte und bedächtig eine Feder nach der anderen durch ihren Schnabel zog.
"Du hast es gut." seufzte Bregs und kramte eine Schale mit Körnern unter den Papiermassen, welche den Tisch bedeckten, hervor. "Ich bezweifle, daß es bei Vögeln irgendwelche bescheuerten gesellschaftlichen Rituale wie Oktotagsessen bei der Familie der Freundin, oder irgendwelche Verrückte die anderen die Federn vom Kopf rupfen, gibt."
Die Papageiin legte den Kopf schief. Dann stieß sie sich ab und flatterte zu ihrem Frühstück hinüber.
"Fünfzehn Mann auf des Toten Manns Kiste!" krächzte sie und machte sich über die Körner her.
Araghast fragte sich schon seit langem, wie dieser Spruch zustande gekommen war. Die durchschnittliche Länge eines handelsüblichen Sarges betrug etwa zwei Meter und die Länge der Seitenkanten die Hälfte. Gesetzt der Fall, der verlängerte Rücken eines Piraten war im Mittel fünfzig Zentimeter breit. Dann würden die Längsseiten mit jeweils 4 Seeräubern besetzt werden können und die Querseiten mit jeweils einem, wenn man voraussetzte, daß jede Person fünfzig mal fünfundzwanzig Zentimeter Platz beanspruchte. Blieben noch fünfzig mal ein Meter fünfzig in der Mitte. Dort könnten nach obigen Annahmen noch drei Personen sitzen, vorausgesetzt sie sägten sich die Beine ab. Obwohl das bei der durchschnittlichen Holzbeinquote unter Seeräubern kein allzu großes Problem darstellen dürfte, überlegte Bregs. So hätte man Summa summarum dreizehn Personen untergebracht. Doch wenn man die Acht an den Längsseiten sitzen ließ und die übrigen Sieben sich in die Mitte stellen würden, könnte es klappen- ein stehender Mensch verbrauchte weniger Platz als ein sitzender. Eine hastig auf den nächsten greifbaren Zettel gekritzelte Rechnung ergab für die durchschnittliche erlaubte Länge der Füße eines Piraten etwa achtundzwanzig Zentimeter. So war es also möglich, tatsächlich fünfzehn Mann auf eines toten Mannes Kiste zu bekommen. Die Frage war nur, wollten sich die fünfzehn Seeräuber überhaupt derart unbequem und eng stapeln? Und wieviel Gewicht hielt ein durchschnittlicher Sargdeckel eigentlich aus? Ein durchschnittlicher Seeräuber inklusive Ausrüstung wog vermutlich etwa achtzig Kilogramm. Das machte sieben Mal achtzig für die Stehenden, was (eine kurze Denkpause in der siebenmal acht zusammengezählt und eine Null angefügt wurde) Fünfhundertsechzig Kilogramm ergab. Dann die Frage, wieviel des Gesamtgewichtes eines sitzenden Mannes ebenfalls auf den Deckel drückte. Vermutlich ein ziemlich großer Teil. Ach was, wenn er die Füße hochnahm war es bestimmt sogar das komplette Gewicht. Also wie viele Piraten hatten zu einem beliebigen Zeitpunkt gerade ihre Beine in der Luft? Des weiteren mußte man das Gewicht der Rumbecher, die Piraten beim Feiern normalerweise mit sich herumtrugen, miteinbeziehen. Bregs schätzte es grob auf hundert Gramm pro Becher. Dazu die Menge des darin enthaltenen Rums. Doch hier ergab sich ein Problem. Jeder Seeräuber nahm vermutlich im Laufe des Abends eine ganze Menge Rum zu sich. Was hieß, daß sich das Gesamtgewicht der fünfzehn Seeräuber plus Rumgläser plus Rum im Laufe des Abends immer mehr vergrößerte. Abzüglich der Flüssigkeitsmenge die jeder der Seeräuber von sich gab, wenn er zwischendurch einmal den Abort aufsuchte. Man nehme einmal an, die durchschnittliche Blasenkapazität eines Seeräubers würde...
Es klopfte.
...schätzungsweise einen halben bis einen Dreiviertelliter... Bregs schreckte auf und blinzelte.
Klopf Klopf Klopf
"Herein!" rief der Püschologe und schob hastig Leas Verwandtenliste unter einen Stapel Akten.
Die Tür wurde aufgestoßen und ein kleiner Mann trat ein. Wirres, dunkelblondes Haar zierte seinen Kopf und trotz der sommerlichen Temperaturen trug er einen abgewetzten, ledernen Trenchcoat.
"Guten Tag." begrüßte er den Püschologen kurz und betrachtete aufmerksam seine Umgebung.
"Hallo!" begrüßte Bregs seinen Besucher. Ein Name befreite sich in den Tiefen seines Gedächtnisses aus der Ecke, welche die letzten Tage seiner Grundausbildung beherbergte, und verknüpfte sich mit dem richtigen Gesicht. "Du bist Kolumbini, nicht wahr?"
"Der bin ich wohl." Der Gefreite nahm auf der anderen Seite des Schreibtisches Aufstellung. "RUM-Ermittler. Vinni hat mich wegen des Finkenstein-Falls hergeschickt. Du hast das Verhör des Opfers vorgenommen?"
Araghast nickte. "Setzt dich doch." bat er seinen Gast. Dieser ließ sich auf dem wackeligen Stuhl nieder, welcher vor Erwerb des AEKI-Bürostuhles das einzige Sitzmöbel im Raum dargestellt hatte.
"Es war allerdings eine ziemlich anstrengende Befragung." seufzte der Püschologe. "Ich habe wirklich noch nie eine dermaßen selbstmitleidige und eitle Person getroffen wie Katja Finkenstein."
Kolumbini schnaubte verächtlich. "Frauen." sagte er nur.
"Jedenfalls habe ich nach diversem Rumgeheule und Meine-Haare-Gejammere aus ihr herausbekommen, wie das Ganze abgelaufen ist." fuhr Bregs fort und spielte mit dem Rand seines Notizpapiers. "Man hat sie von hinten betäubt und das war's. Aufgefallen ist ihr nichts Besonderes am Täter, im Gegenteil. Sie hat ihn nicht mal gesehen. Eine Tasse Kaffee?" Er klopfte an seinen noch halb gefüllten Becher.
"Danke, ich trinke lieber Tee." Kolumbini wühlte in den Tiefen seines Mantels und förderte zum großen Erstaunen Araghasts eine Tasse und eine verführerisch dampfende Kanne zu Tage.
"Faszinierend." Neugierig sah der Püschologe zu, wie sein Besucher einen Schwall bernsteinfarbenen Tees in die Tasse goß. "Ist da irgendein Trick bei?"
"Es ist der Mantel." erklärte Kolumbini kurz und verstaute die Kanne wieder in den vermutlich unergründlichen Tiefen des Kleidungsstücks. "Das mit Fräulein Finkenstein ist schade." kam er abrupt auf den eigentlichen Grund seines Besuches zurück. "SUSI haben sich den Tatort vorgenommen. Nichts. Keine zufällig verlorenen Zigarettenkippen, aussagekräftige Streichholzbriefchen oder Stofffetzen. Nicht mal Fußspuren."
"Na das mag ja ein schöner Fall werden." Araghast wandte sich wieder seiner Liste zu. "Ich habe mir überlegt, ob es nicht vielleicht ein Racheakt oder so etwas in der Art gewesen sein könnte. Ein enttäuschter Verehrer vielleicht oder eine neidische Frau. Immerhin, man kann's nicht leugnen, sieht sie ziemlich gut aus. Und außerdem, welchen Sinn hätte sonst der Diebstahl von Haaren?"
Er griff die Ikonographie, die er von Fräulein Finkenstein bekommen hatte, von einem aufgeschlagenen Eddie Wollas-Heft, wischte einige Vogelfutterreste ab und reichte sie Kolumbini.
Dieser runzelte die Stirn, als sein Blick über die Aufnahme glitt. Araghast bemerkte dabei, daß eines seiner Augen einen seltsamen Glanz besaß.
"Soso." kommentierte der Ermittler und gab Bregs die Aufnahme zurück. "Na das scheint ja wirklich ein im wahrsten Sinne des Wortes haariger Fall zu werden."
"Ich habe mir von Fräulein Finkenstein noch ein paar Namen von Leuten geben lassen, die nicht besonders gut auf sie zu sprechen sind." Der Püschologe klopfte mit dem Zeigefinger auf sein verworrenes Schaubild, welches bei näherer Betrachtung eher dem Werk einer betrunkenen Spinne ähnelte.
"Was vermutlich heißt, daß wir durch die Stadt laufen und diverse Personen nach ihrem Verhältnis zum Opfer befragen müssen und uns dabei umschauen sollen ob zufällig irgendwo ein Büschel roten Haares herumliegt." Kolumbini klang nicht besonders begeistert von der Aussicht auf diverse lange Fußmärsche durch die in der Sommerhitze brütende Stadt.
Araghast nickte düster.
"Darauf wird es wohl hinauslaufen."
"Na schön." Kolumbini leerte seine Tasse mit einigen tiefen Zügen und verstaute sie in den Tiefen seines Mantels. "Na dann wollen wir mal."
"Auf in den Kampf die Schwiegermutter naht." Araghast erhob sich und streckte den Arm aus. "Komm her, Havelock. Ich muß dich jetzt leider wieder einsperren, solange ich weg bin."
"Havelock?" fragte Kolumbini entgeistert, als die Papageiendame auf den Arm ihres Herrchens flatterte und sich widerstandslos zu ihrem zeitweiligen Gefängnis tragen ließ.
"Havelock Vetinari die Zweite." erklärte Bregs. "Aber ich möchte ausdrücklich betonen, ich habe den Namen nicht verbrochen. Und mit dem Umtaufen hat's leider nicht geklappt- auf was anderes als Havelock hört sie nun mal leider nicht." Er schloß das Käfigtürchen und nahm Magnarox vom Haken, nicht ohne sich vorher zu vergewissern, daß der Knebel noch fest saß.
Kolumbini stand bereits auf dem Korridor.
"Igor!" rief er.
"Waf gibt ef, Herr?" fragte eine Stimme mit dem typischen Akzent nur wenige Sekunden später.

* * *


"Leeeeooonaaaataaaa!"
"Ach verdammt."
Wütend warf Lea ihren Bleistift auf den Schreibtisch und stand auf. Was wollte der Arzt jetzt schon wieder hier? Heute Morgen beim Frühstück hatte Antonia doch noch recht munter gewirkt. Und nun hatte sie schon wieder den Doktor kommen lassen? Langsam nahm es wirklich überhand mit dem krank spielen.

"Die Arznei die Sie mir gegen mein Kopfweh gegeben haben wirkt wirklich Wunder, Doktor." erklärte Antonia gerade, als Lea das Zimmer betrat. "Aber mein Magen... Irgend etwas muß im Frühstück gewesen sein, jedenfalls ist mir seitdem permanent übel."
"Sag bloß du verträgst auch neuerdings keine Brötchen mehr." stichelte Lea.
"Sieh an, das Fräulein Leonata." Doktor Sandmann lächelte sie strahlend an. "Schlecht gelaunt wie immer."
Na warum wohl, dachte Lea und ließ sich in einen Sessel fallen. Weil du mir andauernd auf die Nerven fällst. Genau wie Antonia. Statt sich mal um ihre Tochter zu kümmern, jetzt wo sie, nachdem auch ihre zweite Ehe im Eimer ist, auch mal wieder Zeit für sie hätte, spielt sie die Leidende. Warum eigentlich? Damit sie alle bedauern? Weil sie es mag, vom Arzt umsorgt zu werden? Warum heiratet sie ihn dann nicht gleich? Mittlerweile hat sie doch Übung drin...
"Und dieses Elixier hilft wirklich?" Skeptisch hielt Antonia das Fläschchen mit der leicht grünlichen Flüssigkeit, welches Doktor Sandmann soeben aus den Tiefen seiner Tasche gegraben hatte, gegen das Licht. Lea lief schon bei dem bloßen Gedanken daran, daß der Inhalt von Menschen getrunken werden sollte, ein Schauer über den Rücken.
Der Arzt beugte sich vor, so daß sich sein verkniffenes Gesicht auf einer Höhe mit dem leidend verzogenen Antonias befand.
"Alles wird wieder gut, meine Liebe." beschwichtigte er sie. "Sie werden im Handumdrehen wieder auf den Beinen sein, das versichere ich Ihnen. Oh verzeihen Sie mir das Wortspiel, Fräulein Leonata." wandte er sich an Lea. "Ich wollte Ihre Gefühle nicht verletzen."
Sie verletzen meine Gefühle schon allein durch ihre bloße Anwesenheit, konnte Lea sich gerade noch verkneifen zu sagen. Langsam verspürte sie wirklich Lust darauf, gewalttätig zu werden. Ihre Hand schloß sich fester um den Griff ihrer Krücke.
"Sie brauchen sich nicht für alles zu entschuldigen, Doktor." erklärte sie steif. "Und wenn Sie ihre Behandlung nun bitte abschließen könnten- ich habe noch zu tun."
"Sie arbeiten?" fragte Sandmann ungläubig. "Ein Fräulein Ihres Standes sollte so etwas eigentlich nicht nötig haben. Mit dieser Einstellung bekommen Sie ja niemals einen Ehemann."
"Sicher?" gab Lea zurück. "Zufälligerweise bin ich in festen Händen. Und außerdem wüßte ich nicht, was Sie mein Privatleben angeht." Wütend funkelte sie den Arzt an.
Ein plötzlicher Ruck schien durch den Körper des Arztes zu gehen und für einen Moment schien ein Anflug des Zornes über sein Gesicht zu zucken.
Ha, dachte Lea. Du hättest mich wohl gern aus alte Jungfer irgendwo versauern sehen.
Antonia nickte schwach.
"Das stimmt, sie ist vergeben." erklärte sie leise. "Wenn Sie wollen können Sie sich am Oktotag gern davon überzeugen. Da kommt er nämlich zum Essen. Was heißt, daß Sie natürlich auch eingeladen sind."
"Aber gern doch." Sandmann lächelte Antonia strahlend an und griff nach seinem Hut. "Und vielleicht taut Ihre Cousine dann auch endlich mal etwas auf." Er verneigte sich und tippte zum Gruß mit dem Finger an die Krempe "Dann auf Oktotag, Madame Permanent, Fräulein Eule."
Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, als Lea auch schon wütend über ihre Cousine herfiel.
"Wie konntest du ihn nur zum Essen einladen!" fauchte sie. "Der arme Bregs muß sich ja vorkommen wie ein Pferd auf einer Tierschau! Reicht es denn nicht schon wenn unsere gesamte Familie und Schwallsack Farrux ihn die ganze Zeit anstarren? Mußte es auch noch unbedingt Sandmann sein? Hast du völlig den Verstand verloren?"
"Du bist nicht diejenige die ohne Tischherr dagesessen hätte." antwortete Antonia weinerlich.
"Na ja, du hast was das betrifft aber bisher auch einen ziemlichen Verschleiß gehabt." giftete Lea zurück. Eine kleine Pause kann da sicher auch nicht schaden."
"Du bist so gemein, Lea." schniefte Antonia. "Dich über meinen Kummer auch noch lustig zu machen. Ich bin eine von der Liebe enttäuschte Frau und du amüsierst dich darüber!" klagte sie und grub in den Kissen ihrer Liege nach einem Taschentuch.
"Na schön, dann gehe ich."
Lea erhob sich, hinkte aus dem Zimmer und schmetterte die Tür mit voller Wucht hinter sich ins Schloß. Doktor Sandmann zum Essen. Selbst wenn man dachte, es könnte nicht mehr schlimmer werden, geschah es dennoch... Doch zumindest wußte der Arzt nun, daß sie vergeben war und würde nun hoffentlich endlich seine aufdringlichen Versuche einstellen, ihr den Hof zu machen.

* * *


"Wieder keine Haare." seufzte Araghast, nachdem sich die Haustür hinter ihnen geschlossen hatte.
"Gelacht hat er aber ziemlich als wir ihm die Geschichte erzählt haben." stellte Kolumbini fest. "Aber tut das nicht jeder?"
"Ich würde mich jedenfalls unter dem Schreibtisch wälzen wenn mir jemand erzählen würde, daß jemand eine gewisse Sibylle Ehrenspeck überfallen und ihr den Schädel rasiert hätte." grinste Bregs.
"Wieso, was hat die denn mit dir angestellt?" fragte Kolumbini neugierig.
"Weißt du, das ist eine lange Geschichte." [2] Araghast klappte seinen Notizblock auf und strich den dritten Namen auf der Verdächtigenliste durch. "Wilhelm Sauerlich fällt also auch weg."
Kolumbini nickte.
"Ich befweifle eh, daf der noch waf anderef tut alf den ganfen Tag auf feinem Fofa fu hocken und Fokolade in fif reinfuftopfen." bemerkte Igor bissig.
"Man sollte es mit Schokolade nicht übertreiben." erklärte Araghast, während sie sich wieder in Bewegung setzten. "In Maßen macht sie aber glücklich. Hilft bei Winterdepressionen."
"Winterdepressionen? Wir haben Hochsommer!" Kolumbini tupfte sich mit einem Taschentuch, welches er in den unergründlichen Tiefen seines Mantels gefunden hatte, die Stirn ab. "Wie viele haben wir eigentlich noch auf der Liste?"
Nachdenklich beobachtete Bregs Igor, der hinter ihnen herschlurfte.
"Zwei noch." erklärte er schließlich. "Einen Peter Karsten und eine Gabriele Glockner. Soweit ich weiß, ist Karstens ein verflossener Verehrer und Glockner verlor gegen Finkenstein einen dieser Haarwettbewerbe."
Kolumbini verzog verächtlich das Gesicht. "Frauen haben sonst wohl auch keine Sorgen." bemerkte er bissig.
Vor Bregs' geistigem Auge erschien eine herzhaft über ihre beiden eitlen Cousinen schimpfende Lea.
"Die meisten vermutlich nicht." stimmte er zu. "Zumindest die Reichen. Hocken zu Hause vor dem Spiegel und warten, daß sie jemand heiratet. Und ansonsten lassen sie den Doktor kommen und spielen krank, damit sie was zu tun haben."
"Und der gute Onkel Doktor darf dann vermutlich jeden Tag antreten." unkte Kolumbini.
Bregs nickte nur.
"Aber das soll nicht unsere Sorge sein." erklärte er schließlich. "Wir haben eh schon genug damit zu tun, diese verdammten Haare zu finden. Frag mich bloß, wer..."
Abrupt blieb der Püschologe stehen.
"Sag mal..." überlegte er laut. "Wäre es möglich, daß irgendein Igor die Haare geklaut hat, um sie in irgendeiner Form weiterzuverarbeiten?"
"Waf?" mischte sich Igor ein.
"Ich meine nur- Ein Igor braucht doch öfter mal Ersatzteile, oder?" fuhr Bregs aufgeregt fort, ohne den beleidigten Blick des Gehilfen seines Kollegen zu bemerken. "Vielleicht sind ja jemandem die Haare knapp geworden oder so! Und dann hat er sich kurzerhand bei Fräulein Finkenstein bedient."
"Entfuldigung, aber daf ift wirklich nicht fair." entrüstete sich Igor. "Unf fo etwaf fu unterftellen. Erfatfteile von lebenden Perfonen. Alfo wirklich. Daf ift doch widerlich!"
Allmählich dämmerte es Bregs, daß er gerade ein ziemliches Fettnäpfchen beehrt hatte.
"Tut mir leid." sagte er zerknirscht. "War nur eine Idee. Also weiter mit Herrn Karsten."

* * *


"Und warum bringt man sowas zur Wache?" wunderte sich Stabsspieß Atera und blickte skeptisch auf die zerknitterte Pergamentrolle, die vor ihr auf dem Schreibtisch lag.
"Frag mich nicht, Ma'am." Will Passdochauf zuckte mit den Schultern. "Vielleicht glaubte er, daß auch Wächter mal ein wenig Poesie vertragen können."
"Oder daß man im Sommer keine Kaminanzünder braucht." Nachdenklich klopfte die Abteilungsleiterin der SEALS mit ihrem Haken auf den Tisch. "Hast du es mal gelesen?"
Will nickte. "Wer das geschrieben hat scheint ziemlich traurig gewesen zu sein." antwortete sie.
"Es stammt von einem gewissen Jakob von Offenbach." erklärte Atera. "Soll angeblich ein ziemlich bekannter Dichter sein."
"Nie von ihm gehört, Ma'am." Will kratzte sich Taubendreck von der Schulter. "Und was sollen wir nun damit tun?" fragte sie mit einem Seitenblick auf das Pergament.
"Na was wohl." Der Stabsspieß lehnte sich zurück. "Diesen Offenbach suchen und es ihm wieder zurückbringen. Er wird sein Elaborat bestimmt schon vermissen."
Will klopfte sich die letzten eingetrockneten Kotkrümel von der Uniform und straffte sich. "Soll ich mich drum kümmern?"
"Nein, laß mal lieber, Will. Ich brauche dich für den Mauerschmierer-Fall. Die Kerle haben letzte Nacht schon wieder zugeschlagen." Atera seufzte. "Ich verstehe nicht, was Leute so wunderbar daran finden, unleserliche Schriftzüge an Mauern zu pinseln. Nein, mit dem Dichter, da weiß ich schon wen ich darauf ansetze." Ein befriedigtes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.
"Äh... kann ich dann gehen, Ma'am?" fragte Will vorsichtig.
Atera nickte nur und griff nach Papier und Feder.

Fünf Minuten später purzelte eine Nachricht aus dem Rohrpostsystem in das Büro Oberleutnant Venezia Knurblichs.

An OLt. Knurblich, FROG

Hallo Veni,
Vorhin ist der Friedhofsgärtner vom Friedhof der geringen Götter hierher gekommen und hat das anliegende Pergament vorbeigebracht. Es gehört einem Dichter namens Jakob von Offenbach. Da dem Text zu entnehmen ist, daß dieser vermutlich ein Gespräch mit einem Püschologen dringend nötig hat, bitte ich dich, Araghast dazu abzubestellen, das Gedicht seinem Schreiber zurückzubringen. Da der Gute eh so ein inniges Verhältnis zu Büchern zu haben scheint ist er bestimmt der Richtige für die Sache.

Liebe Grüße, Atera


* * *


"Grmpf." knurrte Araghast, als er zusammen mit Kolumbini und Igor zurück in Richtung Wachhaus trottete, und zerknüllte den Zettel mit der Liste der Verdächtigen. Die Sonne neigte sich bereits dem Horizont zu.
"Gleichfalls." stimmte Kolumbini ihm zu.
Frustriert warf Bregs das handliche Papierbällchen in hohem Bogen auf die Ladefläche eines vorbeifahrenden Eselskarrens.
"Den ganzen Tag umsonst bei Affenhitze durch die Stadt gerannt." fluchte er. "Und nichts erreicht! Null! Nicht die Spur eines roten Haares!"
"Warum regst du dich denn so auf?" fragte Kolumbini. "Ich denke ihr Püschologen führt andauernd Anti-Aggressions-Sitzungen und ähnliches durch."
"Weißt du, manchmal muß sich auch ein Püschologe einfach abreagieren." Araghast grinste seinen Kollegen schief an. "Wenn man niemandem schadet, ist es doch egal. Ganz im Gegenteil: Manchmal ist es richtig gut, sich mal richtig aufzuregen."
"Achso, deshalb hast du Sidney die Strohpuppe verordnet." Kolumbini nickte wissend.
Bregs nickte. "Sich auszutoben kann manchmal wirklich heilsam sein." erklärte er. "Vor allem wenn einem wirklich alles zum Hals raushängt. Es ist heiß wie in einem Backofen, man hat einen Fall am Hals der nirgendwo hin führt und am nächsten Oktotag ist große Fleischbeschau bei den Verwandten meiner Freundin angesagt."
"Du hast eine Freundin?" verwundert musterte Kolumbini seinen Kollegen. In seinem Tonfall lag etwas Verächtliches.
"Lea ist keine gewöhnliche Frau." antwortete Bregs nicht ohne Stolz. "Sie ist etwas Besonderes."
"Soso." Kolumbini blieb skeptisch. "Nun, ich ziehe es vor, allein zu bleiben."
"Wenn du meinst." Araghast zuckte mit den Schultern. "Jedem das Seine."
Den Rest des Rückweges schwiegen die beiden.

Irgendwie ist er schon ein komischer Kauz, dieser Kolumbini, überlegte Bregs, als er den Korridor entlang in Richtung seines Büros schlenderte. Scheint ein richtiger Einzelgänger zu sein. Aber irgendwie gefällt er mir. Er sieht die Welt wie sie ist und macht kein Hehl daraus. Ich frage mich bloß, warum er selbst in dieser Gluthitze mit diesem seltsamen Mantel rumläuft. Und wie er diese Teekanne aus der Tasche gezogen hat- irgendwas stimmt mit dem Mantel nicht...
"He, Bregs!" Aufgeregt winkend kam ihm Valdimier entgegen. "Wo warst du denn den ganzen Tag? Wir haben dich überall gesucht!"
"Ich bin kreuz und quer durch die Stadt gerannt auf der Suche nach Leuten die eine Frau überfallen und ihr die Haare abrasiert haben." seufzte Araghast. "Dazu habe ich noch herausgefunden, wie man am Besten einen Igor beleidigen kann, und was es bedeutet, bei einem Fall wirklich absolut im Dunklen zu tappen." Er schaute seinen fröhlich strahlenden Kollegen genauer an und entdeckte den zusätzlichen Streifen auf dessen Schulterklappe. "Sag bloß du bist befördert worden." rief er.
"Dein Auge hat dich nicht im Stich gelassen." freute sich Val. "Kanndra hat's auch geschafft. Dank Rosalia Fleurope und Claude Bubu."
"Na das schreit ja geradezu nach einer Feier im Eimer." freute sich Bregs. "Und weißt du was, nach dem Tag könnte ich nen guten Schluck wirklich gebrauchen."
"Übrigens, du wirst wohl auch was zu feiern haben." Valdimier zwinkerte.
"Ich?" fragte Bregs verwundert. "Warum denn das?"
"Na dann guck mal auf deine Bürotür." Ein verschwörerisches Grinsen breitete sich auf dem bleichen Gesicht des Vampirs aus.
"Wieso, was soll denn damit sein?" wunderte sich Bregs. "Hat vielleicht endlich mal jemand sich bequemt, die Türen frisch zu streichen?"
"Meine Güte!" Valdimier trippelte ungeduldig auf der Stelle. "Weißt du denn nicht, welcher Tag heute ist?"
Araghast überlegte kurz. "Der erste Gruni" sagte er schließlich. "Wieso? was soll denn da so besonderes sein?"
"Weißt du was," erklärte Val resigniert, "Schau einfach auf deine Tür und sag mir was du siehst."
Neugierig trat Bregs auf sein Refugium zu. Was sollte an seiner Bürotür schon so besonderes sein?
Doch dann sah er es. Unter dem Schild mit der Aufschrift 'HG Araghast Breguyar, Püschologe, FROG' klebte ein Zettel. Bregs beugte sich vor, um die winzige Handschrift seiner Schäffin zu entziffern.
"Nein." entfuhr es ihm, als er die Mitteilung gelesen hatte. "Sie hat nicht wirklich mich ausgesucht!"
"Doch." grinste Val. "Ich schätze wir sehen uns nachher im Eimer, oder?"
Araghast nickte nur und las den Zettel noch einmal, weil er immer noch glaubte, sich verlesen zu haben. Doch die Buchstaben zeigten ihm immer noch die gleichen Worte.

Stellvertretender Abteilungsleiter FROG - Entsprechendes Schild bitte von Charlies Büro abschrauben -gez. OLt. Venezia Knurblich


* * *


Eine Prise Asche rieselte leise durch den Schornstein und verteilte sich über die im Hochsommer verständlicherweise leere Feuerstelle.
Oben auf dem Dach verschwand eine Hand unter einer Kapuze und kehrte wenig später mit einem schweißfeuchten Taschentuch zurück. Ein leiser Seufzer verhallte ungehört in der Schwüle der Nacht und schnaufend machte sich die Gestalt daran, wieder festen Scheibenboden unter ihre Füße zu bekommen. Es war schon eine wahnsinnig dumme Idee gewesen, sich mitten in einer Sommernacht in einen dicken Kapuzenumhang zu hüllen. Aber was sollte man tun wenn man um keinen Preis erkannt werden wollte? Der Beutel, welcher noch vor drei Stunden bis zum Rand mit Asche gefüllt gewesen war, hatte sich bereits halb geleert. Keine Spuren zu hinterlassen, darauf kam es an. Aber wen würde schon ein wenig Asche interessieren, die sich unter dem üblichen Staub befand?
Erleichtert atmete die Gestalt auf. Sie stand wieder auf der Straße. Jetzt noch ein wenig Asche auf den Ankh streuen und dann...
"Wischt ihr eigentlisch wie man esch wirklisch schafft, fünftschehn Mann auf einesch Toten Mannesch Kischte schu schtapeln?" übertönte eine Stimme die üblichen Hintergrundgeräusche der Stadt. "Gansch einfach. Man nehme an, die Hinternbreite einesch durchschnittlischen Piraten beträgt in etwa fünftschig Schentimeter."
"Weischt du wasch, Bregsch," mischte sich eine andere Stimme ein, "Isch glaub Lea fängt schon langscham an auf disch abschufärben."
"Findescht du?" fragte die erste Stimme wieder.
"Weischt du wasch!" erklang nun eine weibliche Stimme. Bregsch, ich musch dir wasch beischten, weischt du?"
"Du mir wasch beischten?" Die erste Stimme klang verwundert. "Wasch ischn losch?"
Die Stimmen klangen nun schon sehr viel näher. Ängstlich drückte sich die Gestalt in einen schattigen Winkel. Nur nicht gesehen werden...
Und dann kamen sie um die Ecke getorkelt. Drei Wächter, Arm in Arm, eine Flasche zwischen sich. Sie schwankten diagonal durch die Straße und prallten an der gegenüberliegenden Wand ab. Nun befanden sie sich auf einer Höhe mit seinem Versteck.
Plötzlich blieb die junge Frau stehen.
"Weischt du, Bregsch," sagte sie und schwankte leicht hin und her, "Isch war mal in disch verliebt. Und du Holtschkopf hascht esch nie gemerkt."
"Häh?" antwortete der Angesprochene und blieb ebenfalls stehen.
"Ohje..." Auch der dritte Wächter hielt inne, ruderte kurz mit den Armen um das Gleichgewicht zu wahren, und klammerte sich schließlich an der Schulter der jungen Frau fest.
"Begreifsch doch endlisch." rief diese. "Isch hab nen Monat gebraucht um über disch wegschukommen."
Langsam schien dem Wächter mit der Augenklappe zu dämmern, worauf seine Kollegin hinauswollte.
"Wirklisch?" fragte er. Und als ob er diese Mitteilung erst einmal verdauen müßte nahm er einen tiefen Schluck aus der Flasche.
"Ja." Die Stimme der Wächterin klang beinahe trotzig. "Aber nein, du hattescht deine Nasche entweder in dem näschten Eddie Wollasch oder schonschtwo."
"Kanndra!" rief der junge Mann. "Dasch hab isch wirklisch nischt gewuscht!"
"Ach wasch scholls." murmelte die junge Frau. "Gib mir die Flasche."
Die drei Wächter vollführten einen seltsamen Tanz, der offensichtlich dazu diente, sich wieder zu sortieren, und taumelten Arm in Arm die Straße entlang.
"Achja, und wasch dir fünfschehn Mann betrifft," fing der Wächter mit der Augenklappe wieder an. "Alscho inschgeschamt paschen acht Mann auf die Längschscheiten. Und wenn schisch dann dir reschlichen Schieben in die Mitte schtellen dann pascht esch wirklisch..."
"Schagt mal." mischte sich der andere männliche Wächter ein. "Die Untoten Schocken haben eusch doch gefallen, oder nischt?"
Beidseitiges Lallen verkündete Zustimmung.
"Wischt ihr wasch," fuhr er fort, "Nächschte Woche kommt ne Gruppe die schollen auch rischtisch klasche schein. Schon mal wasch von Bleschallika gehört?"
"Lea hat schisch die Pianonoten von scho nem Lied von denen beschorgt. Meischter der Puppen oder scho ähnlisch." erklärte der erste Wächter. "Und esch klingt wirklisch klasche..."
Langsam verklangen die Stimmen der drei in der Ferne.
Erleichtert atmete die Gestalt auf, glitt aus ihrem Versteck und griff unwillkürlich nach den Beutel mit der Asche. Das wäre ja beinahe schief gegangen...
So lautlos wie möglich stahl er sich von dannen und zurück blieb nur eine leere, vom Mondlicht beschienene Straße.


