Das halkyonische Pendel

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von Stabsspieß Atera (SEALS)
Online seit 29. 08. 2003
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Bei den neuen modernen Kommunikationswegen in der Wache interagieren die Wächter kaum noch verbal miteinander.
Rince befiehlt, dass die Wächter mehr miteinander reden sollen.
Mal ehrlich: Das ist doch Quatsch.

Dafür vergebene Note: 13



Anmerkung
Diese Single-Mission begann als ein Experiment noch vor der Idee mit dem Abteilungspokal. Man nehme 30 zufällig aus einem Wörterbuch ausgewählte Wörter, die auch per Zufall in einer vorgegebenen Reihenfolge festgelegt werden. Von den 30 Wörtern sind drei so genannte "Themenwörter", die die Handlung eben maßgeblich mit beeinflussen bzw. zumindest häufiger drin vorkommen. Auch diese drei Wörter wurden ohne Einfluss von mir aus den Nomen ausgewählt.
Zusätzlich dazu sollte eine Missionsvorlage verwendet werden, die ich mir frei ausgesucht habe.
Aus diesen Vorgaben entstand nun folgende Geschichte. Die zu benutzenden Wörter in ihrer Reihenfolge, die auch in der Mission markiert sind:
spekulieren, Sichel, intensiv, Gedicht, verschlampen, halkyonisch, abstauben, Antlitz, Finger, launenhaft, Ar, Schranken, Melancholie, Pendel, betrunken, Striegel, Fräulein, Bilderbuch, bevorzugen, Stangen, Trubel, verjubeln, eisern, Geweih, Mammon, Gedächtnis, Hau ruck, Falten, Ferse

Allerdings sollten diese Vorgaben, die ich mir ja selbst auferlegt habe, um etwas Herausforderung zu haben, in keinster Weise eure Bewertung beeinflussen. Ich wollte euch nur erklären, warum manche Wörter so komisch unterstrichen sind.


Das halkyonische Pendel



In einem großen, runden Turm ging ein Mann gebeugt und die Hände hinter dem Rücken verschränkt umher. Der Mann wurde Herr Gänsefüßchen genannt und hatte ein Problem.
"Ich habe ein Problem", sagte er gerade in diesem Moment und blieb in der Mitte des Turmes stehen. Er besaß keine Etagen, sondern nur einige Holzbretter, die zwischen den alten Steinen in den Wänden angebracht waren. Von dort konnte man sich bis nach oben hangeln zu einer merkwürdigen Vorrichtung aus Zahnrädern, Hebeln und Seilen, die an der Decke befestigt war und sich beharrlich weigerte irgendeinen Sinn in ihr erkennen zu lassen.
Herr Gänsefüßchen sah nach oben zu der metallenen Konstruktion und legte den Kopf eigentümlich schief. Murmelnd setzte er nach einer Weile wieder seine Tätigkeit fort im Kreis umher zu gehen. Den Blick auf den Boden geheftet, redete er leise in seinen nicht vorhandenen Bart. Es war dunkel in dem Turm, nur schummriges Licht zu sehen, das ganz weit aus der Ferne zu erahnen war.
Eine Türe öffnete sich plötzlich in der Seite und ein Hüne von einem Mann trat ein, den Körper dabei gebeugt um sich nicht am Türrahmen zu stoßen. Herr Gänsefüßchen wirbelte herum und starrte den Mann an, als wäre er ein widerliches Insekt, das soeben unter einer Steinritze hervor gekrochen war. Doch es war nur Alessandro.
"Ich habe ein Problem", verkündete Herr Gänsefüßchen. "Whir halle haben ein Problem", sagte er weiter, wobei er fast jedes Wort so aushauchte, als wäre es sein letztes, zumindest aber, als wäre es unter großer Anstrengung geboren. Der andere Mann nickte nur ergeben, im Laufe der Zeit hatte man unter den Handlangern einen inoffiziellen Katalog erstellt und hätte er einen Namen besessen, hätte dieser vermutlich '10 goldene Regeln, um während eines Gespräches mit Herrn Gänsefüßchen nicht den Kopf zu verlieren.' gelautet. Eine der Regeln besagte, dass man am besten zu jeder Äußerung schwieg oder nickte.
"Das angeforderte Papier für die Pläne ist jetzt da, Herr Gänsefüßchen", sagte der Handlanger namens Alessandro leise und versuchte jeden Spott und aufkommenden Hohn in seiner Stimme zu unterdrücken, der sich meist unwillkürlich bei der bloßen Nennung des Namens 'Gänsefüßchen' einstellte. Aber sie alle hatten gesehen, was mit Zirkel geschehen war. Zirkel hatte die Goldene Regel Nummer 5 eingeführt: Frage Herrn Gänsefüßchen nie nach seinen Namen. Denn dieser kam nicht, wie anfangs vermutet, von dem Spleen wichtige Wörter mit einer kurzen Fingerbewegung in der Luft zu unterstreichen, sondern von Herrn Gänsefüßchens geheimen Leibgericht, aber noch bevor man auf diese Erklärung überhaupt ein 'Ach, so ist das.' sagen konnte, fand man sich meist schon am Grund des Ankhs wieder... oder schlimmeres. Doch über 'oder schlimmeres' sprach man nicht gern.
"Ghut, ghut, soghar sehr ghut, häußerst ghut", hauchte der Angesprochene und unterbrach so die Befürchtungen seines Gehilfen.
Herr Gänsefüßchen folgte dem Hünen nach draußen. Vor ihnen erstreckte sich ein dunkler Gang, der Mann nahm eine Lampe von einem Haken und leuchtete damit voraus. Eine unbehagliche Stille breitete sich genau wie der Lichtschein aus. Unbehaglich allerdings nur für den großen Mann; neben ihm her hüpfte, kroch, watschelte und schlurfte Herr Gänsefüßchen wie ein merkwürdiges Wesen aus einer anderen Dimension. Irgendwie erinnerte er ihn an eine Raupe. Was vielleicht auch an dem kleinen nur spärlich mit Haaren versorgten runden Kopf von Herrn Gänsefüßchen lag und an seinen im Verhältnis dazu merkwürdig großen Augen.
Am Ende des Tunnels öffnete Alessandro die Türe und es folgte ein langer Treppengang, der sie in den großen Raum des "Bosses" brachte. Der "Boss" hockte in einem riesigen Sessel an dem noch riesigeren Kamin und döste vor sich hin. Vorsichtig schlich der Handlanger zum Holztisch in der Ecke, stellte die Lampe ab, huschte leise zum Sessel und betrachtete den Schlafenden. Er fand immer, dass er wie der Schneevater höchstpersönlich aussah. Oder wie ein großer alter Zwerg. Was vermutlich daran lag, dass es auch ein großer alter Zwerg war. Der Helfer räusperte sich mit der größtmöglichen Höflichkeit, man durfte den "Boss" nicht unsanft aus seinem Schlaf reißen, am besten (für einen selbst) war es, wenn er von alleine aufwachte, es zumindest so schien, als wäre er von alleine aufgewacht. Mit einem leisen Husten begann er, wollte gerade zu einem verhaltenen Räuspern ansetzen, als Herr Gänsefüßchen laut zu krakeelen begann.
"Who shind die Papiere??? Ich brauche die Papiere!", rief er und hüpfte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Der Hüne zuckte zusammen und die Gestalt im Sessel öffnete zornig die Augen. Ohne es eigentlich richtig zu wollen knabberte Alessandro nervös an seinen Nägeln. Es würde wieder mal Ärger geben. Das war das große Problem.
Jeder wusste, wer der Boss war. Jeder außer Herr Gänsefüßchen.

"Aus."
"Was soll das heißen, 'aus'?", fragte Atera zurück. Der Troll mahlte nachdenklich auf seinen Zähnen herum, es klang wie ein Geröllrutsch. Dann kratzte er sich geräuschvoll am bemoosten Kinn und starrte zur Decke.
"Es sein aus", formulierte er schließlich seinen Gedanken.
"Aber es kann nicht aus sein. Das geht doch nicht. Ihr hattet immer vorrätig." Sie pochte empört mit ihrem Haken auf die Verkaufstheke. Der Troll machte eine Bewegung, die aussah, als wolle er mit den Schultern zucken, aber es wirkte wie eine Drohgebärde. Die Wächterin blieb unbeeindruckt. "Was ist das hier? Eines dieser neumodischen Lokale, wo man drei Monate im Voraus bestellen muss?" Atera beugte sich näher vor, so dass sie dem Troll in seine Augen blicken konnte, die blanke Unverständnis widerspiegelten. "Bring mir deinen Boss", zischte sie. In diesem Moment tippte sie jemand zaghaft auf die Schulter und Atera fuhr herum. "Was?!", begann sie genervt. Dann blickte sie wesentlich freundlicher zu ihrem neuen Vektor, Lagan Nerviar. Er hielt ihr die Einkaufsliste entgegen.
"Ich will ja nicht äh unhöflich sein, Schäffin, aber meinst du wirklich, dass das meine Ausbildung mit umfasst?"
"Oh ja, natürlich. Sehr wichtig." Atera nickte bekräftigend. "Immerhin füllen sich die Wachebestände nicht von selbst auf. Oder was hast du gedacht woher all das Papier, die Tinte, die Federn, die Waffen, Uniformen undsoweiter kommen?"
"Äh, ich dachte, die besorgt irgendjemand, wenn es nötig ist", spekulierte Lagan.
"Dieser irgendjemand steht vor dir." Atera tippte sich auf den Brustpanzer. "Zumindest was einige Dinge betrifft und insbesondere unsere Abteilung."
"Warum bringt es nicht einfach jemand zum Wachhaus?", versuchte der Gefreite weiter der unangenehmen Aufgabe zu entgehen mit seiner Schäffin durch ganz Ankh-Morpork zu trotten und einzukaufen.
"Ach, da kann man doch niemandem vertrauen. Wer weiß, was auf dem Weg bis zum Wachhaus alles passiert. Außerdem ist es so viel billiger. Und vor allem kaufe ich lieber direkt vor Ort, nur allerbeste Ware", entgegnete der Stabsspieß. Lagan nickte und sah aus dem Fenster im ersten Stock nach draußen auf die undefinierbaren Abfallhalden und dunklen Zisternen im Hintergrund. Der Himmel war schmutzig grau, er hörte das heisere Kläffen der Hunde in den Käfigen an denen sie vorhin vorbeigegangen waren.
"Allerbeste Ware, verstehe", murmelte der Wächter leise und zog sich die Kragenecken seines Mantels höher, um den abscheulichen Geruch, der überall in der Luft lag, etwas abzuschwächen. Da knarrte die Treppe unter den Schritten eines sehr korpulenten Mannes, als dieser vor dem Troll in den Raum marschierte. Seine Haut glänzte rosig und er krempelte sich geschäftig die Hemdsärmel hoch, während er eine dicke Zigarre von einem Mundwinkel zum anderen schob und die Wächter neugierig taxierte.
"Was gibt's denn?", begann er und wandte sich an Atera.
"Dein Troll hier meint, es gäbe kein-"
"Ah, eine schöne Sichel, Fräulein. Eine wunderbare Wiederverwertung von Alteisen", unterbrach der Mann sie abrupt und strich über ihren Piratenhaken, was Atera vollkommen überrascht mit sich geschehen ließ. Dann fing sie sich wieder.
"Man nennt es einen Haken. Keine Sichel", entgegnete sie um einiges frostiger. "Und ich bin hier, um Papier für unsere Wachebestände zu erwerben, König." Paul König paffte nachdenklich an seiner Zigarre und blies den Qualm in den Raum, wofür Lagan ihm sehr dankbar war, da alles besser schien, als der intensive Gestank von den Abfällen und Resten, die der Mann auf seinem Hof lagerte.
"Also Papier, sagst du? Ne, Papier ist aus."
"Ja, das sagte mir dein Troll schon und-"
"Ich Speckstein heißen."
"Ja, Speckstein sagte es mir und du sagst es mir jetzt. Aber ich möchte wissen warum? Warum zum Geier bekomme ich kein Papier?! Ihr habt doch sonst immer Tonnen davon vorrätig", begann Atera loszuwettern. "Wenn das eine Art Affront gegen uns Wächter sein soll, dann-"
"Es ist einfach aus. Irgendnen Kerl kam und kaufte alles aus.. äh auf", fiel ihr der König ins Wort. "Bis ich wieder neues verwertet habe, dauert es noch etwas."
"Und worauf sollen jetzt schier Abertausende von eifrigen Wächtern ihre Berichte schreiben?" Atera sah den König des Goldenen Flusses an, als wäre er schuld für ihren wirklich miesen Tag, der von Minute zu Minute nicht besser werden wollte. "Na schön, sag uns Bescheid, wenn du wieder Papier hast. Lagan, lass uns gehen." Der Stabsspieß winkte und ging zur Türe, an der Schwelle hielt sie der Gefreite noch einmal auf.
"Ist es nicht seltsam, Mä'äm, dass jemand so viel Papier aufgekauft hat? Ich äh könnte doch dem nachgehen oder nicht, Schäffin?" Lagan Nerviar sah hoffnungsvoll zu Atera, die schließlich nachgab und nickte.
"Ich glaube zwar nicht, dass etwas dahinter steckt, aber das wäre in der Tat eine gute Übung in Zeugen befragen und Spuren nachgehen. Eine schöne Grundlage für einen Vektor und SEALS Wächter", antwortete sie. Kurz sah sie zu Paul König und hob die Stimme. "Mein fähiger Kollege wird hier bleiben, er hat noch ein paar Fragen." Und um einiges leiser, raunte sie Lagan zu: "Wehe, du verärgerst ihn. Er ist ein einflussreicher Mann."
"Aber.. ich mein.. er.. er ist ein Müllmann", raunte der junge Mann verständnislos zurück.
"Nein, er ist DER Müllmann, also sei nett." Atera wurde wieder lauter. "Ich besorge die restlichen Sachen und bin dann im Wachehaus, melde dich spätestens heute Abend bei mir."
"Ja, Mä'äm!" Lagan wirkte sichtlich erleichtert, als Atera gegangen war.
Bis er merkte, dass er allein mit einem Troll und Paul König in einem plötzlich sehr kleinem Raum stand.

Atera stapfte mit einem kleinen Karton in den Armen die Treppe hoch. Ein Karton voller neuer Federn. Federn für Papier, das es nicht gab.
"Sinnlos ist das!", wollte sie laut ihrer Wut Luft machen, besann sich dann aber eines besseren und schlich murmelnd die Treppe hoch. Leise knarrten die Stufen. Sie war im ersten Stock angelangt, schielte vorsichtig zu einer Türe, die zum Glück zu war und ging dann über den Flur zu ihrem eigenen Büro. Umständlich klemmte sie den Karton in ihre rechte Armbeuge, ihre Hand ruhte bereits auf der Klinke, als am anderen Ende des Ganges besagte Türe aufging. Unbeirrt drückte Atera dennoch die Klinke hinunter und wollte in ihr Büro eintreten. Beinahe hätte sie es auch geschafft.
"Atera, wie gut, dass ich dich gerade sehe." Der Kommandeur der Stadtwache nickte ihr freundlich zu und biss ein Stück von seinem belegten Brot ab, was er in der Hand hielt. Atera entschloss es schnell hinter sich zu bringen, zog mit einem Ruck die Bürotüre wieder zu und kam eiligst mit den Karton im Arm auf Rince zu.
"Sieh dir das hier mal an", forderte sie. Der Kommandeur wischte sich ein paar Krümel von der Uniform, schluckte und sah in die Kiste.
"Ah, äh Federn. Sehr schön", sagte er zögernd. Atera schob das Kinn nach vorn, schritt energisch in das Büro von Rince und ließ sich dort auf den Stuhl vor dem Schreibtisch sinken. "Äh.." Ratlos kam der Kommandeur hinterher und aß weiter von seiner Zwischenmahlzeit.
"So, was wolltest du mit mir besprechen?" Die untote Wächterin sah zu Rince, der sich wieder ächzend auf seinem Stuhl niederließ.
"Also eigentlich..." Der Kommandeur blickte sich auf seinem Schreibtisch um, der zugetürmt war mit Akten, Dokumenten, Memos und vielem mehr. "Wieder gut eingelebt nach deiner Rückkehr? Hast du noch Probleme mit dem... äh, na du weißt schon."
"Nein, weder im Dienst noch außerhalb", brachte Atera so überzeugend wie möglich hervor. "Worum geht es denn jetzt? Du hast mich doch sicher nicht extra in dein Büro rufen lassen, um mich wegen meinem Alkoholproblem zu befragen, was ja eigentlich äh kein Problem mehr ist, weil der Alkohol kein Problem mehr für mich ist. Also im Grunde sind beide Wörter getrennt, Alkohol und Problem, womit ich natürlich nicht sagen will, dass-"
"Es geht um eine wichtige Sache!", unterbrach Rince hastig. Er wühlte hektisch in seinen unzähligen Unterlagen und förderte ein zerknülltes Memo zu Tage. "Um dies hier!" Atera studierte das Blatt aufmerksam und runzelte dann die Stirn.
"Das Beförderungsschreiben von Arthur Messerfein zum Gefreiten?"
"Äh, nein, es geht um.. um.." Rince betrachtete das Chaos auf seinem Schreibtisch. "Um das Memo an sich. Um diesen ganzen Papierkram hier. Sieh dir das an. Papier, Papier, Papier!" Bei jedem Wort hob er einen Packen Dokumente auf und ließ ihn dann wieder fallen.
"Ich verstehe vollkommen." Atera unterstrich ihre Aussage mit einem bekräftigenden Klopfen gegen den kleinen Karton auf ihrem Schoß.
"So kann das nicht weiter gehen", redete der Kommandeur weiter. "Die Rohrpostdämonen sind pausenlos im Einsatz, von Flur zu Flur. Ich habe schon beobachtet, dass Wächter, die nur gegenüber saßen sich lieber umständlich Memos schickten."
"Jep, es gibt viel zu tun, viel zu tun. Und das ganze Papier. Jede Menge", stimmte Atera zu.
"Und denk nur an die Tauben."
"An die Tauben?"
"An die Tauben. Wir haben mehr denn je. Und die Nachrichtentürme melden erhöhte Betriebnahme. Seit wir jeden Wächter mit eigenen Paddles ausgerüstet haben, wird kaum mehr miteinander gesprochen. Alles läuft nur noch über die Türme, Tauben und Dämonen ab", ereiferte sich Rince.
"Jaja, das greift alles um sich. Aber es fängt am Papier an. Und von dort verbreitet es sich. Ich bin mir sicher", steuerte Atera bei. "Ich meine, wo kommen wir denn da hin? Heute musste ich durch die ganze Stadt laufen, nur wegen Papier. Habe natürlich nichts dagegen, absolut nicht, als Abteilungsleiterin die Wachebestände mit neuem Papier zu versorgen, aber-"
"Was? Schon wieder eine neue Lieferung? Die letzte muss doch erst... erst ein Jahr her sein!"
"Ja und dann wird man so einfach vor vollendete Tatsachen gestellt." Atera rüttelte an dem Karton. "Und nun sitze ich hier auf diesen niegelnagelneuen Federn beziehungsweise äh die Federn sitzen auf mir, aber der Punkt ist-"
"Wir müssen da jetzt einfach mal hart durchgreifen." Rince war aufgestanden und marschierte in seinem Büro umher, die eine Hand hielt das belegte Brot fest, was schon ganz durchgeweicht und labbrig war, da er es mehrmals dazu benutzt hatte, um seine Argumente zu unterstreichen. "Erst gestern war ich unten am Tresen, aber kein Wächter der diesen besetzte. Das einzige, was ich fand, war ein Zettel. Ein Zettel!", rief er empört aus. "Und willst du wissen, was darauf stand?" Atera hatte kaum den Mund aufgeklappt, als der Kommandeur auch schon aufgebracht weiter sprach. "Bin für fünf Minuten am Kaffeedämonen. Für fünf Minuten! Dafür schreibt irgendsoeiner ein Zettel! Und das noch dazu, wo der Apparat kaum ein paar Schritte weiter steht."
"Der Papierverbrauch muss eingeschränkt werden." Atera erhob sich ebenfalls. "Ich bin genau deiner Meinung."
"Wir müssen diese Aussage irgendwie verpacken, sonst gibt das nur Gelächter, weil alle die Hintergründe nicht einsehen können. Besonders die Rekruten haben da eine ganz andere Sichtweise."
"Ganz richtig. Schließlich können wir nicht einfach sagen, he, Leute, das Papier ist alle."
"Das ist es! Die richtige Taktik, damit die Wächter mehr verbal miteinander kommunizieren!", rief Rince aus. Atera schüttelte dem Kommandeur überschwänglich die Hand.
"Gelungen! Wirklich gelungen. Die Wächter müssen mehr miteinander verbal kommunizieren. Einfach fabelhaft", entgegnete die Wächterin.
"Leite alles in die Wege."
"Schon so gut wie fertig. Wie sagt man so schön, Gefahr erkannt, Gefahr gebannt." Atera stellte den Karton mit den Federn in Rince's Büro auf den Boden. "Ich lasse sie hier, die brauchen wir ja vorerst nicht mehr." Der Kommandeur nickte, sie salutierten beide und Atera verließ den Raum.
"Zu dumm, dass ich nicht selber darauf gekommen bin", murmelte er nachdenklich und biss wieder etwas von dem Brot ab. Bald würde er endlich weniger Chaos auf seinem Schreibtisch haben.