SAMSTAG, 2. GRUNI


Der darauffolgende Tag begann mit bohrenden Kopfschmerzen.
Stöhnend wälzte sich Araghast Breguyar im Dunkel seines Sarges herum. An die Ereignisse der letzten Nacht konnte er sich nur noch undeutlich erinnern. War er wirklich zum stellvertretenden Abteilungsleiter gewählt worden? Hatten sie wirklich mitten auf der Messingbrücke aus voller Kehle das Igellied geschmettert? Hatte Kanndra ihm wirklich gestanden, daß sie einmal in ihn verschossen gewesen war? Und hatten sie anschließend wirklich noch die letzte Flasche Untervektor-Rum geleert? Fragen über Fragen, die mit dröhnendem Schädel nicht gerade leichter beantwortet werden konnten.
Mühsam öffnete Bregs den Deckel seiner Schlafstätte, nur um kurz darauf schmerzerfüllt sein Auge zusammenzukneifen- Das helle Sonnenlicht schien einen Hammer in Gang gesetzt zu haben, der nun unermüdlich auf seine Hirnschale einschlug.
"Kaffee." flüsterte der Püschologe leise, als er sich in eine halbwegs sitzende Position hievte. "Und ein Steak. Ein schönes, blutiges Steak... Oder eine Blutwurst..."
Eine halbe Stunde und drei Tassen Wächterkaffee extrastark später saß Araghast an seinem Schreibtisch und versuchte, die Nachricht auf dem Zettel zu entziffern, welchen er in dem Nachrichtenbehälter gefunden hatte, der in der dem Rohrpostsystemausgang gegenüberliegenden Wand gesteckt hatte. Er kniff sein Auge zusammen, doch die Buchstaben weigerten sich hartnäckig, in einer Reihe zu bleiben. Im Gegenteil, sie schienen einen seltsamen Tanz aufzuführen, der hauptsächlich aus Wellenbewegungen zu bestehen schien.
"He, bleibt doch stehen..." murmelte der Püschologe. "Ich will euch lesen."
Und langsam sank sein Kopf auf die Tischplatte.

Kolumbinis Igor grinste breit. "Und damit haben wir den Fall gelöft." verkündete er und wedelte mit einem Büschel feuerroter Haare vor Araghasts Nase herum.
"Meine Haare!" Katja Finkenstein kam auf einem geblümten Sofa herangaloppiert. "Gebt mir meine Haare!" Sie verfehlte Bregs und Igor nur um eine Kleinigkeit und riß letzterem im Vorbeireiten das Haar aus der Hand.
"Das ist ja..." Kolumbini drehte sich um und griff in seinen Mantel. Als er seine Hand zurückzog, hielt er eine Flasche Untervektor-Rum fest umklammert, deren Mündung er auf das fliehende Fräulein Finkenstein richtete. Er schlug einmal kurz auf den Flaschenboden und ein Korken schoß davon, welcher nach kurzer Flugbahn mit dem Hinterkopf Katja Finkensteins kollidierte.
"Bregs!" Eine Hand packte ihn an der Schulter und schüttelte ihn.
"Mmhm?" gab der Püschologe von sich und öffnete träge sein Auge.
Kanndra stand neben ihm und stemmte die Hände in die Hüften.
"Sag mal, hast du gestern Nacht wirklich noch die ganze Flasche ausgetrunken?"
"Hm?" Mühsam hob Bregs den Kopf. Die Sommersonne schien hell ins Zimmer.
"Weißt du eigentlich, wie spät es ist?" fragte die Späherin.
"Äh..." Araghast sah sich um. Der Schatten des Kerzenhalters auf seinem Schreibtisch wies bereits beinahe in Richtung Tür. Eine plötzliche Erkenntnis drängte sich mit aller Macht in sein Bewußtsein. "Verdammt." brachte er hervor. "Ist es wirklich schon Mittag?"
Kanndra nickte.
"Aber falls es dich tröstet, Val geht's genauso schlecht wie dir." grinste sie.
"Und du hast gar keinen Kater?" staunte Bregs.
"Jendenfalls keinen so schlimmen wie ihr beide." Kanndra ließ sich in den Besucherstuhl fallen, welcher ein protestierendes Knarren von sich gab. "Aber warum ich eigentlich hier bin..." begann sie zögernd. "Weißt du, ich glaube, ich habe gestern Nacht ziemlichen Müll geredet." Unsicher schielte sie auf ihre im Schoß verkrampften Hände.
Mit einem Kopfschütteln verscheuchte Bregs die letzten Reste der Müdigkeit. Erinnerungsfetzen drängten mit aller Macht ans Tageslicht.
"Du meinst, was du in der Gasse erzählt hast?" fragte er.
"Genau." Kanndra sah auf. "Weißt du, ich möchte nicht, daß du denkst, ich... Und jetzt wo du eine Freundin hast und alles... Nicht daß du denkst ich laufe dir hinterher. Es ist vorbei, verstehst du?" Sie atmete tief durch. "Nur damit du das weißt, du Stoffel."
"Weißt du, mir ist wirklich nichts aufgefallen." Araghast sah sie hilflos an.
"Ich war einfach viel zu schüchtern, es zuzugeben." Kanndra zuckte mit den Schultern. "Ich habe mich einfach nicht getraut."
Bregs spielte nervös mit der Pergamentrolle herum, die soweit er sich erinnern konnte an Morgen mit der Rohrpost gekommen war. Krampfhaft dachte er nach. Was sagte man in einem solchen Fall? Wo war Sigmund Leid, wenn man ihn mal wirklich brauchte?
"Ach, vergiß es." brach Kanndra schließlich das Schweigen. "Vergiß den ganzen Kram einfach." Sie beugte sich vor und nahm Bregs das Pergament aus der Hand. "Was ist das denn?"
"Keine Ahnung." Araghast rieb sich das Auge. "Es lag heute Morgen im Postkorb, zusammen mit einer Nachricht von Veni." Er hob einen Zettel vom Schreibtisch. "Ich muß wohl beim Versuch, ihn zu lesen, eingeschlafen sein."
Vorsichtig blickte er auf die Notiz, doch dieses Mal blieben die Buchstaben brav in einer Reihe stehen. Er überflog den Text.
"Hier steht, daß das Pergament vermutlich von einem gewissen Jakob von Offenbach auf dem Friedhof der geringen Götter verloren wurde und ich es ihm bitte zurückbringen möge." erklärte er schließlich. "Komisch... warum gerade ich? Kann das nicht jemand von den SEALS erledigen? Ich hab schon genug mit diesem bescheuerten Haare-Fall am Hals."
Kanndra antwortete nicht. Sie war in den Inhalt der Pergamentrolle vertieft. Hin und wieder gab sie einen leisen Seufzer von sich.
"Kanndra?" fragte Bregs verwundert.
Langsam rollte die Späherin das Pergament zusammen. Eine Träne verließ ihren Augenwinkel und rollte die Wange hinunter, bevor sie hastig weggewischt wurde.
"Hab ich eben was Falsches gesagt?" Ängstlich beugte sich Bregs vor.
Kanndra sah auf.
"Es hat nichts mit dir zu tun." erklärte sie. "Es ist bloß... ach, lies selbst." Sie reichte ihm die Pergamentrolle zurück.
Araghast nahm sie entgegen und entrollte sie.
"Ode an eine verlorene Liebe." las er laut vor. "Aus der Feder Jakob von Offenbachs."
"Es ist ziemlich traurig." Kanndra seufzte leise. "Der arme Mann. Er muß sie wirklich über alles geliebt haben."
Bregs überflog den Text und nickte.
"Jetzt verstehe ich auch, warum ich mich um die Sache kümmern soll." grinste er. "Der Gute scheint ja ein paar püschologische Sitzungen wirklich nötig zu haben um über sein Trauma wegzukommen."
Kanndra runzelte die Stirn.
"Weißt du was, Bregs?" seufzte sie.
"Was soll ich wissen?"
"Du bist komplett unromantisch."

* * *


Diverse Zettel, vollgeschrieben mit den Mitschriften diverser Verdächtigenvernehmungen lagen ausgebreitet auf dem Schreibtisch Kolumbinis.
Nachdenklich rieb sich der Gefreite das Kinn.
"Nichts." sagte er bitter. "Entweder haben sie alle ein Alibi für die ungefähre Tatzeit oder sie sind einfach nicht der Typ, der so etwas tun würde, weil ihnen die ganze Sache einfach zu unwichtig ist. Oder was meinst du, Igor?"
"Ein typifer Fall einer Fackgaffe, Herr." antwortete der Diener.
"Und was wäre, wenn wirklich keiner von denen hier etwas mit dem Überfall zu tun hat?" überlegte Kolumbini laut. "Was ist wenn es letztendlich doch irgendein durchgeknallter Dieb gewesen ist?"
Nachdenklich schenkte er sich eine Tasse Tee ein.
"Igor." begann er schließlich.
"Ja, Herr?"
"Geh zum Taubenschlag und schick eine Nachricht an DOG, daß sie sich diesbezüglich mal umhören sollen. Vielleicht hat die Gilde ja etwas in Hinsicht unlizenzierter Haardiebstähle mitbekommen."
Igor nickte und schlurfte aus dem Zimmer.
"Obwohl..." sagte Kolumbini leise zu sich selbst und klopfte wissend gegen sein Glasauge, "Es scheint, daß es bisher ein Einzelfall war, also ein neuartiges, in Mode gekommenes Verbrechen nicht in Frage kommt. Aber wenn Rache als Motiv auch ausscheidet, was ist es dann? Irgendein verrücktes Ritual?"

* * *


Nach einer ausgiebigen Dusche und gestärkt durch ein frisches Steak aus der Fleischerei sah sich Araghast schließlich in der Lage, seinen neuen Fall anzugehen. Und wie er es immer tat um Ordnung in seine Gedanken zu bekommen, schrieb er auf, was er bisher wußte.
'Jakob von Offenbach' stand oben auf dem Zettel, gefolgt von 'Dichter'. Darunter stand 'Friedhof der geringen Götter', verbunden durch einen Pfeil mit dem Wort 'Liebeskummer'.
Nicht gerade viel an Hinweisen, fand Bregs. Genaugenommen gab das Ganze so ziemlich gar nichts her. Doch wo fing man an, nach einem Dichter zu suchen? Bei der Schriftstellergilde vielleicht? Oder war die nur für Prosa zuständig? Und gab es eine gesonderte Poetengilde?
Seufzend drehte Araghast die Pergamentrolle in seinen Händen. Ob Kolumbini wohl mittlerweile etwas im Fall Finkenstein erreicht hatte?
Nun, zumindest bot der Abend noch einige erfreuliche Aussichten. Weder Lea noch er waren besonders talentierte Köche und so hatte sich beide über die Einladung Julius Herrs zum Abendessen gefreut.
Julius, schoß es Bregs durch den Kopf. Sein Freund der Schriftsteller würde bestimmt wissen, wer dieser Jakob von Offenbach war.

* * *


"Stellvertretender Abteilungsleiter? Das ist ja klasse!" freute sich Lea, als sie das Treppenhaus hinaufhinkte.
"Ich hab auch nicht damit gerechnet." grinste Bregs. "Na, zwei Püschologen als Abteilungsleitung- das kann ja ziemlich heiter werden."
"Solange ihr aus FROG keine Selbsthilfegruppe macht..." Lea wechselte die Krückenhand und griff nach dem Geländer.
"Keine Angst." Araghast bot ihr seinen Arm. "Da werden die anderen schon für sorgen. Vor allem Sidney."
"Hast du das Loch in deiner Bürodecke eigentlich mal zugegipst?" wollte Lea wissen.
"Bis jetzt noch nicht. Mal sehen, vielleicht laß ich's auch so, als Erinnerung an die Sitzung."
"Eine vornehme Umschreibung für Faulheit." lachte Lea. "Und was macht der Haare-Fall? Schon was Neues?"
"Nichts." seufzte Bregs. "Kolumbini hat heute über DOG sogar die Diebesgilde kontaktieren lassen und da ist soweit ich weiß auch nichts bei rausgekommen. Langsam frage ich mich wirklich, ob die Finkenstein es nicht selbst gemacht hat, um uns zu ärgern."
"Wer weiß." Lea blieb stehen und drückte Araghast einen Kuß auf die Wange. "Vielleicht leidet sie auch an akutem Aufmerksamkeitsdefizit, so wie Antonia."
"Schon wieder Sandmann?" Bregs runzelte die Stirn. "Langsam übertreibt sie es aber wirklich."
"Wem sagst du das." seufzte Lea. "Gestern fing es mit ihrem Magen an und heute ging es ihr angeblich noch schlechter. Und das Schlimmste ist, sie hat Sandmann auch noch mit zum Essen eingeladen."
"Am Oktotag?" fragte Araghast entsetzt.
Lea nickte. "Ich habe sie hinterher zur Sau gemacht, aber nein, sie hat's nicht eingesehen, im Gegenteil. Spielte wieder die arme, vom Leben enttäuschte Frau. Aber immerhin hat Sandmann es wohl hoffentlich verstanden, daß ich nicht mehr zu haben bin, und stellt seine Eroberungsversuche endlich mal ein."
"Eroberungsversuche?" fragte Araghast entsetzt. "He, was bildet der sich ein?"
"Vermutlich zu viel." bemerkte Lea trocken. "Aber wie der sich benimmt ist es auch kein Wunder, daß ihn keine Frau haben will."
"Sag mal." Kurz vor dem Ende der Treppe blieb Araghast abrupt stehen. "Findest du eigentlich, daß ich unromantisch bin?"
"Wie kommst du denn da drauf?"
"Nun, ich hab's von Kanndra zu hören bekommen nachdem mich ein trauriges Liebesgedicht nicht zu Tränen gerührt hat." erklärte Bregs.
"Unsinn." Lea lächelte ihn an. "Liebesgedichte sind doch nur die Versuche von Dichtern, den Satz 'Ich liebe dich' möglichst kunstvoll zu umschreiben, weil sie zu feige sind ihn ihrer Freundin direkt ins Gesicht zu sagen. Da probiert einer rum, die Aussage möglichst langwierig zu verpacken, obwohl es der eine Satz auch getan hätte."
"Na dann bin ich ja froh." Araghast nahm die letzten Stufen der Treppe und zog an der Klingelschnur die über dem Namensschild 'Herr' befestigt war. Eine Glocke läutete hinter der schäbigen Wohnungstür.
"Bregs? Seid ihr das?" schallte eine volltönende Männerstimme durch das dicke Holz und die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet.
"Na endlich." erklärte Julius Herr befriedigt, als er der draußen stehenden Personen ansichtig wurde, und stieß die Tür weit auf. "Dann mal rein mit euch beiden."

Wenige Minuten später saßen sie in der gemütlichen Küche des Schriftstellers und seiner Verlobten und unterhielten sich, während ein appetitlich aussehender Nudelauflauf im Backofen vor sich hinbriet.
"Danke." lehnte Araghast das angebotene Weinglas ab. "Für mich heute lieber keinen Alkohol."
"Soso." Hermione Vanderby zwinkerte verschwörerisch. "Wieder Beförderungsfeier gehabt?"
Bregs nickte. "Kanndra und Val wurden befördert und ich bin jetzt Stellvertreter geworden."
"Na dann gratuliere." Julius hob sein Glas. "Auf das einzige weibliche Mitglied der Mathematikergilde und den neuen offiziellen Papierkramschaufler der FROGs und ihr bald viermonatiges Jubiläum!"
"Papierkramschaufler?" Bregs hob eine Braue.
"Na glaub ja nicht, daß du jetzt noch besonders viel aus deinem Büro rauskommst." grinste Julius. "Stellvertretende Abteilungsleiter haben normalerweise andauernd mit der Tatsache zu kämpfen, daß sich letztendlich sämtlicher Papierkram bei ihnen ansammelt."
"Wir werden sehen." Araghast wühlte in den Taschen seiner Uniformjacke herum. "FROG zu sein ist nun mal eine Vollzeitaufgabe. Und da Wächter ja bekanntlich nie Feierabend haben, habe ich da auch noch mal eine Frage an euch."
"Na dann schieß mal los." Hermione beugte sich vor und strich sich eine Strähne ihres feuerroten Haares aus dem Gesicht.
"Sag das bloß nie, wenn ein Zwerg in der Nähe ist." bemerkte Lea. "Der nimmt das eventuell noch wörtlich..."
"Ich werds mir zu Herzen nehmen." lachte Bregs. "Also könnt ihr beide mir zufällig sagen, wer Jakob von Offenbach ist?"
"Meinst du den Trauerpoeten?" fragte Julius.
"Das kann gut sein." Araghast legte die Pergamentrolle auf den Tisch. "Wer das hier geschrieben hat, hat den Titel Trauerpoet mit Fug und Recht verdient."
"Zeig mal her." Julius langte über den Tisch, griff sich das Schriftstück und entrollte es. Eine Weile las er schweigend, und schließlich nickte er.
"Eindeutig Offenbach. Ein derartiges Gesülze bringt auch nur er zustande."
"Du scheinst ihn nicht besonders zu mögen." stellte Lea fest.
Julius lächelte und reichte das Pergament an seine Verlobte weiter.
"Nicht wirklich." bestätigte er. "Offenbach hat absolut keine Ahnung vom wirklichen Schreiben. Er würde niemals einen anständigen Roman zusammenbekommen. Hockt den ganzen Tag über in seiner Gruft und pinselt seine Elaborate auf Pergament. Er meinte einmal, einfaches Papier sei seiner Werke nicht würdig. Also wenn du meine ehrliche Meinung hören willst, er ist ein aufgeblasener Schnösel. Wie bist du eigentlich an das Gedicht rangekommen?"
"Es wurde auf einem Friedhof gefunden und ich soll es ihm nun zurückbringen." erklärte Araghast.
"Friedhof?" Hermione unterbrach ihre Lektüre. "Das sieht ihm mal wieder ähnlich."
"Anscheinend brauchte er mal wieder etwas Aufmerksamkeit." vermutete Julius. "Sein Ruf als tragischer, dichtender Sauger brachte wohl mal wieder eine Auffrischung."
"Er ist ein Vampir?" staunte Araghast.
Julius nickte. "Was heißt, daß er seine Werke wohl noch einige Jahrhunderte lang auf die Bevölkerung loslassen wird."
"Er hat in seinem ganzen Unleben ein einziges gutes Gedicht geschrieben." ließ sich Hermione vernehmen. "Meister der Puppen. Es wurde auch mal vertont."
"He, davon hab ich sogar die Klaviernoten." rief Lea. "Meister der Puppen von Blechallika. Letzte Woche erst gekauft. Meister..." sang sie mit ihrer dunklen, ein wenig rauhen Stimme. "Meister... Meister der Puppen, wo gehst du hin... Macht in der Hand und Rache im Sinn..."
"Huuuh, wie schaurig." Hermione rollte das Pergament wieder zusammen und reichte es Araghast zurück. "Aber die Zeile kommt in dem Gedicht soweit ich mich erinnern kann gar nicht vor."
"Ist ja auch der Refrain." Lea legte ihre langen, schlanken Finger auf die Tischkante, als ob sie eine Klaviertastatur vor sich hätte. "Den haben sie neu dazugedichtet."
Araghast verstaute das Gedicht wieder in den Tiefen seiner Uniform.
"Übrigens, Valdimier hat erzählt, daß Blechallika demnächst in der Kaverne auftreten." verkündete er. "Wollt ihr mit?"
"Danke, ich glaube wir verzichten." Julius grinste schief. "Blechallika- das klingt wieder nach einer dieser komischen Krach-Kapellen, die du so gerne hörst."
"Ach wirklich?" Araghast bemühte sich, unschuldig dreinzublicken.
"Nun, sagen wir's so," warf Lea ein, "Als ich den Puppenmeister mal auf dem Flügel im Salon gespielt habe hatte ich nach anderthalb Minuten meine schreiende Verwandtschaft am Hals, ich möge diesen barbarischen Lärm doch bitte woanders spielen."
"Übermorgen." Araghast schielte düster in Richtung Ofen, in dem der Auflauf soeben eine appetitliche, braune Kruste bekam. "Übermorgen ist Fleischbeschau. Ich frage mich, ob mein Musikgeschmack auch gegen mich verwendet werden kann."
"Mach dir nichts draus." Julius klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter. "Die Familie deiner Freundin verwendet automatisch alles gegen dich. Das ist Naturgesetz."


SONNTAG, 3. GRUNI


Der Himmel über der Stadt war mit schweren, bleigrauen Wolken verhangen, als Araghast am darauffolgenden Morgen an die Tür zu Kolumbinis Büro klopfte. Na wenigstens gibt es bald ein Gewitter, überlegte der Püschologe. Dann hat wenigstens diese verdammte Hitze endlich ein Ende.
"Herein." rief Kolumbini kurz.
Araghast betrat das Büro des Ermittlers und sah sich um.
"Und, schon was Neues?" fragte er.
"Nichts." Kolumbini wies auf die ausgebreiteten Notizen. "Und die Diebesgilde hat auch nach genauerer Nachforschung im zweiten Durchgang nichts in Erfahrung gebracht."
"Mist." Bregs verzog das Gesicht. "Die Frage ist, was machen wir jetzt? Heute Vormittag muß ich noch einem vampirischen Dichter sein unsäglich schwülstiges Elaborat zurückbringen und ihn püschologisch ein wenig stabilisieren. Da habe ich vielleicht eine Lust zu..." seufzte er.
"Viel Spaß." Kolumbini wandte sich dem Zettelgewirr auf seinem Schreibtisch zu. "Ich schätze, die können wir nun auch alle in den Papierkorb werfen."
"Vermutlich." Mutlos sah Araghast zu, wie sein Kollege die mühselige Arbeit eines ganzen Tages mit einer Handbewegung in den Abfall beförderte. Dieser Fall hatte sich bis jetzt als eine einzige Sackgasse erwiesen und er hatte nicht auch nur die geringste Ahnung in welche Richtung man noch weiter ermitteln konnte.
"Tja." Mit einem Schulterzucken wandte sich Kolumbini wieder seinem Kollegen zu. "Da müssen wir wohl doch noch mal etwas gründlicher vorgehen."
"Na ich werde dann mal den Dichter aufsuchen." seufzte Bregs. "Zum Glück konnte ein Freund mir sagen wo er wohnt, ansonsten wäre ich jetzt komplett aufgeschmissen."

* * *


'Klopfdrehgasse 7a, Keller' stand auf dem Zettel, den Araghast von Julius erhalten hatte. Was auch sonst, überlegte Bregs bissig. Jemand wie Jakob von Offenbach achtete natürlich auch auf eine stimmungsvolle, dramatisch klingende Adresse. Und die Klopfdrehgasse wies bereits beim allerersten Anblick sämtliche Merkmale auf, die ein auf seinen Ruf bedachter Vampirpoet anscheinend zu schätzen wußte: Finstere Fassaden ragten mehrere Stockwerke weit in die Höhe und das Pflaster der Straße bestand aus dunklem, von den Füßen der Passanten abgeschliffenen Stein. Eine Kutsche mit einem in der Hitze vor sich hindösenden Pferd parkte am Straßenrand. In einem von einer Öllampe beleuchteten Schaufenster lagen einige mumifizierte Körperteile und diverse seltsame Apparaturen. 'Olivanders Igordrom - Direktimporte aus Überwald' verkündete das Ladenschild in dunkelroten Lettern auf eitergelbem Grund. Araghast zuckte mit den Schultern. Rogi und Kolumbinis Igor kannten den Laden bestimmt. Er nahm sich vor, sie einmal darauf anzusprechen. Immerhin wußte er nun, wo er Schrumpfköpfe bekommen konnte, falls es ihn jemals danach gelüstete.
In diesem Moment öffnete sich die Tür des Ladens und ein Mann trat mit gebückter Haltung ins Freie. Trotz der Hitze hatte er den Kragen seines Mantels hochgeschlagen und sich den Hut tief ins Gesicht gezogen. Unter der Krempe blitzte ein Paar dicker Brillengläser im Licht der Schaufensterbeleuchtung auf. Vorsichtig trug er eine prall gefüllte Tasche unter dem Arm und schritt langsam zu der parkenden Kutsche.
Uninteressiert wandte sich Araghast ab. In Igor-Bedarfshandlungen verkehrten nun einmal seltsame Kunden. Und der Kerl der eben den Laden verlassen hatte schien zu der Sorte 'kichernder irrer Doktor' zu gehören. Wer konnte schon sagen, wie viele Verrückte es in Ankh-Morpork gab...
Die Wohnung Jakob von Offenbachs befand sich direkt dem Laden gegenüber. Vorsichtig stieg Araghast die Stufen hinab und besah sich die Tür. Es überraschte ihn nicht, daß diese über und über mit grotesken Schnitzereien verziert war und einen eisernen Klopfer in Form einer Fledermaus aufwies.
Ein lautes Pochen hallte durch die Kellerwohnung, als Bregs anklopfte.
Na mal schauen wie dieser Offenbach so ist, dachte er bei sich, während er wartete, daß sich drinnen etwas rührte. Hoffentlich schmeiße ich ihn nicht aus dem Sarg. Es ist immerhin schon spät am Vormittag.
Doch im Keller regte sich nichts.
Erneut hob Araghast den Klopfer an und warf ihn mit voller Wucht gegen die Tür, welche in ihren Angeln erbebte.
"Mein Güte." seufzte Araghast. "Entweder ist der Kerl schwerhörig oder hat seinen Sarg so gut isoliert, daß das Haus über ihm einstürzen könnte, ohne daß er was merkt."
Er zog die Pergamentrolle hinter dem Gürtel hervor und begann, gelangweilt damit herumzuspielen, während er wartete, daß ihm jemand öffnete. Nach, wie es ihm vorkam, einigen Minuten wurde es ihm zu bunt.
"Hallo?" rief er durch das Schlüsselloch. "Herr von Offenbach? Sind Sie zu Hause?"
Stille.
"Na wunderbar." fluchte Bregs.
Entschlossen packte er das Pergament und rollte es so eng wie nur möglich zusammen. Dann ging er in die Hocke und visierte das Schlüsselloch an.
Zwei Minuten später schob er die Rolle frustriert wieder hinter den Gürtel und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Wenn es bloß nicht so verdammt heiß und schwül wäre... Und er war das Gedicht immer noch nicht los. Was hieß, daß er es ein anderes Mal noch einmal probieren mußte.
Donner grollte in der Ferne.
Erleichtert atmete Araghast die stickige Luft ein und erklomm die Kellertreppe. Ein Schädel im Schaufenster von Olivanders Igordrom grinste ihn breit an.
"Na vielleicht kann mir dein Besitzer ja mal sagen, wann Offenbach normalerweise so nach Hause kommt." brummte Bregs und schritt auf den Laden zu.
Eine Totenglocke bimmelte, als der Püschologe die Tür aufdrückte und eine Duftmischung aus Moder und Mottenkugeln schlug ihm entgegen und ließ ihn beinahe wieder rückwärts aus dem Geschäft taumeln.
Das Innere des Ladens entsprach genau dem was das Schaufenster bereits versprochen hatte. Apparaturen und Operationswerkzeuge, Schrumpfköpfe, Knochen, echte überwaldianische Importspinnweben, garantiert tropfende Kerzen, Türangel-Stimmgeräte so wie einige weitere Gegenstände über deren Verwendungszweck Araghast lieber nicht nachdenken wollte. Eine große Fledermaus hing kopfüber an einem Balken und in einer Ecke dampfte eine mit Zukunftsschweinefleischlager-Eis gefüllte Truhe vor sich hin.
Während sich Araghast noch neugierig umsah, breitete die Fledermaus ihre Flügel aus und erhob sich in die Lüfte, nur um kurz darauf direkt vor den Füßen des Püschologen zu landen. Ein leises 'Plopp' ertönte und vor Araghast stand einer der typischen Vertreter der Spezies Vampir und rückte sich seinen Umhang über den Schultern zurecht.
"Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?" fragte er mit sanfter Stimme nachdem er seinen kurzfristig erschrockenen Gegenüber kurz gemustert hatte. "Ich hätte gerade Vampirsonnenschutzcreme im Sonderangebot. Frisch aus Schinkenschloß eingetroffen."
"Tut mir leid, aber ich habe da keinen Bedarf." antwortete Bregs mit leichtem Bedauern in der Stimme, nachdem er sich von der Überraschung erholt hatte. "Ich bin leider nur ein halber Vampir. Wenn ich mich vorstellen darf: Araghast Breguyar, Ankh-Morpork Stadtwache. Ich hätte da ein paar Fragen an Sie."
"Soso." Der Vampir deutete ein Kopfnicken an und winkte dem Wächter, ihm zu folgen. "Ich bin Stanislaus Olivander, Besitzer dieses Ladens." stellte er sich vor, während sie durch den Laden schritten, vorbei an diversen Flaschen mit undefinierbaren Flüssigkeiten und seltsamen Dingen in Einmachgläsern. "Was ist denn passiert? Hat einer meiner Kunden aus Versehen sein Haus in die Luft gejagt oder sich illegal Körperteile organisiert?"
"So schlimm ist es nicht." winkte Araghast ab. "Es geht nur um einen Ihrer Nachbarn."
"Soso." Olivander trat um den Ladentresen herum, den sie inzwischen erreicht hatten, und wühlte in den Tiefen einer Schublade herum. "Darf ich etwas zu trinken anbieten? Schweineblut von garantiert nicht mit Ankhschlamm gefütterten Schweinen? Hasenblut aus Lancre? Mensch nach Konjackkonsum, frisch abgefüllt nachdem er in den Schatten erschlagen wurde? Wissen Sie, ich verkaufe auch Spezialitäten für den anspruchsvolleren Vampir." erklärte er und lächelte breit.
"Äh- danke, aber ich bin im Dienst." zog sich Araghast aus der Affäre. Doch tief in seinem Inneren regte sich seine Vampirseite. Blut... Roter Lebenssaft... Bisher hatte er Blut pur stets gemieden, um bloß nicht auf den Geschmack zu kommen. Doch jetzt lief ihm wider Willen das Wasser im Munde zusammen.
Verdammt, Bregs, reiß dich zusammen, schalt er sich innerlich selbst und versuchte, sich auf einen Blitzableiter zu konzentrieren, der über dem Ladentresen angebracht war.
"Stimmt etwas nicht?" fragte Olivander verwundert.
"Nein, alles in Ordnung." beeilte sich Araghast zu sagen. "Ich war nur ein wenig- abgelenkt."
"Soso." Olivander lehnte sich über den Tresen. "Also was kann ich für Sie tun?"
"Es geht um den Mann, der bei Ihnen gegenüber wohnt." begann Araghast und versuchte, nicht an Blut zu denken. "Er heißt Jakob von Offenbach. Kennen Sie ihn?"
Olivanders Gesicht hellte sich auf.
"Natürlich. Der dramatische Poet." nickte er. "Er schaut fast jeden Tag hier herein. Etwas anderes als meine erstklassigen Blutprodukte nimmt er nämlich nicht zu sich." erklärte der Händler nicht ohne Stolz. "Wollen Sie wirklich nicht einmal probieren, Herr Wächter?" fügte er noch hinzu. "Ich habe hier noch etwas ganz Besonderes- ein Viertelliter, abgezapft von einer jungen Frau, die meint, Blut zu spenden würde zu ihrer Lebensanschauung dazugehören, die hauptsächlich dazu besteht, so zu tun als sei sie selbst ein Vampir."
"Nein!" Araghast schrie es beinahe hinaus. "Alles was ich wissen will ist, ob Sie mir sagen können, wann Herr von Offenbach normalerweise zu Hause ist!"
"Offenbach? Normalerweise müßte er längst in seinem Sarg liegen." Olivander zuckte mit den Schultern. "Wobei ich ihn die letzten zwei Tage nicht gesehen habe. Eigentlich erwarte ich ihn schon beinahe endlich mal wieder. Aber verraten Sie mir mal eines." Seine Stimme senkte sich zu einem verschwörerischen Flüstern. "Warum lehnen Sie Blut so vehement ab? Sie sind kein Mensch, egal was Sie sich vormachen. Warum sperren Sie sich dermaßen gegen ihre wahre Natur?"
"Ich sperre mich nicht gegen meine wahre Natur." erwiderte Araghast heftig. "Es ist mir klar was ich bin. Ich bin gar nichts! Jemand zwischen zwei Spezies, weder das eine noch das andere! Und was glauben Sie, wie gern ich wenigstens eines von beiden komplett wäre!"
Schweigend griff Olivander hinter seinen Tresen und holte ein kleines Glas und eine eisgekühlte Flasche, in der eine dunkelrote Flüssigkeit hin- und herschwappte, hervor. Er entkorkte die Flasche, schenkte das Glas halb voll und schob es zu Araghast hinüber.
"Probieren Sie es einfach mal." sagte er mit sanfter Stimme.
Langsam, als ob er einer inneren Stimme gehorchen würde, ergriff der Püschologe das ihm dargebotene Glas und hielt es gegen das trübe Licht. Die Flüssigkeit schimmerte verlockend. Und seine Vampirseite beförderte seine menschliche Hälfte mit einem Tritt in den Allerwertesten zeitweilig ins Land der Träume. Zögernd setzte Bregs das Glas an die schmalen Lippen und trank.
Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen beobachtete Olivander, wie der Wächter das Glas bis auf den letzten Tropfen leerte und sich ungläubiges Erstaunen auf seinen Zügen wiederspiegelte, welches gleich darauf blankem Entsetzen wich.
"Oh Götter." flüsterte Araghast nur und fühlte sich, als wäre er gerade aus einem schlechten Traum erwacht. "Was hab ich nur getan?"
"Hats geschmeckt?" fragte Olivander breit grinsend.
Doch Sekunden später hörte er bereits das Bimmeln der Totenglocke an der Tür.
"Achja." seufzte der Händler. "Ich sehe es schon. Eines Tages wirst du wiederkommen und nach mehr verlangen. Du kannst nicht ewig verleugnen was du bist, mein kleiner, halber Nosferatu Sanguineus."

Araghast rannte.
Blindlings stürmte er aus der Klopfdrehgasse, bog links ab, lief beinahe vor einen Eselskarren, wich im letzten Moment aus und blieb schließlich drei Straßen weiter nach Atem ringend in einer Toreinfahrt stehen.
Donner grollte vom bleifarbenen Himmel herab, dieses Mal bereits um einiges lauter.
Verzweifelt lehnte Araghast seine Stirn gegen die kühle Mauer. Was war bloß mit ihm losgewesen? Warum hatte er dem Blut nicht widerstehen können? War er wirklich so schwach? Verdammt, überlegte er. Ich habe bei der Wache doch schon jede Menge Blut gesehen und nie habe ich davon Durst bekommen. Warum dann jetzt? Was wird Lea bloß von mir denken, wenn sie erfährt, daß ich im wahrsten Sinne des Wortes Blut geleckt habe? Ist denn wirklich so wenig Menschliches in mir? Und das schlimmste von allem ist... Es hat mir wirklich gut geschmeckt.
Sieh es doch endlich ein, Bregs, schien eine innere Stimme zu sagen. Du bist nun mal kein Mensch und wirst auch nie einer sein, egal welche Mühe du dir gibst. Die Hälfte von dir giert nun mal nach Blut, der Nacht und Särgen.
Araghast seufzte laut auf. Verdammter Jakob von Offenbach. Wenn er daheim gewesen wäre, wäre dies alles nicht passiert. Und der hielt es vermutlich auch noch für tragisch, ein Vampir zu sein. Bregs fand die Existenz als Halbvampir weitaus schlimmer. Vielleicht sollte darüber mal jemand irgendwelche schwülstigen Gedichte schreiben. Verloren einsam, teilweise Tier, geht er um, der Halbvampir...
Dieses Mal grollte der Donner beinahe direkt über seinem Kopf.
Ein perfektes Wetter für Olivanders Kunden, dachte Bregs bitter, als er zurück zum Wachhaus schlurfte. Wieviele Igors wohl jetzt gerade auf diversen Dächern ihre Blitzableiter in die richtige Position brachten, um die Masse aus verschiedensten Körperteilen, die dort auf ihrem Labortisch lag, zum Leben zu erwecken und somit ein weiteres Familienmitglied zu produzieren?
A propos Körperteile...
Etwas regte sich in den hinteren Regionen von Araghasts Gedächtnis. Er hatte Lea gestern Abend doch noch etwas versprochen gehabt...
Natürlich. Die Prothese. Das hätte er vor lauter Blut beinahe vergessen gehabt.
Und abrupt drehte er sich um hundertachtzig Grad und machte sich auf den Weg zur Straße schlauer Kunsthandwerker.

* * *


Vorsichtig lauschte Lea an der angelehnten Tür.
Kein Laut drang aus dem Zimmer ihrer Cousine.
Langsam, um die Angeln nicht zum Quietschen zu ermutigen, drückte die junge Frau die Tür auf und sah sich um.
Der Raum war verlassen.
Zufrieden schob Lea sich ins Zimmer. Wenn sie mit ihrer Krücke bloß nicht einen solchen Lärm auf dem Marmorfußboden machen würde... Doch dort stand es auch schon. Das heutige Doktor Sandmann-Fläschchen. Gleich nach dem Frühstück hatte Antonia wieder lautstark nach dem Arzt verlangt, weil es ihr angeblich so schlecht ging. Und langsam war Lea ein Verdacht gekommen. Warum schien es ihrer Cousine mit jedem Tag schlechter zu gehen, obwohl sie täglich so ausgiebig verarztet wurde? Und nach Einnahme des Mittels ging es ihr wieder ziemlich gut, nur am darauffolgenden Morgen ging das ganze Theater wieder von vorn los.
Lea trat an den Frisiertisch heran und hob die kleine Phiole hoch. Bis auf einen winzigen Rest war sie leer.
"Mist." fluchte Lea leise und stellte das Fläschchen zurück. Es konnte doch nicht so schwer sein, an etwas von der Arznei heranzukommen... Bregs würde die Mischung bestimmt irgendwo in der Wache untersuchen lassen können. Und dann hatte hoffentlich Doktor Sandmanns letztes Stündlein geschlagen. Dieser schmierige Lüstling... Erst heute hatte er sie wieder mit diversen eindeutigen Bemerkungen bedacht. Doch das Schlimmste war gewesen: Er hatte es doch tatsächlich gewagt, ihr seine Hand auf die Schulter zu legen. Sie hatte sich wirklich beherrschen müssen, ihn nicht einfach zu schlagen. Also hatte die Bekenntnis, einen festen Freund zu haben, doch nichts genützt...
Aber wer wußte, vielleicht bildete sie sich in ihrer Wut auf Sandmann auch lediglich etwas ein, und ihre Cousine simulierte gar nicht. Aber sicher war sicher.
Nachdenklich sah sie in den Spiegel und betrachtete ihr eigenes, kantiges Gesicht mit den haselnußbraunen Augen hinter den dicken Brillengläsern. Eine widerspenstige Locke hatte sich aus ihrem dunklen Haarknoten gelöst und hing ihr ins Gesicht.
Sowohl Antonia als auch Elisabeth regten sich immer wieder auf, weil sie angeblich nichts aus sich machen würde. Aber wozu sollte sie das tun? Araghast liebte sie so, wie sie war. Und Elisabeth hatte gut lästern. Bekam sie seitdem sie mit Schwallsack Farrux verlobt war doch nicht einmal mehr ihre Korsetts zu weil sie andauernd mit Pralinen gemästet wurde.
"Meister... Meister... dein irres Lachen durchdringt die Wände, Meister... Meister... gefangen in der Qual..." sang sie leise vor sich hin. "Meister... Meister... Krampfen tun sich deine Hände, Meister... Meister... um das Kreuz aus Stahl..."

* * *


Stolz stand der Mann vor seinem mit einem Laken verhüllten Werk. Nur noch wenige Tage und dann würde sie perfekt sein und ihm das zurückgeben, was ihm das Schicksal vor einem Jahr so grausam genommen hatte. Zärtlich strich er über eine Stelle des weißen Tuches. Dies war die Erfüllung. Weder Krankheit noch Tod konnten ihm noch nehmen, was er erschaffen hatte. Er hatte dem Jenseits ein Schnippchen geschlagen. Und die langersehnte Rache wenige Tage zuvor hatte sein Gemüt zu weiteren Höhenflügen angespornt. Er konnte es kaum erwarten, sein Werk zum ersten Mal auszuprobieren. Niemand würde den Unterschied bemerken, so fein und präzise war seine Arbeit gewesen.
"Cori Celesti." flüsterte er leise. "Bald wirst du leben..."

* * *


'Lindendorfs Prothesen' verkündete das Schild über der Ladentür. 'Künstliche Körperteile, Perücken, Verkleidungszubehör- Sonderpreise für Schauspieler und barbarische Helden!'
Darunter wehte ein hastig mit dunkelroter Farbe geschriebener Zettel:
'Räumungsverkauf! Alles muß raus!'
Vorsichtig drückte Araghast die Tür auf und trat ein.
"Hallo?" rief er leise in den leeren Verkaufsraum. "Ist hier irgend jemand?"
Niemand antwortete.
Neugierig sah der Hauptgefreite sich um. Diverse künstliche Körperteile hingen an Haken von der Decke. Auf Holzköpfen steckten Perücken jeder Farbe und Haarlänge. Nur mit Mühe unterdrückte Bregs den Impuls, sogleich wieder rückwärts aus dem Geschäft zu fliehen. Zu sehr erinnerte ihn der Laden an Olivanders Igordrom, in dem er soeben die Schmach seines Lebens erlitten hatte. Entschlossen kniff der Püschologe seine Auge zu und atmete tief durch. Wer würde schon jemals davon erfahren...
"Kann ich Ihnen helfen?" unterbrach eine leicht atemlos klingende Stimme seine Gedanken.
"Äh..." Araghast blinzelte. Vor ihm stand ein ältlicher Mann mit graumeliertem Haar, viereckigen Brillengläsern und einem schmerzlichen Lächeln auf dem blassen, eingefallenen Gesicht. Er erweckte den Anschein, in relativ kurzer Zeit ziemlich viel Gewicht verloren zu haben.
"Sie haben eine Beinprothese für Fräulein Leonata Eule, oder?" brachte er schließlich hervor.
Der Mann nickte. "Überknie, Holz mit Eisen verstärkt." antwortete er beinahe mechanisch und verschwand durch einen Vorhang im hinteren Bereich des Ladens.
Währenddessen nahm Araghast den Verkaufsraum genauer unter die Lupe. Kaum zu glauben, daß es so viele Leute gibt die künstliche Körperteile benötigen, überlegte er, als er an den Regalen vorbeischritt. Aber andererseits... Man nehme einen ganz gewöhnlichen Abend in der 'Geflickten Trommel' plus ein paar barbarische Helden. Wenn dort irgendwer ein Bierglas warf- Einige Wochen später, wenn die Wunden verheilt waren, hatte Lindendorf bestimmt ein paar neue Kunden gefunden.
Eine Vitrine zog ihn in ihren Bann. Glasaugen verschiedenster Farben lagen dort auf dunklem Samt und schienen ihn unentwegt anzustarren. Nachdenklich klopfte Araghast auf seine Augenklappe. Seitdem er sein linkes Auge verloren hatte, hatte er sie eigentlich immer getragen. Wer wollte seinen Mitmenschen auch schon den Anblick einer leeren Augenhöhle plus vernarbtem Lid zumuten. Aber so ein Glasauge hatte schon seinen Reiz... Und Rogi konnte vielleicht auch so einiges richten.
Ein smaragdgrünes Exemplar zog Bregs in seinen Bann. Es würde farblich exakt passen. Und niemand würde den Unterschied bemerken... zumindest auf den ersten Blick nicht. Wie teuer ein solches Auge wohl war...
Araghast gab sich einen innerlichen Rippenstoß und wanderte weiter. Vermutlich konnte er ein solches Auge nicht einmal bezahlen. Er würde wohl erstmal bei der Augenklappe bleiben müssen.
Eine lange, blonde Haarsträhne schob sich in sein Gesichtsfeld. Ohne es beabsichtigt zu haben, war er in der Perückenabteilung gelandet. Und begann sich zu fragen, woher die Perückenmacher bloß ihre Haare bezogen. Frauen die sich einen Kurzhaarschnitt wünschten vielleicht? Oder Männer, die sich von ihrer Haarpracht trennen wollten? Unwillkürlich tastete Araghast nach seinem eigenen, dicken Zopf, welcher ihm beinahe bis zum Gürtel reichte. Oder wenn ein Perückenmacher sehr in Haarnot war- ob er dann nicht doch einfach jemanden überfallen...
Plötzlich wurde Bregs klar, daß er doch noch einmal dringend mit Kolumbini reden mußte.
"So, hier haben wir das gute Stück." Der Prothesenmacher erschien hinter dem Ladentresen, in längliches Paket im Arm. "Wenn ich mir eine Frage erlauben darf- sind Sie ein Freund von Fräulein Eule, daß Sie ihr neues Bein abholen?"
Wider Willen mußte Araghast lächeln. "Ich liebe sie." sagte er stolz.
"Soso." Auf dem Gesicht des Prothesenmachers erschienen Falten des Kummers. "Junge Liebe..." bemerkte er kalt. "Na dann viel Glück, euch beiden."
Mit einer ruckartigen Bewegung legte er das Paket auf den Tisch und streifte dabei eine goldgerahmte Ikonographie, welche mit einem lauten Klappern umfiel. Hastig griff der Prothesenmacher nach dem Bild und stellte es beinahe zärtlich wieder auf.
"Stimmt irgendwas nicht?" fragte Araghast, nachdem ihn seine Püschologensinne einen mentalen Tritt verpaßt hatten.
Ein vernichtender Blick traf ihn.
"Danke, es geht mir wunderbar." entgegnete der Prothesenmacher kalt. "Und wenn Sie so freundlich wären und das Fräulein Eule von mir grüßen würden."
"Mach ich." Araghast nahm das Paket an sich. Für seine Ausmaße war es erstaunlich leicht.
"Einen schönen Tag noch." wünschte Lindendorf steif.
"Danke!" Araghast klemmte sich das Paket unter den Arm und verließ mit einem gewissen Gefühl der Erleichterung das Geschäft.
Vor der Tür atmete er tief durch. Was für ein Laden... Und die Perücken... Das würde Kolumbini sicher interessieren. Vielleicht gab es außerhalb der Feinde Fräulein Finkensteins ja doch noch eine Spur. Obwohl es eigentlich bescheuert klang: Perückenmacher überfiel junge Frau aufgrund von Haarmangel. Gab es eigentlich so etwas wie eine Körpererstatzteilhersteller-Gilde? Oder jemanden der irgendwo eine dringende Bestellung eine rote Langhaarperücke betreffend aufgegeben und einen Perückenmacher zum Handeln gezwungen hatte? Kolumbini... Valdimier...
Trotz plötzlicher Fallösungsideen beschlich Araghast das Gefühl, daß er zuerst mit Val reden mußte.

* * *


Tschukk
Zufrieden betrachtete Valdimier van Varwald den Armbrustbolzen, welcher mitten in der schwarzen Fläche der Zielscheibe steckte. Langsam wurde er richtig gut im spontanen Zielen und Schießen. Eine Fähigkeit, die vielleicht irgendwem irgendwann noch einmal das Leben [3] retten mochte.
Die Tür seines Büros wurde aufgerissen und ein kreidebleicher Araghast Breguyar kam hereingestürmt.
"Val, ich muß mit dir reden." sagte er nur und ließ sich in den Besucherstuhl fallen.
"Was ist denn los mit dir?" Valdimier ließ die Armbrust sinken und sah seinen Freund verwundert an. "Du siehst aus wie ein Schluck Wasser in der Kurve."
Araghast warf ihm einen ernsten Blick zu. "Kennst du den Spruch 'Und wer therapiert den Püschologen?'" fragte er.
Val schüttelte verständnislos den Kopf. Bisher hatte er Araghast stets als den sicheren, nie um eine Antwort verlegenen Freund und Kollegen gekannt.
"Also, ich muß dir etwas beichten." gestand Bregs und schielte verlegen auf den Fußboden.
"Was hast du denn zu beichten?" wunderte sich Valdimier. "Daß du zu viele Eddie Wollasse während der Dienstzeit gelesen hast oder was?"
Araghast seufzte.
"Sag mal..." fragte er leise. "Hat dir eigentlich Menschenblut jemals geschmeckt?"
Valdimier blickt nachdenklich in die Ferne.
"Früher habe ich es einmal gemocht." sagte er. "Aber ich trinke es nicht mehr. Und wie kommst du eigentlich drauf?"
Araghast fuhr fort, das Muster des Fußbodens zu betrachten.
"Ich habe es probiert." gestand er schließlich. "Aber das Schlimme an der Sache war- ich fand es lecker."
Valdimier musterte seinen Kollegen und Freund von oben bis unten. "Wie hast du es probiert?" wollte er wissen.
Und erst stockend und schließlich flüssig erzählte Araghast ihm die Geschichte, wie er versucht hatte, Jakob von Offenbach sein Gedicht zurückzubringen und die Folgeerscheinungen, die Olivanders Igordrom betrafen..
Als Bregs seine Geschichte beendet hatte, konnte Val sich ein Grinsen nicht verkneifen.
"Ich weiß, es klingt hart für dich." begann er. "Aber Olivander hatte recht. Du bist kein reiner Mensch, egal welche Mühe du dir gibst. Ich kann vollkommen verstehen, daß das Blut eines Menschen dir geschmeckt hat. Es gehört quasi zu unserer Spezies."
"Aber..." brachte Araghast hervor. "Ich... Langsam bekomme ich Angst vor mir selbst." gestand er schließlich leise. "Was sollen die anderen nur von mir denken, wenn sie es mitbekommen?"
Valdimier stand auf und klopfte seinem Kollegen beruhigend auf die Schulter.
"Wer sagt denn, daß es jemals jemand erfährt?" fragte er ruhig.
"Keine Ahnung." Araghast warf ihm einen hilflosen Blick zu. "Es ist bloß eh alles Mist zur Zeit. Die Haargeschichte steckt in einer Sackgasse, der tragische Poet, dem ich sein Elaborat zurückbringen darf, scheint zur Zeit nicht da zu sein und morgen ist auch noch das große Essen bei Leas Verwandten. Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich machen soll, außer mit Kolumbini eine Tour durch sämtliche Perückenläden Ankh-Morporks zu unternehmen." Mutlos ließ er die Schultern hängen.
"Weißt du, was ich mich immer wieder gefragt habe?" Valdimier kehrte hinter seinen Schreibtisch zurück. " Genau wie du eben gesagt hast, wer kümmert sich eigentlich um den Püschologen? Ich meine, alle rennen mit ihren Sorgen zu ihm aber wenns ihm selbst mal dreckig geht, was macht er dann?"
"Den 'Eimer' aufsuchen und sich mit Untervektor-Rum die Kante geben." Araghast lächelte kläglich. "Oder ich könnte mich auch mal auf nefers Sofa legen, falls sie eins hat. A propos nefer: Vielleicht könnte ich sie ja überreden, den Finkenstein-Fall zu übernehmen. Ich weiß eh nicht, was ich damit soll. Das ist doch eigentlich auch RUM-Gebiet."
"Wurden bisher eigentlich weitere Haare geklaut?" wollte Valdimier wissen
Araghast schüttelte den Kopf. "Und eben drum glaube ich auch, daß es sich bei der Sache um einen Einzelfall handelt. Was aber auch nicht weiterhilft." Er zog die Pergamentrolle mit dem Gedicht hinter dem Gürtel hervor und warf sie Val zu, der sie geschickt mit einer Hand auffing. "Lies das mal. Das ist das zweite Drittel meiner Sorgen."
Vorsichtig entrollte der Vampir das Schriftstück und begann zu lesen.
"Da muß aber jemand ziemlich traurig gewesen sein." sagte er ernst und klopfte auf das Pergament. "Wer hat das geschrieben und wo hast du es her?"
"Es stammt von einem Vampirpoeten namens Jakob von Offenbach." erklärte Araghast achselzuckend. "Er scheint es auf einem Friedhof verloren zu haben und ich soll es ihm nun wieder zurückgeben. Wußtest du übrigens, daß der Text von Blechallikas 'Meister der Puppen' zumindest teilweise von ihm stammt?"
"Nein." Val schien mit seinen Gedanken ganz woanders. "Sag mal, wenn du diesen Offenbach findest, kümmere dich mal etwas um ihn. Er scheint es bitter nötig zu haben." Nachdenklich rollte er das Pergament zusammen und reichte es Bregs zurück. "Vielleicht hat er seine Freundin verloren oder etwas in der Art."
"Mag sein." Bregs schob das Gedicht wieder hinter seinen Gürtel. "Aber du kommst doch mit zum Blechallika-Konzert?" Fragend hob er eine Augenbraue.
"Aber natürlich!" Valdimier schien geradezu entrüstet über die Frage. "Das lasse ich mir doch nicht entgehen, wo wir schon bei den Untoten Socken Dienst schieben mußten! Außerdem hast du den Tip mit dem Blechallika-Konzert von mir. Kann es sein, daß du damals zu betrunken warst, um dich daran zu erinnern?"
"Vermutlich." seufzte Araghast und erhob sich. "Ich weiß nicht was ich in der Nacht für einen Müll geredet habe."
"Jedenfalls wissen wir nun genau Bescheid, wie man fünfzehn Seeräuber auf einem Sarg stapeln kann." bemerkte Valdimier. "Ach ja, und eins wäre da noch. Kannst du mir irgendwann mal die Adresse von Olivanders Igordrom geben? Der Laden hört sich gut an. Vielleicht verkaufen sie ja auch Importumhänge." fügte er nach einem fragenden Blick seines Freundes schnell hinzu.

* * *


Drei Stunden später.
"Ich weiß, es klingt bescheuert wenn ich jetzt einfach so ins Blaue hineinrate." erklärte Araghast Kolumbini in dessen Büro. "Aber ich bin der Meinung, daß man es vielleicht doch noch mal mit den Perückenhändlern versuchen sollte."
"Und wie kommst du darauf?" fragte Kolumbini skeptisch. Der Blick, den er seinem Kollegen zuwarf, drückte leichtes Mißtrauen aus.
"Es ist nur eine Idee." verteidigte der Püschologe seinen Vorschlag. "Ich habe auf dem Rückweg vom Dichter, der übrigens nicht zu Hause war, noch Leas neue Prothese abgeholt und der Laden hat einige Perücken zum Verkauf angeboten. Da ist mir eingefallen, daß wir uns die Zweitfrisurenverkäufer noch nicht vorgenommen haben."
"Und wie stellst du dir das vor?" Kolumbini klang immer noch nicht besonders überzeugt. "Jeden einzelnen Laden abzuklappern?"
"Was sollen wir sonst noch machen?" entgegnete Araghast achselzuckend. "Wir können natürlich auch zu Rince gehen und ihm sagen, daß wir leider nicht in der Lage waren den Fall zu lösen." fügte er mit einem leicht sarkastischen Ton in der Stimme hinzu. "Er würde sich bestimmt wahnsinnig freuen."
Kolumbini runzelte die Stirn und Araghast beschlich das unangenehme Gefühl, daß er sich soeben ein wenig im Ton vergriffen hatte.
"Nun, dann werden wir sie uns mal vornehmen." erklärte der Ermittler schließlich knapp.

Nachdem Araghast gegangen war, nickte Kolumbini Igor zu, der bis dahin still in einer Ecke gesessen hatte.
"Waf ift, Herr?" fragte der Gehilfe und erhob sich.
"Igor, ich möchte, daß du sämtlichen Herstellern künstlicher Körperteile einmal einen Besuch abstattest." gab der Ermittler seine Anweisungen. "Erkläre ihnen, du seiest auf der Suche nach langem, rotem Haar, welches du dringend für einen Patienten bräuchtest. Das wird wohl wenig Verdacht erregen."
Igor nickte. "Glaubft du wirklif, daf daf etwaf bringt?" fragte er skeptisch. "Diefer Püfologe feint mir ein Typ fu fein der fur Not allef und jeden verdäftigen würde. Ein wenig verrückt, wenn du mich fragft, Herr."
"Nun er mag ein wenig spinnen, aber wir müssen nun mal mit ihm zusammenarbeiten, Igor." erklärte Kolumbini ruhig. "Und eine winzige Spur ist immerhin besser als überhaupt keine, Igor."

* * *


Sanft fuhr der klauenartige, knochige Finger über die tätowierte schwarze Lilienblüte, welche einen mageren Unterarm zierte. Ein schrilles Lachen verlor sich in dem kleinen, dunklen Keller. Das Licht einer einzigen, heruntergebrannten Kerze brach sich in diversen kompliziert anmutenden Glasapparaturen. Eine grünliche Flüssigkeit fiel Tropfen für Tropfen in ein Auffanggefäß. Mit leisen Schritten huschte der Mann durch den Raum und trat an das nackte Mauerwerk heran. Geschickt entfernte er einige lose Steine, griff in die verborgene Nische, welche sich dahinter befand und zog einen schweren, ledergebundenen Folianten heraus. Mit geübtem Griff schlug er eine ganz bestimmte Stelle auf und überflog die Worte, die sich ihm dort auf dem vergilbten Pergament darboten. Längst konnte er sie im Schlaf hersagen, doch die Vorfreude auf das Kommende ließ ihn immer wieder zurückkehren zu jenen Versen, welche sein Schicksal erfüllen sollten.
Er war bereit.
Jetzt mußte er nur noch auf die richtige Gelegenheit warten.
Und die würde bald kommen. Sehr bald...


OKTOTAG, 4. GRUNI


Nervös strich sich Araghast ein nicht vorhandenes Staubkörnchen von der Jacke seiner Ausgehuniform und blickte durch sein halbdurchsichtiges Spiegelbild hindurch aus dem Fenster, durch welches die Sonne ins Zimmer schien. Vor ihm lag die Auflistung der zu erwartenden Verwandtschaft, welche Lea ihm gegeben hatte. Bei ihrem Onkel Wermut Bolzano und ihrer Tante Begonia mußte er aufpassen was er sagte. Hingegen hatte sie ihre beiden Cousinen als nicht besonders helle beschrieben. Antonia schien sich eh nur mit ihren beiden gescheiterten Ehen und ihren zahlreichen Leiden zu beschäftigen und Elisabeth war nach Angaben seiner Freundin ein hoffnungsloses Dummchen. Wohingegen Elisabeths Verlobter ein Vertreter jener Spezies zu sein schien, deren Redefluß sich antiproportional zur Wichtigkeit des Themas verhielt. Nach Leas Ansicht hatte er den Spitznamen Schwallsack Farrux wohlverdient.
Und dann dieser ominöse Doktor Sandmann. Erst am vorigen Abend, als Araghast ihr ihre Prothese übergeben hatte, war er erst wieder mit einem wahren Schwall von Flüchen überschüttet worden. Und nebenbei hatte Lea ihm gestanden, daß sie, wenn es so weiterging, irgendwann selbst dafür sorgen würde, daß der Doktor ihrer Familie fern blieb.
Wenn man ihm nachwies, hatte sie gesagt, daß er Antonia heimlich irgendwelche schädlichen Substanzen untermischte, könnte man ihn doch eigentlich als Hausarzt feuern. Man mußte nur einen Rest der Medizin in die Finger bekommen, ihn mit ein wenig schädlichen Substanzen versetzen, um ihn dann der Wache zu übergeben. Erstaunlich, was Leonata Eule für kriminelle Energie besaß, wenn es darum ging, unliebsame Personen loszuwerden. Vielleicht sollte er in nächster Zeit doch mal ein Auge auf sie haben, überlegte Bregs scherzhaft. Doch seine Gute Laune war schnell wieder verflogen.
Seufzend überprüfte der Hauptgefreite zum allerletzten Mal sein Spiegelbild. Sein Zopf war sauber geflochten und seine Augenklappe saß. Mehr konnte er nicht tun. Der Rest hing einzig und allein davon ab ob ihm das Schicksal wohlgesonnen war.