"Zu dumm, dass ich nicht selber darauf gekommen bin." Atera fütterte ihre Kröte gerade mit kleinen getrockneten Fliegen, als es klopfte und kurz darauf ein ziemlich aufgeregter Gefreiter eintrat.
"Ich habe den Kerl!", rief Lagan aus und erinnerte sich wieder daran zu salutieren.
"Welchen Kerl?" Die Wächterin bugsierte Sir Henry zurück in seinen kleinen Blechtrog unter dem Fenster.
"Der Kerl, der unser Papier aufgekauft hat! Und- mmmbl" Der jüngste Vektor von SEALS machte rascher Bekanntschaft mit einer untoten Hand vor seinem Mund als ihm lieb gewesen war.
"Schhht, jemand könnte dich hören." Atera zerrte ihn von der Türe weg, sah ihm mahnend in die Augen. "Wer weiß alles davon? Sag es niemandem. Ab sofort heißt es nicht mehr, das Papier ist aus, sondern: Die Wächter müssen mehr miteinander verbal kommunizieren. Rince ist der Meinung, dass zu viel geschrieben wird. Wir sollen wieder mehr miteinander reden", erklärte Atera, während sich Lagan stillschweigend fragte, wie lange er noch den Verwesungsgeruch seiner Schäffin aushalten musste ohne unhöflich zu werden. "Also wenn dich jemand fragt, ob wir noch Papier haben, was sagst du dann?", prüfte sie. Nach einer Weile zog sie die Hand von Lagans Gesicht zurück. Der junge Mann bemühte sich nicht lauthals nach Luft zu japsen und das Fenster aufzureißen.
"Ähm.. also.. ich sage, wir haben noch Papier.. und äh.." Lagan tastete sich Stück für Stück in seinem Satz weiter vor wie ein Seiltänzer über einem metertiefem Abgrund, beobachtete die Reaktionen von Ateras Mimik dabei und stimmte seine Worte danach so schnell wie möglich ab. "Und äh füge hinzu, dass ähm.. d-u, d-er Kommandeur das Papier unter Verschluss hält", beendete er mit einem triumphierenden Unterton, alle Klippen erfolgreich umschifft zu haben.
"Weil?", führte Atera fort.
"Weil wir mehr miteinander verbal kommunizieren sollen?" Lagan sah zweifelnd zur Wächterin, die jedoch zufrieden nickte. Stille sammelte sich im Raum, Atera ging hinter ihren Schreibtisch und setzte sich.
"Mal ehrlich: Das ist doch Quatsch", fasste sich der Gefreite schließlich und sagte so seine Meinung über die ganze Sache. "Außerdem können wir das Papier vielleicht wieder bekommen. Der König hat sich schließlich doch wieder äh erinnert, wer der Käufer war." Die untote Frau machte eine Geste, dass er weiter erzählen sollte. "Das äh Erinnern hat zehn Dollar benötigt", fügte Lagan etwas zögernder hinzu.
"Ich setze es auf deine Spesenrechnung."
"Es ist..." Der Wächter machte eine dramatische Pause. "Gratianus." Atera lehnte sich zurück. Sie sah Lagan unbewegt an, schob säuberlich ein paar Stifte auf ihrem Schreibtisch gerade, blickte zu einer Schublade, ließ ihre Augen über die Einrichtung des Büros schweifen, räusperte sich.
"Kilian Gratianus, der stadtbekannte Dichter. Er hat bereits unzählige Gedichte verfasst", half ihr Lagan aus. Atera schlug sich gegen die Stirn.
"Ah, Gratianus!", rief sie aus. Ein hauchdünnes 'Pling' in der Luft informierte sie kurz vorher, dass die Nähte vorne an ihrer Kehle rissen. Ihr Kopf klappte nach hinten. "Ich hätte es wissen müssen", teilte die Abteilungsleiterin der Decke mit.

Die Hand strich nachdenklich über den Federkiel, die einzelnen Federn richteten sich zögernd wieder dort auf wo sie die Hand passiert hatte.
"Nun schreib endlich", forderte der "Boss" im Sessel auf. Man hatte ihn so gedreht, dass er nun abseits vom Kamin saß und Herrn Gänsefüßchen beobachten konnte, der sich über ausgebreitete Papiere beugte. Das Kläffen eines kleinen Mopses ertönte, der es sich auf dem Schoß und dem langen Bart des "Bosses" bequem gemacht hatte und mit Augen, die beinahe unter Hautfalten zu verschwinden schienen, seinen Todfeind misstrauisch beäugte.
Er hatte auch allen Grund dazu. Mopsi, wie der Mops getauft worden war von seinem Herrchen (was von seinem Einfallsreichtum zeugte und so auch der Grund war warum der "Boss" die Hilfe eines verrückten Mannes bedurfte, der voller bizarrer Ideen steckte[1]), war Objekt zahlreicher Anschläge von Herrn Gänsefüßchen und die Helfer des "Bosses" hatten alle Hände voll zu tun, um die Versuche erstens abzuwehren und zweitens zu vertuschen. Es war zu einer Art Freizeitbeschäftigung des kleinen merkwürdigen Mannes geworden, der soeben hektisch um den Tisch herumlief und auf den riesigen Papieren mit Zirkel und Messband komplizierte Pläne zeichnete.
"Es ist bereit. Es ist bereit", rief er schließlich nach einer langen Weile, während die Kerzen auf den Leuchtern immer weiter heruntergebrannt waren. "Es ist bereit!", wobei er das 't' so sehr betonte, dass sich Spucke auf den Papieren verteilte.
"Und das Gedicht?", fragte der "Boss" nach. Seine Hand strich geistesabwesend über den runden runzligen Kopf des Mopses. Ein großer Siegelring steckte am Ringfinger, golden und prunkvoll wäre er gewesen hätte nicht eine grüne Patinaschicht ihn bedeckt. "Das Gedicht oder dieser Spruch, wie man das auch nennen mag, ist doch notwendig, nicht?" Der kleine Hund auf seinem Schoß sah auf seine Pfötchen als wäre er gemeint gewesen. "Du hast deine Notizen doch nicht etwa verschlampt oder?"
"Es ist bereit-t. Wenn ich sahhge es ist bereit-t, dann ist es bereit-t." Herr Gänsefüßchen holte einen Zettel aus seiner Westentasche, bedächtig faltete er ihn auseinander, streckte seine Hand pathetisch gen Himmel (bzw. Zimmerdecke) und nahm tief Luft.

"Zu dem Werk, was wir bestreiten,
Worte, die jene Tat kühn begleiten:

Es thront das Pendel, richtet halkyonisch im
Gleichklang der Zeiten. Wechselnd in Richtung und
Weise der Kreise, die durchschneiden,
unter und über der Stadt, in Stille."

Die Hand des Vortragenden sank nach unten, seine Lippen vibrierten ekstatisch und in den großen Augen war ein seltsamer Glanz getreten. Noch immer schienen die Worte nachzuschwingen, schienen den Raum auszufüllen, schienen-
"Das reimt sich ja gar nicht", unterbrach da der alte Zwerg im Sessel empört die Gedanken von Herrn Gänsefüßchen. Zitternd steckte der fast glatzköpfige Mann den Zettel abrupt wieder weg, kam auf den "Boss" zu.
"Dies war eine lorazionische Odenstrophe", begann er mit bebender Stimme, "mit dem berühmten lorazionischen Elfsilbern, die aus zwei trumbischen Versfüßen bestehen, gefolgt von einer unbestimmten Senkung, der Zäsur in der Mitte, ein Kelioktus bildet das Ende, komplettiert durch einen vollständigen Oistrestus sowie einem katalektischen Versfuß. Und ich spreche hier nur von der ersten Zeile und da wagst du es, da wagst du es", vor lauter Aufregung und wachsender Wut hatte Herr Gänsefüßchen sogar vergessen zu hauchen, "zu sagen, es reimt sich ja gar nicht???"
Stille herrschte für einige Augenblicke in dem Zimmer, nur die brennenden Holzscheite im Kamin knackten, der Mops schnaufte und versuchte unter den weißen Bart zu krabbeln. Sein leises Piepsen erweckte zwei Helfer an beiden Seiten, die die brenzlige Situation erkannten und rasch auf Herrn Gänsefüßchen zutraten. Auch auf die Gefahr hin seinen Kopf zu verlieren, wagte es Alessandro eine äußerst dumme Frage zu stellen:
"Eine ähm schöne Strophe, nur was bedeutet denn dieses 'halkyonisch'?"
"Erhaben ruhig! Erhaben ruhig!", verkündete Herr Gänsefüßchen, der sich zu dem Handlanger wandte und wieder ganz in seinem Element war. "Denn halkyonisch whird h'unser Instrument der Rache thronen h'und richten. Und whenn h'erst einmal h'alles beisammen ist, wenn es ghanz-z und ghar fertig ist, beghinnts!"
"Solange diese Strophe nur funktioniert", warf der "Boss" ein. Herr Gänsefüßchen fuhr erneut herum.
"Natürlich wird sie das! Im Turm wherden die Töne nur so dröhnen h'und h'alles zum Klingen bringen. Dhas Silben- und Versmaß ist genaustens dharauf abgestimmt, jedes Whort genau h'abgewogen und dhann h'und dann... dann wird es schwingen h'und klingen h'und ein jeder wird lauschen!!!" Er warf den zu großen runden Kopf in den Nacken und stimmte ein irres Kichern an, das alsbald zu einem grässlichen lautem Lachen wuchs, sich von Wand zu Wand stürzte und nicht mehr aufhören wollte abzuebben.

"... und darum müssen wir mehr miteinander reden", schloss Atera ihre sorgfältig vorbereitete Rede (die eilig Platz gefunden hatte auf einer ziemlich zerknitterten Einkaufsliste). Sie sah in eine lange Reihe verständnisloser Gesichter, einige versuchten ein Kichern zu unterdrücken. "Das ist ein Befehl vom Kommandeur, ab sofort wird nur noch Papier gebraucht, wenn es absolut notwendig ist", setzte der Stabsspieß etwas schärfer nach. Die anderen Wächter verstreuten sich allmählich murrend wieder, diskutierten im Gehen noch über die neue Order und besonders über die rätselhafte Passage "Zehn Schwerter, fünf Paar gebrauchte Stiefel und ach nein, das war die Liste".
Atera stieg zufrieden von dem Wachetresen, der ihr als Podest gedient hatte und wollte eben wieder hoch in ihr Büro gehen, als Cim zu ihr trat.
"Ich habe Lagan bei deiner äh Rede vermisst. Meinst du, wir sollten ihn abmahnen? Immerhin war es eine Pflichtveranstaltung", fragte er, während die Untote hastig die Einkaufsliste wegsteckte.
"Ähm.. nein, er ist auf geheimer Mission für mich", erwiderte Atera. "Es geht da um den stadtbekannten Dichter Kilian Gratianus." Der SEALS Stellvertreter nickte langsam. "Er hat unzählige Gedichte verfasst", wiederholte die Wächterin die Worte von Lagan. Stille.
"Du hast keine Ahnung wer Kilian Gratianus ist oder?", fragte Cim nach einer Weile.
"Nicht die geringste."

Nachdem Lagan Nerviar wieder zurück von seinem Auftrag[2] gekommen war, stellte sich heraus, dass Kilian Gratianus nicht nur ein stadtbekannter Dichter, sondern ab sofort auch ein stadtbekannter Toter war.
"Selbstmord", brachte der dritte Vektor keuchend hervor und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er war den ganzen Weg zurück gerannt, um das Papier für seine Taube zu sparen und nicht selten hatte er dabei den Kommandeur und seine Abteilungsleiterin verflucht. "Ich war bei seinem Haus, die Adresse ist ja stadtbekannt und habe höflich angeklopft. Naja, es hat niemand geöffnet, aber die Türe stand einen Spalt breit offen, also bin ich hinein und hab mich etwas äh umgesehen." Atera nickte und stützte ihr Kinn nachdenklich auf ihrer zur Faust geballten Hand. "Im Wohnraum lag er dann... sein Körper ganz merkwürdig verkrümmt. Neben ihm lag ein leeres Fläschchen, das er wohl ausgetrunken haben muss. Und ein Abschiedsbrief hält er in der Hand", berichtete Lagan weiter.
"Nun, ob das wirklich Selbstmord ist, muss RUM klären. Hast du SUSI schon verständigt?", fragte der Stabsspieß und der junge Mann nickte rasch. "Und das Papier?", hakte Atera weiter.
"Äh, Mä'äm, ich hielt das Papier zu diesem Zeitpunkt nicht so wichtig, als dass ich mich weiter umgesehen hätte." Die Abteilungsleiterin erhob sich wortlos und trat zum Fenster, ihre Hand ruhte hinter ihrem Rücken auf dem Haken.
"Und wer passt nun gerade in diesem Moment auf das stadtbekannte Haus des Dichters auf?"