Doch selbst die Überzeugung, das Beste aus sich gemacht zu haben half nicht viel, als er zögerlich den Türklopfer am imposanten Eingangstor der Familie Bolzano betätigte.
Nur Sekunden später öffnete sich die Tür mit einem stilvollen Knarren und ein weißbehandschuhter Butler musterte Bregs hochnäsig von oben bis unten.
"Der Herr wünschen?" fragte er in jener überlegenen, näselnden Tonlage, welche vermutlich sämtlichen Butlern des Multiversums eigen ist.
"Ich bin hier heute zum Essen eingeladen." antwortete Araghast kurz und klopfte wie bestätigend auf den Rosenstrauß den er im Arm hielt. "Ich bin der Freund von Leonata Eule."
"Soso." Der Butler zeigte sich nicht im geringsten davon beeindruckt. "Dann werde ich das Fräulein unterrichten, daß Sie eingetroffen sind. Wenn der Herr bitte einzutreten gedenken." Ohne auch nur die Miene zu verziehen machte er auf dem Absatz kehrt und schritt davon.
Araghast betrat die Eingangshalle uns sah sich neugierig um.
Diverse Personen, vermutlich die Vorfahren der Bolzanos, blickten aus prächtigen, vergoldeten Rahmen mit strengen Blicken auf ihn herab, während kleine Gipsstatuen auf halbhohen, falschen ephebianischen Säulen ihre schwellenden Muskeln präsentierten. Auf unangenehme Weise fühlte sich Araghast an das Wohnzimmer Fräulein Finkensteins erinnert. Komplettiert wurde die Einrichtung durch einen schon beim allerersten Anblick unbequem wirkenden, mit kunstvollen Holzschnitzereien verzierten Sessel und ein ebensolches Tischchen, welche neben der mächtigen Treppe, welche mit mehreren Windungen bis zum zweiten Stock emporführte, nahezu verloren wirkten.
Da Araghast nicht wußte, was er außer dämlich herumzustehen tun sollte, setzte er sich und fand seine Annahmen den Sessel betreffend sofort bestätigt. Und er fühlte sich unwohl wie selten in seinem Leben zuvor. Wie hielt es Lea bloß aus, in diesem Haus zu wohnen...
Das vertraute Klappern der Krücke auf dem Marmorfußboden erschien ihm wie eine Erlösung. Er sprang auf, lief seiner Freundin entgegen und küßte sie.
"Du siehst ja wirklich schnieke aus." kommentierte Lea nachdem sie sich voneinander gelöst hatten und betrachtete ihn von Kopf bis Fuß.
Araghast zuckte mit den Schultern. "Ich fühle mich so steif wie lange nicht mehr." gestand er und wies auf den Beistelltisch. "Ich hab dir ein paar Rosen mitgebracht. Ich weiß, der neueste Eddie Wollas hätte dir besser gefallen, aber Kanndra hat mich heute Morgen ziemlich rigoros über Etikette in der Hinsicht aufgeklärt."
Lea prustete los.
"Achja, die lieben Etikette." lachte sie. "Onkel Wermut und Tante Begonia achten ziemlich drauf. Aber was hältst du davon, wenn wir noch ein bißchen den Garten unsicher machen? Ich würde dir zwar gern 'Meister der Puppen' vorspielen, aber dazu brauche ich ein anderes Pianoforte in einem anderen Haus."
Na dann raus mit uns." Froh, der Steifheit der Eingangshalle entkommen zu können, hakte sich Bregs bei Lea ein und zusammen marschierten sie in Richtung Garten, leise die Melodie des Blechallika-Hits vor sich hinsummend.

* * *


Mit jedem in Frage gekommenen Perückengeschäft war Igors Laune ein wenig gesunken. Niemand schien auch nur die leisesten seltsamen Reaktionen auf die Frage nach langem rotem Haar zu zeigen. Und dann noch dieser Narrenaustatter... Er hatte es geradewegs amüsant gefunden, Igor mit der Lustige-quiekende-Tiere-Ausrüstung und dem Exoskelett-Standard-Modell-für-den-Einstiegs-Narren für lustiges Latschen zu quälen, indem er in einem Wortschwall, der beinahe an Schnappers verbale Verkaufskünste heranreichte, deren Vorzüge pries. Igor hatte nur dankend genickt und sich so taktvoll wie möglich verdrückt.
Und nun stand er vor Lindendorfs Prothesengeschäft und studierte die Ausverkaufsannonce.
Eigentlich waren anorganische Körperersatzteile nicht sein Ding, aber andererseits- Was das Glasauge seines Herrn betraf, hatte er ganze Arbeit geleistet. Bisher hatte niemand, außer er hatte zugesehen wie dieser dagegenklopfte, gemerkt, daß Kolumbini sein Auge bereits vor Jahren verloren hatte.
Als er den Laden betrat, feilschten bereits ein einarmiger Zwerg und ein ältlicher, hagerer Mann, vermutlich der Besitzer des Geschäftes, erbittert um eine Prothese.
"Für zehn Dollar bekommst du sie." erklärte der Mann geduldig.
"Sieben." beharrte der Zwerg, der, wie Igor vermutete, seine Gliedmaße in einer der berühmt-berüchtigten Zwergenkneipen-Prügeleien verloren haben mußte. "Und keinen Cent weniger!"
"Neun." gab der Verkäufer scheinbar nach.
Während er das Angebot betrachtete, lauschte Igor mit einem Ohr der erregten Diskussion, bekam mit, daß sich die beiden schließlich auf einen Kaufpreis von Acht Dollar und fünfzig Cent einigten und schlurfte, nachdem der Zwerg den Laden zufrieden und mit einer Tüte unter dem verbleibenden Arm das Geschäft verlassen hatte, schließlich zum Ladentresen.
"Guten Tag." begrüßte er den offensichtlichen Ladenbesitzer. "Wie if gelefen habe, verkaufen Fie ihre Reftbeftände, habe if Reft?"
"Der Mann hinter dem Tresen nickte. "Ich habe beschlossen, mein Geschäft aufzugeben." erklärte er. "Womit kann ich einem Igor denn helfen?" fragte er. "Organische Ersatzteile verkaufe ich leider nicht."
"Nun, if fuche auch niftf direkt... organifef." Igor gab sich große Mühe, unschuldig dreinzuschauen. "Eigentlif bin if auf der Fuche nach falfen Haaren. Fie find Herr Lindendorf, nift wahr?"
"Ja, das bin ich." bestätigte der Verkäufer. "Da kann ich Ihnen nur meine Perückenecke empfehlen. Echtes Menschenhaar in fast allen Farben und Formen." Er wies auf die mit den verschiedensten Haarprachten verzierten Holzköpfe.
"If fuche aber etwaf ganf beftimmtef." Igor musterte die angebotene Ware mit fachmännischem Blick. "Eine... Kundin hat fif fehr beftimmt aufgedrückt waf fie haben will."
"Da können wir bestimmt helfen." Auf Lindendorfs Gesicht erschien das typische Lächeln eines Mannes der wußte, daß er sogleich ein gutes Geschäft machen würde.
"Nun, waf meine Kundin verlangt für eine Haartranfplantatfion," erklärte Igor, "ift ein fiemlich fpetfieller Wunf." Und er beschrieb Lindendorf das Aussehen der Haare Katja Finkensteins in allen Einzelheiten, die er auf der Ikonographie erkannt hatte, die sein Herr ihm gezeigt hatte.
"Da haben Sie ja wirklich ganz spezielle Vorstellungen." In dem eingefallen Gesicht des Händlers begann ein Muskel an der Schläfe zu zucken. "Langes, glattes, feuerrotes Haar. So etwas ist ziemlich schwer zu bekommen."
"If weif." entgegnete Igor. "Wie if gehört habe wurde neulif fogar jemand überfallen und ihm ebenfolfef Haar abrafiert."
"Was?" Lindendorf zuckte zusammen. "Aber das ist ja schrecklich!" rief er aus. "Wer könnte nur so etwas tun?"
"Woher foll if daf wiffen?" Igor gab sich größte Mühe, unschuldig dreinzuschauen. "Wahrfeinlif find rote Haare gerade in Mode."
"Nun, wie gesagt, ich habe so etwas nicht im Angebot." beeilte sich Lindendorf, ihm zu versichern. "Da müssen Sie es woanders versuchen."
"Vermutlich." nickte Igor und wandte sich zum Gehen. Im Geiste nachte er sich eine Notiz. Lindendorf hatte es doch erstaunlich eilig gehabt, ihm zu versichern, daß er nichts mit der Sache zu tun hatte.

* * *


"Sag mal, wie lange kennst du Herrn Lindendorf eigentlich schon?" sprach Araghast schließlich die Frage aus, die ihm bereits seit dem vorigen Tage auf der Seele lag.
Sie wandelten durch eine Reihe ordentlich zurechtgestutzter Kirschbäume, welche nach der Meinung des Püschologen genau die vorherrschende Mentalität im Hause Bolzano widerzuspiegeln schien. Alles in einer Reihe. Und wehe, jemand wagte, sich gegen die Regeln aufzulehnen. Bregs beschlich das Gefühl, daß er bei diesem Essen von vornherein verloren hatte.
"Lindendorf?" Lea warf ihm einen überraschten Blick zu. "Er baut schon seit einer Ewigkeit meine Prothesen. Warum fragst du?"
"Ach, nur so." Araghast zuckte mit den Schultern. "Irgendwie erscheint er mir etwas komisch. Wußtest du, daß er sein Geschäft aufgibt?"
"Was?" entfuhr es Lea und aufrichtige Verwunderung schwang in ihrer Stimme mit. "Warum das denn?"
"Woher soll ich das wissen." Araghast runzelte leicht die Stirn. "Aber du erinnerst dich doch an die Sache mit den Haaren, oder? Nun, und Lindendorf verkauft auch Perücken."
"Und nun habt ihr ihn im Verdacht." kommentierte Lea.
"Nun, nicht unbedingt im Verdacht." Araghast zupfte eine Geranienblüte von einer Pflanze und steckte sie sich ins Knopfloch. "Wir gehen gerade nur generell gerade sämtliche Perückenhändler der Stadt durch. Beziehungsweise hat mein Kollege Kolumbini seinen Igor losgeschickt. Und Lindendorf, wie gesagt... Ich habe das Gefühl, er ist nicht ganz bei sich."
"Ahja, der Püschologe hat gesprochen." Lea schmunzelte und stach ihm ihren Zeigefinger zwischen die Rippen. "Aber in letzter Hinsicht hast du recht. Seitdem seine kranke Tochter gestorben ist, ist er manchmal ein wenig seltsam. Er scheint ziemlich an ihr gehangen zu haben."
"Seine Tochter ist tot?" Bregs horchte auf.
Lea nickte. "Sie hatte Asthma oder so etwas in der Art. Ich weiß es auch nur daß er mal erwähnt hat eine Tochter zu haben die keine Luft bekommt und dann war sein Laden im letzten Jahr wochenlang geschlossen, wegen eines Todesfalls, wie es hieß. Als ich dann nachgefragt habe, ist er beinahe in Tränen ausgebrochen. Seitdem hat er manchmal ein Bild auf seiner Ladentheke stehen gehabt und daneben einen Stapel Taschentücher."
"Der Arme." Araghast verzog das Gesicht. "Ich glaube, an das Bild kann ich mich sogar erinnern. Er hatte es aus Versehen umgestoßen gehabt. Na dann ist es auch kein Wunder, daß er sich komisch benimmt. Wahrscheinlich hat er es hier in der Stadt nicht mehr ausgehalten und will nur noch weg."
"Schade." erklärte Lea. "Niemand macht so gute Prothesen wie er." Sie klopfte gegen ihr künstliches Bein.
Plötzlich begann Bregs, lauthals zu lachen.
"Was ist denn los?" Lea betrachtete ihn irritiert.
"Weißt du," kicherte er, "Wenn man das was wir hier gerade machen einen romantischen Spaziergang nennt dann ist uns wirklich nicht zu helfen."
"Immerhin haben wir die Zeit sinnvoll genutzt um einige Sachen zu klären." Lea verschränkte die Arme. "Was Schwallsack Farrux und Elisabeth vermutlich nicht von sich sagen können."
"Von denen hast du mir ja auch schon so einiges erzählt." Bregs hatte sich wieder halbwegs unter Kontrolle. "Und wenig Gutes."
In der Ferne läutete eine Glocke.
"Essen." sagte Lea nur.
Araghast nickte düster. Seine zwischenzeitlich gestiegene Laune sank wieder auf ihren Anfangswert.
"Bestecke immer von außen nach innen benutzen." sagte er wie zu sich selbst. "Ellenbogen nicht auf den Tisch stützen und nicht schmatzen oder schlürfen."
"Und so weiter." Lea hakte sich bei ihm ein. "Sehen wir es mal so- umbringen werden sie dich nicht."
"Sicher?"

"Soso, sie sind also der junge Wächter." Wermut Bolzano musterte Araghast, der sich am liebsten in einem Mauseloch verkrochen hätte, von oben bis unten und sein Blick blieb mißbilligend an der Augenklappe und dem langen Zopf des Hauptgefreiten hängen.
"Araghast Breguyar, Ankh-Morpork Stadtwache." stellte sich der Püschologe vor und reichte dem Hausherrn die Hand.
Dieser nahm sie eher widerwillig und schüttelte sie kurz.
"Meine Gattin Begonia."
Neben der breiten, schnurrbärtigen Erscheinung ihres Gatten wirkte Begonia Bolzano klein und zierlich. Ihre blonden Locken waren mit äußerster Sorgfalt zu einem lockeren Knoten gesteckt worden und ihren unverhältnismäßig langen Hals zierte ein mit Oktironen besetztes Halsband, dessen Wert Araghast auf den der gesamten Ausrüstung der Wache schätzte.
"Sehr erfreut." zirpte sie und reichte ihm die Hand zum Kuß.
Und so ging es fort und fort. Die blasse, leidend wirkende Antonia, ihre kleine Tochter Erika, Doktor Sandmann, Elisabeth Bolzano, aufgerüscht bis zu den Haarspitzen, und schließlich ihr Verlobter Ephraim Farrux, welcher Bregs an einen überdimensionalen Fleischberg mit Pelzmütze erinnerte. Stets die gleiche, eisig höfliche Begrüßung. Araghast erinnerte sich an die Erzählung eines alten Regimentssoldaten, auf dessen Wagen er einmal ein kleines Stück gereist war. Er hatte von einem Brauch berichtet, den man Spießrutenlaufen nannte. Dazu stellten sich die Kameraden eines straffällig gewordenen Soldaten in einer Gasse auf und der Verurteilte wurde mehrmals hindurchgeschickt, wobei seine Kollegen mit Stöcken auf ihn einschlugen. Vermutlich fühlte es sich bis auf die Rückenschmerzen ähnlich an wie die Vorstellung der Familie Bolzano.

Kostbares Porzellangeschirr schimmerte im Sonnenlicht, welches durch die hohen Fenster des Speisezimmers auf den Tisch fiel, und die raffiniert geschliffenen Kristallgläser warfen vielfarbige Spektralmuster auf das makellos weiße Tischtuch.
Als Araghast der zahllosen verschiedenen Bestecke gewahr wurde, die fein säuberlich um sein Geschirr platziert worden waren, rutschte ihm das Herz in die Kniekehlen. Warum mußten die Reichen bloß so dermaßen komplizierte Eßrituale entwickeln? Konnten sie nicht einfach ein Messer und einen Löffel verwenden, wie andere auch? Hilflos blickte Bregs zu Lea, welche ihm aufmunternd zunickte.
"Nimm einfach das was alle nehmen." zischte sie ihm beinahe unhörbar aus dem Mundwinkel zu.
Araghast nickte schwach und fühlte sich sogleich von dem prüfenden Blick Onkel Wermuts durchbohrt, welcher sich mit dem fleischigen Daumen über den überdimensionalen Schnurrbart strich und selbstzufrieden vor sich hinlächelte.
Lautlos schwang die Tür auf und der Butler kam hereingeschwebt, in der Hand ein Silbertablett auf dem eine Flasche stand. Würdevoll schritt er um den Tisch und schenkte jedem eine kleine Pfütze in ein schlankes Glas.
"Voila l'aperetif!" verkündete er.
"Danke James." nickte Tante Begonia kurz und der Butler entfernte sich auf leisen Sohlen.
Das Getränk schmeckte irgendwie seltsam, fand Bregs. Mit den Getränken, die er sonst zu sich nahm, hätte man zur Not auch die Rüstung polieren können. Dagegen besaß dieses Abrettief oder wie es auch immer geheißen hatte beinahe die Konsistenz von Wasser.
"Ein wunderbarer Tropfen, nicht wahr, Herr Breguyar?"
Araghast zuckte zusammen und sah von seinem Glas auf. Ephraim Farrux musterte ihn erwartungsvoll aus seinen kleinen Schweinsäuglein.
"Schon." versuchte er sich aus der Affäre zu ziehen. "Sehr lecker."
"Nun, Sie scheinen mir zum ersten Mal einen Marillenwein probiert zu haben." Onkel Wermut warf ihm einen abschätzenden Blick zu.
"Spielt es irgendeine Rolle wer schon einmal was getrunken hat?" mischte sich Lea ein. "Es
soll sogar Leute vom höchsten Adel geben, die auf einen Schluck Ankhwasser pro Tag schwören, um sich gegen Gift zu immunisieren."
"Leonata, würdest du bitte aufhören, bei Tisch unangemessene Kommentare loszulassen?" schnappte Tante Begonia. "Allors, c'est le temps pour des escargots!"
Sie klatschte in die Hände und die Vorspeise wurde serviert.
Selbige entpuppte sich als in Kräuterbutter eingelegte Schnecken, welche zum Mißfallen Araghasts noch in ihren Häusern steckten.
Und dem Püschologen wurde urplötzlich klar, wozu die seltsame Zange diente, die dort unschuldig neben seinem Teller lag.
Vorsichtig griff er nach dem absonderlichen Instrument und versuchte, die silbernen Greifer über das erste Schneckengehäuse zu stülpen. Er spürte förmlich, wie sich die Blicke der Übrigen auf seine Bemühungen konzentrierten.
Prompt rutschte das von der zerlassenen Butter glitschige Gehäuse aus seinem zögernden Griff und landete mit einem leisen Platschen auf einem Salatblatt.
Araghast kniff sein Auge zusammen und visierte sein Opfer erneut an. Es wäre doch gelacht wenn sich ein FROG, der normalerweise fast täglich sein Leben in den Diensten der Stadt riskierte, von einer lächerlichen toten Schnecke kleinkriegen lassen würde, dachte er grimmig und machte sich ein zweites Mal daran, das schlüpfrige Etwas zu packen.
Dieses Mal gelang es ihm beinahe.
Er schaffte es, die Zangen über das Gehäuse zu stülpen und die Konstruktion einige Zentimeter weit in die Höhe zu heben, bis sich die Schnecke ein weiteres Mal verabschiedete, quer über den Tisch sauste und schließlich im Weinglas Elisabeth Bolzanos landete, welche erschrocken aufschrie.
"Verzeihung." rief Bregs über den Tisch. "Das Vieh scheint zu wissen, daß ich Wächter bin. Immer diese Fluchtversuche..."
Einiges Schweigen schlug ihm entgegen, nur von der kleinen Erika kam ein fröhliches Lachen, welches jedoch nach einem Klaps ihrer Mutter auf ihre Hand abrupt verstummte.
Tante Begonia runzelte pikiert die Stirn.
Araghast lächelte Elisabeth freundlich an.
"Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Fräulein Bolzano werde ich mal meine Schnecke aus Ihrem Glas entfernen, bevor sie sich noch allzusehr betrinkt."
Etwas in ihm hatte Klick gemacht. Mochten diese feinen Pinkel doch denken was sie wollten. Er würde diese Schnecke endlich bezwingen, koste es was es wolle. Entschlossen griff er nach dem Suppenlöffel, beugte sich über den Tisch und fischte das Schneckenhaus aus dem Rotwein.
"Na bitte." erklärte er befriedigt und hielt das Gehäuse zwischen Daumen und Zeigefinger. "Ich weiß nicht, warum Sie sich das Schneckenessen so verdammt umständlich gestalten, aber wir Wächter lösen Probleme lieber auf die direkte Art und Weise." Und mit diesen Worten griff er die Schneckengabel und förderte nach einigem vergeblichem Herumstochern schließlich die Schnecke zutage.
"Hab ich dich." Zufrieden öffnete er den Mund und schob das schrumpelige Etwas hinein.
Lea grinste breit. "Recht hast du. Wozu braucht die Menschheit irgendwelche komplizierten Eßwerkzeuge?"
Mit diesen Worten legte sie ihre Zange beiseite und machte sich daran, ihre Schnecken ebenfalls mit Fingern und Gabel zu verzehren.
"Mwaaa..." Onkel Wermut und Tante Begonia starrten die beiden mit weit aufgerissenen Mündern an. Ephraim Farrux hingegen beschloß, daß es an der Zeit war, seinen eigenen Magen zu füllen und begann, umständlich mit Schneckenzange und Gäbelchen zu hantieren.
Doktor Sandmann folgte seinem Beispiel.
Araghast beobachtete den Arzt aus den Augenwinkeln. Ihn beschlich das Gefühl, diesen Mann schon einmal gesehen zu haben.
Den Rest des Ganges sprach keiner mehr ein Wort.
Der nächste Gang bestand zu Bregs' Erleichterung aus einer schlichten Spargelcremesuppe. Immerhin konnte man mit Suppe nicht viel falsch machen, wenn man bedachte, daß man besser nicht schlürfte.
Plötzlich wandte sich Farrux jedoch derart abrupt zu ihm um, daß seine Kinne dem Drehimpuls nicht ganz nachfolgen konnten und appetitanregend hin- und herschwabbelten.
"Was halten Sie als Wächter eigentlich von der zunehmenden Population nichtmenschlicher Bürger hier in der Stadt?" dröhnte er. "Langsam wird es wirklich arg zuviel. Also wenn ich Patrizier geworden wäre, würde die Stadt ganz anders aussehen. Andauernd erscheinen diese... Kreaturen hier und nehmen den anständigen Leuten die Arbeitsplätze weg. Und so etwas schimpft sich Fortschritt!"
"Ganz meiner Meinung!" mischte sich Doktor Sandmann ein, der bisher geschwiegen hatte. "Ich finde es eine Frechheit, daß manche dieser... Kreaturen ewig leben. Und wir Menschen müssen sterben, nachdem wir gerade mal durchschnittlich sechzig bis siebzig Jahre über die Scheibe gewandelt sind. Wir, die wir unter diesen Schmarotzern auch noch zu leiden haben, indem wir auf unser Blut aufpassen müssen wie die Spitzhornberg-Luchse. Warum gelingt es keinem, endlich ein Elixier zu entwickeln, das auch uns unsterblich macht?"
"Glauben Sie, daß die Unsterblichkeit wirklich so vergnüglich ist?" fragte Lea bissig. "Ich kann mir gut vorstellen, daß einem das ewige Leben irgendwann ziemlich auf den Geist gehen kann."
"Und dafür nehmen sie uns auf ewig die Arbeitsplätze weg." grollte Farrux, der sich an dem Thema festgebissen zu haben schien. "Und abgesehen davon, welcher anständige Arbeitgeber möchte schon eines Morgens mit durchgebissener Kehle, zwei Löchern im Hals oder einer Axt in der Kniekehle in seinem Laden liegen? Und diese Trolle erst- Nicht auszuhalten. Wandelnde Felsen sind einfach wider der Natur, genau wie herumlaufende Tote! Ich wundere mich eh, daß die Wache überhaupt Untote und Nichtmenschen einstellt. Die haben doch nicht den geringsten Sinn für menschliche Gerechtigkeit!"
"Entschuldigung, aber da liegen Sie falsch." Mit Entsetzen war Araghast den Gespräch gefolgt und fand, daß nun der rechte Zeitpunkt gekommen war, eine Lanze für seine nichtmenschlichen Kollegen zu brechen. Er fühlte, daß er allmählich wirklich wütend wurde. Wütend auf die verdammten Schnecken, auf Onkel Wermut, diesen Schleimbeutel Sandmann, welcher den größten Teil der Zeit damit zu verbringen schien, Lea anzustarren, und nicht zuletzt Farrux.
"Sind Sie überhaupt jemals einem Nichtmenschen begegnet?" fragte er kalt. "Haben Sie jemals über längere Zeit mit einem gesprochen? Wissen Sie überhaupt wovon Sie reden?"
"Meine Güte, ich doch nicht!" Farrux' Miene wirkte beinahe entsetzt. "Ich würde so ein ...Ding... niemals auch nur bis auf zehn Meter in meine Nähe lassen!"
"Da sehen Sie." triumphierte Araghast. "Und somit haben Sie auch nie gelernt, Ihre Vorurteile angemessen abzubauen. Wissen Sie, ich bin Püschologe. Und Sie glauben nicht, wie viele Verbrechen den reinen Speziesismus als Motiv haben. Wenn die Leute mehr aufeinander zugehen würden, wäre die Stadt um einiges besser, aber leider gibt es von Holzköpfen wie Ihnen dermaßen erschreckend viele, daß es kaum auszuhalten ist. Nichtmenschen-Raus-Verbindungen sprießen aus dem Boden wie Pilze aus einem nassen Holzpflock. Und warum das alles? Nur weil gewisse Personen sich am Althergebrachten festklammern und an allen Neuerungen immer nur das Schlechte sehen!"
Ephraim Farrux sah aus, als ob ein Blitz geradewegs in seinen Teller eingeschlagen wäre. Sein Mund stand offen und seine Schweinsäuglein stierten ziellos in der Gegend herum.
"Ist dir nicht gut, Liebling?" Besorgt neigte sich Elisabeth zu ihrem Verlobten hinüber und ergriff seine Hand.
"Doch, doch." Dieser schüttelte leicht den Kopf als ob er aus einer Art Schockzustand erwachen würde.
Elisabeth atmete erleichtert auf.
"Und du läßt wirklich zu, daß dieser Wächter der sich noch nicht mal zu benehmen weiß dermaßen mit dir herumspringt?" flüsterte sie kaum hörbar. "Das kannst du doch nicht einfach so auf dir sitzen lassen!"
"Der wird noch sein blaues Wunder erleben." knurrte Farrux ebenso leise zurück. "Warts nur ab und ich werde es ihm und deiner fürchterlichen Cousine noch genügend heimzahlen!"

"Verdammt." fluchte Bregs leise, als sie endlich in der Eingangshalle allein waren, und ballte die Hände zu Fäusten. "Ich habe falsch gemacht was man nur falsch machen kann! Und dieser Farrux ist ja wirklich das Allerletzte."
"Wem sagst du das." erklärte Lea düster. "Und ich darf ihn jede Woche sehen. Aber ich fand es herrlich heute. Endlich hat jemand diesem unter Hirnverfettung leidenden Schwallsack mal richtig die Meinung gesagt. Nur schade, daß er nicht am Herzinfarkt gestorben ist."
"Aber ob das so günstig war weiß ich nicht." Zweifelnd sah Araghast in die Augen seiner Freundin. "Wer weiß was er und die übrigen jetzt ausbrüten."
"Mach dir da drüber mal keine Sorgen." Lea küßte ihn auf die Nase. "Das wird schon."
"Ach ich weiß nicht... Erst diese ganzen Fälle die mehr oder weniger in einer Sackgasse stecken, dann dieser Dichter der immer noch nicht wieder aufgetaucht ist in seiner komischen Stimmungshöhle in der Klopfdrehgasse..." Bei der Erinnerung an sein Versagen angesichts des Blutes, worüber er gegenüber Lea wohlweislich geschwiegen hatte, schauderte er leicht. "Und nun auch noch deine ganze Familie gegen mich."
"Ich hoffe nur, Sandmann hat es nun endlich begriffen." Lea verzog das Gesicht. "Hast du mitbekommen, wie er mich die ganze Zeit angestarrt hat?"
Araghast nickte. "Ein widerlicher Kerl. Irgendwo habe ich ihn schon mal gesehen. Wenn ich mich bloß erinnern könnte, wo..."
"Wetten, es fällt dir im unwahrscheinlichsten Moment wieder ein?"
"Vermutlich." Araghast legte seine Arme um ihre Taille, zog sie an sich und gab ihr einen langen Kuß.
"Wir sehen uns Dienstag." sagte er, nachdem sich ihre Lippen voneinander gelöst hatten.
"Neunzehn Uhr vor dem Opernhaus?"
"Aber sicher!"

* * *


Noch lange nachdem Araghast gegangen war stand Lea in der leeren Eingangshalle und dachte nach. Und sie war sich sicher, daß Tante Begonia die verdammten Schnecken absichtlich hatte servieren lassen, um Bregs vor der gesamten Gesellschaft lächerlich zu machen. Sie seufzte leise. Wäre Onkel Hieronymus doch noch am Leben... Er hätte bestimmt keine Schnecken serviert, sondern für beide in der AGLA-Matrix ein kleines Fest ausgerichtet, mit Kohschi in seiner so verhaßten Butlerrolle.
Antonius Kohschi. Noch nie hatte sie sich in einem Menschen so verschätzt gehabt.
"Nun, Fräulein Leonata." Sandmann war unhörbar an sie herangetreten und legte seine knochige, klauenartige Hand auf ihre Schulter. "Wie es wohl aussieht ist es um Ihre Zukunft schlecht bestellt. Den Segen deiner Verwandten zu der Verbindung mit dem Wächter erhältst du nie."
"Na und?" fauchte Lea. "Als ob mich das kümmern würde. Ich bin fast fünfundzwanzig und somit auch nach dem Gesetz schon lange alt genug um mein Vermögen selbst zu verwalten wenn ich denn eins hätte."
"Fräulein Leonata." Die Stimme des Arztes nahm einen beschwörenden Tonfall an und der Griff auf der Schulter der jungen Frau wurde fester. Sie kämpfte gegen den Drang an, dem Doktor mit aller Kraft ihre Krücke über den Schädel zu ziehen.
"Ich wollte Ihnen nur meine aufrichtigsten Absichten kundtun. Hören Sie!" Seine Stimme nahm einen beinahe flehenden Tonfall an. "Ich bin ein Mann von einem gewissen Ruf und gewissem Vermögen. Ich bitte Sie. Wollen Sie ihr Leben wirklich an einen mittellosen Wächter verschwenden? Ich kann Ihnen eine Menge bieten. Ansehen. Vermögen. Und vielleicht sogar eines Tages..." Seine Stimme verklang zu einem kaum hörbaren Flüstern. "Die Unsterblichkeit."
Lea wandte sich abrupt um und schob die Hand von ihrer Schulter.
"Wieviel an Mitgift haben Onkel Wermut, Antonia oder Farrux Ihnen geboten falls Sie es schaffen, mich in irgendeiner Form dazu zu bringen, Sie zu heiraten?" fauchte sie. "Wieviele gefälschte Liebesbriefe von Bregs an eine andere Frau haben Sie bereits im Ärmel um mich von ihm abzubringen? Tja, da haben Sie mich wohl unterschätzt, Sie Schleimbeutel. Eher werde ich omnianische Nonne, als jemanden wie Sie zu heiraten!"
"Soso." Ein schmieriges Lächeln erschien auf dem Gesicht Doktor Sandmanns. "Ich weiß daß es Sie nicht stört, Fräulein Leonata." begann er lauernd. "Aber glauben Sie wirklich, daß Ihre Familie nichts dagegen unternehmen wird sie davon erfahren, daß Sie im Begriff sind, einen Mann zu heiraten in dessen Adern das Blut der Nosferatu Sanguineus fließt? Glauben Sie, nicht, ich hätte es nicht gemerkt. Solche Sachen fallen mir auf. Blässe. Der Zacken im Haaransatz. Die angespitzten Eckzähne. Ich bin sicher, das würde deinen Onkel und deine Tante brennend interessieren, und schon bald wird sich jemand mit einem hübschen kleinen Pflock im Gepäck auf den Weg zum Wachhaus machen."
"Sie widerliche Ratte!"
Lea handelte aus reinem Reflex heraus. Ihr Arm schwang zurück und ihre Hand ballte sich zu einer Faust, welche mit beachtlicher Geschwindigkeit auf das Gesicht des Doktors zusauste und schließlich frontal mit ihm kollidierte.
"Schlagkraft ist gleich Masse mal Beschleunigung." bemerkte die junge Frau nur trocken, als der Arzt rückwärts taumelte und verzweifelt versuchte, den Blutstrom aufzuhalten, der aus seiner Nase stürzte. "Tun Sie doch, was Sie wollen. Und wenn Bregs und ich nicht in Ankh-Morpork zusammensein können dann ist es halt so- die Scheibenwelt ist groß..."

* * *


Den Zettel mit der Aufschrift 'Sofort in Venis Büro kommen' mit den Fingern zerknüllend schlurfte Bregs über den Flur zu besagtem Raum und klopfte an.
"Na, wie wars?" fragte Kanndra, kaum daß er eingetreten war, kurz salutiert und sich schließlich in den letzten freien Stuhl hatte fallen lassen.
"Frag nicht." brummte er nur und sah sich um.
Neben der Späherin und seiner Schäffin befanden sich noch Kolumbini und Rina Lanfear im Zimmer. Ersterer saß, in seinen Mantel gehüllt, auf einem Stuhl ein wenig abseits, während letztere direkt vor dem Schreibtisch stand, Venezia auf ihrer Schulter.
"Nun, da jetzt alle da sind können wir auch mal anfangen." begann die Gnomin unverzüglich. "Gefreiter Kolumbini, was hast du herausgefunden?"
Der Ermittler erhob sich und kramte in seinen Manteltaschen, wobei er immer wieder murmelte "Eben gerade hatte ich es noch" oder "Irgendwo hatte ich es doch hingetan", bis er schließlich einen zusammengefalteten Zettel zu Tage förderte. Umständlich faltete er es auseinander und räusperte sich.
"Wie vorhin bereits erwähnt sind wir im Zuge unserer Ermittlungen im Fall Finkenstein nach gründlicher Untersuchung sämtlicher Perückenhändler der Stadt auf einen Prothesenhändler namens Lindendorf gestoßen, den ich von meinem Igor habe verhören lassen. Dabei hat sich besagter Lindendorf ziemlich verdächtig benommen. Jedenfalls hat er vehement abgestritten, rote Haare in seinem Warenlager zu haben. Und außerdem gibt es da noch etwas Seltsames: Warum scheint er urplötzlich beschlossen zu haben, sein Geschäft aufzugeben?" Triumphierend wandte sich Kolumbini zu seinen Zuhörern.
"Ich habe heute von Lea erfahren, daß vor etwa einem Jahr seine Tochter gestorben sein soll." meldete sich Araghast zu Wort. "Vielleicht kann er Ankh-Morpork einfach nicht mehr sehen."
"Zu spät, um sich Lindendorf heute noch einmal vorzuknöpfen." warf Irina ein. "Deshalb bin ich auch hier. Ich finde, daß wir uns den Laden erstmal unauffällig aus der Nähe angucken sollten, bevor wir irgendwelche voreiligen Schlüsse ziehen. Und wer weiß, vielleicht irren wir uns ja auch, und Lindendorf ist einfach nur fertig mit der Welt."
"Besser ist es." verkündete Venezia. "Kanndra?"
"Ja, Ma'am?" die Späherin richtete sich in ihrem Stuhl auf.
"Ich glaube es dürfte ziemlich klar sein, was heute Nacht deine Aufgabe sein wird."

* * *


Schon seit Stunden lag Kanndra auf dem flachen Metalldach eines Stalles und beobachtete das Geschehen in Lindendorfs Prothesenladen auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Seufzend überflog sie im schwindenden Tageslicht ihre Notizen. Bisher war nichts wirklich aufregendes passiert. Kunden hatten das Geschäft betreten und verlassen, oft mit einem Paket unter dem Arm [4] und einem zufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht. Ganz wie es bei Schluß- oder Räumungsverkäufen nun einmal üblich war. Gegen halb sechs hatte jemand auch das enorme, aus feinstem Zement bestehende künstliche Trollbein aus dem Schaufenster genommen, welches wenige Minuten später am Beinstumpf eines Trolls befestigt die Straße in Richtung Steinbruchweg hinuntergestapft war. Aber ansonsten- stundenlanges Warten und wenig Abwechslung. Und nicht auch nur das geringste rote Haar.
Das letzte Glühen der Sonne verschwand hinter einem Hausdach und Dämmerung senkte sich über die Straße schlauer Kunsthandwerker. Witzkekse, dachte Kanndra bei sich, als sie die Taschen ihrer Uniform nach etwas Eßbarem absuchte und schließlich ein kaltes Stück Pizza von Jovanni zu Tage förderte, in welches sie herzhaft hineinbiß. Kolumbini und Araghast hatten gut reden. Ein Perückenhändler in Materialnot. Die beiden durften ja auch nicht die gesamte Nacht auf diesem Dach verbringen und einen Laden beobachten. Als ob sich urplötzlich die Tür öffnen und jemand mit einer perfekten rothaarigen Langhaarperücke auf dem Kopf aus der Tür treten würde. Aber Bregs war eh ziemlich von der Rolle gewesen. Ob der Besuch bei Leas Verwandten wirklich so schlimm gewesen war...
Kauend beobachtete Kanndra, wie von innen Rolläden vor die Schaufenster des Ladens gezogen wurden. Kurze Zeit später erschien eine von einer Laterne beleuchtete Gestalt hinter dem Glasfenster der Tür. Na bitte, auch Herr Lindendorf machte Feierabend, dachte Kanndra und schob sich das letzte Stück Pizza in den Mund. Nur ich darf hier herumsitzen...
Das Licht im Ladenlokal erlosch.
In Gedanken stellte sich die Späherin bereits auf eine bis auf die üblichen Betrunkenen und lizenzierten Verbrechen ruhige und ziemlich langweilige Nacht ein. Vielleicht konnte sie sich ja nachher auf den Rücken legen und versuchen, ein paar Sternbilder zu erkennen. In letzter Zeit schien Groß-A'Tuin ihren Kurs zumindest halbwegs eingehalten zu haben.
Ein flackerndes Licht, vermutlich von einer Laterne, erschien in einem Fenster im Geschoß über dem Laden. Eine Silhouette schien sich über einen Tisch zu beugen und sich eingehend mit etwas zu beschäftigen. Dann führte der Schemen eine Hand zum Mund.
Kanndra lachte leise auf.
"Na dann Guten Appetit, Herr Lindendorf." flüsterte sie und versuchte, es sich wieder in der Bauchlage bequem zu machen. Langsam bereute sie es, kein Kissen mitgebracht zu haben.
Als der Händler seine Mahlzeit beendet hatte, war es bereits dunkel geworden und am wolkenlosen Himmel blitzten die ersten Sterne auf. Eine Katze auf nächtlicher Beutejagd sprang von einer Mauer auf das Flachdach und beäugte die Späherin für einen kurzen Moment aus smaragdgrünen Augen, nur um in der nächsten Sekunde wie der Blitz in einem Mauerspalt zu verschwinden.
"Du hast recht, Katze. Das Blechdach ist wirklich ziemlich heiß." Kanndra setzte sich auf und rieb sich die schmerzenden Ellenbogen. Selbst in der beginnenden Nacht schien Ankh-Morpork immer noch vor sich hinzubacken wie ein frisch aus dem Ofen genommener, schlammfarbener Pudding, für den der Koch sämtliche Lebensmittel verarbeitet hatte, deren Haltbarkeitsdatum bereits seit langem überschritten war.
Leise seufzend konzentrierte sich Kanndra wieder auf Herrn Lindendorf, welcher vermutlich soeben sein Geschirr zum Spülstein brachte.
Dann entfernte sich das Licht aus dem Zimmer und das Haus lag einmal mehr in Dunkelheit getaucht.
Doch... was war das? Ein schwaches Licht schimmerte durch die Ritzen der Jalousien des Verkaufsraumes. Lindendorf befand sich anscheinend wieder in seinem Geschäft. Ob er irgend etwas vergessen hatte?
Kurze Zeit später wurde es schwächer und erlosch schließlich ganz.
Kanndra überlegte. Wie es schien lebte Lindendorf nach dem Tod seiner Tochter allein. Also gab es niemanden anderen im Haus. Und in einem Lederbeutel an ihrem Gürtel befanden sich klimperfrei verpackt ein Bund feinster Dietriche und ein kleines Fläschchen mit Öl, welche geradezu auf die Gelegenheit ihrer Benutzung zu warten schienen. Wenn Lindendorf endlich zu Bett gegangen war spräche doch nichts dagegen, sich einmal etwas genauer in Laden und Werkstatt umzusehen. Vielleicht gab es ja auch Hinweise darauf, weshalb Lindendorf anscheinend so urplötzlich beschlossen hatte, sein Geschäft aufzugeben. Irgend etwas stimmte mit dem Händler nicht, das fühlte Kanndra.
Und dann erschien ein feines Licht am Boden. Es war lediglich ein langgestreckter Streifen, welcher scheinbar aus der Schnittgeraden zwischen der Straße und der Hausmauer hervordrang.
Alarmiert hob Kanndra die Augenbrauen. Die Position und die Intensität des Lichtes deuteten auf ein abgedunkeltes Kellerfenster hin. Doch was trieb Lindendorf dort zu nachtschlafender Zeit? Eine neue Prothese konnte er wohl kaum anfertigen wenn er gerade ängstlich darauf bedacht war, jeden Artikel seines Sortimentes loszuwerden.
Lautlos ließ sich die Späherin vom Stalldach gleiten und huschte einem Schatten gleich über die Straße. Meter um Meter schlich sie sich an das mutmaßliche Kellerfenster heran und ließ sich schließlich in die Hocke nieder.
Sie hatte sich nicht getäuscht- unter einem Metallgitter verbarg sich nebst einem etwa einen halben mal einem Viertelmeter großen Freiraum, ein von innen mit Pappe verklebtes Fenster. Doch eine der Kartonbahnen schien sich ein wenig gelöst zu haben, so daß ein schmaler Spalt des Fensters unbedeckt war. Kanndra zuckte mit den Schultern. Von hier aus bestand keine Chance zu beobachten, was Lindendorf dort in seinem Keller trieb. Ergo mußte sie irgendwie in das Haus eindringen.
Lautlos erhob sie sich und schlenderte scheinbar harmlos die Straße entlang, bis sie auf einen Durchgang zu den Hinterhöfen stieß. Die Mauern, die die kleinen Gärten voneinander trennten, waren kein Hindernis für die Späherin, und schon nach wenigen Minuten stand sie vor der Hintertür des Lindendorf-Hauses und verschaffte sich einen schnellen Überblick über die Lage.
Schließlich atmete sie erleichtert auf. Weder eine Hundehütte noch sonstige Spuren wiesen auf die Anwesenheit eines Wachhundes hin. Also durften die mit einem Betäubungsmittel gefüllten, getrockneten Schinkenstücke erst einmal in ihrem Säckchen bleiben.
Schritt für Schritt, immer im Schatten der wild wuchernden Hecke bleibend, welche den Garten schon lange übernommen zu haben schien, pirschte sich Kanndra an die Hintertür heran. Eine halbverfaulte Korbliege mit zerschlissenen Polstern stand auf der kleinen Steinfläche vor dem Haus. Die Späherin duckte sich im Schatten des Möbelstückes und unterzog die Tür im schwachen Licht der Sterne einer genauen Untersuchung. Das dunkle Holz erweckte den Eindruck, schon bessere Tage gesehen zu haben und das kleine, runde Fenster war verstaubt und mit alten Spinnweben verhangen.
Ein Sprung und Kanndra preßte sich an den Türstock.
Das Schloß schien ein handelsübliches Modell zu sein. Jedenfalls nichts womit ein eigentlich für die Diebesgilde entworfenes Dietrichmodell Schwierigkeiten haben würde, dachte Kanndra befriedigt und tastete in ihrem Beutelchen herum. Sanft drückte sie die Türklinke hinunter um herauszufinden ob sie das Ölfläschchen brauchen würde.
Und zu ihrer großen Überraschung ließ sich die Tür geräuschlos nach innen drücken.
Mißtrauisch glitt Kanndras Finger über die Angeln und ertastete frisches Öl.
Jemand mußte diese Tür kurz zuvor präpariert haben.
In ihr verstärkte sich das Gefühl, daß hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging.
Mit angehaltenem Atem schob sich die Späherin durch die Tür und zog ihren Dienstdolch, während sie ihre Augen anstrengte, um in der dahinterliegenden Dunkelheit etwas zu erkennen.
Stille umfing sie. Schemenhaft zeichneten sich die Umrisse einer Werkbank und einiger Schränke ab. Einige längliche Gegenstände baumelten von der Decke. Kanndra vermutete, daß es sich hierbei um Lindendorfs Hauptverkaufsartikel handelte und unterdrückte ein Schaudern. Künstlich hin oder her- der Gedanke an von der Decke baumelnde Körperteile war seit dem Fall Fleurope nicht gerade mit besonders angenehmen Erinnerungen behaftet.
Langsam tastete sich die Späherin durch die augenscheinliche Werkstatt. Bloß nichts umwerfen oder irgendwo gegen laufen, hämmerte es in ihrem Kopf. Ganz vorsichtig...
Schließlich hatte sie es geschafft und stand, den Rücken an der Wand und den Dolch erhoben, neben einem Durchgang. Langsam neigte sie den Kopf vor und spähte mit einem Auge um die Ecke.
Einer dunklen Höhle gleich erstreckte sich eine Art schmaler Korridor, an dessen Ende sich ein Vorhang befand. Kanndra vermutete, daß sich dahinter der Verkaufsraum befand. das hieß, irgendwo in der Wand des Korridors mußte sich eine Tür befinden, welche in ein Treppenhaus führte.
Katzengleich glitt die Späherin in den dunklen Flur und tastete sich an der Wand entlang.
Sie hatte sich nicht getäuscht: Schon nach wenigen Schritten stießen ihre Finger auf massives Holz. Vorsichtig fühlte sie weiter, den Dolch zwischen die Zähne geklemmt. Schließlich hatte sie den Griff gefunden und zog leicht daran.
Die Tür gab nicht nach.
Kein Schloß, dachte Kanndra bei sich. Also muß sie von innen verriegelt sein. Entschlossen nahm die Späherin ihren Dolch wieder in die Hand und schob die Spitze in den Schlitz zwischen Tür und Wand. Und stieß gleich auf Widerstand. Also doch ein Riegel. Behutsam justierte Kanndra ihren Dolch und schob ihn schließlich nach oben.
Ein leises Klicken ertönte und die Tür schwang widerstandslos auf.
Kanndra spähte in den Raum dahinter. Eine steile Stiege führte nach oben und eine schmale Steintreppe wand sich abwärts. Von unten erhellte ein schwacher Lichtschein das ansonsten völlig finstere Treppenhaus.
Schnell schlüpfte die Späherin durch die Tür und verriegelte sie sorgfältig wieder hinter sich. Dann begann sie, sich Schritt für Schritt die Treppe hinabzutasten.
Unten angekommen erblickte sie ein unvorstellbares Chaos. Metallstäbe, Holzplatten, halbe Baumstämme- jemand schien in diesem Raum sein ganz persönliches Rohstofflager aufgebaut zu haben. Ein breiter Lichtstrahl drang durch eine Lücke zwischen dem Boden und einer Tür an der entgegengesetzten Seite des Raumes.
Vorsichtig, um ja nichts umzustoßen, schlich Kanndra auf die Tür zu, legte sich flach auf den Boden und warf einen Blick durch den Spalt.
Vor etwas, was vermutlich eine Art Arbeitstisch darstellen sollte, stand der in einen weißen Laborkittel gehüllte Unterleib eines Menschen.
"Endlich ist es soweit." flüsterte eine heisere, männliche Stimme, nur um gleich darauf in unverständliches Murmeln zu verfallen.
Kanndra strengte ihre Sinne an, um etwas zu verstehen. Vereinzelte Wortfetzen drangen an ihre Ohren.
"...Rache... Auf ewig mein... deines Mörders..."
Oh jemine... Innerlich verdrehte Kanndra die Augen. Dieser Lindendorf schien ja wirklich einige Sorgen zu haben. Ein Gespräch mit Bregs würde ihm sicher mehr als gut tun. Sie erinnerte sich an Geschichten von verrückten Wissenschaftlern in Überwald, die die seltsamsten Dinge zusammenbauten, und war sich sicher, in diesem Moment das morporkianische Gegenstück gefunden zu haben.
"Lisaweta!" Ein erstickter Schluchzer entwich der Kehle des Prothesenbauers. "Endlich habe ich dich wieder! Oh Cori Celesti! Mein Augenstern! Mein über alles geliebtes Kind!"
Der Laborkittel trat einen Schritt beiseite und ein leises Rauschen erfüllte den Raum.
Ein Laken segelte zu Boden und verdeckte einen Teil von Kanndras Gesichtsfeld. Lautlos kroch die Späherin weiter in Richtung Türangeln und hoffte inständig, daß Lindendorf nicht urplötzlich auf die Idee kommen würde, den Kellerraum zu verlassen.
Ein scharrendes Geräusch verdrängte ihre Gedanken. Es klang, als ob jemand eine Feder mit Hilfe eines Urwerkes spannen würde.
Und dann erfüllte ein leises Ticken den gesamten Keller.
Kanndras Kinnlade klappte vor Erstaunen herunter.
Ein metallenes Bein, umhüllt von der transparenten, weißen Spitze eines Nachthemdes, schob sich über den Rand des Arbeitstisches. Wenige Sekunden später folgte das zweite. Das leise Geräusch sich aneinander reibender, gut geölter Metallplatten untermalte das Schauspiel während das Uhrwerk weiter unerbittlich tickte.
"Wundervoll!" Ein entrückter Tonfall schwang in der Stimme des Prothesenbauers mit.
Der weißgekleidete Unterleib bewegte sich auf die beiden blechernen Beine zu, hob das metallne Gebilde von der Werkbank hinunter und stellte es ab.
"Und nun lauf!" rief Lindendorf glückselig aus.
Zu Kanndras Entsetzen hob die künstliche Gestalt tatsächlich ein Bein, streckte das Knie und verlagerte ihr Gewicht. Noch ein Schritt. Und noch einer...
Urplötzlich verklang das Ticken und das metallene Wesen verharrte abrupt mitten in der Bewegung.
"Herrje, das Uhrwerk."
Wieselflink lief der Prothesenbauer um seine Schöpfung herum und dem Klang nach schien es, als ob der Mechanismus erneut aufgezogen wurde.
"Morgen!" flüsterte Lindendorf. "Morgen wird die Seele zu dir kommen. Und dann bist du endlich wieder mein, Lisaweta!"
Ein leises Pochen über ihrem Kopf ließ Kanndra ruckartig auffahren. Hastig kam sie auf die Beine und duckte sich zwischen das Gerümpel. Das Ticken des Mechanismusses, welcher die künstliche Kreatur des Prothesenmachers am Leben hielt, klang gedämpft zu ihr herüber.
Angestrengt lauschte die Späherin in die Dunkelheit und versuchte, die Geräusche, die aus dem Laborraum drangen, zu ignorieren. Hatte sie doch recht gehabt? Befand sich außer ihr und Lindendorf doch noch jemand im Haus, jemand, der vor ihr die Hintertür geöffnet und bereits irgendwo im Gebäude gewesen war, als sie eindrang?
Kalter Schweiß bildete sich auf Kanndras Stirn, während sie lautlos ihre Mini-Armbrust spannte und einen der handlangen Bolzen einlegte. Jetzt galt es nur noch, hier unbemerkt hinauszukommen. Sie hatte gesehen, was es zu sehen gab.
Ein leises Scheppern über ihr ließ ihre Nackenhaare zu Berge stehen. Offenbar war oben im Laden oder in der Werkstatt jemand im Dunklen gegen etwas gestoßen und hatte es heruntergeworfen.
Mit wenigen Sätzen war Kanndra an der Treppe und spähte mit zusammengekniffenen Augen in das finstere Treppenhaus. Nichts schien sich zu rühren.
Schritt für Schritt stieg die Späherin die Stufen hinauf und hielt immer wieder inne, um angestrengt zu lauschen. Doch wer auch immer dort in Ladenlokal und Werkstatt herumschlich, schien aus seinem Zusammenstoß gelernt zu haben und sah sich vor. Das leise Ticken des Uhrwerkes aus Lindendorfs Kellerlabor drang knapp oberhalb der Grenze des Wahrnehmbaren an ihr Ohr und verklang schließlich. Offenbar war die Feder wieder einmal abgelaufen.
Schließlich stand Kanndra neben der verriegelten Tür, welche in die Räumlichkeiten des Erdgeschosses führte, und atmete tief durch. Der erste Teil der Flucht war geglückt. Langsam hob sie ihre Waffe und preßte sich so flach wie möglich an die Wand neben der Tür. Mit der freien Hand tastete sie nach dem Riegel.
Ein Ruck erschütterte die Tür in ihren Angeln.
Kanndra schrak zurück und war gleichzeitig außerordentlich froh darüber, daß sie auf dem Hinweg geistesgegenwärtig genug gewesen war, den Riegel wieder vorzuschieben. Doch andererseits saß sie nun in der Falle. Und der einzige andere Fluchtweg, nämlich zum vorderen Kellerfenster hinaus, führte geradewegs durch das Zimmer in dem sich Lindendorf immer noch an seiner mechanischen Kreatur erfreute. Fieberhaft überlegte die Späherin. Was tun? Beinahe automatisch fuhr sie mit der Hand den Spalt zwischen Tür und Wand herab bis sie den Riegel gefunden hatte und preßte ihn mit aller Kraft nach unten.
Keine Sekunde zu früh: Ein schabendes Geräusch verkündete, daß der Trick, Riegel mit schmalen Gegenständen hochzudrücken nicht nur ihr bekannt war und schon spürte sie eine Kraft, die dem Druck ihrer Hand entgegenwirkte. Gleichzeitig erklang ein leises Schnaufen jenseits der Tür, als wäre jemand überrascht, auf Widerstand zu stoßen.
Und so begann das stumme Ringen um die Position des Riegels. Kanndra mit ihrer Hand besaß den klaren Vorteil, daß sie, da sie von oben drückte, in der Lage war, ihr Körpergewicht einzusetzen, während ihr Gegenüber den längeren Hebelarm besaß.
Doch urplötzlich ließ der Druck nach.
Mißtrauisch verharrte Kanndra in ihrer Position wohl ahnend, daß ihr Gegner es gleich mit einem urplötzlichen schwungvollen Angriff versuchen würde.
Doch nichts dergleichen geschah. Auf der anderen Seite der Tür schien sich nichts zu rühren.
Kanndra runzelte die Stirn. Irgend etwas führte ihr Gegner im Schilde, das spürte sie.
Und dann, ohne Vorwarnung, wurde der Riegel mit einer Macht nach oben gerissen, der Kanndra nichts entgegenzusetzen hatte. Die Späherin taumelte in Richtung der Treppe zum ersten Stock und richtete geistesgegenwärtig ihre Armbrust auf die Tür. Ein vertrauter Geruch stach ihr in die Nase. Es roch leicht nach schmierigem Metall.
Magie, schoß es Kanndra durch den Kopf während sie sich so gut wie möglich in eine dunkle Nische drückte und sich Mühe gab, die Umrisse der Tür auszumachen. Was bei allen Göttern hatte ein Magier hier mitten in der Nacht verloren?
Doch weiter kam sie nicht.
Mit einem Ruck wurde die Tür aufgerissen und eine kleine, hagere Gestalt, den Hut tief ins Gesicht gezogen, stand im Rahmen. Ein Feuerball flammte in ihrer Hand, und ließ ein paar dicker Brillengläser funkeln. Eine Schrecksekunde starrten sich die beiden an.
Dann holte der Unbekannte aus und warf den Feuerball.
Reflexartig schoß Kanndra ihre Armbrust ab und duckte sich, während das magische Geschoß lautlos an der steinernen Wand zerplatzte und ein schwärzliches Mal zurückließ.
Als sie den Kopf hob, war die Gestalt verschwunden und eilige Schritte entfernten sich durch die Werkstatt.
Mit einem Satz war die Späherin wieder auf den Beinen und stürmte los. Gerade als sie den Vorhang erreicht hatte, der die Werkstatt vom Korridor trennte, hörte sie die Hintertür zuschlagen.
Erleichtert atmete Kanndra auf. Zumindest hieß es, daß er ihr nicht mehr zwischen den Prothesen auflauern konnte.
Ein Magier in Lindendorfs Haus, just zu dem Zeitpunkt als dieser damit beschäftigt war, eine absonderliche mechanische Kreatur auszutesten, überlegte sie, als sie sich einem Schatten gleich aus dem Haus stahl. Das roch ja geradezu nach einer seltsamen Geschichte. Verdacht des Haardiebstahls hin und her- der Sache mußte auf jeden Fall nachgegangen werden, selbst wenn das Ganze mit dem eigentlichen Fall rein gar nichts zu tun hatte. Dafür war es einfach zu interessant- und seltsam.


MONTAG, 5. GRUNI


Man beachte, daß zukünftige Schwiegereltern seit jeher unter einem Komplex leiden, der auch als das Jewgenilaus-Syndrom bekannt ist. Dieses zeigt sich besonders deutlich bei Töchtern. Da Mädchen von jeher als besonders schutzbedürftig gelten, wird der Mann, der in Zukunft die Aufgabe übernehmen wird, die Tochter zu ernähren, einigen besonders kritischen Tests unterzogen. Ein Verhalten, welches noch aus Urzeiten stammt, als der Kampf um das Überleben in der Wildnis noch alltäglich war. Des weiteren wecken besonders Töchter in den väterlichen Köpfen einen Beschützerinstinkt, da sie oft eine besonders starke Bindung zu ihnen besitzen. Und ihr ein und alles an einen fremden Mann herzugeben fällt Vätern naturgemäß sehr schwer...
Genervt knallte Araghast den Sigmund Leid zu, so daß Havelock erschrocken von der Schreibtischplatte aufflatterte.
"Meine Güte, was verzapft dieser Mann bloß für einen Mist." teilte er seiner Papageiendame und der Welt im allgemeinen mit. "Der hätte gestern mal dabei sein sollen, da hätte er gleich Stoff genug für drei neue Bücher gehabt. Schwiegerfamilien in spe... schlimmer als die tsortanischen Pocken."
"Liebeskummer?" ätzte eine Stimme aus der Richtung des Rohrpostkorbes.
Araghast seufzte. Aaps. Der hatte ihm nun gerade noch gefehlt.
"Was gibts?" fragte er resigniert.
Der Dämon streckte ihm einen zerknitterten, mit Würstchenfett verschmierten Zettel hin.
"Von eurer Obermotzin." erklärte er. "Schien dringend zu sein so wie sie mich angebrüllt hat."
"Na dann mal her damit." Araghast entriß Aaps, der, lauthals über rabiate Wächter schimpfend, wieder in seiner Röhre verschwand, die Nachricht und faltete sie auseinander.
Achtundzwanzig Sekunden später stand er im Büro seiner Schäffin.

"Eine Art mechanische Puppe?" fragte Rina Lanfear ungläubig.
Kanndra nickte. "Ich konnte es auch erst nicht glauben. Aber wer weiß wozu so ein Prothesenbauer fähig ist. Angetrieben wurde sie den Geräuschen nach vermutlich durch eine Art Uhrwerk."
"Und dann Lisaweta und Cori Celesti." Venezia sah von dem Zettel auf, auf dem sie sich während des Berichtes der Späherin eifrig Notizen gemacht hatte. "Frage ist: Wer sind die beiden? Und was will er mit dieser Puppe genau?"
"Vielleicht hat er gebetet." vermutete Araghast. "Cori Celesti ist ja immerhin der Wohnsitz der Götter."
"Das klang nicht nach einem Gebet." erklärte Kanndra. "Ich habe ja ungefähr erzählt was er gesagt hat."
"Also ich würde sagen er hat versucht, seine verstorbene Tochter nachzubauen." meldete sich Kolumbini zu Wort. "Und die Sache mit der Seele- vielleicht ist er ja morgen mit seinem Werk fertig. Aber daß er behauptet hat, daß sie ermordet wurde..."
"Im Archiv habe ich keine Anzeige gefunden." Kanndra zuckte mit den Schultern. "Vermutlich hat er sich da einfach in etwas reingesteigert."
Araghast schüttelte den Kopf.
"Der scheint ja auch dringend nen Püschologen nötig zu haben." bemerkte er bissig.
"Schön." Venezia strahlte ihn an. "Dann haben wir ja gleich einen Freiwilligen, der Lindendorf mal ein wenig auf den Zahn fühlen kann. Vergiß den Offenbach-Kram mal für eine Weile. Das hier scheint dringender zu sein, nachdem was Kanndra da gestern Nacht erlebt hat. Ich glaube, ich lasse den Laden vorläufig erst einmal unter Beobachtung stellen."
"Was wollte ein Magier bei Lindendorf?" fragte Rina. "Die Puppe vielleicht?"
"Wer weiß." Venezia marschierte über ihren Schreibtisch und krabbelte auf die Schulter der RUM-Abteilungsleiterin. "Vielleicht auch nur eine Prothese zum Nulltarif."
"Er war klein, dürr und trug eine Brille." warf Kanndra ein. "Viel mehr konnte ich auch nicht erkennen. Aber er schien mir noch alle Körperteile zu haben."
"Also gut." Rina sah zu Kolumbini. "Von dir hätte ich gerne im Laufe des Tages einen groben Überblick über den Finkenstein-Fall." Sie seufzte leise. "Und all das nur wegen ein paar geklauten Haaren."
"Na dann wollen wir mal sehen was Lindendorf so zu bieten hat." Araghast erhob sich. "Und mal schauen. Vielleicht nehme ich mir ja doch noch so ein Glasauge mit. Wenn Rogi es mir einbaut, siehts bestimmt nicht schlecht aus."