Als die Spurensicherer Alice und Charlie Holm zum Tatort kamen, war der Ort bedrängt von einer wahren Menschenmasse an deren Spitze wie ein Riff, das aus tosenden Wellen herausragte, ein Troll stand. Unerschütterlich ruhig einem Bollwerk gleich und auf einem Stück Stein herumkauend postierte er vor dem Haus des stadtbekannten Dichters, während auf seinen Schultern wesentlich unruhiger Gnomen est Nomen herum sprang und die Menge zu vertreiben suchte. Allerdings zog er mehr Leute an, als umgekehrt, denn nicht oft bekam man Gelegenheit einen Gnom in Wächteruniform mit grasgrünen Haaren zu sehen.
Die SUSI Wächter kämpften sich durch den Pulk, im Schlepptau zwei Rekruten, die heute die zweifelhafte Ehre hatten die Ausbildungseinheit 'Ein Tag bei SUSI' zu absolvieren. Darunter auch ein Werwolf, was Alice persönlich schwer zu schaffen machte, aber sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen.
"Und du da, grins nicht so blöd! Ich habe das genau gesehen!!", rief Gnomen aus vollem Hals und deutete wahllos mit zitterndem kleinem Finger in die Menge. Ein Mann vom Kurier machte eine Ikonographie von seinen grünen Haaren.
"Äh, GeN, alles unter Kontrolle?", fragte Alice den Tatortsicherer. Sie hatte nicht oft erlebt, dass jemand seinen Beruf verfehlt hatte, glaubte aber einer jener Personen zweifelsohne vor sich bzw. auf der Schulter eines Trolles stehen zu haben.
"Kein Problem, hab alles im Griff. Ihr könnt ruhig hinein gehen", sagte der Gnom zu der Gefreiten und hob dann erneut seine Stimme. "Wer hat das gerufen, hm? Soll ich meine Stelzen holen?" Dann rief er noch weitere Dinge, die nur bei sehr freier Auslegung als philosophisch hätten gelten können. Begleitet von Johlen und Pfiffen betraten die vier Wächter das Haus. Alice schloss die Türe und der Lärm ebbte etwas ab.
"Okay", begann sie, als sie sich mahnend zu den Rekruten umgedreht hatte, "das hier ist ein echter Einsatz, keine Übung, kein Test oder irgendetwas in der Art. Also wir sichern hier nun Spuren und ihr müsst da sehr vorsichtig sein. Anhand von Spuren können wir vielleicht zur Lösung des Falles beitragen."
"Was ist das denn für ein Fall?", fragte Lan Gsam und sah sich neugierig im dunklen Flur um. Neben ihr stand Romulus von Grauhaar, zupfte gelangweilt an seinem Bart und schien auf weitere interessante Ereignisse zu warten.
"Hier soll der stadtbekannte Dichter Kilian Gratianus Selbstmord begangen haben, wir wollen prüfen, ob das stimmt", erklärte die Gefreite geduldig.
"Die Ankh-Morpork Times hat viele Berichte über ihn gebracht." Charlie Holm schritt weiter redend durch den Flur und trat in das Wohnzimmer. Ein toter Mann mit gewellten braunen Haaren lag seltsam verdreht mitten im Raum, das Gesicht wächsern und bereits bleich. Verkrampft hielt die totenstarre Hand ein Pergament, leblose Augen schienen das Holzmuster an der Decke zu betrachten. "Obwohl er einzig und allein wegen diesem einen Gerücht berühmt ist", bekamen die anderen die letzten Gedankenfetzen von Charlie mit.
"Was für ein Gerücht?", fragte Romulus. Alice zog sich dünne Handschuhe an und holte aus ihrem Beutel einen Ikonographenkasten, den sie dem Werwolf hastig in die Hände drückte und ihre dann rasch zurückzog.
"Oh, das ist gut, dass du fragst, es ist nämlich ein außerordentlich komisches Gerücht, denn..." Und so begann ein weiterer Redefluss des Gefreiten, der mittels Deduktionen die Verkettung der Umstände herleitete, warum der Dichter so stadtbekannt war, obwohl seine Gedichte so ganz und gar nicht stadtbekannt waren. Lanny, wie die Mumie auch genannt wurde, kam bei den schnell ausgesprochenen Sätzen nicht mehr ganz mit und sah sich lieber weiter um. SUchen und SIchern, das Prinzip von SUSI, ihr Motto, ihr Grundsatz, begann sie ihre eigenen Gedanken. Mittlerweile war sie soweit, dass sie sich den ersten Teil vollkommen verinnerlicht hatte. 'Suchen' klang sehr gut in ihren Ohren, nachdem sie einen Kaminsims genauer begutachtet hatte, fand sie auch schon erste Spuren. Zumindest vermutete sie, dass es Spuren waren.
Leider wusste die Mumie überhaupt nichts mit dem zweiten Teil des Grundsatzes anzufangen (er hatte viel mit Sichern und einer ominösen Unberührtheit zu tun) und zückte entsetzt ihr Staubtuch.
"Rekrutin!!" Alice riss ihr im letzten Moment das Tuch weg. "Was glaubst du, was du da tust?!", blaffte sie nicht minder entsetzt.
"Nun ja, es äh...", betreten blickte Lanny zu Boden, "es ist doch überall so schmutzig. Seht doch den ganzen Dreck, da und da und da." Sie deutete auf mehrere Flecken. Alice seufzte, schüttelte nur den Kopf und ermahnte noch einmal nichts anzufassen oder gar wegzuwischen.
"... und somit verhalf das Gerücht, Gratianus hätte einen ganzen Liter Ankhwasser getrunken ihm zu dem berüchtigten Ruf, der wiederum seinen Bekanntheitsgrad steigerte", schloss Charlie Holm. Romulus zuckte zusammen über die plötzliche Stille, die hereinbrach und betätigte vor Schreck den Auslöser am Ikonographenkasten. "Nicht ganz richtig, Rekrut. Du musst Bilder von der Leiche und der Umgebung machen", riet der Gefreite. Er bückte sich und gab ein kleines Glasfläschchen am Boden in einen Beutel, den er rasch verschloss. "Das muss die Ampulle sein von der Lagan gesprochen hatte", sagte er zu Alice, die inzwischen schon in gebeugter Haltung durch den Raum schritt und vorsichtig einzelne Gegenstände begutachtete. "Und diese, Rekruten, wird dann im Labor genaustens auf Spuren untersucht. Gift wäre die erste, rein logische Vermutung."
"Was ist mit dem Brief dort? Kann man den wegnehmen?" Lanny deutete auf das Papier, was der Tote hielt.
"Romulus, hast du auch genug Bilder gemacht?", fragte Alice. Der Rekrut schüttelte den Kopf und versuchte gleichzeitig zu nicken, während er mehrmals hastig auf den Kasten drückte, um sein Versäumnis nachzuholen.
"Ja", berichtete er, nachdem er die Situation nun seiner Aussage angepasst hatte. Die SUSI Wächterin nickte und entwand vorsichtig den Brief aus der Hand des Dichters. Was sie nun vorlas, war ein schwülstiger und pompöser Abschiedsbrief, wie er schwülstiger und pompöser nicht hätte sein können. Die Wächter ließen das eben gehörte noch kurz auf sich einwirken bis es Alice zu viel wurde und sie die unsäglichen Zeilen ebenfalls in einen Beutel steckte.
"Ich denke, Charlie", setzte sie erneut an, "es wird Zeit das neue Fingerabdrucksystem auszuprobieren, meinst du nicht auch?" Der hagere Mann nickte und rückte seine Brille zurecht, die offenbar immer wieder danach trachtete seiner Nase zu entkommen.
"Hast du das Rußpulver dabei?"
"Rußpulver??" Lanny bekam einen entsetzen Gesichtsausdruck, der jedoch auf dem Weg von ihren untoten Gesichtsmuskeln durch die Bandagen hindurch verloren ging. Alice nickte bekräftigend.
"Ja, ihr werdet nun dieses Pulver hier nehmen und verdächtige Stellen sorgfältig abstauben." Die junge Gefreite schraubte ein Döschen auf und hielt es den Rekruten hin. Romulus räusperte sich höflich und wollte zu einer Frage ansetzen.
Doch schon das erste Wort blieb ihm mitten im Halse stecken, als er aufsah und in das schwarze Antlitz von Alice blickte.

Der Werwolf setzte gerade zu einer umständlichen Entschuldigung an, als Stabsspieß Atera unvermittelt seltsame Worte[3] rufend hineinplatzte, gegen Romulus stieß, der erschrocken gegen das Döschen schlug, das auf der mittlerweile bebenden Handfläche der SUSI Spurensicherin ruhte. Das folgende Geschehen ging in einer Rußstaubwolke unter.
"Also wirklich, ihr bei SUSI solltet aber besser wissen, dass man nicht noch extra Dreck zum Tatort hinbringen muss", sagte Atera fröhlich, nachdem sich der Staub legte... und zwar auf die Wächter und den kompletten Raum. "Damit vernichtet ihr alle Spuren. Ich dachte, ihr verstündet euer Handwerk besser." Alice Gesicht verdunkelte sich, wohingegen Lanny nun eher dem weiblichen Äquivalent eines Schwarzen Mannes glich als einer Mumie mit weißen Bandagen. Charlie hustete unter dem Staub und wischte sich mit einem Tuch das Gesicht ab.
"Nun, zumindest ist es verteilt", versuchte er die Situation zu retten, gleichzeitig ruhte seine andere Hand auf der Schulter von Alice, die leise mit den Zähnen knirschte und für einen Moment die Anzahl ihrer Rangstreifen vergaß.
"Habt ihr schon etwas gefunden?", fragte Atera. Charlie zeigte ihr die gläserne Ampulle und den Brief. "Und kein Papier?" Ihre Stimme klang fast enttäuscht. "Ich habe die Meldung, dass Gratianus eine sehr große Menge an Papier aufgekauft hat. Wir bei SEALS wollen herausfinden warum."
"Wir können gemeinsam die restlichen Räume in Augenschein nehmen", schlug Charlie vor. "Vielleicht finden wir Hinweise auf den Täter."
"Täter?" Atera sah ihn fragend an und der Gefreite begann mit einer weiteren Deduktion, als sie in das nächste Zimmer gingen. Ihre Stiefel hinterließen Abdrücke im schwarzen Pulver, das sich auf dem Boden verteilt hatte.
"Also ich wollte eigentlich nur fragen, wie das Fingerabdrucksystem funktioniert", griff Romulus einen längst vergangenen Punkt auf. Alice schnaufte nur, strich sich eine dunkelrote Haarsträhne aus dem Gesicht und holte einen kleinen, dreieckigen, schwarzen Kasten hervor.
"Ein Finger", erklärte sie mit seltsamer Ruhe und honigsüßer Stimme, "hinterlässt immer einen Abdruck."
"Hier liegen Finger rum?" Romulus wandte den Kopf hin und her.
"Die Abdrücke sind winzig klein und kaum sichtbar. Mit dem Rußpulver kann man sie jedoch entdecken", ergänzte die Gefreite. Dann sah sie zu Lan Gsam. "Alles in Ordnung, Rekrutin?"
"Ich weiß nicht, ich hab die Augen noch nicht aufgemacht." Sie fuchtelte vor ihrem Gesicht herum. "Ich fürchte, ich sehe schwarz."

Charlie zog ein paar Schubladen einer Kommode auf. Sie waren im letzten Raum angelangt, aber bisher keine Spur von Papieren.
"Die Tatsache, dass wir auch nach gründlichem Absuchen kein Papier gefunden haben, lässt den Schluss zu, dass keines vorhanden oder es so gut versteckt ist, dass wir es nicht haben finden können. Was weitere Vermutungen nach sich zieht", sagte der Spurensicherer nach einer Weile.
"Merkwürdig", entfuhr es Atera, als genau in diesem Moment ein spitzer Schrei von unten kam. Es hörte sich an wie Alice. "Sie ist etwas launenhaft, was?" Obwohl es so klang, als sei Alice nicht bester Laune, gingen die beiden Wächter aus dem ersten Stock nach unten in den Raum, wo der Tote lag. Nun, er lag nicht mehr. Er saß sehr aufrecht und beschwerte sich über die Verschandelung seiner Wohnung.
"Was ist passiert, Madame?", fragte er.
"Hier ist alles dreckig!!", kreischte Lanny, die ihre Bandagen wieder in die richtige Form gebracht hatte. Dann starrte sie an sich herunter. "Ich bin dreckig!!"
"Er ist einfach so wieder hochgesprungen!", beschwerte sich Alice. Mittendrin ertönte das leise Knipsen des Ikonographen, dann ein greller Blitz von dem Salamander, der sich erschrocken hatte. Kurzzeitig sah die Welt aus wie ein Negativ.
"Gut, schön, beruhigen wir uns alle-", begann Atera und rieb sich angestrengt nachdenkend die Stirn.
"Was ist passiert?!" Offene Panik schwang in der Stimme des Dichters wieder. "Was ist passiert?!"
"Ich hatte vorhin keinen Puls gefühlt und der Spiegel wurde nicht beschlagen, er war eindeutig tot." Charlie Holm trat weiter in den Raum und betrachtete den stadtbekannten Mann. "Bitte einmal kurz Atmen." Der Wächter hielt ihm einen kleinen Spiegel vor das Gesicht. Kilian wölbte die Lippen, schürzte sie, schob seine Brust heraus... und gab ein kleines heiseres Krächzen von sich.
"Ich... ich hab vergessen wie das geht", sagte er tonlos.
"Willkommen in der Welt der Untoten", begrüßte ihn Atera bissig. Gratianus erwiderte nichts, rollte sich nur zu einem kleinen Ball zusammen und schwieg beleidigt. Probeweise stupste der Stabsspieß den kleinen Ball mit dem Fuß an, doch die einzige Reaktion war ein dahingejammertes "Geht weg".
"Na schön.. äh.. er wird sich auch wieder beruhigen. Ich gehe am besten zum Wachhaus zurück. Fragt ihn nach den Papier und so. Untersucht das Fläschchen aus dem er getrunken hat, den Abschiedsbrief undsoweiter", gab Atera Anweisungen und empfing dafür einen Wir-wissen-wie-das-geht-Blick.
"Ich würde vorschlagen, dass du ihn mitnimmst", schlug Charlie vor. "Immerhin bist du ein Zombie und hast so vielleicht besseren Zugang zu ihm."
"Außerdem sind wir nur für die Spuren zuständig", fügte Alice hoffnungsvoll hinzu. Atera seufzte und gab schließlich nach. Es dauerte einige Versuche bis sie schließlich den neuen Zombie dazu bewegen konnte sich überhaupt mal zu bewegen.
"Am besten geht ihr durch den Hinterausgang." Romulus spähte im Flur durch eine Gardine nach draußen. "Vor der Tür ist immer noch eine Menschenmasse." Die Wächter suchten einen zweiten Ausgang und standen nach einigem Hin und Her draußen im Hinterhof.
"Wessen Fall ist das nun?", fragte Lan Gsam.
"Die Spurenuntersuchung übernimmt SUSI und nach den bisherigen Hinweisen würde ich sagen, dass RUM-"
"Meiner", unterbrach Atera den Gefreiten. "Nun, komm schon, Gratianus."
Aus dem Hauseingang schlurfte eine trostlose Gestalt, starrte kurz trostlos in die Sonne, wandte betont langsam den Kopf und sah Atera aus trostlosen Augen sehr trostlos an.
"Die Welt ist schlecht", verkündete der Untote.

Alessandro klopfte die Platte fest und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Neben ihm kniete Hans, hielt sich seine gequetschten Finger und fluchte leise.
"Was kann ich dafür, wenn du deine Griffel da so hinhältst, während ich schlage?", versuchte sich Alessandro zu verteidigen, doch sein Kollege warf ihm nur einen bösen Blick zu. Der Handlanger betrachtete die große Platte aus poliertem Holz, die sie gerade im Turmboden anbrachten und mit Nägeln am Rand befestigten. Merkwürdige Symbole und Linien waren eingeritzt und mit schwarzer Farbe markiert. Es sah alles so furchtbar kompliziert aus, dass Alessandro schon vom bloßen Hinsehen schwindelig wurde.
"Schhht... er kommt", warnte Hans. Im Grunde war er ein lausiger Handlanger und nur dem Umstand, dass er die Schritte von Herrn Gänsefüßchen immer als erster hörte, verdankte er sein Leben und das Wohlwollen der anderen. Die Tür zum Turm wurde geöffnet und der kleine Mann hüpfte regelrecht hinein, rutschte auf dem gebohnerten Holz aus und kam schlitternd zum Stehen, während er irgendetwas kreischte.
"Das Seil ist da!!", hörten die beiden Männer schließlich. "Na los, los, los! Holt es herein!", befahl er. Rasch sprangen die Gehilfen auf und drückten sich an Herrn Gänsefüßchen vorbei aus dem Raum. Ihre Schritte verhallten leise im Gang.
Versonnen betrachtete der kleine Mann mit dem runden Kopf die Platte unter seinen Füßen, die sich im ganzen Raum ausbreitete. Er schritt sie ab. Er tat es noch mal.
Als Alessandro und Hans zurückliefen, ein großes Seil dabei tragend, sahen sie einen im Turm hin- und herlaufenden Herr Gänsefüßchen.
"Der Wirkungsradius beträgt genau eine Million Ar", begann Herr Gänsefüßchen so abrupt, dass Alessandro vor Schreck abbremste und stehen blieb, sein Kollege stieß überrascht gegen ihn. "Eine Million Ar und dieser eine Punkt hier." Er stellte sich in die Mitte und wippte auf seinen Zehenspitzen. "Hier ist 1." Mit weit ausgebreiteten Armen begann er sich im Kreis zu drehen. "Und der Rest", rief er dabei, "ist 1000000. Eins zu einer Million! Versteht ihr?"
"Äh.." Alessandro klappte den Mund auf, aber mehr als 'Äh' fiel ihm zu dem immer schneller drehenden Gänsefüßchen-Kreisel nicht ein. Er sah wirklich aus wie ein Kreisel, fand der Handlanger nach längerer Überlegung.
"Die Grenze liegt bei einer Million Ar, das ist die Linie, der Radius, der Kreis, unsere Schranken in denen wir schalten und walten!!!!!" Herr Gänsefüßchen kam keuchend und atemlos zum Stehen, wankte auf den entsetzten Alessandro zu, streckte sich, packte den großen Mann, drückte beide Hände so fest an dessen Gesicht, dass die Lippen sich ungewollt spitzten, küsste ihn fest und fiel dann in Ohnmacht.

"Steh wieder auf", sagte Atera genervt. "Steh wieder auf. Steh wieder auf", wiederholte sie monoton, aber es brachte nicht die gewünschte Wirkung.
"Vielleicht gefällt es mir hier ja", gab Kilian Gratianus beleidigt zurück.
"Es ist zu gefährlich. Und ich muss zurück ins Wachhaus." Atera widerstand der Versuchung ihren Begleiter zu treten. "Also, verdammt noch mal, komm endlich." Keine Reaktion. "Hör mal, wenn ich hier weg gehe", versuchte sie es etwas versöhnlicher, "werden die lieben Leute um uns herum-"
"Ich geb dir gleich liebe Leute!! Ihr behindert den ganzen Verkehr!!", brüllte ein Mann von einem Karren herunter.
"-einfach weiterfahren. Egal, ob du dann noch auf der Kreuzung liegst oder nicht."
Der Untote rührte sich nicht, lag weiterhin flach mit der Bauchseite auf dem Kopfsteinpflaster und dem Gesicht im Dreck.
"Ist doch egal", brummte her zwischen den Pflastersteinen hervor.
"Uns auch!", rief eine Frau, die sich empört aus einer Kutsche beugte.
"Siehst du, niemand interessiert sich für mich. Ich bin ein bloßer Fußabtreter", jammerte Kilian weiter. "Mein Leben ist bedeutungslos."
"Du hast kein Leben mehr", bemerkte Atera und bereute den Satz sofort wieder, als der Zombie vor ihr dies zum Anlass nahm noch lauter zu klagen. Der Stabsspieß seufzte. Sie standen mitten auf einer Kreuzung, um sie herum erboste Bürger, die vorbei wollten und die Atera nur mühsam in Schach halten konnte. Es war eindeutig kein guter Tag.
Die Wächterin packte den Dichter an den Schultern und zog ihn hoch. "Lass uns nun endlich zum Wachhaus gehen, dort bekommst du einen Kakao und wir reden in Ruhe über deine großen und kleinen Probleme, okay?"
"Kakao?" Der Mann strich sich eine gewellte braune Haarsträhne aus dem Gesicht und sah Atera an.
"Ja, genau. Kakao, eine schöne, heiße Tasse voll mit wohlschmeckenden Kakao. Das ist genau das richtige für frische Zombies", antwortete sie.
"Kann Kakao nicht ausstehen." Die Wächterin seufzte zum wiederholten Male und zerrte Kilian kurzerhand einfach mit sich, der unbeholfen hinter ihr herstolperte. Es dauerte nur ganze zehn Sekunden, als dieser anfing wie am Spieß zu schreien. Genervt drehte sich Atera um.
"Okay, was ist jetzt schon wie-" Sie hielt inne und starrte auf den Arm, den sie in der Hand hielt. Gratianus war zu Boden gestürzt und wand sich schreiend hin und her.
"Du hast mir den Arm abgerissen!!! Ich verblute!! Diese Schmerzen! Diese Schmerzen!" Atera kam mit ruhigen Schritten auf ihn zu und hielt ihn fest, doch der Dichter trat wild um sich und schien nicht mehr aufhören zu wollen.
"Beruhig dich!", herrschte Atera ihn an. "Das sind Phantomschmerzen, du kannst überhaupt nicht verbluten, hörst du?"
"AAAAHHHHHH!!", machte er trotzdem laut weiter und trat Atera gegen ihr linkes Knie. Sie verpasste ihm eine Ohrfeige und ihre Hand fiel ab.
Es lag weit hinter ihrer Vorstellungskraft, dass dieser Tag noch irgendwie schlimmer werden konnte, als er es jetzt bereits schon war.