* * *


Das Schaufenster von Lindendorfs Prothesen hatte sich im Vergleich zu Vorgestern bereits merklich geleert und ein barbarischer Held marschierte breit grinsend und fröhlich ein paar falscher Vorderzähne befingernd an ihm vorbei, als Araghast den Laden betrat.
Als er durch das Geschäft schlenderte, fiel dem Püschologen auf, daß auch die Regale bereits einiges an Last eingebüßt hatten. Erstaunlich, daß es in Ankh-Morpork scheinbar einen ziemlich großen Markt für Prothesen gab. Doch irgendwie machte es Sinn. Es brauchte nur einen betrunkenen Zwerg mit einer großen Axt und einer Menge Wut im Bauch weil einem zufällig gerade das Wort Rasenschmuck herausgerutscht war. Und schon hatte Lindendorf wieder einen neuen Kunden.
Und da lag es auch schon auf seiner Samtunterlage und starrte den Püschologen unbewegt an. Ein perfektes Glasauge mit smaragdgrüner Iris. So ähnlich seinem eigenen, welches er vor mittlerweile fünfeinhalb Jahren eingebüßt hatte. Und es war Räumungsverkauf. Vielleicht würde er es sich doch leisten können... In Gedanken überschlug er seine bescheidenen Finanzen. Aber andererseits suchte er so etwas schon seit langem. Was sollte es...
Entschlossen hob er das Glasauge von seiner Unterlage und marschierte in Richtung Verkaufstisch, der zu seiner Erleichterung bis auf den Händler verlassen war. Vielleicht würde er eher etwas aus ihm herausbekommen wenn er wirklich vorgab, ein Kunde zu sein.
"Ah, der Herr Wächter." begrüßte ihn Lindendorf. Sein Gesicht wirkte blaß und übernächtigt. "Hat das Fräulein Leonata ihre Prothese bekommen?"
Araghast nickte.
"Und sie findet es äußerst schade, daß Sie die Stadt verlassen wollen." fügte er im Plauderton hinzu. "Sie meinte, Ihre Prothesen seien die Besten."
"Ja." Lindendorf schien geradewegs durch ihn hindurchzustarren. "Aber ich kann diese Stadt nicht mehr sehen." erklärte er. "Es ist wie ein Gewicht, verstehen Sie? Ich habe einfach das Gefühl, Ankh-Morpork erdrückt mich."
Bregs senkte seine Stimme.
"Ist es wegen Ihrer Tochter?" fragte er leise. "Lea hat es mir erzählt."
"Wie?" Der Prothesenbauer zuckte zusammen. "Wegen meiner...? Geht Sie das etwas an?"
"Ich bin Püschologe." erklärte Araghast und legte das Glasauge auf den Tresen. "Und es ist mehr oder weniger mein Beruf, Leuten wie Ihnen zuzuhören und ihnen so gut wie möglich zu helfen. Also, was ist mit ihrer Tochter passiert?"
Lindendorf sackte merklich in sich zusammen. Er erweckte den Eindruck, von einer Minute zur anderen um Jahre gealtert zu sein.
"Sie war schwer krank, genau wie ihre Mutter." begann er schließlich leise zu erzählen. "Irgend etwas mit einer schwachen Lunge, das arme Kind. Und sie liebte die Musik so sehr. Sängerin wollte sie immer werden. Doch das verwehrte ihr ihre Krankheit. Und vor zwei Jahren begann das Unglück. Ein junger Vampir sah sie bei einer seiner nächtlichen Rundflüge am Fenster ihres Zimmers stehen und verliebte sich in sie. Er war bezaubert von ihrer Stimme und schrieb unzählige Lieder und Gedichte für sie, Lieder die sie niemals hätte singen dürfen. Sie kennen den Meister der Puppen? Den hat er ursprünglich nur für sie geschrieben. Und doch sang sie für ihn. Mehr als einmal wäre sie beinahe erstickt." Lindendorf unterbrach sich und schnäuzte sich lautstark in ein rotgepunktetes Taschentuch. "Und dann kam die Nacht, in der sie starb." fuhr er mit erstickter Stimme fort. "Ich erwachte, weil ich glaubte, Geräusche gehört zu haben. Ich lief hinauf in das Zimmer meiner Tochter und fand sie auf dem Boden. Erstickt. Und vor ihr kniete ihr unsäglicher Liebhaber. Verflucht sei die Nacht, in der Jakob von Offenbach meine Lisaweta ermordete!"
Lindendorf wandte sein tränenüberströmtes Gesicht dem Püschologen zu. "Er verwandelte sich in eine Fledermaus und floh. Ich lief los um Doktor Sandmann zu holen, doch der konnte auch nur noch ihren Tod feststellen. Und nun liegt mein Kind dort auf dem Friedhof der geringen Götter, einsam in der kalten Erde. Gerade einmal sechzehn Jahre hat ihr das Schicksal gegönnt."
"Moment." hakte Araghast nach. "Sagten Sie gerade Doktor Sandmann?"
Der Prothesenbauer nickte. "Doktor Mario Sandmann. Er hat sich immer rührend um mein Kind gekümmert und teilweise schien es ihr sogar etwas besser zu gehen."
"Ahja." Araghast speicherte diese Information in seinem Gehirn ab. "Interessant." murmelte er. "Jakob von Offenbach also. Vor wenigen Tagen erst wurde ein todtrauriges Liebesgedicht aus seiner Feder eben auf dem Friedhof der geringen Götter gefunden. Und seitdem hat ihn niemand mehr gesehen. Er muß die Stadt vermutlich auch verlassen haben, um seinen Kummer über das, was er angerichtet hat, irgendwo anders zu lindern."
"Ja, ja, das wird er wohl." antwortete Lindendorf beiläufig und hantierte in den Tiefen seines Verkaufstresens und legte schließlich eine gerahmte Ikonographie auf die Platte.
"Das hier ist meine Lisaweta."
Araghast betrachtete das Bild. Ein bleiches, junges Mädchen schien ihn aus großen, blauen Augen anzublicken. Ihr Gesicht wurde von einer Masse schweren, feuerroten Haares eingerahmt.
Rotes Haar...
Und Stück für Stück begann sich das Puzzle in Bregs' Kopf zusammenzusetzen.
Der scheinbar so sinnlose Überfall auf Fräulein Finkenstein und der Diebstahl der Haare. Die Puppe. Das Ebenbild Lisawetas. Natürlich. Dafür könnte er das rote Haar gebraucht haben.
Araghast wußte, daß er dringend mit Kolumbini würde reden müssen.
Mit einem Lächeln reichte er die Ikonographie zurück.
"Es tut mir wirklich leid für Sie." sagte er aufrichtig.
Lindendorf murmelte etwas Unverständliches und verstaute das Bild wieder in den Tiefen seines Tresens.
"Ach ja übrigens, und dieses Glasauge würde ich gern mitnehmen." lächelte Bregs und hielt das Objekt seiner Begierde in die Höhe.
Wenige Minuten später verließ er Lindendorfs Prothesen um sieben Ankh-Morpork-Dollar ärmer, dafür aber um eine Menge wichtiger Informationen und ein Glasauge reicher.

* * *


"Das ist ja hochinteressant." nickte Kolumbini in seinem Büro zufrieden, nachdem Araghast seinen Bericht beendet hatte. "Vor allem der Teil, der seine Tochter betrifft. Und Offenbach... vielleicht läßt sich sein Verschwinden ja wirklich damit erklären, daß er fortgegangen ist."
"Aber was machen wir jetzt?" fragte Araghast. "Wir können Lindendorf doch nicht einfach auf Verdacht festnehmen."
"Aber wir können heute Abend, nachdem er geschlossen hat, ihm einmal mit einiger FROG-Verstärkung einen Besuch abstatten und eine Erlaubnis zur Hausdurchsuchung mitbringen. Da kann er bestimmt keine Puppen mehr vor uns verstecken."

* * *


Das leise Kratzen einer Feder auf einem Stück Pergament war das einzige Geräusch, welches den kleinen Keller erfüllte. Die hagere, gebeugte Gestalt, welche dem Leser bereits einige Seiten zuvor begegnet war, saß im schwachen Schein einer Öllampe an einem Tisch und schrieb mit höchster Konzentration. Das Licht spiegelte sich in ihren Brillengläsern wieder. Ein genauer Beobachter hätte erkennen können, daß eines der Gläser einen Sprung aufwies.
Schwarze Tinte strömte auf das Pergament und nach und nach erschienen vier Namen, fein säuberlich untereinander geschrieben. Ein bösartiges Lachen spielte um den Mund des Schreibers, als er seine Schreibhand anhob und an den unteren Rand des Pergamentes einen weiteren Namen schrieb.
Dann legte er die Feder beiseite und griff in die Tasche seiner Weste. Die scharfe Klinge eines Skalpells glitzerte, als er die Liste und den einzelnen Namen ausschnitt und sie neben eine Schriftrolle legte, die ebenfalls auf dem Tisch Platz gefunden hatte.
Im Hintergrund blubberte die alchemistische Apparatur lautlos vor sich hin.
Der Mann erhob sich und, wie bereits Tage zuvor, befreite er das ledergebundene Buch aus seinem Versteck.
Heute Nacht würde es endlich so weit sein. Nur noch ein kleiner Schritt trennte ihn von seinem Ziel. Sein Meister würde ihn fürstlich entlohnen wenn er zurückkehrte und erfuhr, daß sein Diener mittlerweile einen Großteil der Hindernisse aus dem Weg geräumt hatte, die ihn noch von der Erfüllung seiner Wünsche trennten. Und das Beste an der Sache war: In dieser Nacht war er sogar willkommen...
Schmerzhaft verzog sich sein Gesicht, als das Gewicht des Buches seine linke Schulter belastete und voller Zorn dachte er an die junge Frau, die für die Verletzung verantwortlich war. Eine plötzlich aufgetauchte Unbekannte in seinem perfekt ausgearbeiteten Plan. Wer war sie und wo kam sie her? Nun, für heute würde er Vorkehrungen gegen solche Zwischenfälle treffen. Nur noch eine halbe Stunde und die Destillation des Betäubungs-Elixiers würde beendet sein. Genau wie diejenige des Mittels, welches die Wirkung des Elixiers für einige Zeit neutralisierte.
Doch bevor er zu seinem endgültigen Vorhaben schreiten konnte, mußte er sichergehen, daß sein Plan auch wirklich funktionierte.
Und dazu bot sich der Name auf dem kleineren der beiden Pergamentstücke geradezu an.
Eine geräumige Ledertasche stand auf einem Stuhl bereit. Beinahe zärtlich ließ der Mann das Buch hineingleiten. Dann griff er nach der Schriftrolle und legte sie ebenfalls hinein. Die beiden beschrifteten Pergamentstücke schob er in seine Westentasche, in der auch das Skalpell wieder Platz gefunden hatte.
Schon bald konnte der Tanz beginnen.

* * *


Zu fünft standen sie in der Straße schlauer Kunsthandwerker, gegenüber dem völlig dunklen Geschäft des Prothesenbauers Lindendorf. Oberleutnant Venezia Knurblich saß auf der Schulter Araghast Breguyars und ging im Kopf noch einmal die Vorgehensstrategie durch, während Valdimier van Varwald vorsichtshalber seine beiden Pistolenarmbrüste spannte.
"Also im Erdgeschoß haben wir die Werkstatt hinten und den Verkaufsraum vorne, verbunden durch einen Korridor in dem sich, wie gesagt, die Tür zum Keller befindet." erklärte Kanndra flüsternd die Lage. "Um hintenrum reinzukommen muß man allerdings erst ein paar Häuser weiter durch die Einfahrt durch die Hinterhöfe."
"Erst einmal schauen wir uns seinen Keller an." entschied Venezia. "Und es wäre gelacht, wenn wir da wirklich eine komplette Metallpuppe mit den Haaren Katja Finkensteins finden würden. Zumal in Gold Moons Observationsbericht stand, daß sie das letzte Licht da unten gesehen hat, bevor es dunkel wurde."
"Schön wäre es zumindest." bemerkte Kolumbini trocken. "Dann könnte ich den Fall endlich zu den Akten legen."
"Also dann mal los." nickte Venezia und zupfte Araghast leicht am Zopf. "Dein Part."
Der Püschologe atmete tief durch und schritt über die Straße auf die Tür des Ladens zu und verfluchte im Stillen den Plan, den Prothesenbauer in Flagranti zu ertappen. Wäre es nicht viel einfacher gewesen, ihn gleich am Nachmittag aufgrund dringenden Verdachtes des Haardiebstahls vorläufig festzunehmen?
Zumal nicht einmal aus dem Kellerfenster auch nur der geringste Lichtschimmer drang. Und was war, wenn sich Lindendorf mitsamt seiner Schöpfung heimlich durch den Hinterausgang aus dem Staub gemacht hatte? So tüchtig Gold Moon als Späherin auch sein mochte, sie konnte jeweils nur eine der beiden Türen zur Zeit beobachten. Mit Schaudern dachte Bregs an seinen Auftritt im Geschäft des Prothesenmachers am Mittag. Lindendorf mochte verrückt sein, aber er hatte nicht den Anschein erweckt, dumm zu sein. Und ganz bestimmt war er in der Lage, zwei und zwei zusammenzuzählen.
Ob er Kanndras Begegnung mit dem unbekannten Magier mitbekommen hatte? Araghast hatte es nicht gewagt, nach ungewöhnlichen Vorkommnissen zu fragen. Zu groß war die Gefahr gewesen zuzugeben, mehr zu wissen, als es eh schon den Anschein hatte.
"Versuchen wir es erstmal mit der Klingel." flüsterte ihm Venezia ins Ohr. "Falls er versucht, durch die Hintertür zu entkommen, wird er geradewegs Zaddam und Sidney in die Arme laufen."
Was man ihm lieber nicht wünschen sollte, dachte Araghast bissig und zog an der Klingelschnur.
Das Läuten einer Glocke schallte unüberhörbar durch das ganze Haus.
"Also wenn uns gleich die Puppe aufmacht, lach ich mich krank." kommentierte der Püschologe. "Vielleicht hat Lindendorf es sogar geschafft, ihr irgendwie einen echten Igor-Akzent einzubauen."
"Es ist ja auch vermutlich vom Prinzip her so etwas ähnliches wie ein Igor- nur aus Metall und mit eingebautem Uhrwerk." Ein leises Rascheln auf seiner Schulter verkündete Araghast, daß seine Schäffin sich anschickte das zu tun, was sie meistens tat um eine Wartepause zu überbrücken: Sie wickelte eines von Schnappers Würstchen aus seiner Verpackung und begann zu essen.
Araghast gab sich Mühe, den unverkennbaren Geruch der ihm in der Nase kitzelte und Erinnerungen an gewisse Zutaten über die er lieber nicht Bescheid wissen wollte weckte, zu ignorieren und schielte mit zusammengekniffenem Auge durch das Milchglasfenster der Tür.
Der Verkaufsraum war und blieb dunkel und leer.
"Na dann..." seufzte Bregs und zog erneut, dieses Mal um einiges energischer, an der Klingel. Der Lärm, der daraufhin durch das dunkle Haus schallte, schien den gewünschten Effekt zu erfüllen- wenige Sekunden nachdem das Läuten verklungen war wurde im Nachbarhaus ein Fenster aufgerissen und eine weibliche Stimme keifte etwas von wegen nächtlicher Ruhestörung und daß sie beim nächsten Mal die Wache holen würde.
"Wenn die wüßte, daß wir die Wache sind..." bemerkte Venezia kauend.
Doch auch nach mehreren Minuten Wartezeit zeigte sich nicht die geringste Spur Lindendorfs.
"Meine Güte hat der einen Schlaf." Kanndra war an die beiden vor der Tür Wartenden herangetreten.
"Wer weiß. Vielleicht hat er ja irgendwas geschluckt um besser schlafen zu können." vermutete Araghast und zuckte mit den Schultern, was seine Vorgesetzten mit leichtem Unmut quittierte, da sie urplötzlich um einige Zentimeter angehoben und wieder abgesenkt wurde.
"Gehen wir rein." kommandierte sie knapp und beförderte die leere Würstchenpelle mit einem gezielten Wurf in den Straßengraben.
Kanndra nickte und machte sich mit ihrem Dietrichsortiment am Schloß zu schaffen. Etwa fünfundvierzig Sekunden später öffnete sich die Tür mit einem leisen Klicken.
Möglichst leise und darauf bedacht, nicht mit der Ladeneinrichtung zu kollidieren, betraten die fünf Wächter den Verkaufsraum.
"Hallo?" rief Araghast leise. "Herr Lindendorf? Sind Sie hier?"
Und plötzlich erhellte ein schwacher Lichtschein den Laden. Kolumbini hatte in den Tiefen seines ominösen Mantels eine Lampe gefunden und diese angezündet.
Reflexartig zuckte Valdimier zusammen und suchte mit seinen Augen blitzschnell den Raum nach verräterischen Schatten ab. Die trotz des Räumungsverkaufes immer noch in reichlicher Zahl von der Decke hängenden Prothesen irritierten ihn leicht und beinahe hätte er eine seiner Armbrüste auf ein lebensgroßes Modell des menschlichen Körpers abgeschossen, welches in dem schummerigen Licht täuschend echt wirkte.
Verwirrt schüttelte er den Kopf. Wie kam jemand bloß darauf, künstliche Körperteile zu verkaufen, wo es für derartige Fälle doch allzeit bereite und in Ankh-Morpork vermutlich chronisch unterbeschäftigte Igors gab? In seiner alten Heimat Überwald zumindest wäre ein Geschäft wie dieses unweigerlich bereits nach wenigen Wochen pleite gegangen. Dort bevorzugte man organische Ersatzteile.
"Niemand hier." stellte Venezia währenddessen fest und wies auf den Vorhang, der hinter dem verlassenen Verkaufstresen hing. "Gehts dort zur Werkstatt und zum Keller?"
Kanndra nickte, trat um den Ladentisch herum und lauschte angestrengt.
"Nichts." verkündete sie nach einer Weile und die Wächter traten in den von Kolumbinis Lampe spärlich beleuchteten Korridor.
"Hände hoch!" rief plötzlich eine nur allzu vertraute Stimme. "Oder wir schießen!"
Die fünf schraken zusammen. Doch dann begann Venezia, leise zu lachen.
"Wir sinds, Sid!" rief sie in Richtung Werkstatt. "Ist bei euch irgendwas passiert?"
"Nichts, Ma'am." kam es zurück, dieses Mal mit der Stimme von Zaddam. "Abgesehen davon, daß die Hintertür nicht mal abgeschlossen war."
"Schon wieder?" fragte Kanndra verwundert. "Also entweder scheint Lindendorf es andauernd zu vergessen sie abzusperren, oder..."
"...der Magier ist wieder hier." beendete Araghast den Satz.
"Dann hat er bestimmt auch schon längst mitbekommen, daß wir ebenfalls hier sind, bei dem Spektakel, das wir eben veranstaltet haben." kommentierte Kolumbini trocken. "Und muß dann entweder in den Keller oder in die oberen Stockwerke geflohen sein. Natürlich gesetzt der Fall, daß er überhaupt hier ist." fügte er nach kurzer Pause hinzu.
Venezia nickte Valdimier zu und wies auf die Tür, die unübersehbar mitten in die Korridorwand eingelassen war.
"Ziehen." sagte Kanndra kurz.
Behutsam streckte der Vampir seine Hand nach dem Türgriff aus und zog mit einem leichten Ruck.
Die Tür schwang einen Spaltbreit auf.
Valdimier justierte seine Armbrüste, riß die Tür auf und sprang in den Raum dahinter.
"Die Luft ist rein." erklang seine Stimme kurze Zeit später.
"Schön." Venezia nickte zufrieden. "Kolumbini, Bregs und Kanndra, ihr kommt mit mir in den Keller." befahl sie. "Val, du schaust dich mal oben um."
Lautlos verschwand der Vampir auf der Treppe die nach oben führte und der Rest der Gruppe machte sich an den Abstieg.
Sie passierten die Kellertreppe ohne Zwischenfälle und am unteren Ende angekommen zeigte Kanndra auf die geschlossene Tür am anderen Ende des mit Gerümpel angefüllten Raumes.
"Dort müßte die Puppe liegen." erklärte sie flüsternd.
Vorsichtig, um ja nichts umzustoßen, schlichen die vier auf die Tür zu, obwohl eine innere Stimme ihnen sagte, daß sie eigentlich gar nicht mehr leise zu sein brauchten.
Schließlich klopfte Araghast energisch an das dunkle Holz.
"Herr Lindendorf." verkündete er. "Hier spricht die Ankh-Morpork Stadtwache. Wir wissen, daß es Ihnen zur Zeit püschisch nicht besonders gut geht und daß der Diebstahl der Haare Katja Finkensteins vermutlich in einer Art Wahnzustand geschah. Deshalb möchten wir unbedingt mit Ihnen reden, um den Fall endlich aufzuklären. Sein Sie vernünftig, Herr Lindendorf. Es ist nur zu Ihrem Besten."
"Nette Ansprache." flüsterte Venezia dem Püschologen ins Ohr. "Aus welchem Buch hast du die auswendig gelernt?"
"Eddie Wollas, der Hexer von Ankh Band 14." gab Bregs zurück. "Dort wird der entsprechende Wächter allerdings gleich darauf von einem Tentakelwesen aus den Kerkerdimensionen verschlungen, das urplötzlich durch die Tür bricht."
Hinter seinem Rücken verdrehte Kanndra stumm die Augen.
"Vielleicht sollten wir einfach reingehen und ihn festnehmen." schlug Kolumbini vor. "Falls er überhaupt da drin ist, was ich arg bezweifle."
"Na dann los." nickte Venezia und Araghast stieß die Tür auf, deren Schwung schließlich lautstark von einem Haufen Blech gebremst wurde, welches scheppernd zu Boden fiel.
"Tschuldigung." flüsterte der Püschologe und auf seinem Gesicht machte sich ein betretener Ausdruck breit. "Ich hab nicht gedacht, daß offen war..."
Kolumbini hob seine Lampe und schwaches Licht erhellte das angrenzende Zimmer.
Es schien ebenfalls eine Art Werkstatt darzustellen. Ein großer Tisch stand unübersehbar in der Mitte des Raumes und nahm den meisten Platz ein. Des weiteren säumten mit Werkzeugen, Schrauben und diversen Metallteilen angefüllte Regale die Wände. Das kleine Kellerfenster war bis auf einen kleinen Spalt am oberen Rand mit Pappe verklebt worden. Von einer lebensgroßen, mechanischen Metallpuppe mit rotem Haar fehlte jede Spur.
Und dann bemerkten die Wächter die Gestalt, die reglos in einer dunklen Pfütze auf dem Boden unter dem Tisch lag, eine zerbrochene Brille neben sich.
"Verdammt!" rief Kanndra aus und war mit einem Satz unter dem Tisch. Kolumbini folgte mit der Lampe, während Araghast seine Schäffin absetzte, die den übrigen folgte. Dann postierte er sich vorsichtshalber mit gezogenem Schwert neben der Tür. Der geknebelte Drachenkopf am Knauf der Waffe protestierte erstickt gegen das abrupte Ende seines Abendschläfchens.
Währenddessen hatte Kanndra ihre Hand bereits an die Halsschlagader des Liegenden geführt und schüttelte den Kopf.
"Der lebt nicht mehr." sagte sie leise.
"Ist ja auch kein Wunder bei der Blutlache." Kolumbini tauchte einen Finger in die rote Flüssigkeit und hielt ihn ins Licht.
"Kalt, aber noch nicht geronnen." stellte er fest. "Also kann es nicht allzu lange her sein."
"Eine Quittung gibt es hier auch nicht." Venezia seufzte und kletterte an Kanndras Arm hoch, um sich auf der Schulter der Späherin niederzulassen. "Von ihrem erhöhten Sitzplatz aus musterte sie den Toten. "Bregs!" rief sie. "Laß mal das Wache stehen und komm her. Ist das hier Lindendorf?"
Araghast schob Magnarox zurück in die Scheide und bückte sich.
"Ja." bestätigte er schließlich, nachdem er das wächserne, eingefallene Gesicht des Toten eine Weile stumm betrachtet hatte. "Das ist Lindendorf. Nun hat er seine Tochter zurück. Für immer."
"Und ich den Fall immer noch nicht gelöst." kam es von Kolumbini.
"Also gut." Venezia räusperte sich. "Erstens: Welchen Spurensicherer schmeißen wir nun aus dem Bett? Zweitens: Wer hätte einen Grund Lindendorf umzubringen? Drittens: Warum hat Gold Moon ausgerechnet zur falschen Zeit den falschen Eingang observiert? Und viertens: Wo ist diese verdammte Puppe abgeblieben?"


DIENSTAG, 6. GRUNI


SATZ: Sei X ein metrischer Raum. Eine Teilmenge A von X ist genau dann abgeschlossen, wenn gilt: Ist x Index k mit k Element der natürlichen Zahlen eine Folge von Punkten x Index k Element aus A die gegen einen Punkt x Element aus X konvergiert, so liegt x schon in A.

Lea sah von ihrem Schmierblatt auf und kaute nachdenklich am Ende ihres Bleistiftes, während sie aus dem Fenster ihrer kleinen Kammer in die Dunkelheit starrte. Die Mathematik half ihr immer, wenn sie sich mal wieder wirklich über etwas aufgeregt hatte. Aber Sandmann und seine Annäherungsversuche gestern- und heute auch noch die Bemerkung Onkel Wermuts, daß er Araghast falls er es wagen sollte, auch nur die Auffahrt zu betreten, eigenhändig die Hunde auf den Hals hetzen würde. Und vermutlich schmiedete auch Farrux bereits seine Pläne gegen sie beide. Dieser aufgeblasene, schwabbelige Schwallsack- Was ging es ihn eigentlich an, mit wem die Cousine seiner Verlobten zusammen war? Und dann noch Antonia, die es nach ihren beiden in die Hose gegangenen Ehen bestimmt nicht haben konnte, daß jemand aus ihrer Familie einfach nur glücklich war.
Schon wieder innerlich kochend wandte sie sich wieder ihrem Papier zu, schrieb in Blockbuchstaben das Wort BEWEIS unter den soeben aufgestellten Satz und unterstrich es dreimal.
Dann brachte sie nach kurzer Überlegung folgendes zu Papier:

Sei zunächst A als abgeschlossen vorausgesetzt und x Index k Element von A, wobei k Element der natürlichen Zahlen ist, eine Folge mit dem Grenzwert von x Index k gleich x. Angenommen X läge nicht in A. (Beweisführung durch Widerspruch) Da X geschnitten mit A offen ist, ist dann X geschnitten mit A Umgebung von x. Nach der Definition der Konverge