"Okay, ein anderes Beispiel. Du gehst die Straßen entlang, sagen wir am Rande des Schatten und plötzlich hörst du einen Schrei, aus einer Gasse kommt eine zwielichtige Gestalt gelaufen, einen Beutel geschultert. Was machst du?" Cim sah abwartend zu Lagan. Neben ihm saß Ombia Kesselring und schlürfte an einem Kaffee, während sie aufmerksam zuhörte. Die drei SEALS Wächter saßen in der Kantine, wo es einigermaßen ruhiger war und diskutierten über ihre Aufgaben als Vektor, wobei sie gegenseitig verschiedene Situationen durchspielten.
"Naja, ich rufe erstmal, dass der Kerl stehen bleiben soll, wenn er das nicht tut, merke ich mir wenigstens sein Aussehen und..." Die Tür zur Kantine ging auf und Atera mit einem weiteren Zombie kam herein, der hinter ihr her trottete.
"Ich weiß, das erste Mal ist immer das schwerste, aber wir nähen ihn jetzt gemeinsam wieder an und ich geb dir was Nähgarn ab", redete die Abteilungsleiterin mit dem anderen Zombie, der die trostloseste Miene aufgesetzt hatte, die Lagan je gesehen hatte. "Morgen, Leute, ich sehe, ihr seid dabei verbal miteinander zu kommunizieren. Lasst euch nicht stören." Sie legte einen Arm neben Lagan auf den Tisch.
"äh... gehe in die Gasse, um.. äh." Der auszubildende Vektor hatte den Faden verloren.
"Wer ist das?", fragte Cim.
"Darf ich vorstellen: Kilian Gratianus, der stadtbekannte Dichter", antwortete Atera und rückte einen Stuhl heran. Lagan starrte den Mann mit aufgerissenen Augen an.
"Aber... aber er war tot", begann er. "Ich habe extra den Puls gefühlt."
"Ich bin immer noch tot", sagte Kilian in traurigem Tonfall, setzte sich und ließ seinen Kopf auf die Tischplatte sinken.
"Untot", fügte die Abteilungsleiterin hinzu.
"Wenn es euch recht ist, bleibe ich hier sitzen und zerfalle so vor mich hin", teilte der Dichter dem Tisch mit.
"Was ist denn mit dem los?", raunte Ombia.
"Ein typisches Zombiesymptom", raunte Atera zurück. "Aber ein sehr unerträgliches. Er schwankt zwischen Melancholie, Depression, Trauer, Selbstmitleid und ekelhafter Gleichgültigkeit." Wesentlich lauter fügte sie hinzu: "Aber das kriegen wir schon wieder hin, was, Dichter?" Sie knuffte ihm in die Seite.
"Ich bin ein Nichts. Ein Niemand." Der Zombie gab einen langen Seufzer von sich, was aber eher wie ein kümmerliches Ächzen klang. "Außerdem bin ich kein Dichter."

Herr Gänsefüßchens Erwachen war von so furchtbarer Natur, dass er sich eine zweite Chance dafür gewünscht hätte. Er blinzelte und sah am Bettende den Mops sitzen. Der Mops wurde vom Zwerg gehalten, was ihm das Leben rettete.
"Da bist du ja wieder", brummte der Zwerg in seinen langen Bart und sah Herrn Gänsefüßchen finster an. "Das Seil ist aufgehängt."
"Und der Haken daran?"
"Der auch." Der Zwerg ging zur Türe der kleinen Schlafkammer und öffnete sie. Kurz davor drehte er sich noch einmal um. "Das Gewicht für das Pendel ist bereits da. Du musst bei der Justierung dabei sein."
Herr Gänsefüßchen starrte woanders hin, bis es dem Zwerg auffiel, vergingen einige gefährliche Sekunden. Dann kam er zurück, nahm den kleinen piepsenden Hund an sich und ging endgültig.

"Du kannst ihn doch nicht betrunken machen!", rief Cim aus. Atera zuckte mit den Schultern, neben ihr nuckelte der Zombie an einer Flasche Gin.
"Das äh wird seinen Kopf etwas klarer machen und danach kann er uns in Ruhe alles erzählen. Ombia, du notierst alles, was er sagt", befahl der Stabsspieß, während sie die Frage ihres Stellvertreters, woher sie eigentlich den Alkohol so schnell hatte, überging.
"Würde ich ja gerne, Schäffin, aber mir ist da was ganz verrücktes passiert", begann die Gefreite. "Ich stand mitten an einer Kreuzung um Personalien von zwei Leuten aufzunehmen, die von einer vorbeifahrenden Kutsche verletzt worden waren und plötzlich kommt so ein großer Kerl mit schwarzen Haaren aus der schaulustigen Menge, reißt mir meinen Notizblock aus der Hand und verschwindet wieder. Ich war so verdattert, dass ich überhaupt nicht reagieren konnte."
Die anderen Wächter starrten sie an. Nach einer Weile räusperte sich Atera verhalten.
"Das war eine sehr... interessante Ausrede, Ombia", sagte sie schließlich.
"Es ist keine Ausrede!", versuchte sich die SEALS Wächterin zu verteidigen. Cim klopfte seine Taschen ab.
"Ich habe leider auch gerade keinen mehr vorrätig." Zaghaft hob Lagan seinen Block auf dem vereinsamt noch eine Seite befestigt war.
"Na schön, das muss erstmal reichen. Notier nur das Wichtigste. In Stichwörtern", sagte Atera und rückte dann ihren Stuhl zu Gratianus, der trübsinnig auf den nun sichtbaren Flaschenboden blickte.
"Das Leben ist sinnlos." Kilian sah die Wächter mit kleinen Augen an. "Was könnte es denn schon geben, was ihr von mir wissen wollt?"
"Erzähl einfach was passiert ist. Hast du dich selbst umgebracht? Und wenn ja, warum? Weshalb sagst du, du wärest kein Dichter? Und vor allem: Wo ist das Papier?", fragte die SEALS Schäffin im raschen Tempo. Kilian Gratianus öffnete den Mund und setzte zu einer Antwort an.

Wie ein kleines Kind am großen Schneevaterfest, hatte sich Herr Gänsefüßchen über die riesige Kiste gebeugt und schaufelte Unmengen an Füllmaterial heraus.
"Wo? Wo? Wo?", sagte er immer wieder wie ein Mantra vor sich hin. Dann holte er endlich mit zwei Händen haltend das Gewicht heraus. Die Krönung des Pendels. Die Krönung überhaupt. Es weit von sich haltend schleppte er es zum Seil, das schlaff herunterhing. Er betrachtete es. "Gutes Seil", sagte Herr Gänsefüßchen und tätschelte es lobend. Er nahm tief Luft, was mit einem "Hiaaaaach" Geräusch begleitet wurde und befestigte dann das Gewicht, das mit einer Spitze nach unten zeigte, am Seil. Im gleichen Augenblick sprang er rasch zurück, als könne es explodieren.
Der alte Zwerg hatte sich zum Eingang des Turmes begeben und wartete dort scheinbar nicht sonderlich beeindruckt auf das weitere Geschehen. Neben ihm gleich drei Handlanger.
"Das ist es also?", fragte der "Boss" skeptisch. Herr Gänsefüßchen hüpfte aufgeregt um das Pendel herum. Die Spitze zeigte genau auf die Mitte der Tafel.
"Fabelhaft! Grässlich! Scheußlich! Hinreißend!", rief er entzückt aus. Dann blieb er augenblicklich stehen und streckte in einer theatralischen Geste die Hand zur immer enger werdenden Turmspitze. Oben war das lange Seil an der komplizierten Apparatur befestigt worden, kleine Räder griffen leise klickend ineinander. Das Pendel bewegte sich dabei nicht einen Millimeter. "Zu dem Werk, was wir bestreiten, Worte, die jene Tat kühn begleiten:"

Es thront das Pendel, richtet halkyonisch...


Etwas war anders, als zu dem Zeitpunkt, als Herr Gänsefüßchen die Worte in dem Zimmer des "Bosses" gesprochen hatte. Die Worte klangen. Sie entwichen den Lippen des Mannes, befreiten sich von seinem Laut und vibrierten ohne Halt in der Luft. Sammelten sich wie ein Pfropf im Turm, wurden mit jeder Zeile dichter und dichter. Drückten den Raum zusammen. Es war, als hätte man einen nassen Schwamm genommen, um ihn bis zum letzten Tropfen auszuwringen.

... in Stille.


Und da begann das Pendel zu schwingen.

Der Untote wollte etwas sagen, aber kein Laut war zu hören. Sein Mund stand sperrangelweit offen, die Gesichtszüge waren verkrampft. Es schien so, als schreie er.
"Was ist los?", wollte Atera fragen, aber die Worte schienen direkt hinter ihren Lippen aufzuhören zu existieren. Gegenüber machte Cim wilde Gebärden und Lagan kritzelte hastig etwas auf seinen Block.
Magisches im Gange? Atera nickte darauf, erhob sich und lauschte angestrengt. Es war so still, dass sie es nicht lange aushielt. Alles schien verstummt. Alles? Sie nahm die leere Ginflasche und ließ sie auf den Boden fallen. Kaum traf sie auf die Fliesen auf, wechselte das Glas von seiner ursprünglichen Form in tausend kleinere Scherbenartige. Die untote Wächterin hieb mit der Faust auf den Tisch. Keiner zuckte zusammen.
Alles war still. Lautlos zog sie ihr Schwert und pirschte durch die Kantine. Kurz vor der Türe wurde sie von Cim zurück gehalten, er deutete immer wieder auf Gratianus. Atera zuckte mit den Schultern. Sie wollte ihn nicht unbedingt mitschleppen. Eher wollte sie, dass der ganze Spuk hier aufhörte. Ihr Kopf dröhnte und ihre Zähne klapperten, dass sie befürchtete, sie könnten gleich ausfallen. Konzentrier dich, ermahnte sie sich. Sie war Ranghöchste, da durfte sie nicht kopflos irgendwo herumstehen. Zuerst einmal brauchte sie was zu schreiben. Kurz nach dem Gedanken seufzte sie unhörbar.
Vielleicht war das Papier nicht ohne Grund weg...
Atera trat in die Wachehalle, wo das Chaos auf sie wartete. Wächter liefen hin und her, machten Gesten und jeder schien was sagen zu wollen. Atera wünschte, sie hätte laut "Ruhe!" brüllen können. Sie musste irgendetwas tun. Führungskraft beweisen oder so. Suchend glitt ihr Blick über die Wächter, aber kein ranghoher Kollege in Sicht. Hinter ihr kamen Cim, Ombia und Lagan aus der Kantine.
Wohin? Was nun?, stand auf Lagans Block irgendwohin gequetscht. Atera steckte wieder das Schwert ein, zupfte Cim am Ärmel und zog die drei SEALS Wächter mit sich. In einer tiefen Ecke im Wachhaus, die schon lange nicht mehr betreten worden war, stemmte sich Atera gegen eine Tür und schob den Unrat dahinter Stück für Stück beiseite. Sich mühsam durch den Spalt quetschend trat die Abteilungsleiterin in die Rumpelkammer der Stadtwache.

Normalerweise hätte man nun viel Gepolter, lautes Fluchen und Scheppern gehört, vielleicht noch ab und zu begleitet durch ein Klirren dann und wann, aber es blieb alles still. Zu still. Immer unruhiger werdend warteten die anderen Wächter auf das Zurückkommen ihrer Schäffin, die in dem Raum verschollen schien. Nach einer langen Weile tauchte sie urplötzlich wieder auf, ein "Tatada"-Ausdruck im Gesicht und beladen mit merkwürdigen grünen Tafeln.
Lagan zuckte ratlos mit den Schultern, als er eine davon in die Hand gedrückt bekam. Die Tafel besaß einen hellen Holzrahmen und in der Mitte eine seltsam glatte dunkelgrüne Fläche. Atera hielt etwas in der Hand was wie ein Stift mit breitem Ende aussah, drückte ihn fest auf eine der Tafeln und schien zu schreiben.
Wachstafel, war nach einiger Zeit dort zu lesen. 20 Stück gefunden, an Offiziere und Rest verteilen. Die Abteilungsleiterin gab Ombia, Cim und Lagan einige der hellen Griffel und mühsam versuchte Lagan etwas auf seine Tafel zu schreiben. Es war anstrengender als es aussah, aber am Ende hatte er krakelig Was sind das für Stifte? zustande gebracht. Irgendwie beunruhigten sie ihn.
Mit dem Spachtel am anderen Ende des Griffels rieb Atera über den Wachs und ihr eben geschriebenes verschwand. Muss zu Rince kam nur als Antwort.

In der Unsichtbaren Universität herrschte helle Aufregung. Die Zauberer hatten sogar ihr zweites Mittagessen ausfallen lassen. Da endete aber die Aufregung auch schon wie die Wächter feststellen mussten, als sie die Universität betraten. Nach sehr kurzen Diskussionen hatte der Kommandeur zusammen mit Rascaal Ohnedurst einen fähigen[4] Trupp Wächter aufgestellt, der den Grund jeglicher Abwesenheit von Geräuschen ausfindig und bestenfalls gleich auch abstellen sollte.
Irgendwie war Atera mit in die Gruppe geraten.
Neben ihr schwebte Steingesicht, dessen äußere Form aber ständig zu zittern und zu flackern schien, als würde ihn immer etwas in einigen Abständen völlig außer Fassung bringen. Der Stabsspieß sah sich um und drückte in einem unbeobachteten Moment ihr Gebiss wieder rein. Sie fragte sich, warum ihre Zähne nur so vibrierten, aber irgendwie schienen alle die Auswirkungen (oder Nebenwirkungen?) der Stille zu spüren. Schon etwas weiter vorausgegangen war Zaddam, der seine Armbrust gespannt hielt und nun eine der Türen zum Großen Saal auftrat. Der Triffinsziel preschte hinein und nach wenigen Sekunden wieder hinaus, wild dabei mit den Armen rudernd.
Steingesicht, Atera sowie Leutnant Tricia und seltsamerweise Will Passdochauf, die durch Zufall irgendwie mitgeschleppt worden war, betraten auf Drängen von Zaddam den Saal. Der Saal war leer. Sah man einmal von der üblichen Einrichtung wie den Statuen, dem riesenhaften Kronleuchter, dem Hohen Tisch, Porträts und der Gewaltigen Orgel ab. Am Kopfende des Tisches saß zufrieden lächelnd der in Alkohol marinierte Leichnam des ehemaligen Erzkanzlers Hopkins. Der Tisch war gedeckt, aber irgendetwas war anders als sonst.
Wo sind die Zauberer?, schrieb Zaddam auf seine Wachstafel. Nach einigem Überlegen fügte er drei Ausrufezeichen hinzu.
Steingesicht deutete nur weg vom Saal den Gang hinunter. Gemeinsam traten sie nach draußen auf den Hof, wo der Kunstturm schwindelerregend in die Höhe ragte, und hatten sich gerade nach rechts zum Forschungstrakt für hochenergetische Magie gewandt, als sich dort eine Türe öffnete und der Reihe nach die wichtigsten Würdenträger und Zauberer heraustraten. Zielsicher steuerte der Erzkanzler an den Wächtern vorbei, als bestünden sie nur aus einzelnen Partikeln, die sich bloß rein zufällig zu der Form "Wächter" zusammengeschlossen hatten.
Mit einem He, hallo! Wir sind auch noch da-Schild versuchte Tricia die Aufmerksamkeit des Erzkanzlers zu erlangen, doch der einzige, der sie beachtete war der Dozent für neue Runen, der ihr einen Zettel in die Hand drückte.
WIR SIND NICHT SCHULD, stand dort in großen Lettern. Damit war die Sache für die Zauberer anscheinend erledigt. Hast kritzelte Zaddam etwas Neues auf seine Tafel und zupfte einen der Männer am Ärmel.
Und die Stille?! Im Vorübergehen schnippte der besonders beleibte Zauberer ein merkwürdiges kleines rundes Objekt in die Hände des FROG Wächters. Ein weiterer Zettel folgte, während die Zauberer zurück in das Universitätsgebäude verschwanden, um endlich das Essen nachzuholen.
Mit zwei Fingerspitzen hielt Zaddam das Ding von sich und blickte ratlos darauf. Es hatte eine ovale Holzfläche mit einem Stoffgriff, wo man die Hand hinein schieben konnte. Auf der anderen Seite waren jede Menge Borsten.