Verwundert hielt Lea mitten im Wort inne.
Ihr war als hätte sie das dumpfe Zuschlagen der Haustür vernommen. Verwirrt schüttelte sie den Kopf und warf einen kurzen Blick auf die Uhr, die auf ihrem Nachttisch stand und ein Überbleibsel aus dem Nachlaß ihres Onkels Hieronymus war. Ihre verschnörkelten Zeiger zeigten, daß es halb eins morgens war.
Lea überlegte fieberhaft. Wer konnte zu dieser Zeit noch nach Hause kommen? Antonia lag bestimmt bereits im Bett und dachte darüber nach, wegen welcher Krankheit sie am Morgen nach Doktor Sandmann schicken sollte. Elisabeth vielleicht? Eher unwahrscheinlich, grübelte Lea. So spät würde sie niemals nach Hause kommen. Bregs konnte es erst recht nicht sein, denn der schob gerade seine Vierundzwanzig-Stunden-Bereitschaft. Und Onkel Wermut und Tante Begonia hatten sich schon vor mehreren Stunden ins Bett begeben, mit der Warnung an Lea, es ja nicht zu wagen, sie mit 'Meister der Puppen' oder ähnlichem Krach auf dem Pianoforte zu stören. Und dabei hatte sie gerade herausgefunden, wie man die Akkorde von 'Ewigkeit' der Untoten Socken richtig anschlug. Nun, morgen war auch noch ein Tag. Beziehungsweise heute, dachte sie nach einem weiteren Blick auf die Uhr.
Aber wer kam dann mitten in der Nacht ins Haus, kehrten ihre Gedanken schließlich wieder zum eigentlichen Problem zurück. Ein Mitglied der Diebesgilde schied ebenfalls aus- Onkel Wermut war seit vielen Jahren Abonnent der Speziellen-Hundert-Dollar-Platinplakette.
Ein leises Stapfen, als ob jemand ziemlich ungeschickt die alte Marmortreppe hinaufsteigen würde, drang deutlich an das Ohr der jungen Frau.
Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken und unwillkürlich mußte sie an die diversen Eddie Wollas-Romanhefte denken, die sich in ihrem Regal stapelten. Dort geschah es öfter, daß nächtliche Tritte auf einer Holztreppe die Vorboten drohenden Unheils waren. Besonders wenn eine wehrlose junge Frau sich in besagtem Zimmer am Ende der Treppe befand. Diese wußte dann allerdings häufig nichts Besseres, als kreischend auf den Dachboden zu fliehen um dort schließlich im wahrsten Sinne des Wortes todsicher von dem irren Püschopathen ins Jenseits befördert zu werden.
Lea gab sich einen Ruck. Was auch immer da die Treppe hochkam, es würde sie nicht so einfach überraschen. Ihre Augen suchten ihr Bücherregal ab und blieben schließlich an dem schweren, ledergebunden 'Almanach der ephebianischen Geometrie' hängen. Das würde auch den Schädel des stärksten potentiellen Angreifers mächtig erschüttern, natürlich vorausgesetzt es handelte sich nicht um einen Troll. Aber das schien der jungen Frau recht unwahrscheinlich. Wenn ein Troll seine mehrere hundert Kilo die Treppe hinaufschleppen würde, wäre diese vermutlich unter dem Gewicht zusammengebrochen. Also mußte es eine humanoide Person sein. Vampire schieden ebenfalls aus, denn diese wären bestimmt einfach in Fledermausgestalt an ihr Opfer herangeflattert und hätten sich nicht mit Kleinigkeiten wie Treppen aufgehalten. Leas durch die langjährige Beschäftigung mit Mathematik gestählter Verstand arbeitete rasend und kam zu dem Schluß, daß ein Werwolf ebenfalls ausschied weil ein solcher mittlerweile längst hier gewesen wäre und ihr an die Gurgel gegangen wäre. Also mußte es entweder ein Mensch oder ein Zombie sein.
Doch dann drang durch die bereits erheblich nähergekommenen Tritte ein weiteres Geräusch an die Ohren der jungen Frau. Es klang als ob zwei Metallplatten sich aneinander reiben würden.
Soso. Eine Rüstung also. Nun, da würde der Geometriealmanach hoffentlich zumindest dafür reichen, dem nächtlichen Besucher gehörig den Helm zu verbeulen. Und im allergrößten Notfall: Ein Holzbein, welches mit voller Wucht in gewisse empfindliche Stellen gerammt wurde, würde bestimmt auch den hartnäckigsten Angreifer in die Knie zwingen.
Mittlerweile schien die Person am oberen Ende der Treppe angekommen zu sein.
Entschlossen zog Lea das Buch aus dem Regal und griff nach ihrer Krücke. Jetzt oder nie. Noch hatte sie das Überraschungsmoment auf ihrer Seite.
Schnell legte sie das Buch auf ihrem Schreibtisch ab und drehte den Docht der Lampe herunter. Dann packte sie ihre Waffe und stieß die Tür ihres Zimmers mit ihrem Gehstock auf.
Die scheppernden Schritte stoppten abrupt.
Soso, dachte Lea. Damit hast du aber nicht gerechnet.
Und mit erhobenem Buch trat sie auf den Flur.
Dunkelheit umfing sie, und es dauerte einige Sekunden, bis sie die vertrauten Schemen des Treppenhauses wahrnehmen konnte. Doch etwas war anders. Wenige Schritte von der obersten Treppenstufe entfernt stand eine reglose Gestalt. Um Einzelheiten zu erkennen war es zu dunkel, doch Lea fühlte sich eindeutig in ihren Überlegungen bestätigt, daß es sich um niemanden handelte, den sie kannte.
Plötzlich bewegte sich die Gestalt und ein metallisches Scharren erfüllte das Treppenhaus.
Lea wartete reglos im Schatten, während der nächtliche Besucher einen Fuß vor den anderen setzte. Was auch immer er wollte, er schien geradewegs auf die Tür ihres Zimmers zuzusteuern.
Was bei allen Göttern und Dämonen soll das? schoß es der jungen Frau durch den Kopf. Gleich mußte er an ihr vorbei. Nur wenige Schritte trennten sie von dem Geländer der Galerie, welche um die gesamte zweite Etage herumführte. Wenn es ihr gelingen konnte, den Eindringling herunterzuschubsen... Es würde Notwehr sein, keine Frage.
Anhand der Schatten, welche das kam wahrnehmbare Licht der heruntergedrehten Lampe in ihrem Zimmer warf, versuchte sie, die Entfernung abzuschätzen. Drei Meter vielleicht noch...
Den immer lauter werdenden Geräuschen nach zu urteilen schien die gesamte Gestalt in einen metallenen Panzer gehüllt zu sein. Doch bisher hatte sie Lea offensichtlich noch nicht bemerkt.
Zwei Meter...
Langsam wurde die Silhouette deutlicher. Scheinbar trug der Eindringling ein langes Gewand über seiner Rüstung. Soweit Lea es erkennen konnte, hielt er jedoch keine Waffe in der Hand. Sollte sie wirklich auf eine unbewaffnete Person losgehen? Doch schnell verwarf sie ihre Skrupel wieder. Das Zauberwort lautete Präventivschlag.
Ein Meter...
Gleich war es soweit. Leas Griff um das Buch wurde fester. Mittlerweile war die Gestalt, die immer noch zielstrebig auf ihr Zimmer zuhielt, so nahe, daß die junge Frau sogar das Knirschen der Scharniere deutlich von dem übrigen Rasseln metallener Plattenrüstung unterscheiden konnte.
Und dann war es soweit...
Mit einem wütenden Schrei stürzte sich Lea auf den Eindringling und schmetterte ihm den Geometriealmanach mit voller Wucht gegen den Schädel. Scheppernd fiel der Unbekannte zu Boden und Lea taumelte vorwärts gegen das Geländer, mühsam um ihr Gleichgewicht kämpfend. Mit einem lauten Poltern fiel das Buch zu Boden, als sie sich gleichzeitig am schmiedeeisernen Geländer der Galerie und ihrer Krücke festklammerte.
Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, warf sie einen schnellen Blick auf den Eindringling. Dieser lag reglos am Boden. Der Almanach der ephebianischen Geometrie schien also seine Wirkung getan zu haben.
Fieberhaft dachte die junge Frau nach. Was kam jetzt? In den Eddie-Wollas-Romanen zückte der Held, nachdem er seinen Gegner überwältigt hatte, meistens einen Strick den er mysteriöserweise urplötzlich bei sich trug und...
Richtig. Man fesselte den Gefangenen, bevor er sein Bewußtsein wiedererlangte.
Entschlossen löste Lea den Gürtel ihres Kleides und ging, ihr Holzbein vor sich ausstreckend, in die Hocke. Dann begann sie, nach den Händen ihres Gefangenen zu suchen. Dünner Musselinstoff, unter dem sich kaltes Metall befand, glitt durch ihre tastenden Hände. Innerlich schüttelte sie den Kopf. Wer war so verrückt und trug Nachthemdstoff über einer Plattenrüstung?
Der Angriff kam plötzlich und unerwartet.
Eine Faust kam auf Lea zugesaust und schlug mit aller Macht in ihre Magengrube. Oder beziehungsweise hatte es vorgehabt. Mit einem blechernen Scheppern prallte die Faust von den aus massivem Stahl bestehenden Korsettstangen der jungen Frau ab.
Dennoch wurde Lea durch die Wucht des Schlages nach hinten geschleudert und landete unsanft auf dem Rücken. Ihre Hand tastete wie wild nach ihrer Krücke, während ihre Gedanken rasten. War der Helm des Eindringlings wirklich dermaßen massiv, daß er einen Schlag mit einem kiloschweren Buch einfach so wegstecken konnte? Und zum vermutlich ersten Mal in ihrem Leben war sie froh, eines jener Korsett zu tragen, welche ihre Taille auf 55 Zentimeter zusammenschnürten. Der steife Stahlpanzer hatte sie vermutlich gerade davor bewahrt, endgültig kampfunfähig geschlagen zu werden.
Drohend richtete sich die Silhouette des Angreifers über ihr auf und seine Hände schienen nach ihrer Kehle zu tasten. Wo lag bloß die verdammte Krücke, die sie eben, als sie zum Fesseln schreiten wollte, achtlos fallen gelassen hatte?
Doch dann spürte sie auch schon, wie sich kalte Metallfinger um ihre Kehle legten und gnadenlos zudrückten.
Lea versuchte zu schreien, doch der unerbittliche Druck der harten Finger ließ nicht zu, daß auch nur der geringste Laut ihrer Kehle entwich. Verzweifelt rang sie nach Luft. Doch inmitten der Panik meldete sich ihr unerschütterlicher, logischer Verstand. Der Angreifer kniete über ihr, die Beine auf der Höhe ihrer Oberschenkel gespreizt. Da konnte man doch...
Mit aller Kraft riß Lea ihren Beinstumpf inklusive daran befestigter Prothese nach oben. Ein metallisches Krachen verkündete, daß sie einen Volltreffer gelandet zu haben schien. Für einen Augenblick lockerte sich der Griff um ihren Hals und die junge Frau nutzte die Gelegenheit, ihre Arme ruckartig zwischen denen des Fremden nach oben zu führen und dann zur Seite zu stoßen. Ein scharfer Schmerz bedeutete ihr, daß sie damit auch einigen Stücken ihrer Haut verlustig ging, doch das bedeutete ihr derzeit herzlich wenig. Hier ging es einzig und allein ums Überleben.
Und deshalb trat sie ein weiteres Mal mit ihrem Holzbein zu und erwischte ihren Gegner in der Bauchgegend, woraufhin dieser zurücktaumelte.
Mit Schwung setzte Lea sich auf und rang nach Luft. Was war dies bloß für ein vollkommen in Blech gekleidetes Monster? Ein Assassine konnte es nicht sein, sonst wäre sie längst tot gewesen.
Und dann erfühlte ihre Hand etwas Hartes, Rundes. Ihre Krücke.
Kampfeslustig ergriff sie ihre Gehhilfe und richtete sich mühsam auf. Sie würde ihm schon zeigen, daß auch ein Krüppel, wie Elisabeth sich so gerne ausdrückte, sich zu wehren wußte... Schnell hinkte sie einige Schritte rückwärts, so daß sich ihr Gegner zwischen ihr und dem Geländer befand. Metallisches Klirren verkündete, daß dieser sich auf einen Angriff vorbereitete. Doch seine Bewegungen wirkten seltsam linkisch und unbeholfen.
So. Lea biß die Zähne zusammen. Jetzt bist du dran.
Und sie schwang ihre Krücke über ihre Schulter und schlug mit aller Macht zu.
Den Angreifer, der scheinbar mit einer unbewaffneten Attacke gerechnet hatte, erwischte der Schlag quer über die Brust. Er stolperte rückwärts, geradewegs gegen das Geländer.
Lea trat einen Schritt vor und schlug erneut zu. In ihren Gedanken wurde die Krücke zu einem Schwert. Zu Magnarox... es sei denn, man subtrahierte das ständige Gejammere der Klinge.
Der Angreifer neigte sich nach hinten, als versuchte er, auszuweichen.
Da kam Lea eine Idee.
Sie hinkte vor, ergriff ein Bein des Fremden und hebelte es aufwärts. Nach den Gesetzen der Schwerkraft müßte irgendwann...
Und dann war der Punkt erreicht.
Die komplett in Blech gehüllte Gestalt verlor das Gleichgewicht und kippte. Ihre Arme ruderten hilflos in der Gegend herum, bekamen jedoch nichts als leere Luft zu fassen. Mit geradezu beängstigender Lautlosigkeit fiel sie zwei Stockwerke tief, bis sie schließlich mit einem lauten Krachen, welches die Stille wie ein Peitschenhieb durchdrang, auf den untersten Stufen der Treppe aufschlug.
Zufrieden lehnte Lea sich auf ihre Krücke und seufzte erleichtert auf. Zumindest würde sie jetzt hören, wenn der Eindringling einen weiteren Angriff plante. Und vermutlich hatte der Lärm des Aufpralls eh ihre halbe Familie aufgeweckt. Sie hatte einmal davon gehört, daß die Adler der klatschianischen Wüste eine bestimmte Taktik entwickelt hatten, um an Nahrung zu kommen: Sie schnappten sich eine Schildkröte, schwangen sich in die Höhe und ließen ihre Beute schließlich auf einen harten Felsen fallen, so daß der Panzer aufbrach und die Innereien freigab.
Und so ähnlich mußte es auch mit dem gepanzerten Angreifer passiert sein. Entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen, humpelte sie zurück in ihr Zimmer, drehte die Flamme ihrer Lampe auf und trug selbige mit auf den Flur um nachzusehen, was mit ihrem Angreifer passiert war.
Doch als sie sah, was dort unten auf den untersten Stufen der Treppe lag, fuhr ihr der Schreck in sämtliche Glieder. Sie hatte sich so ziemlich auf das Schlimmste gefaßt gemacht. Eine verbogene Rüstung in einer Lache aus Blut hätte sie nicht auch nur im geringsten erschüttert. Noch hätten es über das halbe Treppenhaus verteilte Innereien und Gliedmaßen.
Doch auch nicht nur der geringste Tropfen menschlichen Lebenssaftes offenbarte sich dem Schein ihrer Lampe.
Ein blecherner Torso, in die Fetzen durchscheinenden, weißen Stoffes gehüllt, lag auf der Treppe zum ersten Stock. Diverse Metallteile hatte sich kreuz und quer durch die gesamte Eingangshalle verteilt. Und vor der untersten Stufe der Treppe lag ein feuerrotes, faseriges Bündel.
Im ersten Stock wurde eine Tür mit voller Wucht aufgerissen und das Licht eines Kerzenleuchters erhellte das Treppenhaus.
"Was bei allen Göttern ist denn hier los?" bellte die Stimme Onkel Wermuts. "Wer das auch immer war, den drehe ich höchstpersönlich durch den Fleischwolf!"
"Ich- ich glaube, das ist nicht nötig." antwortete Lea mit zitternder Stimme. "Ich werde die Wache holen. Was es auch immer war, es hat versucht, mich umzubringen."

* * *


Mißmutig dreinblickend sahen Araghast und Kolumbini zu, wie die Leiche Lindendorfs von Leopold von Leermach und Hegelkant in das SUSI-Labor getragen wurde, während Sillybos eifrig in seinem Notizblock blätternd hinter ihnen herschritt.
"Und wir waren so nah dran." Wütend verzog der Püschologe das Gesicht.
Kolumbini nickte nur und zog eine Pfeife und einen Tabaksbeutel aus den Tiefen seines ominösen Mantels. Dann machte er sich daran, sein Rauchgerät zu stopfen.
"Aber was ich mich eigentlich frage," erklärte er schließlich, während der ein Streichholz anriß und den Tabak entzündete. "Wer war so gierig auf die Puppe, daß er dafür einen Mord beging? Eigentlich haben wir bisher nur einen Verdächtigen. Den Magier, den eure Späherin gestern Nacht ertappt hat." Nachdenklich blies er eine Rauchwolke in Richtung Decke.
"Aber finde mal jemanden der Feuerbälle schmeißen kann in Ankh-Morpork." seufzte Araghast düster. "Da können wir ja gleich bei der UU anklopfen und fragen 'Guten Tag, hat einer Ihrer Bewohner vielleicht eine lebensgroße Blechpuppe angeschleppt?' Und vor allem, was hat er mit dem Ding vor? Konnte er sich keine Näherin leisten oder was?"
"Manche Personen tun die absonderlichsten Sachen aus den seltsamsten Gründen." Eine zweite Rauchwolke gesellte sich der ersten hinzu und der kleine Ermittler schien hinter einem Vorhang aus Nebel zu verschwinden. "Aber so sind humanoide Lebewesen nun mal." fügte er hinzu. "Manchmal denken sie nicht weiter als von der Wand bis zur Tapete."
"Und immer noch keine Haare." Araghasts müder Blick folgte einem weiteren Rauchring. "Aber was die nicht nachdenkenden Leute betrifft, da hast du recht. Und hinterher rennen sie wieder alle zum Püschologen, weil sie glauben, der könnte ihre Probleme lösen."
Eine Weile herrschte Schweigen, während jeder seinen Gedanken nachhing. Pfeifenrauch waberte in weißlichen Schwaden durch den Korridor des SUSI-Traktes.
Araghast überlegte. Er konnte die Stille leicht mit einer belanglosen Bemerkung wie 'Was für ein Fall' oder ähnlichem überbrücken. Doch tief in seinem Inneren gefiel es ihm, einfach nur mit jemandem herumzustehen und zu schweigen. Kolumbini schien ähnlich zu denken. Auch er schien seinen ihm eigenen Zynismus zu hegen und zu pflegen.
Es war aber auch zum Auswachsen mit dieser Haargeschichte. Kaum hatten sie geglaubt, den Fall endlich gelöst zu haben, lag der mutmaßliche Täter auch schon mausetot in seiner Werkstatt und das Diebesgut war abermals verschwunden.
Schließlich wurde die Tür des Labors aufgestoßen und Jack Narrator schaute sich suchend um, bis er schließlich die beiden Wartenden entdeckte.
"Erstochen." rief er ihnen zu. "Mit einem spitzen Gegenstand, vermutlich ein Rapier oder ein Skalpell oder so etwas ähnliches. Keine Anzeichen eines Kampfes."
"Interessant." Kolumbini klopfte sich gegen sein Auge, was Araghast mit ziemlichem Erstaunen registrierte. "Gibt es irgendwelche Anzeichen die dafür sprechen, daß die Leiche nach der Ermordung noch bewegt wurde?"
"Unwahrscheinlich." antwortete Jack. "Wir haben keine Blutspuren irgendwo sonst im Haus gefunden und der Gute ist ziemlich blutleer. Und falls es euch weiterhilft: An seiner Kleidung haben wir mehrere lange, rote Haare gefunden. Wer weiß, vielleicht war der Täter ja eine Frau?"
Araghast und Kolumbini sahen sich an und nickten einander zu.
"Treffer." flüsterte der Püschologe. "Immerhin haben wir nun den Haardieb endgültig."
"Danke." wandte sich Kolumbini an Jack. "Kann ich den endgültigen Bericht morgen früh bekommen?"
"Du meinst wohl heute früh." grinste Jack. "Wir haben schon lange eins durch."
Laute Stimmen aus der Richtung der Eingangshalle unterbrachen sie.
"Soso, ein Mordversuch." hörte Araghast die ein wenig skeptisch klingende Stimme Will Passdochaufs heraus. "Da wollen Sie doch sicherlich Anzeige gegen Unbekannt erstatten, oder?"
"Und ob ich das will." erklärte eine dunkle Frauenstimme energisch. "Schließlich hat dieses... Blechding mich beinahe erwürgt!"
Araghast fühlte, wie seine Innereien zu metaphorischem Eis zu erstarren schienen. Diese Stimme kannte er nur zu gut.
"Verdammt." brachte er hervor und sprintete in Richtung Wachetresen. Zurück blieb ein in eine Wolke aus Pfeifenrauch gehüllter Kolumbini.
"Lea!" rief Araghast quer durch die Eingangshalle und stürzte zu seiner Freundin. "Geht's dir gut? Wer hat versucht, dich umzubringen?"
Lea seufzte tief und fiel ihrem Freund um den Hals. Ihre Krücke ging klappernd zu Boden.
"Ich bin mir selbst nicht genau sicher was es war." sagte sie leise. "Auch auf die Gefahr hin, daß mich jetzt alle auslachen- Würdest du mir glauben, wenn ich dir erzähle, daß eine Art lebendige Rüstung versucht hat, mich umzubringen?"
"Lebendige Rüstung?" Araghast wurde hellhörig. "Wie, was, es steckte niemand drin?"
Lea schüttelte den Kopf. "Niemand. Ich habe ihn oder sie von der Galerie im zweiten Stock stürzen können. Doch alles was unten lag, war ein Haufen Metallteile."
"Da beiß mich ein Puzuma." brummte Araghast. "Entweder ist es ein verdammter Zufall oder..."
Er drückte Lea einen Kuß auf die Wange und bückte sich, um ihre Krücke aufzuheben.
"Oder was?" hakte die junge Frau nach. "Sag bloß nicht, du weißt über dieses... Ding Bescheid."
"Das wird sich gleich herausstellen." erklärte Araghast und griff Lea am Arm. "Am Besten gehen wir hoch in mein Büro." Er seufzte. "Sei froh, daß du nicht die zweite Leiche in dieser Nacht geworden bist, die vermutlich mit dem gleichen Fall zusammenhängt."
"Wieso? Wer ist denn ermordet worden?"
"Lindendorf." sagte Araghast leise. "Du erinnerst dich doch an die Geschichte mit den gestohlenen Haaren?"
Lea nickte.
"Nun, das war erst der Anfang."
"Alles in Ordnung?" Will warf den beiden von ihrem Platz hinter dem Tresen einen besorgten Blick zu.
"Schon gut." erklärte Araghast. "Denn Fall übernehme ich. Nur ich fürchte, daß Leo und Sillybos heute Nacht noch mal ausrücken dürfen. Ach ja, und wenn du Kolumbini siehst, sag ihm, daß ich in meinem Büro bin und..."
"Nicht nötig." ertönte die Stimme des Ermittlers im Eingang des Korridors, welcher zu den SUSI-Labors führte. "Was gibt es?"
"Ich glaube, wir haben die Puppe gefunden." erklärte Araghast mit Grabesstimme.

* * *


"So, das wär's." Mit schwungvoller Hand unterschrieb Lea das Protokoll ihrer Aussage und reichte es Araghast, der es sogleich an Kolumbini weitergab. Dieser ließ es im Inneren seines Mantels verschwinden und fuhr fort, nachdenklich zwischen dem mit einem Tuch verhängten Papageienkäfig und der Tür hin- und herzuwandern.
"Interessant." sagte er schließlich und blieb abrupt stehen. "Also, ein Mädchen stirbt an einem Erstickungsanfall, wofür der Vater ihren Geliebten beschuldigt." begann er mit der Zusammenfassung ihrer bisherigen Ergebnisse. "Er scheint so besessen von seiner Tochter zu sein, daß er beschließt, sie mit Hilfe seiner Fähigkeiten als Prothesenhersteller aus Metall nachzubauen. Doch dazu braucht er Haare wie sie seine Tochter besessen hatte, und feuerrotes Haar ist nicht allzu häufig, wie ich herausgefunden habe. Wie er nun genau auf Katja Finkenstein gekommen ist kann ich nicht sagen."
"Und er selbst ist in seinem gegenwärtigen Zustand auch nicht sehr gesprächig." bemerkte Araghast düster.
"Jedenfalls hat er sie in der vergangenen Woche abends im Hide Park überfallen und ihr Haar gestohlen." nahm Kolumbini den Faden wieder auf. "Das schien es gewesen zu sein, was ihm noch zur Vollendung gefehlt hatte, nach dem zu schließen was Kanndra belauscht hat. wenige Tage nach dem Haardiebstahl jährt sich der Todestag seiner Tochter. Da tritt von Offenbach, ihr ehemaliger Verehrer, wieder auf den Plan. Jedenfalls vermuten wir es, da die Schriftrolle mit dem Trauergedicht im selben Zeitraum auf dem Friedhof gefunden wurde. Und seitdem ist von Offenbach scheinbar spurlos verschwunden."
Der Ermittler begann wieder, im Zimmer auf- und abzuschreiten.
"Durch hartnäckiges Ermitteln hat sich unser Verdacht schließlich auf Lindendorf verdichtet und Kanndra schaut sich dort ein wenig um. Sie findet heraus, daß die Puppe existiert. So weit so schön. Doch dann betritt etwas völlig Neues die Bühne des Falles. Der ominöse Magier, der unsere Späherin mit einem Feuerball bombardiert hat und dann geflohen ist."
"Ich frag mich was der in unserem Fall verloren hat." brummte Araghast. "Der macht die ganze Sache nur unnötig kompliziert. Man setze den Magier gleich der Variable x wie du sagen würdest." wandte er sich an Lea.
Diese nickte nur und ihre Augen folgten dem hin- und hermarschierenden Kolumbini.
"Wir beschließen, Lindendorf auf den Zahn zu fühlen und finden schließlich im Keller seine Leiche und keine Spur von der Puppe. Die Tatwaffe scheint eine Art spitzes Messer oder Skalpell gewesen zu sein. Und jetzt der Mordversuch an Fräulein Eule, ausgeführt von einem mechanischen Etwas, bei dem es sich vermutlich um ebenjene Kreatur Lindendorfs handelt."
"Aber wer hat ihr Uhrwerk dann immer wieder aufgezogen?" Ungläubig runzelte Araghast die Stirn. "Kanndra hat doch zu Bericht gegeben, daß es immer wieder nach einigen Sekunden abgelaufen war, wie sie an dem Geticke hören konnte."
"Frag mich nicht." seufzte Lea. "Uhrwerk sagst du? Mag sein, daß ich einfach zu sehr auf andere Sachen konzentriert gewesen war, aber an ein tickendes Uhrwerk kann ich mich nicht erinnern."
"Und trotzdem hat sich das Biest irgendwie bewegt." Araghast schlug mit der Faust auf die Schreibtischplatte. "Wer weiß, vielleicht hat der feuerballwerfende Kellerrumtreiber doch seine Finger im Spiel?"
"Wenn es überhaupt Lindendorfs Puppe gewesen ist." unterbrach ihn Kolumbini trocken. "Obwohl ich zugeben muß, daß die Wahrscheinlichkeit, daß zwei solcher Kreaturen in der Stadt existieren, ziemlich gering ist."
"Aber warum sollte irgendein Magier eine auf irgendeine Weise magisch belebte Blechpuppe ausgerechnet auf mich hetzen?" warf Lea ein. "Außer meinem Onkel Hieronymus habe ich nie mit Zauberern zu tun gehabt und der wurde ja bekanntlich von seinem eigenen Gehilfen ermordet, welcher anschließend Selbstmord beging und dessen Leiche vom explodierenden AGLA sonstwohin verteilt wurde, so daß eine Rückkehr als Zombie auch flachfällt."
"Und was ist, wenn es Offenbach war?" spekulierte Araghast halbherzig. "Das würde zumindest sein Verschwinden erklären."
"Das macht nicht den geringsten Sinn." widersprach ihm Kolumbini. "Fräulein Eule." wandte er sich an Lea. "Haben Sie irgendwelche Feinde?"
Die junge Frau lächelte ihn kalt an. "Wo soll ich anfangen, Herr Kolumbini?" fragte sie.
"Deine Verwandten vielleicht?" versuchte Araghast, einen konstruktiven Beitrag zu leisten.
"Nicht wirklich." erwiderte Lea. "Erstens wenn sie mich hätten aus dem Weg haben wollen hätten sie es längst weitaus weniger aufwendig tun können, zweitens sind sie reich genug, sich einen Assassinen zu leisten und drittens habe ich kein nennenswertes Erbe, was sie sich unter den Nagel reißen könnten."
"Sonst irgendwer?" forschte Kolumbini weiter.
"Ephraim Farrux, der Verlobte einer meiner Cousinen." fuhr Lea nach kurzem Zögern fort. "Ein reicher Kaufmann, aber abgesehen davon, daß ihm meine Nase nicht zu passen scheint gibt es auch keinen wirklichen Grund. Und dann ist da noch Doktor Sandmann, der Hausarzt. Der scheint ziemlich wütend zu sein, daß ich ihm am Oktotag die Nase gehörig verbeult habe."
"Du hast WAS?" platzte Araghast heraus.
Ein stolzes Lächeln erschien auf Leas Lippen.
"Ja, du hast richtig gehört. Er hat mir einen Heiratsantrag gemacht und wurde richtig unangenehm. Da habe ich zugeschlagen."
Araghast applaudierte spontan.

* * *


"Was es nicht alles so gibt..." entfuhr es Leopold von Leermach, als Sillybos, Hegelkant und er der Verwüstung in Eingangshalle und Treppenhaus des Anwesens der Familie Bolzano ansichtig wurden.
"Ah, da sind Sie ja endlich." Die beleibte Gestalt in einen mit Troddeln besetzten Morgenrock gehüllt und die Nachtmütze schief auf dem Kopf sitzend, kam Onkel Wermut die Treppe hinuntergepoltert.
"Entschuldigung, aber es ist besser, wenn Sie oben bleiben." rief Hegelkant geistesgegenwärtig. "Sie laufen uns sonst noch durch den Tatort."
"Was soll das hier, Tatort?" ereiferte sich Onkel Wermut. "Dies hier ist immerhin mein Haus und darin laufe ich lang wo es mir gefällt!"
"Aber wissen Sie denn nicht, daß Sie auf diese Weise wertvolle Spuren vernichten können?" rang Sillybos um Verständnis. "Nehmen wir einmal an, ein klebriges Beweisstück bleibt wenn Sie darauf treten unter Ihrem Pantoffel hängen..."
"Macht euch schon mal an die Arbeit!" zischte er Hegelkant und Leo aus dem Mundwinkel zu. "Ich versuche, ihn festzureden!"

* * *


"Also haben wir als in Frage kommende Personen erst einmal Ephraim Farrux und Doktor Mario Sandmann." Mit einem leisen Knall schloß Kolumbini sein Notizbuch und schob es in eine der unergründlichen Taschen seines Mantels. "Ich werde morgen überprüfen, ob einer von ihnen in irgendeiner Form mit Magiern in Kontakt steht. Und ich glaube, daß es für den Fortgang der Ermittlungen das Beste ist, wenn wir den Täter erst einmal in dem Glauben lassen, daß sein Plan aufgegangen ist."
"Aber spätestens wenn seine Puppe nicht wieder bei ihm antanzt wird er doch merken, daß was schiefgelaufen ist." erwiderte Araghast.
"Nun, das Risiko müssen wir wohl eingehen." erklärte Lea. "Ich bin dafür, wir testen sowohl Sandmanns als auch Farrux' Reaktionen auf mein plötzliches Auftauchen. Ich weiß zwar nicht, wie einer von ihnen die Geschichte mit der Puppe aushecken konnte, aber versuchen können wir es ja mal."
Kolumbini nickte und lenkte seine Schritte in Richtung Tür. "Ich schicke eine Nachricht, wenn der SUSI-Bericht von der Puppe angekommen ist." Er nickte den beiden kurz zu und verließ das Büro.

* * *


In dieser Nacht bekamen weder Lea noch Araghast ein Auge zu. Zusammen saßen sie in seinem Büro und warteten auf das charakteristische 'FUMMP', welches ankündigte, daß Millisekunden später eine Nachrichtenröhre in dem Kescher landen würde, den Araghast nach einigen zugegipsten Löchern in der Wand mitten in der voraussichtlichen Flugbahn der Rohrpostnachrichten aufgestellt hatte. Dies geschah schließlich, kurz nachdem der Alte Tom mit Nachdruck nicht fünf Uhr geschlagen hatte.

Neugierig betraten Araghast und Lea das Labor, in dem ein müde aussehender Hegelkant die letzten Metallfedern sortierte, während Sillybos zufrieden sein Werk betrachtete und Kolumbini eifrig in seinem Notizblock herumkritzelte.
Mitten auf dem Labortisch, angemessen dramatisch beleuchtet von mehreren Öllampen, lag die Puppe. Beziehungsweise das, was von ihr nach einem Sturz aus dem zweiten Stockwerk und der anschließenden Landung auf den untersten Stufen einer Marmortreppe noch übrig war. Viele ihrer blechernen Glieder waren abenteuerlich verbogen und teilweise völlig aus den Gelenken gebrochen. Der haarlose Kopf wies ein kreisrundes Loch über der rechten Schläfe auf. Araghast konnte spüren, wie Lea seine Hand fest drückte.
Wortlos wies Kolumbini auf eine Ablage, auf der, mittlerweile sorgfältig gekämmt, eine aus langem, feuerrotem Haar bestehende Perücke lag.
"Na wenigstens etwas." bemerkte Araghast. "Und wetten, daß ich es dann sein werde, der Fräulein Finkenstein ihre Frisur zurückbringen und mir dann wieder stundenlang die Ohren volljammern lassen darf?"
"Na, wer ist hier der Püschologe?" wisperte ihm Lea ins Ohr und trat an den Tisch heran. Ihr Blick glitt über die Überreste der Schöpfung Lindendorfs.
"Verrückt." sagte sie schließlich. "Und ihr Erbauer liegt vermutlich hier gleich nebenan in der Kühlkiste."
"Da ist noch etwas." Kolumbini reichte Araghast eine Schale. "Immerhin wissen wir jetzt, wie sich die Puppe völlig selbständig bewegen konnte, ohne daß man sie aufziehen mußte. Es war so einfach. Eigentlich hätten wir gleich darauf kommen müssen."
Verständnislos sah Araghast auf die kleine Pergamentrolle, die dort unschuldig in der Schüssel lag.
"Nicht anfassen." ermahnte ihn Sillybos. "Wir haben sie noch nicht auf Fingerabdrücke untersucht."
"Und was ist das jetzt?" fragte der Püschologe und gab die Schale an Lea weiter.
"Golem." sagte Hegelkant nur und reichte ihm einen kleinen Teller, auf dem ein weiterer Fetzen Pergament lag. 'Leonata Eule' stand dort in sauberen Buchstaben geschrieben. "Ergo ihr dürft jetzt auch noch nach einem Priester suchen, der die Worte geschrieben hat."
Ungläubig runzelte Araghast die Stirn.
"Kann man einen Golem zum Töten abrichten?" fragte er verwundert.
"Du hast ja gesehen, es klappt." Kolumbini klopfte mit dem stumpfen Ende seines Bleistiftes gegen den blechernen Schädel der Puppe. "Aber wenn ich ehrlich bin... Ich hab das unbestimmte Gefühl, daß mehr hinter der Sache steckt. Ich glaube, Fräulein Eule hätte man auch mit, nun ja, direkteren Methoden töten können. Eigentlich hat es vielmehr den Anschein, als wäre der Vorfall heute Nacht nur eine Art Test gewesen. Eine Proberunde für ein größeres Vorhaben."
Fragend schaute er in die Runde.
Araghast atmete tief durch. "Warum habe ich bloß das Gefühl, daß der Fall immer sinnloser wird, je mehr passiert?" seufzte er. "Eigentlich fing es doch ganz einfach an. Ein paar gestohlene Haare. Und dann stoßen wir mitten in ein Wespennest und..."
"Ich habe sowohl die Adresse von Sandmann als auch von Farrux von Fräulein Eule bekommen." Kolumbini strich über den ledernen Einband seines Notizbuches. "Den beiden werden Igor und ich morgen, beziehungsweise heute," berichtigte er sich nach einem Blick auf die Uhr an der Wand, "einmal einen Besuch abstatten."
"Sandmann können wir auch anders überprüfen." warf Lea ein. "In ein paar Stunden wird Antonia sicher wieder ihre Krankheit des Tages verspüren und nach ihm schicken. Und wenn ich ihm dann zufällig über den Weg laufe... Wir werden ja sehen wie er reagiert."
"Ist das nicht zu gefährlich?" fragte Araghast ein wenig besorgt. "Ich meine nur... Wenn er wirklich etwas mit der Puppengeschichte zu tun hat und dann auf dich losgeht?"
Lea klopfte auf den Griff ihrer Krücke und ein kämpferischer Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht. "Wenn ich mit der Puppe fertiggeworden bin, werde ich Sandmann auch noch schaffen, wenn sich ein paar Wächter in der Nähe befinden die im Notfall eingreifen." Sie lächelte böse. "Und wenn er es war bin ich doppelt froh. Dann wäre ich ihn endlich los, diesen kleinen, schleimigen Kriecher."
Kolumbini nickte. "Also gut. Versuchen wir es."