Wir haben uns schon gedacht, dass ihr kommen würdet und vorgearbeitet. Dies ist ein magischer Striegel. Also nicht irgendein Striegel, kommt gar nicht erst auf den Gedanken, wir hätten euch mit einem gewöhnlichen Striegel abgespeist. Mit seiner Hilfe sollte die Stille kein Problem mehr sein. Ponder hat irgendetwas ausgerechnet. Er "redete" von Ausradierung des Schalls durch neu aufgetretene Schwingungen.
Wenn ihr die Quelle ausfindig macht, sollte der Striegel an einem bestimmten Punkt die Schwingungen aufreiben. Wir merken, falls ihr Erfolg hattet.
Gez. Mustrum Ridcully u.a.


Ein Striegel! Ein verdammter gewöhnlicher Striegel, dachte Atera, als sie die Nachricht zu lesen bekam. Aber sie hätte es ahnen müssen. Zauberer warteten lieber darauf, dass sich das Problem von selbst löste oder es jemand anderes für sie tat. Genervt fuhr sie sich durch die Haare und sah hilfesuchend zu den anderen. Ihr Blick fiel auf die Gefreite, die wiederum zum Kunstturm hinauf starrte. Die SEALS Abteilungsleiterin hatte sie als neue Kommunikationsexpertin eingestellt, obwohl zu diesen Zeiten das handelsübliche Kommunizieren irgendwie sehr schwer fiel. Mit Bedauern stellte Atera fest, dass die heutigen Wächter immer jünger waren. Wie alt war sie? Höchstens 19, mehr noch ein Fräulein. Und sie hatte Wächter gesehen, die mit dem gleichen Alter in weit höheren Positionen waren. Gedankenverloren folgte Atera den anderen, die in den achteckigen Innenhof zurück gingen und von dort im Begriff waren nach draußen zu gehen.
Erst heute war ihr dieser Hänfling untergekommen, fuhr die Untote in ihren Gedanken fort. Baldrian oder so. Er hatte Pech gehabt und keine Tafel bekommen, stattdessen lief er mit einem Bilderbuch rum und tippte auf das, was er meinte. Und so einer war bereits Obergefreiter, dabei hatte er sicher noch kaum Erfahrung gesammelt. Erfahrung, darauf kam es an.
Die Wächter schritten schweigend über den großen Vorgarten, den die Unsichtbare Universität besaß. An der Pforte zum Hiergibt's-Alles-Platz lehnte ein brummliger Brüller[5]. Tricia öffnete selber das Tor, da das Kinn des Brüllers auf der Oberkante eines großen Pappschildes -mit dem fett geschriebenen Wort STREIK!- ruhte und er es anscheinend bevorzugte keinen einzelnen Finger mehr zu rühren bis diese Sache geklärt war.
Atera stapfte über den Rasen und versuchte in der ganzen Stille einen klaren Gedanken zu fassen. Erfahrung... nur durch Erfahrung wusste man wie man mit Situationen umzugehen hatte. Es war etwas, was einem Sicherheit gab. Etwas, was man kannte, weil man es schon mal erlebt hatte.
Der Stabsspieß trat hinter den anderen auf den Platz und ihr hätte beinahe der Atem gestockt, wenn sie noch welchen gehabt hätte.

Der Zombie hob langsam den Kopf und sah sich um. Die Kantine war leer. Sie hatten ihn verlassen, er hatte gewusst, dass sie ihn verlassen würden. Niemand wollte etwas mit einem toten Dichter zu tun haben.
Dabei war er gar kein Dichter. Er hatte es ihnen erklären wollen, aber jetzt würden sie es nicht mehr von ihm erfahren. Er schwieg. Aus Trotz.
Nach einer Weile stand er auf und bemerkte, dass ihn gleichermaßen auch alles anschwieg. Mürrisch trat er zu einer merkwürdigen Maschine und dann dagegen. Daraufhin kam ein kleiner Dämon herausgeeilt und begann den Mund wütend auf- und zuzumachen, während er mit seiner geballten winzigen Faust drohte. Schließlich bewarf er den Untoten mit Kaffeebohnen, was dieser klaglos hinnahm, sich umdrehte und mühsam seine Beine Richtung Tür bewegen ließ. Kurz davor hielt er inne, sah unsicher zum Türknauf hinab und dann nach links. In der Ecke stand ein Kleiderständer und an einer der Stangen hing einsam eine Uniformsjacke. Weil er sich auch einsam fühlte, nahm Kilian die Jacke an sich.
Dabei war er gar nicht Kilian Gratianus. Er hatte nicht mehr das Recht sich so zu nennen. Es war ein Unterschied, ob man es war oder nur so hieß.
Er zupfte unruhig an der frischen Naht an seinem Oberarm und betrachtete sie voller Wehmut. Tot also, dachte er und fühlte wie sich der Beginn einer gewaltigen Identitätskrise in seiner ohnehin schon labilen Gefühlswelt abzeichnete.

Was für ein Trubel, war der zweite Gedanke, der Atera bei dem Anblick des Hiergibt's-Alles-Platz kam[6]. Menschen rannten, trugen Dinge hin und her, prügelten sich. Und mittendrin noch ein paar Trolle und Zwerge. Die Läden am Rande des Platzes waren aufgebrochen, gewöhnliche Bürger nutzen anscheinend die Gunst der Stunde und besorgten sich selbstständig "Gratisproben" aus den umliegenden Geschäften. Es war nicht nur ein Trubel, es war vielmehr ein Chaos. Ein Chaos inmitten von lieblicher Stille, die bewirkte, dass einem das Hirn aus den Ohren herausquellen wollte. Jedenfalls fühlte es sich so ähnlich an, fand Atera.
Vor ihnen ging eine Gruppe undefinierbarer Priester in Reihe vorbei. Jeder mit dem obligatorischen Der Weltuntergang ist nah-Schild bewaffnet.
Und was nun?, schrieb Tricia auf ihre Wachstafel. Steingesicht zuckte mit den Schultern, was bei einem Geist sehr seltsam anmutete.

Alessandro hustete lautlos, als Staub von der Decke des engen Ganges rieselte durch den sie sich mühsam wälzten. Es roch nach Moder und aufgeschütteter Erde, nach faulen Eiern, toten Ratten, Dreck und... anderen Dingen. Alessandro hasste den Hinterausgang.
Er zwängte sich weiter durch den Gang und schlug dann eine runde Holzplatte nach oben und zur Seite. Es war dunkel, als die Gehilfen nach draußen krochen. Hans entzündete eine kleine Laterne und sie sahen sich um. Natürlich machten sie dabei keinen Laut; wie geplant. In dem großen weiten Raum, wo sie standen, roch es nach Schminke und altem Puder. Eingestaubte lange Kleiderreihen beengten ihre Sicht.
Als letzter schob sich Urias durch die Öffnung, einen großen Beutel mit sich ziehend. Sein Gesicht war selbst im Zwielicht gerötet vor Anstrengung, doch er schnaufte nicht. Der muffige Geruch der umstehenden Kleider stieg ihnen in die Nase. Dichter Staub lag überall, zentimeterdick auf wuchtigen Kommoden, die längs an einer Querseite standen.
Die einzigen Sachen, die hier neu und unberührt schienen waren säuberlich gefaltete grüne Gärtnerhosen und dunkle Hemden, die über einer Stuhllehne lagen. Die Männer zogen sich schweigend um, wischten sich Dreck und Schweiß von Gesicht und Händen. Hans stopfte die benutzten Kleidungen zurück in den Gang, verschloss ihn und ging dann zu einem alten angefärbten Spiegel, um sich den Staub aus dem Haar zu kämmen.
Sie waren sechs. Sechs ausgebildete Männer, die einen Plan befolgten, der aufs Genauste ausgearbeitet war. Alessandro machte nur eines Sorgen. Der Plan war von Herrn Gänsefüßchen.
Trotzdem lief bisher alles nach Plan. Sie gingen aus dem Raum, folgten einem dunklen Gang, wo ihnen niemand entgegen kam. Vorsichtig öffnete Urias die Ausgangstüre. Er war der größte von ihnen, ein Hüne von einem Kerl, muskelbepackte Oberarme, eine eingedrückte Nase und zweifelsohne der Kopf der Bande, wenn der "Boss" nicht da war. Dabei war seine einzige Aufgabe gewöhnlich den Mops zu beschützen.
Ein schmaler Lichtstrahl fiel durch den geöffneten Türspalt. Es war Nachmittag, nicht mehr lange bis zur Dämmerung. Nun kam der schwierigste Teil. Nicht langsam trödelnd, aber auch nicht auffällig schnell gingen sie in Minutenabständen nach draußen und in der Stille durch die Stadt, sich am Rücken des Vordermannes haltend. Um sie herum das Chaos. Niemand beachtete sie.
Alles lief nach Plan.

Atera rannte in einer "Oh, beidenGöttern, was sollen wir nur tun?!" -Art im Kreis umher, blieb dabei immer wieder stehen und betrachtete die große Tafel im Eingangsraum des Wachhauses. Es geschah nicht oft, dass die perfekte Unterlage fürs Plätzchen Ausstechen zweckentfremdet wurde[7]. Im Moment schrieb Venezia mit einem Kreidestück auf der Tafel, während sie abwechselnd Zaddams Schulter trat, damit er an die richtige Stelle der Tafel ging. Daneben hing an der Wand eine große alte Karte von Ankh-Morpork.
Atera schaffte es sich einen freien Stuhl zu sichern, als Rince seine "Ansprache" begann. Es war die merkwürdigste Rede, die die Untote je gehört hatte, denn sie beschränkte sich darauf, dass der Kommandeur entweder auf die Tafel hinter sich tippte oder verschiedene Schilder hoch hielt.
Es gab im Grunde nur vier Fragen, die Atera beschäftigten. Wo waren die Geräusche hin? Was "sagte" der Patrizier eigentlich dazu? War nun Pantomime erlaubt? Und wo war eigentlich das ganze Papier?
Mittlerweile wussten die Wächter, dass man über die vierte Frage möglicherweise auch zur Antwort der ersten kam. Denn nicht nur Paul König hatte kein Papier mehr vorrätig, sondern auch alle anderen Papierschöpfer. Die ganze Sache war von langer Hand geplant. Da steckte irgendein ganz gerissener Kopf dahinter. Der Striegel dagegen war vorerst als völlig sinnloses Objekt in eine Ecke verbannt worden bis man vielleicht herausfinden würde, ob er nicht doch irgendeinen Sinn besaß, während man bei dem Chaos auf den Straßen einfach hoffte, dass mit den Lauten auch wieder die Vernunft[7a] der Bürger einsetzte.
Es war jener Moment in denen im Normalfall alle hektisch durcheinander geredet und sich gegenseitig nicht zu Wort kommen lassen hätten, als sich die Türe des Wachhauses öffnete und ein riesiger Troll hinein wankte, um einen unhörbaren Schrei auszustoßen und leise wie ein Feder auf die Bretter zu krachen.
Auf seinem Rücken war ein kleiner Text eingemeißelt:

Einbruch. Alles Gold weg! Mein Leibwächter Troll, da kein Papier. Resignationsg. 18, G. D.


Der "Boss" rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Schläfen und sah dann auf, als seine Handlanger in den Raum traten, große Säcke und Truhen mit sich tragend. Seine grauen einzelnen Barthaare zitterten, als der Zwerg mit beiden Händen in einem der Säcke herumwühlte und feines Goldgeschmeide zu Tage führte. Ein seltsames Glitzern trat in seine Augen und er drückte das Gold fest an sich.
Beute aus nur einem Straßenzug, schrieb Hans auf einen Block und warf einen nervösen Blick hinter sich, wo Herr Gänsefüßchen mit einer goldenen Krone auf dem runden Kopf um den Tisch tanzte. Niemand wusste, wo er die Krone her hatte, aber Alessandro und die anderen hatten reiche Villen ausgeraubt von denen sie Angaben gehabt hatten, dass dort Gold und Juwelen zu finden waren. Zeugen hatte es zwar auch gegeben, aber Alessandro musste schmunzeln, als er sich wieder den Anblick der Hausherren ins Gedächtnis rief. Herumgelaufen wie aufgeschreckte Hühner waren sie und hatten meist hilflos mit ansehen müssen, wie die sechs Gärtner ungerührt in das Gebäude eingedrungen waren und alles durchwühlt hatten.
Unser Anteil? Hans hielt dem "Boss" regelrecht das Papier vor die Nase, der mit dem Oberkörper halb im Sack verschwunden schien, doch als er die Nachricht las, schüttelte er nur heftig den Kopf. In seinen Augen war weiterhin das typische "Alles meins meins meins!" -Glitzern, was Hans dazu bewog einen zweiten Zettel schnell hinter seinem Rücken zu zerknüllen und Lohnverhandlungen bis auf weiteres zu verschieben.
Das Problem lag darin, dass der "Boss" ein Zwerg war und Zwerge gemeinhin nicht dafür bekannt waren zu teilen und Gold schon gar nicht. Alessandro hob den strampelnden Mops vom Boden, den Herrn Gänsefüßchen gerade mit einem Zacken aus der Krone aufspießen wollte, und kraulte ihn hinter einem seiner kleinen Stummelohren. Der Gehilfe wusste gar nicht mehr genau wie er hier hinein geraten war. Es hatte alles damit begonnen, dass er vor Jahren nach Ankh-Morpork gekommen war, um dort reichlich Geld zu verjubeln und Spaß zu haben, doch der Spaß war tendenziell mit den immer weniger werdenden Dollars gesunken und als ihn der "Boss" damals in einer dieser Kneipen angesprochen hatte, hatte er das Ganze auch für eine wirklich gute Idee gehalten.
Beim Anblick von Herrn Gänsefüßchen waren ihm erste Zweifel gekommen.

Der Stellvertreter von SEALS trat prüfend gegen den Troll, doch der rührte sich nicht weiter.
Wir sollten, begann Rince auf einer Wachstafel zu schreiben, sah aber auf, als sich die Türe des Wachhauses erneut öffnete und die Suchen-und-Fragen-Einheit sowie die Bürger-beruhigen-und-zerstreuen-Einheit zurückkam. Sie hatten sich nebeneinander aufgestellt und wirkten so wie ein Vorher-Nachher Bild.
Die erste Gruppe hatte die restlichen Papierlieferanten abgeklappert, die alle eindeutig kein Papier mehr besaßen, da es der stadtbekannte Dichter Kilian Gratianus aufgekauft hätte. Während sich die zweite Gruppe zu der Sanitäterin Rogi aufraffte und Cim mit einem angeknacksten Fuß gleich folgte, fiel Atera wieder ein, dass sie irgendetwas vergessen hatte. Sie ging zur Kantine, um zu schauen, ob sie es dort liegen gelassen hatte, aber dort war nichts und niemand. Niemand... ihr kam der Gedanke, dass sie Reg Schuh hatte besuchen wollen, wenn erst wieder die Stille vorbei wäre. Irgendjemand stupste immer wieder ihre Schulter. Was wollte sie gleich noch mal dort? Das Stupsen hörte nicht auf und Atera bemerkte eine Wachstafel, die von Lagan gehalten wurde.
Wo ist Gratianus? Weil das niemand wusste und keine Spur von ihm im Wachhaus war, wurde kurzerhand jeder Wächter damit beauftragt nach dem Zombie Ausschau zu halten und der Kommandeur ließ sogar die letzten Papierreste für Taubennachrichten an verstreute Wächter losschicken.
Die verbleibenden Leute wurden sehr schnell zu Freiwilligen der eigentümlichen Anzeige nachzugehen und den bewusstlosen Troll aus dem Eingangsbereich zu schaffen, was mit viel schweigendem Murren quittiert wurde.
Atera war zum Glück schnell genug gewesen über den Troll hinweg nach draußen zu hasten, um herauszufinden, wohin Kilian verschwunden war. Wäre sie ein deprimierter Zombie, was würde sie wohl tun?
Die Untote tätschelte nachdenklich ihre Kröte in einem kleinen Tragebeutel und ließ sich die Frage noch einmal durch den Kopf gehen. Sie war deprimiert und sie war ein Zombie. An ihrer Stelle würde sie ganz bestimmt nicht einen anderen deprimierten Zombie suchen. Also würde sie ihn einfach gar nicht suchen, sondern nur ziellos durch die Straßen laufen und jeden Kontakt mit Kneipen vermeiden, die alkoholische Getränke ausschenkten, was so ungefähr auf jedes Haus in ganz Ankh-Morpork zutraf.

Der Zombie schleppte sich über das Kopfsteinpflaster. Hinter ihm folgte eine kleinere Anzahl Rekruten wie Enten ihrer Mutter. Er vermutete, dass es etwas mit den zwei silbernen Sternen auf der Jacke zu tun hatte, die er trug. Nachdem er eine Weile lust- und ziellos durch die Straßen gewandert war, lenkte er seine Schritte Richtung Stadtrand, doch sie kamen nicht weiter als bis einige Meter an eines der Tore heran. Menschen aus allen Richtungen strömten darauf zu und blockierten sich so gegenseitig. Karren, Tiere und Kutschen standen dicht an dicht, schoben und drückten. Der Gestank von Eseln, Schweiß, Gemüse und anderem Essen lag in der Luft, während der Untote und seine fünf Rekruten am Ende des großen Pulks stand und versuchten das ganze Chaos zu überblicken.
Einer der Rekruten hatte dem Zombie ein merkwürdiges grünes Brett in die Hand gedrückt, aber er wusste nicht viel damit anzufangen. Gerade betrachtete er es noch nachdenklich, als ein junger Wächter neben ihm plötzlich zusammen zuckte. Auf seiner Schulter saß eine Taube, niemand wusste wie sie dort hingekommen war, aber nach der Aufregung der Rekruten zu schließen, schien sie eben noch nicht dort gesessen zu haben. Sie blieben stehen und der Dichter, der kein Dichter war, begrüßte das, um ein wenig interesselos auf der Stelle zu treten.
Sie lästern sicher über mich, dachte er, als die Wächter der Taube einen kleinen Fetzen Papier abnahmen und die Nachricht darauf lasen. Die Köpfe wurden zusammen gesteckt und wild mit den Händen gestikuliert, ab und zu sah einer zum Zombie und runzelte die Stirn.
Er war sich sogar ziemlich sicher, dass sie über ihn "redeten". Wahrscheinlich ging es darum, dass er sie nicht richtig herumführte und ihnen Dinge beibrachte. Irgendetwas Nasses berührte in diesem Augenblick die Wange des Zombies und er fragte sich, woher der Tropfen wohl kam, als er zum Himmel schaute. Der Regen hatte heimlich begonnen einzusetzen.
Ich werd mich einfach hinsetzen, beschloss der Untote, und abwarten was passiert. Es passierte sehr schnell was. Die anderen Wächter schauten zunächst verdutzt, dann wedelte einer mit dem Zettel von der Taube, es wurden hektisch merkwürdige Handzeichen gegeben und schließlich nahm eine junge Frau ihm die grüne Tafel wieder weg. Mit einem seltsamen Stift schrieb sie etwas darauf und hielt es ihm dann vor die Nase:
Bist du Oberleutnant Daemon?
Der kürzlich Verstorbene dachte nach. Der Name klang seltsam, aber da er gerade auf der Suche nach einem neuen Namen war, fand er, dass dieser passen musste bis ihm ein besserer einfiel. Der neue Daemon nickte. Die Frau ihm gegenüber wurde darauf plötzlich sehr rot und blickte beschämt zu Boden, dann salutierte sie schnell vor ihm und zwei weitere Wächter kamen dazu, um ihm wieder aufzuhelfen.
Aber er wollte doch hier sitzen bleiben. Sein stummer Protest, dass sie sich insgeheim über ihn lustig machten. Er musste eisern bleiben, durfte sich nicht einfach immer herumschubsen lassen. Das hatten alle getan. Und was war daraus geworden? Er hatte sein Leben verloren.
In diesem Augenblick verlor er auch seinen Arm, als ein Rekrut zu feste daran zog. Alle sprangen sofort entsetzt zurück, vermutlich hätten ein paar auch aufgeschrieen, denn ihre Münder öffneten sich kurzzeitig. Der neue Daemon hatte auch das Bedürfnis laut zu schreien, denn die zweiten Phantomschmerzen an diesem Tag überkamen ihn. Er krümmte sich zusammen und kniff die Augen fest zu.
So entging ihm die neue Frage auf der Tafel:
Bist du Kilian Gratianus?

Das Kürzel G.D. erwies sich als Graf Dick, der bereits aufgeregt vor seinem dreistöckigen Haus stand und beim Entdecken der Wächter auf sie zugeeilt kam. Cim Bürstenkinn folgte dem kleinen Trupp aus RUM-Wächtern missmutig, während er etwas auf seine Wachstafel kritzelte. Es war ihm immer noch ein Rätsel, wo bloß sein Notizblock hin verschwunden war. Man hatte den Korporal eigentlich nur mitgenommen, weil er eine bestimmte Aufgabe hatte. Diese Aufgabe hielt er nun dem Mann hin.
Du wirst angeklagt wegen schwerer Körperverletzung eines Trolles, las der verblüffte Graf auf Cims Wachstafel. Etwas kleiner darunter stand: Du hast das Recht zu schweigen.
Neben ihm sah Tricia zuerst den letzten Satz und dann Cim kritisch an, doch dieser konnte nur mit den Schultern zucken. Er hielt diese Anklage für eine reine Formalität, immerhin befand sich praktisch die gesamte Stadt im Ausnahmezustand. Kein Grund für SEALS sich über eine Inschrift im Rücken eines Trolles zu kümmern.
Der Graf fand das gar nicht witzig, nahm trotzdem ungerührt ein großes Kreidestück zur Hand und begann auf den Pflastersteinen sein Leid auszubreiten; darüber, dass ein paar Männer ihn ausgeraubt hätten. All sein Gold und selbst der Schmuck seiner Frau wären weg, er hätte gar nichts machen können.
Tricia "fragte" ihn, wer die Männer gewesen seien, wie sie ausgesehen hätten und ob es Spuren gäbe, während Cim, Stump, Myra und Charlie Holm bereits in das Anwesen hinein gingen. Drinnen sah es so aus, wie man es von einem einigermaßen gut gestellten Bürger der Stadt erwartet hätte. Eine große Halle bildete den Eingangsraum auf dessen gewienerten Boden man sich spiegeln konnte. Irgendjemand war jedoch unachtsam mit dreckigen Schuhen darüber gelaufen, was den Spurensicherer von SUSI dazu veranlasste in die Hocke zu gehen und die Abdrücke zu betrachten. Cim verfolgte lieber die Spur, die von der in den Angeln hängenden Haustüre ausging und sich dann in verschiedene Räume verteilte. Nach den Abdrücken zu urteilen, mussten es ungefähr sechs Männer sein, die sich gleichmäßig verteilt hatten und dann wieder zusammen getroffen waren.
Der SEALS Wächter bog in einen der Räume und fand sich in einer Welt voller toter Tiere wieder. Die Vorhänge waren zugezogen und so lag nur der gedämpfte rötliche Sonnenschein über den angestaubten Fellen, Staubkörner tanzten in der Luft. Aberdutzende Glasaugen sahen dem Lance-Korporal entgegen, direkt hinter der Türe ragte ein riesiger Bär auf, die Tatzen zum Schlag erhoben, wie in seiner Bewegung erstarrt.
Überall standen auf Podesten und Sockeln ausgestopfte erlegte Tiere und von den Wänden blickten einzelne Köpfe auf die Hereinkömmlinge hinunter. Das meiste waren Eber mit glänzendem Fell und Hirsche mit weit ausladendem Geweih. Jedoch waren immer mal wieder Hornspitzen und gewaltige Eckzähne abgesägt, wie Cim erkennen konnte. Wahrscheinlich hatte der Graf diese vergolden lassen, aber um diese zu stehlen, mussten sich die Einbrecher ihrer Sache schon sehr sicher gewesen sein, denn etwas abzusägen kostete Zeit und es war bisher das einzige Indiz, was gegen ein paar unorganisierte Burschen sprach, die einfach nur die Stille und die Panik ausnutzen wollten.
Cim war gerade dabei ein merkwürdig zerquetschtes Tier zu begutachten, als Stump hereinkam. Sieh dir den Mammon im Bad an, las der SEALS-Stellvertreter auf Stumps Tafel in krakeligen Buchstaben und runzelte darüber die Stirn. Der Ermittler zupfte ihn jedoch am Ärmel und zog ihn mit durch die Halle und in einen Raum, der nur schwerlich als Badezimmer zu bezeichnen war. Er bestand im Grunde aus mehreren Badezimmern. An der rechten Wand reihten sich unzählige Waschbecken, die wohl ein Architekt mit Vorliebe für Schwäne, Verschnörkelungen und nackte Frauen konstruiert hatte. Auch in diesen Raum waren Spuren von Erde zu sehen, doch Stump ging ungehindert darüber weg und trat zu einer freien Fläche. Seine Hand wies zum Boden, der im gesamten Zimmer mit Fliesen aus weißem, blanken Marmor ausgelegt war.
Cim sah zu Stumps Finger, dann zum Boden, zuckte mit den Schultern und wandte schließlich den Blick wieder zu der Wachstafel des Gefreiten. Sieh dir den Marmor im Bad an, stand nun dort, als er sich Mühe gab die Schrift zu entziffern. Cim bückte sich, betrachtete erneut die Stellen und entdeckte es schließlich. Es gab vier Einkerbungen, die aufgerissen, aber unter dem Glitzern des Marmors nicht sofort zu sehen gewesen waren. Nachdenklich sah sich der Vektor um, was hatte hier bloß gestanden? Er rechnete im Kopf die Maße um und schüttelte dann ungläubig den Kopf.

Venezia probierte eine Badewanne mit Standfüßen auf die große Tafel zu zeichnen, gab aber nach einigen gescheiterten Versuchen auf. Es achtete eh niemand auf sie, abgesehen von Humph, der vor der Tafel stand. Um sie herum war das Chaos los, Menschen kamen immer wieder herein, meist mehr Zivilisten als Wächter, die einen Einbruch oder Diebstahl melden wollten, es aber nicht konnten und deswegen wilde Gebärden machten. Der Patrizier hatte zur Zeit den Kommandeur vorgeladen, offensichtlich war die Stadt die einzige Person, die noch Papier besaß, doch Lord Vetinari war auch daran interessiert, dass das Straßentheater wieder ein Ende nahm.
Die FROG-Abteilungsleiterin begann lautlos zu seufzen, allmählich ging ihr diese ständige Stille auf die Nerven. Und wenn sie sich so umsah, war sie da nicht die einzige. Wächter wie Zivilisten fassten sich immer wieder an die Stirn, schüttelten ungläubig die Köpfe oder gingen von einem Raum zum nächsten, knallten Türen vergeblich und stießen stumme Schreie aus.
In all dem Trubel gab es nur eine verschwindet geringe Anzahl an Hinweisen bei den zahlreichen Einbrüchen, die darauf hindeuteten, dass irgendwer in dieser Stadt über die Stille bescheid wusste. Vielleicht hatte er sie nicht verursacht, aber er wusste darüber Bescheid und sie auszunutzen. Venezia korrigierte sich gedanklich. Nein, nicht einer, sechs. Nach Angaben von SUSI waren es bei all den Einbrüchen, die diese Hinweise trugen, immer sechs Personen gewesen. Gekleidet als Gärtner, wie sie von einigen Opfern wussten.
Allerdings kamen stündlich so viele Anzeigen herein, die meist per Gestik und mit Lippenbewegungen vorgetragen wurden, dass die Wächter nicht einmal einem Drittel davon nachgehen konnten. Und dabei brach erst jetzt der Abend an.
Wenn die Nacht um ist, dachte Venezia, gleicht Ankh-Morpork einem mittleren Trümmerhaufen[9].
Draußen regnete es weiter, doch niemanden interessierte es. Venezia sah mehr aus Nachdenklichkeit aus dem Fenster, als sie die Gruppe Rekruten sah, die auf das Wachhaus zukamen wie eine Delegation von Würdenträgern. Belustigt schüttelte der Leutnant über den abgehackten Gleichschritt den kleinen Kopf, doch dann entdeckte sie eingekeilt von den Rekruten eine Person in der Mitte.

Durchnässt und immer noch nicht sehr viel besser gelaunt, kehrte Atera nach einer sehr ergebnislosen Suche zum Wachhaus Pseudopolis zurück, um dort ein ausgestorbenes Gebäude vorzufinden. Verwundert schloss sie die Türe hinter sich und klemmte sich in einem unbeobachteten Moment ihr Gebiss wieder in den Mund. Sie blickte auf umgestürzte Stühle, einigen leeren Krügen in denen noch eine letzte dreckigtrübe Flüssigkeit schwamm, die Atera lieber nicht genauer untersuchte. In der Ecke stand die verschmierte Tafel. Irgendjemand hatte ein Gebilde darauf gemalt, was die Wächterin nach einigem Grübeln als vierfüßige Ente identifizierte.
Hinter dem Tresen fand sie in einem Fach den Striegel der Zauberer. Nachdenklich strich sie über die struppigen Borsten und registrierte am Rande, dass sich dadurch kleinste Hautfetzen von ihrer Handfläche lösten. Rasch hörte sie damit wieder auf, stieg über eine achtlos hingeworfene Jacke und entdeckte zwischen all dem Unrat im Eingangsraum etwas auf dem Boden.
Sie kniff die Augen zusammen, beugte sich etwas vor und sah dann zur Türe hin. Ein dicker weißer Kreidepfeil zeigte nach draußen. Mit dem Striegel in der Hand trat sie erneut nach draußen, wo sich der Regen nass und lautlos auf ihr Gesicht legte. Der Stabsspieß sah über den Platz. Dunkle Wolken hingen wie festgeklebt über der Stadt, während aus ihnen Fäden aus Regentropfen flossen und über die Häuser, Tempel, Gildengebäude und Straßen hinweg zogen. Nur wenige Leute huschten wie schwarze Schatten in der Ferne über den Platz und flüchteten sich in die Seitengassen.
Atera vermisste das Prasseln auf Dachpfannen, das Gurgeln in Rinnsteinen und Klopfen an verschmutzte Fenster. Vor ihren Stiefeln breitete sich das vom Regen schwarz polierte Kopfsteinpflaster aus, erst auf den zweiten Blick erkannte sie die verblichenen Reste von Kreide.
Mit der Hand den Regen abschirmend, folgte Atera langsam den Spuren bis sie gegen eine Mauer stieß. Sie hob den Kopf und ein Schwall Wasser spritzte ihr entgegen, als sie direkt in den weit geöffneten Mund eines großen Wasserspeiers blickte. Die Oper!, kam es der Untoten in den Sinn, während sie hastig einen Schritt zur Seite machte. Sie drehte sich um und blickte zum Wachhaus zurück von dem sie gekommen war. Was, bei Offler, sollten ihre Kollegen in der Oper zu suchen haben?
Sie umrundete das Gebäude langsam bis sie zum Eingang kam. Beide Türen standen einladend weit offen. Vielleicht nur ein Opfer der Plünderer... Atera machte einen vorsichtigen Schritt in die Dunkelheit hinein. Im letzten fahlen Licht war ein weiterer Pfeil zu erkennen, der sich auf dem Gang abzeichnete.
Erst jetzt fiel ihr ein, dass es vielleicht besser gewesen wäre, sich irgendwie vorzubereiten, wenigstens eine Lampe mitzunehmen. Wie lange war sie schon nicht mehr hier gewesen? Es schien Jahre her zu sein...
In der grenzenlosen Stille tastete sich die Abteilungsleiterin der SEALS in die Oper vor, ging an der Kartenverkaufsstelle vorbei und schritt über den roten Teppich im düsteren Gang. Wieder weißer Kreidestaub, kaum zu erkennen. Neugierig folgte Atera den Pfeilen an den Wänden, die Gänge entlang. Sie musste bald den großen Opernsaal in der Mitte des Gebäudes zur Hälfte umrundet haben, als ein Weg abzweigte. Mit ausgestreckten Armen, um nirgendwo anzustoßen, bog sie um die Ecke- und stach prompt einer nun sehr erschreckten Person ins Auge. Der Mann hüpfte, sich die Hand auf das Auge haltend, herum und schien sich nicht wieder beruhigen zu wollen. Atera tippte ihn auf die mit einem Streifen versehene Schulter, woraufhin der Wächter herumfuhr und sich zu besinnen schien.
Erst jetzt merkten beide, dass sie keine Wachstafeln oder Papier bei sich hatten. Die Untote versuchte eine entschuldigende Geste zu machen, als sie damit jedoch mit dem Striegel in der Hand herumfuhrwerkte griff der andere Wächter unvermittelt danach, riss an dem Striegel, schnappte ihn sich, machte auf dem Absatz kehrt und rannte den Weg zurück, den er gekommen war.
Ein Teil von Atera begleitete ihn.
Sekunden verstrichen in denen der Stabsspieß überlegte, seit wann die jungen Wächter von heute so respektlos geworden waren und warum er ausgerechnet ihre einzige Hand hatte mitnehmen müssen. Nur mit dem Haken am rechten Arm war sie praktisch hilflos. Man konnte schlecht mit einem Haken ein Schwert ziehen.
Noch etwas schlechter gelaunt, als sie es ohnehin schon gewesen war, folgte Atera dem Wächter, der bereits um die nächste Ecke gerannt war. Sicher gab es für alles eine vernünftige Erklärung...
Wenn nicht... Atera wünschte, sie hätte noch eine Hand gehabt, um sie in diesem Moment zur Faust zur ballen.