* * *


"Meine Güte, diese Aufregung gestern Nacht- Ich habe kein Auge zutun können! Angstzustände habe ich bekommen, daß dieses... Ding in mein Schlafzimmer spaziert kommt und mich eiskalt erwürgt!" Energisch wedelte sich Antonia Bolzano-Bläulich-Permanent mit einem seidenen Fächer Luft zu. "ich halte es nicht mehr aus. Leonata, sei doch bitte so nett und ruf den Doktor, er soll mir etwas verschreiben, damit ich wieder schlafen kann."
Lea nickte zufrieden und verließ das Zimmer, während sie ihren hohen Spitzenkragen zurechtrückte, welcher die mittlerweile blau angelaufenen Würgemale und Abschürfungen an ihrem Hals verdeckte. Wenn sie in etwa zwei Minuten dem Butler Bescheid gab, würde dieser in zirka drei Minuten eine Nachricht per Taube an Sandmann geschickt haben. Dieser würde dann seine Tasche greifen und seinen Einspänner anschirren. Dieses würde vermutlich um die zehn Minuten in Anspruch nehmen. Dann noch der Weg hierher... Im Mittel vergingen zwischen Leas Nachricht an den Butler und dem Eintreffen des Doktors vierzig Minuten.
Also Zeit genug, die Wächter hereinzulassen und den günstigsten Augenblick für das Zusammentreffen zu überlegen.
Während sie die Treppe hinunterhinkte, wanderten ihre Gedanken zurück zu Lindendorf und seiner Tochter. Nun waren sie beide tot. Das hieß, sie mußte sich einen neuen Prothesenbauer suchen. Und solche waren schwer zu finden.
"James?" rief sie durch die Eingangshalle.
Wie aus dem Boden gewachsen erschien der Butler vor ihr.
"Das Fräulein wünschen?" näselte er.
"Können Sie bitte Doktor Sandmann rufen?" bat Lea ihn freundlich. "Antonia geht es gar nicht gut. Sie leidet unter Schlafstörungen."
"Wie Sie wünschen, mein Fräulein." Mit einer leichten Verbeugung drehte sich James auf dem Absatz um und trippelte von dannen.
Lea wartete einen Augenblick und suchte das Treppenhaus nach weiteren Familienmitgliedern ab. Doch bisher schien alles zu klappen. Onkel Wermut und Tante Begonia würden nach der Aufregung in der Nacht bestimmt bis weit in den Vormittag hinein schlafen. Und was Elisabeth betraf- Lächelnd legte Lea die Hand auf ihre Rocktasche, in der sich ein kleiner, aber zum Öffnen der Zimmertür ihrer Cousine unbedingt nötiger Schlüssel befand.
Dann öffnete sie die Haustür.
"Ihr könnt reinkommen!" rief sie leise.
Vier Gestalten schlüpften aus den Büschen, welche die Auffahrt säumten, und schoben sich in die Eingangshalle.
"Wir haben eine gute halbe Stunde Zeit, uns einen geeigneten Platz zu suchen." informierte Lea Araghast, Kolumbini, Kanndra und Valdimier, nachdem sie und ihr Freund einen Kuß getauscht hatten. "Ich glaube nämlich nicht, daß ich Antonia dazu überreden kann, drei Herren bei sich im Schlafzimmer zu verstecken."
"Nicht, wenn sie so ist wie ich sie einschätze." bemerkte Araghast bissig und musterte das Treppenhaus. "Was haltet ihr davon, wenn wir uns irgendwo im Flur verstecken und du trittst aus Antonias Zimmer, gerade als er an uns vorbeikommt? Dann haben wir ihn am Besten im Blick."
"Hm...." Lea überlegte kurz. Dann nickte sie. "Wenn wir die Möbel ein wenig umstellen, könnte es klappen."

Eine gute halbe Stunde später befand sich jeder auf seinem Posten.
Die Tür zu Antonias Schlafzimmer lag auf halber Strecke der Galerie, welche zu den Zimmern des ersten Stockes führte. Das Verschieben eines Schrankes um zwei Meter auf die andere Seite der Zimmertür hatte ein ideales Versteck für Araghast geschaffen, der von seinem Beobachtungsposten hinter dem Möbelstück freie Sicht auf den Doktor haben mußte, wenn dieser die Galerie entlang kam. Auf der dem Treppenhaus zugewandten Seite duckte sich Kolumbini hinter eine wuchernde klatschianische Topfpflanze.
Valdimier verbarg sich hinter einem Vorhang auf halber Strecke zwischen der Zimmertür und der Treppe. Im Notfall konnte er Sandmann somit den Fluchtweg abschneiden. Und in dem unbequemen Sessel in der Eingangshalle, getarnt durch einen von Leas Röcken und eine Ausgabe der Ankh-Morpork Times, in die sie zwei Sehschlitze gebohrt hatte, saß Kanndra als letzte Sicherheit, falls Sandmann so tollkühn sein sollte, über das Geländer der Galerie zu flüchten.
Araghast sah zu Kolumbini hinüber, der schnell seine Teetasse leerte. Verdammt, dachte er. Ich will endlich wissen, wie er es schafft, die Kanne zu transportieren.
"Wurden auf der Golem-Schriftrolle eigentlich irgendwelche Fingerabdrücke gefunden?" fragte er jedoch stattdessen flüsternd.
Kolumbini schüttelte den Kopf.
"Nichts." erklärte er. "Der Priester muß gewußt haben, was er da tat."
"Schade." gab Araghast zurück. "So finden wir ihn vermutlich nie, wenn der Täter es nicht ausspuckt."
"Wenn er überhaupt auspackt." entgegnete Kolumbini. "Immerhin haben wir außer einer eventuellen Schreckreaktion nichts in der Hand. Obwohl, vielleicht könnte Kanndra ihn von Größe und Statur her identifizieren."
"Was hat sie noch mal gesagt: Brille, klein und hager?" versuchte Araghast sich zu erinnern. "Die Beschreibung trifft auf Sandmann sogar zu. Aber leider auch auf viele andere." fügte er hinzu. "Obwohl... ich glaube..." Sein Gesicht erhellte sich. "Ich glaube, jetzt weiß ich, wo ich Sandmann schon einmal gesehen habe. Er kam aus dem Igor-Bedarfsladen gegenüber von Offenbachs Kellergruft, gerade als ich das Gedicht zurückbringen wollte."
"Igor-Bedarfsladen?" fragte Kolumbini. "Wo liegt der denn? Ich glaube, das könnte Igor interessieren, wenn er ihn nicht schon kennt."
"Olivanders Igordrom in der Klopfdrehgasse." antwortete Araghast schnell. Bloß nicht daran denken, was er dort getan hatte...
Das leise Klappern von Pferdehufen und das Knirschen von Kutschenrädern auf Kies ließ ihn aufhorchen.
"Es ist soweit." flüsterte er und drückte sich flach gegen die Wand hinter dem Schrank.
Das Geräusch verklang. Eine Kutschentür klappte und gleich darauf waren Schritte auf den Stufen zu hören.
Dann schallte der Lärm des Türklopfers laut und vernehmlich durch das Haus.
Kurz darauf erfüllten die Schritte des Butlers die Eingangshalle und das Treppenhaus und die Haustür wurde geöffnet.
"Der Herr wünschen?" fragte James in seinem näselnden Tonfall.
"Ich möchte zu Madame Bolzano-Bläulich-Permanent." erklang die charakteristische Stimme Doktor Sandmanns. Araghast beschlich das Gefühl, daß das mitgehörte Gespräch nur noch reine Formsache war, da es laut Lea so ziemlich jeden Tag stattfinden mußte.
"Die Treppe hinauf in den ersten Stock und dann die dritte Tür von links." antwortete der Butler geradezu mechanisch.
"Danke, ich kenne den Weg." antwortete Doktor Sandmann kühl und begann, die Treppe hinaufzusteigen. Kolumbini gab Araghast ein Zeichen.
"Jetzt sehe ich ihn." wisperte er fast unhörbar.
Der Püschologe nickte und atmete tief durch. Gleich würde es soweit sein.
Und dann hatte der Doktor die Galerie erreicht und begann seinen Weg zum Schlafzimmer Antonias. Gleich mußte er Valdimiers Versteck passieren. Und nun war er auch schon vorbei. Seine Schritte hallten auf dem glattpolierten Marmorboden wieder.
Fünf Meter bis zum Schlafzimmer noch...
Und dann schwang die Tür auf und Lea trat heraus.
Sandmann erstarrte, sein Gesichtsausdruck eine Mischung aus Überraschung und Schrecken.
Das war genug für Araghast.
Er trat aus seinem Versteck hervor und funkelte den Doktor mit seinem verbliebenen Auge böse an.
"Mario Sandmann," verkündete er, "Ich verhafte Sie hiermit wegen Mordes an dem Prothesenbauer Lindendorf und des versuchten Mordes an Leonata Eule."
Er trat einen Schritt vor und spürte, wie Kolumbini an seine Seite trat.
"Des weiteren verhaften wir Sie wegen tätlichen Angriffs auf eine Wächterin und Diebstahl einer mechanischen Puppe." fuhr der Ermittler fort.
Sandmanns Gesicht verzerrte sich vor Wut.
Schnell verschwand Lea wieder in Antonias Schlafzimmer und zog die Tür hinter sich zu, um Sandmann der Möglichkeit eines weiteren Fluchtweges zu berauben.
Hinter dem Arzt war Valdimier aus seinem Versteck getreten und hielt seine Armbrüste schußbereit.
"Und ich rate Ihnen, keine Tricks zu versuchen." Kolumbini zog ein paar Handschellen aus seinem Mantel. "Keine Feuerbälle und ähnliches. Ansonsten haben Sie schneller einen Armbrustbolzen im Gesäß stecken, als Sie Ihre Beschwörung auch nur aussprechen können."
Sandmann ließ seine Tasche fallen und fuhr herum.
Valdimier grinste ihn freundlich an und entblößte dabei seine Eckzähne.
Und dann geschah alles blitzschnell.
Der Doktor sprang vorwärts und stürzte sich auf Araghast. Die scharfe Klinge eines Skalpells blitzte in seiner Hand.
Schnell warf sich der Püschologe zur Seite und rollte sich ab. Doch da kam schon ein Bolzen die Galerie entlanggeschossen und bohrte sich in Sandmanns Kniekehle. Mit einem leisen Aufschrei ging der Doktor zu Boden und schon war Kolumbini über ihm und ließ die Handschellen zuschnappen.
Währenddessen hatte sich Araghast wieder aufgerappelt uns starrte auf seinen linken Unterarm, aus dem der Griff des Skalpells ragte.
"Verdammte Untote!" zischte Sandmann. "Verdammte Wächter!"
"Alles klar da oben?" rief Kanndra aus der Eingangshalle.
"Treffer." Valdimier streichelte zufrieden seine Armbrust. "Wir haben ihn."


MITTWOCH, 7. GRUNI


"Und somit hat Sandmann ein vollständiges Geständnis abgelegt." begann Kolumbini am Tag nach der Festnahme seinen Fallbericht in Venezia Knurblichs Büro. "Er hat sowohl den Mord an Lisaweta Lindendorf als auch an ihrem Vater zugegeben. Laut Araghast leidet er an einer Art krankhafter Obsession. Er hat eine Schwäche für kranke Mädchen entwickelt. So geschehen mit Lisaweta Lindendorf. Als sie sich in Jakob Offenbach verliebte, brachte er mit Hilfe einiger Zaubereien das Portrait ihrer Mutter, welches in ihrem Zimmer hing, dazu, das Mädchen zum Singen zu überreden, so daß sie schließlich aufgrund ihrer Lungenkrankheit erstickte."
"Moment." unterbrach ihn Irina Lanfear. "Was heißt hier Zauberei? War er letztendlich doch der rätselhafte Magier?"
"Nun, einige Nachforschungen haben ergeben," Umständlich zerrte Kolumbini ein Dokument aus einer Manteltasche, "daß ein gewisser Mario Sandmann insgesamt fünf Jahre lang an der Unsichtbaren Universität eingeschrieben war, bis er wegen einiger Vergehen unehrenhaft entlassen wurde."
"Dann war er es also, damals im Keller." platzte Kanndra heraus. "Jetzt wird mir so einiges klar. Er wollte wohl schon mal die Lage sondieren, bevor er dann zuschlug."
"Und deshalb hat er Lindendorf wohl auch ohne größeren Kampf töten können." Araghast nestelte an dem Verband, welcher seinen linken Unterarm einhüllte. "Er kannte ihn, weil er sich jahrelang um seine Tochter gekümmert hat."
"Aber sich solche Mühe machen, nur um Leonata zu töten?" warf Venezia ein. "Zugegeben, liebeskranke Männer sind zu ziemlich allem fähig, aber warum einen solchen Firlefanz mit der Puppe und allem nur wegen eines Mädchens zu veranstalten?"
"Muß wohl so eine Art Zaubererkrankheit sein." spekulierte Irina. "Die machen sich ja grundsätzlich alles so kompliziert wie möglich und pfuschen mit Dingen rum von denen sie lieber die Finger lassen sollten."
"Mag sein." gab die FROG-Abteilungsleiterin zu. "Fortfahren, Kolumbini."
"Jedenfalls erfuhr Sandmann dann vor ein paar Tagen, daß das Fräulein Eule auch bereits in festen Händen war." Für einen Augenblick wanderte der Blick des Ermittlers zu Araghast, dessen blasses Gesicht eine leicht rötliche Färbung annahm. "Und so beschloß er auf seine übliche Methode zurückzugreifen, da er es wieder einmal nicht ertragen konnte, daß seine Angebetete einen anderen liebte. Da kam ihm die Puppe gerade recht. Und, wie vermutlich bereits bekannt, war diese Puppe, die er Cori Celesti getauft hatte, Lindendorfs größte Obsession. Sandmann hat ihm versprochen, der Puppe Leben einzuhauchen. Und deshalb gab es auch keine Kampfspuren. Lindendorf hatte Sandmann erwartet gehabt. Deshalb konnte sich der Doktor nur glücklich schätzen. Lindendorf besaß keine Freunde. Niemand würde die Spur auf ihn zurückführen können, wenn er auch Lindendorf tötete. Doch wie wir alle wissen, schlug der Plan fehl. Letztendlich dank Fräulein Finkensteins gestohlenem Haar."
"Und was ist mit dem Priester, der die Golem-Schriftrolle geschrieben hat?" wollte Venezia wissen. "Gibt es in der Richtung schon was Neues?"
Araghast seufzte. "Das ist das einzige, was er uns nicht verraten hat." erklärte er. "Und er war auch auf keinen Fall bereit, damit rauszurücken. Aber vermutlich wußte der arme Mann noch nicht einmal, was er dort anrichtete als er die Schriftrolle schrieb."
"Nun, darum dürfen sich dann SUSI kümmern." entschloß Irina. "Die freuen sich bestimmt, wenn sie auch mal aus ihren Laboren herauskommen."
"Da wäre dann nur noch eines." fuhr Kolumbini fort. "Jakob von Offenbach."
"Der tragische Dichter." bemerkte Venezia spöttisch.
"Immerhin hat er mit 'Meister der Puppen' zumindest ein vernünftiges Werk abgeliefert." warf Araghast ein.
"Na klar." spöttelte Kanndra. "Das sagst du doch nur, weil Blechallika ein Lied draus gemacht haben."
"Ja, und?" gab Araghast zurück. "Du magst es doch auch."
"Ruhe!" ging Venezia dazwischen. "Über Musik zoffen könnt ihr euch meinetwegen nach der Fall-Endbesprechung. Kolumbini?"
Der kleine Ermittler nickte kurz. "Sandmann behauptet, Lindendorf hätte von Offenbach umgebracht, um Rache für Lisaweta zu nehmen. Genau weiß er es aber auch nicht, er vermutet es nur. Aber Sinn würde es schon machen. Lindendorfs Wut auf Offenbach muß für Sandmann eh ein Glücksfall gewesen sein. Klar ist jedenfalls, daß Lindendorf nach Lisawetas Tod nicht die Wache informiert hat. Was heißt, daß er vielleicht insgeheim eine eigene Rache geplant hat und nicht wollte, daß ihm jemand ins Handwerk pfuscht."
"Der Friedhof." rief Araghast plötzlich. "Wenn, dann hat er ihn bestimmt dort erledigt. Das würde auch das Gedicht erklären was am nächsten Morgen vom Friedhofsgärtner gefunden wurde."
"Da paßt auch das Gefasel über Rache, das ich mitbekommen habe." meldete sich Kanndra zu Wort.
"Wer weiß, was Lindendorf mit der Asche angestellt hat." kommentierte Venezia und wickelte eines ihrer Würstchen aus. "Ich glaube jedenfalls nicht, daß wir noch irgend etwas von unserem tragischen Poeten wiederfinden werden. Lindendorf wird ihn wohl gründlich entsorgt haben."
"Vermutlich." stimmte Araghast zu. "Gründlich war er. Das muß man ihm lassen."
"Und du wirst gleich auch mal gründlich sein." Venezia lächelte ihm unschuldig zu. "Indem du dich nämlich auf den Weg zu Fräulein Katja Finkenstein machen und ihr ihr Haar zurückbringen wirst."

* * *


Die Perücke in einem Beutel über dem Arm tragend, schlenderte Araghast durch die nachmittäglichen Straßen. Er hatte es nicht besonders eilig, Katja Finkensteins Wohnung zu erreichen. Innerlich war er erleichtert. Endlich war es vorbei, dieser Fall, der bis zu seiner Auflösung immer sinnloser zu werden schien. Doktor Sandmann saß wohlverwahrt in einer der Zellen im Wachhaus und sah dem Gerichtstermin entgegen, welcher mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht besonders gut für ihn enden würde.
Der Meister der Puppe...
Araghast mußte schmunzeln, als ihm der Gedanke durch den Kopf schoß.
Während er weiter durch die Straßen bummelte, begann er leise zu singen.
Meister...
Meister...
Meister der Puppen, wo gehst du hin
Macht in der Hand und Rache im Sinn
Erblindet in Haß und verloren in Zorn
Vergraben im Herzen der finstere Dorn...

* * *


Mit seinen mageren, klauenartigen Fingern strich Mario Sandmann das Pergament glatt. Dieses Mal waren sie davongekommen. Doch bald... Bald würde sein Meister zurück sein. Und dann waren ihre Tage gezählt. Lautlos bewegten sich die Lippen des Doktors, als sein Blick zum letzten Mal über die vier Namen glitt, welche dort mit schwarzer Tinte fein säuberlich aufgeschrieben waren.

Lord Idian von Canis Maior Alpha
Renatus von Schweinewarze
Wladislaw Krumm
Korbirian Launisch


Was auch immer geschah, die Wächter durften diese Liste niemals finden. Und überhaupt, die Wächter... Was waren sie doch blind. Wie die Geier über ein Stück Aas waren sie über das scheinbar so umfassende Geständnis hergefallen. Und hatten dabei gar nicht gemerkt, wie sehr es stellenweise an den Haaren herbeigezogen wirkte. Zugegeben, er hatte Lisaweta Lindendorf aus verschmähter Liebe getötet. Doch die Puppe... Selbst für Leonata Eule wäre es zuviel der Mühe gewesen, sie dermaßen umständlich zu töten.
Dabei war die junge Frau das ideale Testopfer gewesen. Und nachdem sie sein Herz mit dem einen Fuß der ihr noch verblieben war, geradewegs im Staub zertreten hatte, hätte sie es eigentlich doppelt verdient gehabt, zu sterben.
Doch er hatte die junge Frau gnadenlos unterschätzt. Warum war sie nicht, wie Frauen es immer taten, schreiend in ein Zimmer geflüchtet, aus dem es kein Entkommen gab, und dort sich einfach erwürgen lassen? Sie hatte die Puppe zu Blechschrott verarbeitet. Und damit hatte er, Mario Sandmann, auf der ganzen Linie versagt.
Aber was auch geschehen war: Sein Meister würde einen anderen Weg finden, sein Ziel zu erreichen.
Mit leisen Schritten trat Sandmann an die Zellentür und warf einen prüfenden Blick durch die Gitterstäbe. Der Wächter der zur Zeit Kerkerdienst hatte, ein zwei Meter großer, breitschultriger Hüne mit blondem Haar, saß einige Meter weiter entfernt auf einem Hocker und schien mit einer Gummiente zu spielen.
Zufrieden nickte der Arzt, knüllte das Pergament zusammen und schob es sich in den Mund. Dann bückte er sich und griff in den Schaft seines Stiefels, während er eifrig kaute. Schließlich fanden seine tastenden Finger, was sie gesucht hatten und als er seine Hand zurückzog, klemmte ein flaches Metallfläschchen zwischen Zeige- und Mittelfinger.
Hastig schraubte er den Deckel ab und goß sich den Inhalt in den Mund.

Zwei Stunden später fand Rogi Feinstich den Doktor leblos auf dem Boden seiner Zelle liegen. Die Obduktion ergab, daß Mario Sandmann an einer Überdosis Laudanum gestorben war. Des weiteren fanden die Gerichtsmediziner einige verquollene Papierreste im Magen des Toten und eine tätowierte schwarze Lilienblüte auf seinem rechten Unterarm. Da jedoch niemand erklären konnte was es damit auf sich hatte, wurden die Fälle Katja Finkenstein, Jakob von Offenbach, und Mario Sandmann, nachdem die Nachforschungen von SUSI bezüglich des Priesters erfolglos geblieben waren, abgeschlossen und zu den Akten gelegt.


EPILOG


Einige Wochen später.
Großes Gedrängel herrschte vor dem Eingang der 'Kaverne', als ein Haufen finster gekleideter Gestalten versuchte, sich zugleich durch den Eingang zu quetschen. Auch das Wetter tat sein Übriges um die Stimmung zu verbessern: Niedrige, bleigraue Wolken hingen über der Stadt und Donner grollte in der Ferne.
"Perfekt." Araghast strahlte und warf sich sein offenes Haar über die Schulter. Er trug das feuerrote T-Shirt mit der Aufschrift 'EWIG WÄHRT AM LÄNGSTEN'.
"Na das nenn ich Beförderungsfeier." Lea gab ihm einen Kuß auf die Wange. "Alles Gute noch mal, Herr Lance-Korporal."
Bregs drückte sie nur schweigend an sich.
"He, schwarzer Lippenstift im Gesicht steht dir gut!" Valdimier van Varwald kam mit wehendem Umhang auf sie zugeeilt. Sein T-Shirt zierte der Schriftzug 'FÜR IMMER UND EWIG'. An seiner Seite schritt Kanndra in einem langen schwarzen Kleid einher.
"Na dann nichts wie rein." Araghast nickte in Richtung Eingang, vor dem der Haufen es mittlerweile geschafft hatte, sich über die Kellertreppe in den Saal zu quetschen.
"Jawohl, Sör!" Kanndra salutierte zackig und marschierte voran.
"Moment noch." hielt Bregs sie zurück. "Eins wollen wir noch mal klarstellen. Wenn ihr mich in Zukunft mit 'Sir' anredet..."
"Ja?" fragte Val neugierig. "Was ist dann?"
"Dann drehe ich euch höchstpersönlich den Hals um."
"Ja, Sör!" grinste der Vampir und salutierte zackig.
Immer noch lachend betraten sie die 'Kaverne', in der sich bereits eine beachtliche Menge um die Bühne drängte und die Helfer, die gerade dabei waren, die Instrumente aufzubauen mit lauten 'Meister, Meister'-Rufen anfeuerte. Lea schnipste im Takt mit.
"Also, das übliche für euch?" Araghast nickte in Richtung Theke. "Zur Feier des Tages gebe ich einen aus."
Ein tiefes Brummen, welches die Magengruben sämtlicher Anwesenden zum Vibrieren brachte, verschluckte die Antworten seiner Freunde. Ein Troll richtete den gigantischen Kontrabaß auf und zupfte versuchshalber an den Saiten.
Wenig später standen die vier mit Getränken versorgt im hinteren Bereich der Kaverne und warteten auf den Konzertbeginn.

"Hallo Ankh-Morpork!" brüllte Hannes Haschfeld. "Schön, heute hier vor euch spielen zu können! Und nun hier unser erstes Lied: Bekämpft Feuer mit Feuer!"
Das Johlen des Publikums erreichte eine beinahe ohrenbetäubende Lautstärke.
Und dann schallten auch schon die ersten Akkorde durch den Saal.
Kanndra und Val waren irgendwo in der wild tanzenden Menge verschwunden. Zärtlich legte Araghast seinen Arm um Leas korsettierte Taille und sah sie an. Ihre haselnußbraunen Mandelaugen hinter den dicken Brillengläsern funkelten.
Und so verbrachten sie aus voller Kehle mitsingend das Lied.
Donnernder Applaus folgte. Vermutlich würden einige der Anwesenden die nächsten Tage damit verbringen, aufgrund akuter Stimmlosigkeit Schilder mit der Aufschrift 'Ich bin kein Pantomime, ich bin nur heiser' um den Hals zu tragen, was der Stimmung jedoch keinen Abbruch tat.
"Und jetzt," Haschfeld grinste das erwartungsvolle Publikum an. "Das Lied auf welches hier vermutlich alle gewartet haben. Das Lied, welches, wie mir zu Ohren gekommen ist, sogar einem Verbrechen ähnelt, welches vor einigen Wochen hier in dieser Stadt geschehen ist! Drum hier zu Ehren des verschollenen Jakob von Offenbach: Der Meister der Puppen!"
Während das Publikum seine Begeisterung herausschrie kramte Lea in ihrer Handtasche und förderte schließlich eine kleine Phiole zutage, in der eine klare Flüssigkeit grünlich schimmerte.
"Das ist doch eins von Sandmanns Medizinfläschchen!" Entgeistert starrte Araghast auf die Phiole.
Lea lächelte breit.
'Natürlich ist es Sandmanns!" schrie sie gegen die ersten Akkorde des Liedes an. "Aber der Inhalt ist Sinthab. Schon mal probiert?"
Araghast schüttelte den Kopf und nahm die Phiole an sich. Er schraubte den vergoldeten Verschluß ab und nahm einen tiefen Schluck.
Das Getränk brannte wie Feuer in seiner Kehle, doch konnte der Püschologe einen gewissen Wohlgeschmack nicht verleugnen.
"Hm." sagte er nur und gab es an Lea zurück, die sich ebenfalls am Inhalt bediente. "Darauf, daß wir Sandmann endlich los sind!" rief er.
Lea nickte lachend und steckte das Fläschchen wieder zurück.
"Wußtest du, daß er mir die Unsterblichkeit angeboten hat?" schrie sie Bregs ins Ohr. "Ich weiß auch nicht wie er das hinbekommen wollte."
Und dann begann Hannes Haschfeld zu singen.

Der bleiche Mond wirft dunkle Schatten
auf die Straßen in der Nacht
Verloren ist die einz'ge Seele
Die dort einsam harrt und wacht.
Kalt sein Herz und kalt sein Denken
Kalt die Hand und kalt der Mund
langsam knüpft er seine Fäden
schweigend, einsam, Stund um Stund.
Den Verstand voll finst'rer Pläne
wartet er seit Jahr und Tag
Auf die Begleichung einer Schmach
die seit langen an ihm nagt.

Komm krieche schneller
Es wird niemals heller
Deinen Geist beschwör' ich
Sei deinem Meister hörig

Meister...
Meister...
Meister der Puppen, wo gehst du hin
Macht in der Hand und Rache im Sinn
Erblindet in Haß und verloren in Zorn
Vergraben im Herzen der finstere Dorn

Zerstöret hat man seine Träume
Seine Liebe nahm man ihm
und so wurde er vom Manne
zum rachedürst'gen Ungetüm.
Menschenblut und hölzern Glieder
Farben, Samt und Knochenleim
Beseelt durch schwarze Zauberkünste
werden sie das Werkzeug sein
Glänzend hängen nun die Fäden
von dem dunklen Kreuz herab
Wo gehst du hin, oh Puppenmeister
öffnen tut sich schon dein Grab

Komm krieche schneller
Es wird niemals heller
Deinen Geist beschwör' ich
Sei deinem Meister hörig

Meister...
Meister...
Meister der Puppen, Die Fäden ziehend
Sein Sklave vor ihm niederknieend
Findet er dich so ist es vorbei
Laben tut er sich an deinem Schrei

Meister... Meister...
Dein irres Lachen durchdringt die Wände
Meister... Meister...
Gefangen in der Qual
Meister... Meister...
Krampfen tun sich deine Hände
Meister... Meister...
Um das Kreuz aus Stahl

Mit der scharfen Sense wartend
steht er dort, der Knochenmann
auch du kennst sicher die Gewißheit
daß man ihm nicht entkommen kann
Doch hört er nicht die letzte Warnung
furchtlos schreitet er voran
seinen schwarzen Zauber webend
mit dem das Grauen erst begann
Finsterer Schrecken eilt voraus ihm
Die Puppe streift die Fäden ab
Furcht und Panik, Entsetzen, Wahnsinn
trug die Macht die ihn umgab

Komm krieche schneller
Es wird niemals heller
Deinen Geist beschwör' ich
Sei deinem Meister hörig

Doch aus des tobenden Himmels Mitte
schlägt ein weißer Strahl hernieder
zerreißt das Herz des Puppenmeisters
und versenget seine Glieder
Vergangen ist des Wahnsinns Herrschaft
nur als letzter dunkler Gruß
ringelt sich ein dünner Faden
um einen rußigen Puppenfuß


Und mitten im Schlußwirbel legte Araghast seine Arme um Lea und küßte sie heiß und innig. Mochte draußen in der Stadt auch schon das nächste Verbrechen lauern, in diesem Moment erschien Ankh-Morpork dem frischgebackenen Lance-Korporal als der schönste Ort der gesamten Scheibenwelt.

Doch wenn Araghast glaubte, daß der Fall Sandmann erledigt war, so hatte er sich gründlich getäuscht.
Kolumbini hatte Recht gehabt. Es steckte mehr hinter der Sache.

Fortsetzung folgt...

ENDE




Hier folgt die obligatorische Danksagung...
Ein dickes dickes Danke geht an Robs fürs Korrekturlesen, Kolumbini fürs Korrekturlesen und die ausführliche Charakterberatung, Atera fürs Zwischenspeichern und Valdimier und Humph für diverse Kreativ-Chats und moralische Unterstützung. Des weiteren danke ich James Hetfield und Lars Ulrich für das Schreiben des Liedes 'Master of Puppets', Jacques Offenbach für das Komponieren der Oper 'Hoffmanns Erzählungen' und meinem armen armen Zeichenblock, der sich während einer akuten Schreibblockade mit diversen mehr oder weniger komischen Zeichnungen füllen lassen mußte. Ja, ich höre schon auf... Omas und sonstige Verwandte sowie Grundschullehrer werden nicht mehr gegrüßt ;)
[1]  Nun, politisch korrekt müßte es in diesem Fall 'Untotendasein' heißen, aber der Dramatik wegen verzichtet der Autor an dieser Stelle auf die korrekte Bezeichnung, Beschwerden der Untotenrechtebewegung sowie Reg Schuhs Selbsthilfegruppe bitte an N. Iemand, Nirgendwogasse 0, Schatten, Ankh-Morpork

[2]  Nachzulesen in der Single 'Hi-Hi-Hi-Hilfe!!!'

[3] Beziehungsweise politisch korrekt ausgedrückt die Existenz

[4] Beziehungsweise in dem Fall eines beidseitig Armamputierten mit dem Paket in einem Wägelchen welches an seiner Taille befestigt war als wäre er ein Zugtier

Zählt als Patch-Mission.



Für die Inhalte dieses Textes ist/sind alleine der/die Autor/en verantwortlich. Webmaster und Co-Webmaster behalten sich das Recht vor, inhaltlich fragwürdige Texte ersatzlos von der Homepage zu entfernen.

Feedback:

Die Stadtwache von Ankh-Morpork ist eine nicht-kommerzielle Fan-Aktivität. Technische Realisierung: Stadtwache.net 1999-2024 Impressum | Nutzungsbedingugnen | Datenschutzerklärung