Es hatte eine Weile gedauert, um aus Kilian alles herauszubekommen. Sie wussten, dass er der Schlüssel war. Das überall aufgekaufte Papier auf seinen Namen, der angebliche Selbstmord, die darauf folgende Stille, die scheinbar geplanten Einbrüche.
Und genau wie ein Schlüssel war auch er benutzt worden. Um all diese Informationen zu erlangen, hätte man langwierige Frage-Antwort Verhöre durchführen können, den Zombie zwingen können in seinem verwirrten offensichtlich nicht mehr ganz intaktem Gedächtnis nach den vergangenen Erlebnissen zu forschen, man hätte das letzte Papier aufbringen können, damit er ein Geständnis niederschrieb, man hätte sogar Püschologen bemühen können. Auf all dies war verzichtet worden zugunsten der Tatsache, dass Kilian Gratianus, statt den Rekruten artig ins Wachhaus zu folgen, ausgebrochen und scheinbar kopflos in die Oper gerannt war.
Nun lehnte Rascaal Ohnedurst gegen eine Wand und behielt die Holztüre im Auge durch die der FROG-Vortrupp verschwunden war. Noch eine Minute und er würde ihnen mit einer zweiten Gruppe folgen. Der Vampir sah hinter sich, wo sechs weitere Wächter angespannt saßen. Mückensturm und Ecatherina schienen sich mit Fingerzeichen zu unterhalten, Larius drehte unruhig den runden Schwertknauf zwischen seinen Händen, während Cim sich in einer Ecke mit den Fingern die Schläfen massierte und dabei ein gequältes Gesicht machte.
Dann winkte Rascaal mit seiner Hand und alle erhoben sich. Schritt für Schritt pirschten sie sich zur Holztüre. Ein leichter Tritt mit dem Fuß und sie schwang nach innen auf. Dahinter lag eine kleine Speisekammer. Fässer, Kisten und Truhen stapelten sich aufeinander, voll gestellte Regale boten Verpflegungen für eine ganze Schauspielertruppe. Geduckt bewegten sich die Wächter unter einer Reihe Würste hinweg, die an Haken von der Decke hingen.
Rettich hielt eine Öllampe weiter hoch und entdeckte dann eine Falltüre im Holzboden. Man sah noch die Einkerbungen und Schmutzverkrustungen einer Kiste, die die Wächter vor ihnen beiseite geschoben hatte. Mit einem kräftigen Ruck zogen der Hauptmann und Cim die Klappe nach oben, woraufhin eine Leiter zu erkennen war, die in die Tiefe und Dunkelheit führte.
Lautlos bauschte sich der Umhang kurz auf, als Rascaal von den untersten Stufen sprang und sich in dem Erdgang umsah in dem er nun stand. Er konnte in der Dunkelheit besser sehen, als die anderen und so ging er gebückt weiter, während die anderen ihm zögernd und unbeholfen folgten. Der Schein der Lampe beeilte sich nachzukommen.
Merkwürdigerweise ging es noch weiter abwärts bis zu einer Türe, die weit offen stand. Der Hauptmann rauschte hinein und kam prompt in die Flugbahn einer goldenen Krone.
Unter verwunderten Blicken sah man den Vampir zu Boden gehen, wo er mit geschlossenen Augen liegen blieb und sich nicht mehr rührte. Cim hob die Krone hoch. Massives Gold, wie es nicht anders zu erwarten war. Dann erst blickte er in den Raum hinein.
Die Krone war offensichtlich das Abschiedsgeschenk eines alten grimmigen Zwerges gewesen, der gerade mit Säcken voll weiterem Gold und einigen riesenhaften Hünen hinter einer Tür verschwand. Einige Armbrustbolzen bohrten sich noch zitternd in die massive Tür, aber sie blieb geschlossen. Sidney verzog das Gesicht, als er sah, dass er sein Ziel knapp verfehlt hatte. Inzwischen versuchten Kanndra und Gold Moon, die ebenfalls zum FROG-Vortrupp gehörten die Türe zu öffnen. Sie sahen allesamt geschafft aus, stellenweise war Blut zu sehen, Möbel waren umgestürzt und alte Goldmünzen hatten sich aus einer halb geöffneten Truhe auf den Boden ergossen. Die verschwundene Badewanne war auch zu sehen, ein weiß emaliertes großes Ding mit goldenen Kränen und einigen Münzen auf dem Grund, als wäre der Rest abgeflossen.
Unter Einsatz eines Riechmittels von Ecatherina schlug Rascaal endlich wieder die Augen auf, sein Blick irrte noch etwas verwirrt von einem Wächter zum anderen. Verschwommen fragte er sich, ob es Rince beim Patrizier besser erging.
Kampf, Täter sind entkommen, war auf einer Wachstafel zu lesen. Kanndra zuckte entschuldigend mit den Schultern. Der Hauptmann setzte sich auf, während im Hintergrund Cim Rettich davon abzuhalten versuchte das übrige Gold eigennützig einzusammeln. Noch genügend Wächter draußen, die schnappen sie, schrieb Rascaal zurück. Trotzdem fummelte die Elfe weiterhin mit einer Haarnadel im Schloss herum, bis es Larius vor Ungeduld nicht mehr aushielt und nach vorne trat. Mit einem "Darf ich?"-Blick sah er Rascaal Ohnedurst an, jener schien zu erst inne zu halten, zog dann aber seine Lippen zu einem vampirhaften Grinsen und nickte.
Der Korporal, froh endlich einmal mit Erlaubnis seiner Manie nachgehen zu dürfen, bedeute Gold Moon beiseite zu treten, ging ein paar Schritte zurück, rückte seinen Helm zurecht. Und rannte los. Im nächsten Moment war er in der Tür verschwunden, zumindest in das, was einmal eine Tür dargestellt hatte. Holzstücke zerbarsten, Staub wirbelte auf und es hätte vermutlich auch laut gekracht, aber so stieß Larius nur gegen die Türe und schien sie in ihrer Konsistenz zu verändern bis er hinter der Schwelle zum Stehen kam.
Ein paar Augenblicke später kam der Wächter wieder zurück, die Sägespäne im Gesicht, aber zufrieden lächelnd. Hinter ihm brachen die letzten Holzreste aus den Angeln.
Dann kam ein Grinsen in den Zügen des Korporals zum Vorschein. Cim war der erste, der begriff und seinem Blick folgte.

Atera war nicht weiter verwundert, als sie in einen größeren Raum kam, in dem offensichtlich ein Kampf stattgefunden hatte. Die demolierte Einrichtung war ein deutlicher Hinweis. Zwei ebenfalls zerstörte Türen links und rechts wiesen daraufhin, dass ein gewisser Korporal nicht weit war. Doch all dies interessierte Atera nicht, sie wollte lieber wissen welche der beiden Türen der Wächter und ihre Hand genommen hatten.
Angestrengt überlegend ging der Stabsspieß zunächst zu einer Truhe aus der scheinbar echte Goldmünzen heraus quollen. Atera hätte gerne auf eine Münze gebissen, um die Echtheit zu prüfen, aber in diesen Zeiten kam ihr Körper ihr seltsam unstabil vor. Noch unstabiler als sonst. So begnügte sie sich einfach damit ein paar Münzen in ihre Tasche zu stopfen, ein Dutzend vielleicht, gerade so, dass es nicht auffiel. Manchmal bekam sie den Eindruck, dass sich selbst einfache Gefreite mehr als sie leisten konnte. Drei Dollar Getränke, üppige Festmähler, ein Haus in der Innenstadt und was sie da nicht schon alles gehört hatte. Es war nur rechtens, wenn sie jetzt hier schon einmal etwas Beweismaterial beschlagnahmte. Und es dann später vergessen würde abzugeben, fügte Atera in Gedanken hinzu und ging zur linken Türe. Sie spähte in die Dunkelheit, am Rande konnte sie erkennen, dass der Gang dahinter aus der Erde gegraben worden war. Leichter Staub rieselte zwischen Stützbalken hervor.
Irgendetwas war mit diesem Gang... der Boden schien leicht zu vibrieren. Atera trat bis zur Schwelle hin und lauschte. Es war unerträglich still, so still, dass ihr Geist sich Stimmen einreden wollte, nur um die Lautlosigkeit zu übertönen.
Sachte, sachte, sagte eine der Stimmen. Vorsichtig streckte Atera den Arm mit dem Haken aus und-
Die untote Wächterin sprang entsetzt zurück. Kaum hatte der Haken in den Gang gereicht, hatte er begonnen zu zittern, das Metall hatte sich verbogen, zunächst zu einer Spirale gekräuselt, um dann pfeilgerade in die Luft zu schnellen und in einer langen dünnen Spitze zu enden. Verwundert betrachtete Atera ihren ehemaligen Piratenhaken, der nun mehr einem kürzeren Degen ähnelte. Wirklich höchste Zeit für eine zweite Hand, dachte sie und ging ohne zu Zögern in den Gang.
Es war als ob man in einem Windkanal ohne Wind steckte, trotzdem schien alles zu zittern und zu vibrieren. Schritt für Schritt schob sich die SEALS-Schäffin durch die Luft, die sich vor ihrem Körper aufteilte und an ihr entlang floss. Für ein Zombie kein angenehmes Gefühl. Je weiter sie ging, desto mehr spannten ihre Nähte, dehnten sich immer mehr bis Atera das Gefühl bekam sie würde zerreißen.
Wenn du unten ankommst, wirst du nur noch aus Einzelteilen bestehen, sagte eine andere Stimme schadenfroh. Welches unten, dachte Atera noch, als sie merkte, dass der Gang tatsächlich abschüssig war. Es roch schwach nach alter staubiger Erde. In der Dunkelheit kaum aus zu machen.
Sie wünschte, sie hätte ferne Stimmen gehört oder Kampfeslärm, wenigstens irgendetwas worauf sie zueilen konnte, doch es blieb still und so stolperte sie in der Finsternis vorwärts. Ihr handloser Arm schlackerte lose an den Nähten hin und her.

Ein paar unbemerkte Schritte weiter vorne ging Valdimier van Varwald und merkte, dass er eine brennende Fackel trug. An der Spitze. Im Grunde war es keine brennende Fackel, sondern ein gewöhnlicher Striegel, aber er fühlte sich sehr danach an. Der Gefreite hielt ihn vor sich wie ein Schutzschild an dem sich die Luft rieb und in kleine Scheiben spaltete. Ab und zu hörte er merkwürdigerweise etwas. Er wischte mit dem Striegel nach links, ein schwaches "A a a a a" erklang und verlor sich sofort wieder. Rechts war ein lang gezogenes "Mmmmmm" zu hören, das in seinen Ohren summte.
Valdimier fand diese Reaktionen sehr interessant, wenn nur nicht das unablässige Brennen in seiner Hand gewesen wäre, das immer stärker zu werden schien. Lange würde er das nicht mehr aushalten und er war schon ein paar Mal kurz davor gewesen den Striegel einfach wegzuwerfen, doch jedes Mal wenn er zum Schwung ausholte hörte er wieder Vokale und Konsonanten dicht an seinen Ohren vorbei huschen.
Also schob er seine Hand wieder in die Schlaufe. Nicht zuletzt deswegen, weil er von Rascaal den Befehl bekommen hatte den Striegel aus dem Wachhaus zu holen, da er vielleicht doch noch nützlich werden könnte. Er hoffte nur, Stabsspieß Atera würde nicht allzu sauer sein und verstehen, dass dies nicht gerade die Zeit der großen Erklärungen war.
Dann stieß er unvermittelt gegen etwas Weiches. Wenn man in einem dunklen, finstren Gang -der keine von vertrauensseligen Maurern aufgezogenen Wände besaß sondern nur Erde- gegen etwas Weiches stieß, hatte man Grund zur Besorgnis. In vielen Fällen war es ein wildes Tier und ehe man ein entschuldigendes "Oh, hoppala" hervorbringen konnte, war man bereits Besitzer mehrerer Bisswunden. Oder schlimmeres.
In Valdimiers Fall war es Rascaal Ohnedurst.
In der Dunkelheit halfen weder Wachstafeln noch Fingerzeichen. Natürlich hatte man Kerzen dabei, doch ihre Flamme zitterte nur kurz, um dann wieder zu erlöschen kaum, dass sie entzündet war. So hielt Valdimier einfach dem Hauptmann den Striegel entgegen, den dieser an sich nahm. Die Wächter standen vor einer unscheinbaren kleinen Holztüre. In der unscheinbaren kleinen Holztüre steckte einige Zentimeter tief der eisenverstärkte Helm von Larius und drehte sich bebend hin und her. Nachdenklich drehte auch Rascaal den Striegel hin und her und entlockte ihm so unabsichtlich ein paar Töne.
"He", sagte Rascaal, man hörte ein schwaches "e e e e". Die Zauberer hatten also doch nicht gelogen. Es war ein magischer Striegel und die Quelle der Stille war nicht mehr weit, nach dem Orientierungssinn des Wächters mussten sie sich genau unter der Oper befinden. Und sie spürten es alle. Hinter dieser Türe war etwas, seltsame Schwingungen krochen pulsartig über die Wächter hinweg und richteten ihre Haare auf.
Während sich Larius noch den Kopf rieb, trat Rettich plötzlich hervor. In der Dunkelheit ragte ihre Axt wie ein blauschwarzer Schatten neben ihr auf.

Stabsspieß Atera war nicht allzu sauer, sie war sehr sauer. Mit grimmigem Gesichtsausdruck stierte sie in die Finsternis vor sich. Ziemlich still, sagte eine der Stimmen, die nun munter drauf losplapperten und in ihrem Kopf kreischten, um die äußere Stille zu übertönen. Jaja, sehr still, pflichtete eine andere bei. Zu still, fügte eine dritte hinzu und kicherte. Die Untote blieb abrupt stehen und wollte sich genervt die Schläfen reiben, merkte aber, dass das nicht ging und beschränkte sich darauf zu überlegen wie sie verhinderte, dass sie dort unten, wo immer dort unten auch war, nicht in Einzelteilen und wahnsinnig ankam. Um zumindest die Zeitspanne gering zu halten, begann sie zu rennen. Ihre Beine hoben und senkten sich schwerfällig, der linke Arm schwankte hin und her, Nähte rissen, der rechte Fuß lockerte sich, sie schleifte ihn hinterher, rannte, lief, atemlos, ihre Haare flatterten und um sie herum ein merkwürdiges Gefühl. Als ob man die Hände zu schnell aneinander rieb, als ob jemand einen Gong geschlagen hätte, der nie mehr verklingen wollte, als ob-
Sie stolperte.
Und rollte. Ohne Kontrolle. Ihr Körper holperte den Gang hinunter, ihr Kopf hinterher.

Hinter der Türe erwartete die Wächter ein Schrei. Laut und heulend und tief ins Mark gehend. Kilian Gratianus schrie, es schien, als ob er seinen letzten Atem, der noch in seinen Lungen verblieben war, hinaus schreien wollte.
Er hatte auch allen Grund dazu.
Die Wächter hatten einen kreisrunden Raum betreten, der sich kegelförmig nach oben schraubte. Ein gebohnerter Holzboden kleidete den Grund völlig aus, schwarze Linien hatten sich in die Maserung gedrängt und zeigten ein kompliziertes Muster aus Strichen und Kreisen ohne dass man einen Anfang oder ein Ende hätte erkennen können. Ein winzig kleiner Lichtpunkt fuhr dem Muster nach und beschrieb einen großen Kreis, den er immer schneller zurücklegte. Rascaal sah genauer hin. Es war kein Lichtpunkt, nein, es musste ein Kristall sein auf dem sich das Licht brach. Aber es war nur noch das weiße gleißende Glühen zu erkennen, aufgehängt an einem langen Seil, das oben in der Spitze des Turmes verschwand.
In der Mitte nun stand der Zombie in seinem Gefängnis und konnte nicht entfliehen. In engen und dann bald wieder weiteren Kreisen zog das Licht seine Bahnen um ihn. Die Luft um ihn herum flirrte und zitterte, dass der Untote bald wie ein dünner Strich und dann wieder in einer bogenförmigen Gestalt dastand. Er tänzelte auf den Zehenspitzen, sein ganzer Körper streckte sich in die Höhe, als wolle er vom Boden abheben.
Es thront das Pendel..., zog eine fremde Stimme unendlich leise hinter Rascaal vorbei. ..die durchschneiden...., huschten weitere Worte davon. in Stille... Stille.
Er sah sich rasch um und erkannte in einer Ecke (es ist unheimliches im Gange, wenn ein kreisrunder Raum eine Ecke besitzen kann) ein zweites nicht weniger merkwürdiges Szenario. Ausgestreckt auf dem Holz lag ein großer Mann mit schwarzen Haaren. Er zeigte kein Anzeichen von Lebendigkeit. Auf seinem Bauch saß ein ungleich kleinerer Mann und streichelte mit zitternden Händen einen viel stärker zitternden Mops, den der Mann an sich gedrückt hatte. Er hob den merkwürdig runden Kopf und sah die Wächter mit großen Augen an.
Rascaal sah zu dem Mann, dann zu dem schreienden Dichter und schließlich zu dem Striegel in seiner Hand. Was hatte auf dem Zettel der Zauberer gestanden? Der Striegel musste an die Quelle der Schwingungen...
Kurzerhand drückte er Valdimier das Objekt wieder in die Hände und deutete zur Turmspitze, wo eine merkwürdige Konstruktion klebte. Zahnräder oder etwas in der Art griffen ineinander. Alte Backsteine schmiegten sich in die dunkle Erde, nur einige Holzleisten steckten in einigen Abständen dazwischen, schraubten sich weiter in die Höhe bis zur Spitze. Der Hauptmann redete nicht, aber Valdimier war so, als höre er ihn eindringlich 'Du musst darauf und uns alle retten' sagen.
Der leichte Armbrustschütze huschte am Pendel vorbei und jagte die Turmwand hoch. Wobei 'jagen' der falsche Ausdruck war, 'hievte sich mühsam empor' wäre vielleicht besser gewesen. Seine Hände und Füße fanden in den Steinritzen nur wenig Halt und viele der Holzbretter bröckelten unter seinem Tritt einfach hinweg, so dass der Vampir bald nur mit einer Hand in der Luft baumelte oder beinahe hinab gestürzt wäre. Natürlich hätte er sich verwandeln können, aber als Fledermaus hätte er dann das Gewicht des Striegels nicht mehr halten können.
So kletterte Valdimier weiter. Hinter ihm sauste das Pendel an ihm vorbei, er spürte es jedes Mal an seiner Uniformjacke ziehen. Seine Hände begannen zu zittern je höher er stieg, nur noch mühsam und nach mehreren Versuchen konnte er Halt finden. Kurzzeitig sah er zwischen seinen angespannten Armen hindurch, an der Wand entlang zu seinen Kollegen und dem Zombie in der Mitte. Er spürte, dass er sich beeilen musste. Einzelne seiner Haare lösten sich unbemerkt, während er weiter kraxelte, sich mit Händen und Füßen in die Mauer und die hervorstehenden Holzstücke stemmend. Der Turm verengte sich, nun fühlte er auch das Seil an seinem Rücken entlang schaben. Einen beginnenden Schmerz ignorierend, zog sich Valdimier weiter empor. Immer eine Hand nach der anderen, den Körper nun dicht an den Stein gepresst, nun die Hand hoch strecken, zupacken, mit den Fingerkuppen einhaken, den Fuß verlagern, hoch ziehen. Der Vampir versuchte sein Tempo zu erhöhen. Strecken, packen, ziehen. Immer wieder. Der Turm schien ewig hoch zu sein, aber er hatte nun den Rhythmus heraus und bald kauerte er in der Spitze, inmitten von Metall und Eisen. Er war über dem Pendel, kroch auf die Tragfläche, die Zahnräder, Kolben und Gestänge zusammenhielt. Seine Hand mit dem Striegel reckte sich durch ölverschmierte Flächen, seine Augen wanderten den Weg des Seils entlang, das sich wie Eingeweide durch die Metall Konstruktion wand.
Dann senkte sich der Striegel an das glatte Tau. Raue Borsten trafen auf fein gesplissene Stricke.

Und da hörte das Pendel auf zu schwingen.
Schwer zu erklären, was nun im Folgenden geschah, da vieles gleichzeitig passierte. Zum einen ertönte ein seltsames Gedicht, das sich nicht reimte. Dann brach Kilian Gratianus in der Mitte des Turmes zusammen, als ihn der Kristall am Schienbein traf. Schließlich trafen erste Ansätze von Atera im Raum ein und Rascaal Ohnedurst näherte sich Herrn Gänsefüßchen auf wenige Schritt.
Zum anderen kehrte der Laut zurück. Und nicht nur derLaut, sondern alle. Alle, die im Laufe dieser stillen Stunden ausgesprochen, aber doch nicht erhört worden waren. Sie schwappten aus dem Turm, drangen durch die Erde und verteilten sich über ganz Ankh-Morpork bis ein einziges Geplärre und Gekreische zu hören war.
Das Geplärre und Gekreische dauerte ungefähr drei Minuten und danach senkte sich eine angespannte Stille über die Stadt und als einziges zu hören war der Atemzug des Kommandeurs, den er erleichtert im rechteckigen Büro des Patriziers tat.
Die Stadt atmete aus.

Der Mops kläffte unruhig.
"Ihr habt alles kaputt gemacht", klagte Herr Gänsefüßchen mit beleidigter Stimme. Seine Hand legte sich um den faltigen Hals des kleinen Hundes.
"Lass das Tier los, wer immer du bist", befahl Hauptmann Ohnedurst. Hinter ihm hatten sich die große Gruppe Wächter gesammelt, einige starrten nach oben zur Turmspitze, andere zum reglos daliegenden Zombie und ein kärglicher Rest zu der zeternden Atera, die Helfer zum Flicken forderte.
"Mach es kaputt, mach es kaputt", schrie Mückensturm nach oben, verstummte aber, als er den plötzlich sehr erregten Mann mit dem Hund sah, der sich auch sehr plötzlich von auf ihn gerichtete Armbrüste umringt sah.
"Zu dem Werk, was wir bestreiten, Worte, die jene Tat kühn begleiten", begann Herr Gänsefüßchen zu wispern und wog sich auf dem Bauch des Mannes unter ihm hin und her. "Legt jemand an das Pendel seine Hand, zieht Tod herauf und raubt dies Leben hier-" Er legte eine kurze Pause ein und seine Augen glänzten, doch keine Träne war zu sehen. "-in meiner Hand."
"Im Namen der Stadtwache Ankh-Morpork, Du bist verhaftet, Kilian Gratianus", sprach Cim eine Vermutung aus.
"Oh nein nein nein", summte Herr Gänsefüßchen. Er schüttelte langsam den Kopf. "Lasst mich gehen und versiegelt den Turm unversehrt, dann wird Mopsi kein Leid geschehen." Seine Mundwinkel zuckten unwillkürlich dabei. Er klimperte mit den Augen, woraufhin Rascaal wieder ein paar Schritte zurück tat.
"Fast die gesamte Wache ist unterwegs, du wirst nicht entkommen können und das da ist nur ein kleiner Hund", warf Sidney überlegen ein. Seine Finger ruhten dicht am Abzug.
"Ein kleiner Hund, ja. Ein guter, ein kleiner, ein braver Hund", pflichtete der Mann fast vergnügt bei. Dann drückte er zu. "Ein toter Hund!", jauchzte Herr Gänsefüßchen, die Wächter stürmten los, aber sie kamen dennoch zu spät.
Jemand anders war schneller.

Alessandro Arme schnellten hervor, er schlang sie dicht um den Körper seines einstigen Herrn und drückte und drückte zu. Herr Gänsefüßchen keuchte, strampelte wild mit den Beinen, bäumte sich auf, aber sein ehemaliger Diener ließ nicht los. Er presste im Gegenteil noch fester zu und breite Arme legten sich über Brust und Kehle, walgten, würgten, quetschten alle Luft hinaus.
"D-d-d-d-d", japste Herr Gänsefüßchen, seine Augen quollen ihm hervor, das Leben entwich ihm und der Mops auch. Keuchend hielt ihn Alessandro weiter fest umschlungen wie eine innige Geliebte, schnaufte in die spärlichen Haare des Toten und schüttelte ihn durch bis er sicher war, dass jedes Leben diese grausige Hülle verlassen hatte.
Dann rollte er ihn ohne Hast von sich, setzte sich ächzend auf und hielt die rote Hand auf die breite Wunde am Bauch.
"Ihr braucht mich nicht fest zu nehmen, ich sterbe sowieso bald", sagte er den verblüfften Wächtern ins Gesicht. Dann flatterten seine Augen und sein schwerer Kopf sank auf seine Brust.
"He!", tönte es in dem Augenblick von oben. "Soll es nun kaputt oder nicht?"
"Kaputt, kaputt!!", bestätigte Mückensturm Valdimiers Frage.
Weiter oben hockte der Vampir auf der Konstruktion und überlegte wie er dies nun überhaupt anstellen sollte. Er klopfte mit einem seiner Füße immer wieder dagegen, schließlich begann er in seiner Hockstellung unbeholfen zu hüpfen bis es irgendwo knackte und ein Teil gefährlich kippelte.
"Und Hau ruck", sagte er leise und sammelte sich zum letzten Sturm auf das seltsame Gebilde. Valdimier hüpfte weiter bis alles unter ihm auseinanderbrach und er in einem Holzregen mit hinunter fiel. Um ihn herum fallende Zahnräder. In der Mitte des Turmes konnten seine Hände endlich das Seil fassen und er schwang ein wenig daran herum bis es wieder zur Ruhe kam und er hinab gleiten konnte.
Unten wartete jedoch zu seiner Enttäuschung keine Menge auf ihn, um ihn zu umjubeln. Es wartete nur Atera, die ihn unter zusammengezogenen Augenbrauen grimmig ansah.
"Ja ja, ganz ordentlich für einen FROG. Ich würd dich ja sogar auf Händen tragen, aber die einzige, die ich besitze, hast du."

***


"Hilf mir kurz beim Nähen", bat der stämmige Mann und brummte zufrieden, als Rogi die Klammern setzte und einige Falten in der Haut zusammen drückte. Die Nadel flocht den Faden straff durch die Wunde und am Ende riss Krapfen-Karl den Faden kurzerhand ab, worauf der Verletzte unter ihm aufschrie.
"Ja, da muss man durch. Keene Sorge, wird alles wieder jut." Der bekannte Pferdedoktor holte einen Flachmann aus seiner Brusttasche, nahm einen kräftigen Schluck und träufelte dann etwas der Flüssigkeit auf einen Lappen, den er schließlich an die Wunde presste, was der Mann mit einem weiteren Keuchen kommentierte.
Während Krapfen-Karl seine blutigen Hände an einem Stofffetzen abwischte und sich seine Jacke wieder anzog, verband die Sanitäterin von FROG den Verletzten mit sauberen Leinen und ging dann gemeinsam mit dem Doktor zur Türe, wo schon ungeduldig Venezia und Araghast warteten.
"Und, kommt er durch?", fragte die Gnomin sofort, als Rogi hinter sich leise die Türe schloss.
"Türlich!", entgegnete Krapfen-Karl mit tiefer dröhnender Stimme. Während der Arbeit hatte er die ganze Zeit einen alten Hut aufbehalten und nun tippte er dagegen und verabschiedete sich.
"Dein Geld liegt unten am Tresen", rief ihm Venezia noch hinterher, dann wandte sie sich müde lächelnd an die Gefreite. Es war schon weit nach Mitternacht, nicht lange und es würde dämmern.
"Und was denkst du?"
"Nun, ef wurde fiemlich viel mit einem Meffer in der Haut herumfuhrwerkt, ein puref Glück, daff keine Innereien verletft waren", lispelte Rogi. "Er wird fich noch etwaf erholen müffen bevor er befragt werden kann." Die Abteilungsleiterin von FROG nickte darauf, während sie auf Araghasts Schulter saß.
"Hat er immer noch darauf bestanden, dass der Mops bei ihm bleiben soll?", fragte dieser mit einem Schmunzeln im Gesicht.
"Ja, daff war daf einfige waf er fagte." Die Sanitäterin sah zu Venezia. "Wenn ef recht ift, gehe ich wieder hinein, ich wollte ihm noch einen Flummertrunk machen."
"Klar ist es recht. Ich schätze, wir brauchen seine Aussage nur als Bestätigung. Im Moment versuchen ein paar andere wieder diesen falschen Dichter zu beruhigen", erwiderte die Gnomin.

"Bei Offler, stell dich nicht so an." Atera hieb mit der Hand auf den Tisch. In einer Ecke kauerte der andere Untote und wimmerte leise, das Gesicht barg er in seinen Händen. "Notierst du auch alles?"
"Ja, ich notiere auch alles", bestätigte Lagan mit unterdrückter Gereiztheit, die bewies, dass seine Schäffin diese Frage nicht zum ersten Mal gestellt hatte. Dabei gab es nicht viel zu notieren, da der Zombie nur immer wieder 'Ich wollte doch nur helfen' oder 'Ich konnte mich ihm nicht widersetzen' stammelte.
Nach langwierigen Gesprächen, einigem Herumlamentieren und mehreren Flaschen Brandy ergab sich folgendes:
"Gib es doch endlich zu, du warst ein.. ein äh verdammter Strohhaufen von Gänsefüßchen!" Anklagend richtete Atera ihren spitzen Zeigefinger auf den verwirrten Zombie.
"Strohhaufen?", raunte Lagan der Abteilungsleiterin zu.
"Ja, notiere das. Gestehst du, dass du der Strohhaufen warst, Kilian?" Der erst kürzlich Verstorbene nickte ergeben, vor allem weil er erstens nicht so recht wußte, worum es gerade ging und zweitens den Boden einer Brandy Flasche betrachtete.
"Da, er hat genickt! Lagan, notiere, dass der Verhörte geständig war."
"Ich äh glaube, er hat einfach nur mit dem Kopf gewackelt", versuchte Araghast hinzu zu fügen, aber ein Blick in die Runde zeigte ihm, dass beide S.E.A.L.S. bereits im Begriff waren das Verhörungskämmerchen zu räumen. "Und ich glaube, du meintest einen Strohmann." Der Püschologe war erst später hinzu gekommen, weil Atera der Meinung gewesen war, sie bräuchte püschologische Unterstützung (hauptsächlich war sie aber der Meinung gewesen noch jemanden zu brauchen, der etwas Brandy bei der nächsten Kneipe holen ging). Nun stellte sich der Hauptgefreite vor die Türe und beging einen kleinen Versuch die Arme zu verschränken, was er aber unter den Blicken Ateras schnell wieder aufgab.
"Also, ich äh finde, dass wir eigentlich noch gar nichts ähm wissen. Ich denke doch, dass uns Kilian noch einiges mehr sagen könnte." Araghast Stimme bekam Wort für Wort mehr Festigkeit bis er auch die letzten 'Ähs' und 'Öhms' hinter sich ließ und durch einen ausgeklügelten längeren Vortrag preschte, der alle Anwesenden wieder auf ihre Stühle brachte.
"Na schön." Atera rieb sich die Stirn. "Wo hast du Herrn Gänsefüßchen kennen gelernt?"
"In... in dingsbumsch", war die einzige Antwort, die sie bekamen und sie blieb auch bei den weiteren Fragen die einzige.
"Ich glaube kaum, dass er etwas weiß, was uns weiterhilft. Der Zwerg und seine Gehilfen werden sicher bald von unseren Kollegen geschnappt werden, Herr Gänsefüßchen ist tot, das Pendel zerstört und sollte es ein neues geben, haben wir ja den magischen Striegel", zählte Atera auf und tätschelte die Hand des vor sich hin lallenden Kilian beruhigend.
"Das war ganz sicher kein magischer Striegel. Ich denke, das hatte etwas mit Physik zu tun. Die Schwingungen des Pendels wurden durch die Borsten, die ja bei kreisförmiger Bewegung Reibungen erzeugen-" Araghast Breguyar hielt inne, als er die Blicke der anderen auf sich fühlte.
"Physik?", fragten Lagan und Atera gleichzeitig.
"Ähm, dieses Wort kam mir gerade so in den Sinn..."
"Gib mir mal das Protokoll", überging Atera die weiteren Erklärungsversuche des FROG-Wächters, "ich werde einen ordentlichen Bericht dazu schreiben."
"Du meinst, du füllst die Lücken mit etwas Kreativem bis es passt?"
"Ähm ja, genau." Die Untote erhob sich. "Das hatte ich vor." Sie half Kilian auf, der nun wankend in einer Ecke lehnte. "Und bringt den Striegel wieder den Zauberern zurück. Das ist die Ferse von dem Pendel oder wie immer das geheißen hat", sagte Atera und blickte zufrieden über ihre Schlussfolgerung in die Runde, die sich aus Lagan, Araghast und Kilian zusammensetzte.
"Wie kann der Striegel eine Ferse sein?"
"Nun, es gibt doch dieses Sprichwort, wie ging das noch?" Der Stabsspieß rieb sich am Kinn und bugsierte den betrunkenen Untoten zur Türe, wo er schwankend auf der Schwelle balancierte. "Das war seine Dingsbumsferse, so heißt es doch. Nur der Name fällt mir nicht mehr ein." Die anderen blickten sie weiter verwirrt an.
"Er ist die Ferse eines anderen? Das hat doch nichts mit Igors zu tun oder?", wandte sich Lagan an Atera, aber diese hatte Kilian bereits durch die Türe geschubst und war mit ihm verschwunden.

Atera knackte die Erdnussschale und trennte Nuss und Hülse sorgfältig, dann legte sie beides auf zwei verschiedene Stapel. Sie sah nicht auf, als sich Kilian einige Erdnüsse stibitzte und darauf herum kaute.
"Warum isst du selber keine?", fragte er, leckte sich über die trocknen Lippen und bugsierte mit der gewölbten Handfläche einen kleinen Hügel aus bereits geschälten Erdnüssen näher zu sich.
"Früher oder später machst du dir nichts mehr aus dem Essen."
"Früher oder später macht man sich als Untoter wohl aus gar nichts mehr was, hm?" Er sah sie aus seinen blässlichen Augen an und Atera machte ein Geräusch, das an ein Seufzen erinnerte.
"Du deprimierst mich, Kilian. Du deprimierst mich echt."
"Bartin", fiel der Zombie ein.
"Was?" Sie sah ihn irritiert an.
"Ich will nicht mehr mit einem Namen, der mir nicht gehört, herum laufen, darum habe ich beschlossen mich Bartin zu nennen", verkündete er, nicht ohne ein bisschen Stolz in der Stimme. Atera brach kopfschüttelnd eine weitere Hülse auf. "Was soll ich nun tun?", fragte er, als sie nichts erwiderte. "Ich meine, ich bin doch ein nichts, ein niemand. Das Haus wurde zwangsversteigert, meine Arbeit als falscher Dichter ist dahin, ich habe kein Geld, keine Unterkunft." Der Zombie warf ihr einen bettelnden Blick zu, aber Atera war zu beschäftigt mit der Hakenspitze kleine Muster aus Löchern in den Holztisch zu bohren.
"Such dir ein Grab und leg dich hinein." Ihr Satz wurde von dem lauten Lachen am Nebentisch übertont, wo eine Gruppe junger Gefreiter saßen.
"Ich denke, ich werde ausziehen und ein bisschen der Welt erobern, vielleicht irgendwo ein kleines Fleckchen."
"Tu das, tu das", entgegnete Atera, ihr Blick folgte einigen Bierkrügen auf ihrem Weg von der Theke zu einem benachbarten Tisch. "Und wenn du zurückkommst, bring Papier mit. Davon schuldest du der Wache einiges."
Ein kalter Luftzug brachte die tropfenden Kerzen am Fenster kurz zum Erzittern, als die Türe des "Eimers" wie schon so oft an diesem Abend aufgerissen wurde. Einige Wächter hoben aus ihrer Runde die Köpfe, kurz flackerten die Gespräche ebenso wie die Kerzen, dann erreichten sie wieder ihren normalen Pegel. Lachend, lärmend, aneinander zu prostend.
Man hörte das Zusammenstoßen der Krüge, das Scharren, wenn Stühle über das Holz herangezogen wurden, ab und zu auch das Klacken von Würfeln.
"Alles in allem ein ereignisreicher Tag."
"Mein Einkauf ist schlecht verlaufen." Atera sah hoch zu Rince, der sich aus dem Gewühl zu dem kleinen Tisch am Fenster begeben hatte.
"Nun, äh wie mans nimmt. Ich wollte dir nur sagen, dass das Experiment "Verbale Kommunikation" vorläufig ad acta gelegt ist. Seit heute wird wohl jeder von sich aus mehr reden als schreiben." Der Kommandeur nahm einen Schluck aus seinem Bierkrug.
"Man hört es ja." Atera machte eine Geste in den Raum hinein und Rince nickte bekräftigend. Aus dem Gesprächstumult wurde sein Name erneut gerufen. Bierspritzer verteilten sich auf dem Tisch, als der Kommandeur nach dem Erdnusshügel langte und ihn mit einem Handgriff halbierte, den entsetzten Blicken Bartins zum Trotz.
"Dann können wir ja die 'Papier ist aus' Order wieder aufheben", nuschelte Rince. Dann war er auch wieder vom Dunst und mehreren anderen Personen verdeckt ehe Atera etwas hatte erwidern können.
"Aufheben?" Soweit sie sich erinnern konnte, war das Papier-Problem nicht gelöst, denn sie erinnerte sich noch viel deutlicher an einen sehr, sehr großen feinen Aschehaufen im Kamin des versteckten Raumes unter der Oper. Leider erinnerte sie sich nicht mehr daran, irgendjemanden mitgeteilt zu haben, was die Asche für eine Bedeutung enthielt.
Der Stabsspieß reckte den Kopf und suchte nach einer bestimmten Person unter den Anwesenden.

Für kurze Zeit erloschen die Gespräche, als ein lauter Ruf durch die Kneipe gellte. In einer von Rauchschwaden geschützten Ecke duckte sich Lagan Nerviar noch mehr hinter einem kräftigen jungen Rekruten und hoffte, dass er, zumindest für den Moment, unsichtbar werden könnte, wenn er es sich einfach nur feste genug wünschte.



[1] Viele hatten mit dem Mops zu tun.

[2] "Finde das verdammte Papier!"

[3] "Habt ihr hier irgendwo Papier gesehen?"

[4] Man vermutete zumindest, dass sie unter Umständen fähig sein konnten.

[5] Er war besonders brummelig, da er nicht sehr laut sein konnte. Noch nicht einmal gewöhnlich laut, was für ordentliche Brüller aber schon beinahe wieder ein Flüstern ist.

[6] Der erste war: Lasst uns bloß unauffällig verschwinden ehe sie merken, dass wir Uniformen tragen.

[7] Beziehungsweise wieder ihrem ursprünglichen Zweck zugeführt wurde.

[7a] Nicht, dass die Bürger Ankh-Morporks Vernunft besäßen.

[9] Damit ist irgendetwas gemeint, was eine Verschlimmerung des bisherigen Zustandes darstellt.




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