Die vierte Regel

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von Gefreiter Thymian Pech (RUM)
Online seit 04. 01. 2003
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Als neuer Anwerber bei RUM muss Thymian seinen ersten Auftrag erledigen und drei Informanten anwerben. Nur... wie macht man das eigentlich?

Dafür vergebene Note: 14


Das hatte ihm niemand gesagt. Niemand hatte ihm davon erzählt.
"Doch, natürlich, das ist so.", sagte der Stellvertreter von R.U.M. und öffnete die Türe. "Du bekommst dein eigenes Büro. Immerhin bist du jetzt unser Anwerber." Vintongo trat in den kleinen dusteren Raum. "Nur äh herein spaziert." Mit großen leuchtenden Augen folgte Thymian dem Korporal und blickte sich begeistert um.
"Der Raum ist ja größer als meine Besenkammer!", rief er aus und strahlte. Vinni sah sich um. In dem fensterlosen Büro war mit Müh und Not ein wackliger Schreibtisch gezwängt worden, in der Ecke stand ein kleiner Schrank und ein Stuhl hatte sich auch noch gefunden. Einige Spinnen hatten bereits ihre Netze gewoben und die wenigen Einrichtungsgegenstände erobert.
"Nun ja, du solltest vielleicht etwas aufräumen. Staubwischen. Und du hast eine eigene Besenkammer?", fragte der Stellvertreter neugierig. Thymian nickte.
"Ja, bei meinem Onkel in seiner Kneipe, da wohne ich drin, Sir."
"Du wohnst in der äh Besenkammer? Und äh, du brauchst mich nicht Sir zu nennen. Einfach Vinni.", erwiderte der Korporal und ging wieder aus dem kleinen Büro hinaus.
"Danke, Sir Vinni." Thymian warf noch einen Blick in sein Büro. Sein Büro... sein eigenes Zimmer. Er machte wieder einen Schritt rückwärts und die Wächter standen erneut im Erdgeschoss des Wachhauses. Lautes Stimmengewirr war zu hören und Wächter eilten hin und her, Bürger kamen herein, um ihre Sorgen und Probleme meist lautstark mitzuteilen. Thymian fand das Wachhaus am Pseudopolisplatz um einiges größer und lebhafter, als jenes in den Schatten, aber vielleicht lag es auch einfach daran, dass sich hier mehr Leute hintrauten.
"So, dann fehlt ja nur noch deine Ausrüstung." Vintongo ging durch den Empfangsraum zur Umkleide. "Sowie deine neue Uniform."
"Meine alte war ohnehin nicht mehr äh.. so sauber. Ich bekomme eine Ausrüstung?", fragte Thymian, Begeisterung schwang in seiner Stimme mit.
"Ähm ja, dies hier." Der Korporal drückte dem frischgebackenen Gefreiten etwas in die Hand. Enttäuscht und halb beängstigt sah Thymian darauf.
"Ein Notizblock und ein Stift?"
"Alles was ein Anwerber braucht. Neben einem guten Gedächtnis. Und Überredungskunst.", erwiderte der Stellvertreter und dachte kurz nach. "Man sollte auch gut zu Fuß sein, hab ich gehört." Thymian nickte ergeben, während er dann begann mühsam seine neue Uniform anzulegen. Unbehaglich nestelte er an dem Brustpanzer, er hatte wegen der kalten Jahreszeit seine zerschlissenen Sandalen gegen zu kleine Stiefel eingetauscht, die gegen seine Zehen drückten. Das einzige, was er an der neuen Uniform mochte, waren die Streifen auf den Schulterklappen des Hemdes, die ihn als Gefreiten auszeichneten. Zuletzt versuchte er vergeblich etwas Ordnung in seine blonden Haare zu bringen, da sie sich jedoch beharrlich weigerten und kreuz und quer abstanden, drückte er einen bronzenen Helm auf seinen Kopf. Nach seiner fertigen Umkleidung sah Thymian Pech zu dem Korporal, der sich ein ermunterndes Lächeln abrang.
"Gibt es jemanden, der mich ausbildet?", fragte der Gefreite und schob den Helm zurück, der ihm zu groß war und immer wieder nach vorne ins Gesicht rutschte. Vintongo betrachtete den neuen Anwerber von R.U.M.
"Nein, leider bist du der einzige in diesem Posten. Du wirst durch Erfahrung lernen müssen." Und Fehlern., dachte der Stellvertreter. "Aber äh ein Rat, neue Informanten werden durch die Uniform eher abgeschreckt. An deiner Stelle würde ich es erst einmal in Zivil versuchen und nach und nach dem potentiellen Informant zu erkennen geben, dass du von der Wache bist. Vielleicht klappt es dann besser.", empfahl er.
"Danke, Sir.. Vinni." Thymian legte den Helm wieder ab, seine Haare standen zu Berge.
"Ich bin nun in meinem Büro, falls du etwas brauchst. Wenn du dich etwas in deinem eigenen Büro eingerichtet hast, sollst du die erste Aufgabe angehen. Humph hat sie an mich weitergeleitet.. ich muss sie irgendwo hier notiert haben.." Nachdenklich klopfte Vinni seine Taschen ab. "Ah, da ist sie ja." Er fischte einen zusammen gefalteten Zettel hervor und klappte ihn auf. Sein Blick huschte, begleitet von mehreren Stirnrunzeln, über die Zeilen. "Also, R.U.M. leidet wie du sicherlich weißt etwas unter Personalknappheit, es gibt auch noch keine Informantenkontakter. Deswegen musst du die Informanten vorerst selbst weiter betreuen. Aber erstmal natürlich anwerben. Humph möchte, dass du für den Anfang versuchst drei Informanten zu bekommen. Wie du das anstellst bleibt dir überlassen, doch ohne selbstverständlich mit dem Strafgesetz der Wache in Konflikt zu geraten." Vintongo warf dem Gefreiten einen mahnenden Blick zu ohne genau zu wissen, wie man das machte. Und der Gefreite nickte ohne genau zu wissen, was das Strafgesetz der Wache war. Thymian hatte zwar davon gehört und er erinnerte sich auch an ein Flugblatt, was er bekommen hatte, doch da er des Schreibens und Lesens nicht mächtig war, hatte er das Blatt ganz schnell wieder vergessen.
"Welche Informanten denn?", fragte Thymian.
"Hmm, es stehen keine Namen dabei. Ich schätze einfach erst einmal überhaupt welche. Personen in der Stadt, die der Wache bei Fällen weiterhelfen können, die wissen, was gerade an zwielichtigen Geschäften vor sich geht. Äh ja, ich denke, so etwas in der Art." Vintongo steckte den Zettel wieder ein und überlegte, was er noch sagen könnte. Es war ihm immer noch fremd, dass ihn andere Wächter als Vorgesetzten betrachteten, ihn mit 'Sir' ansprachen und auf weise Ratschläge von ihm warteten. Der Gefreite sah ihn auch so an, als würde er auf weitere Ratschläge hoffen. "Und äh solltest du es einmal eilig haben, sei vorsichtig; im Winter sind die Straßen öfters glatt." Thymian Pech nickte. "Viel Glück.", wünschte Vinni noch schnell und verschwand aus der Umkleide.
"Werde ich haben.", murmelte Thymian leise, aber er war sich mittlerweile nicht mehr so sicher. Umständlich zog er wieder seine Zivilkleidung an. Eine Hose aus Leinen und Leder, ein beiges Hemd, sowie eine dünne Wolljacke. Zu guter Letzt einen meterlangen dicken rot-gelben Schal, der fürchterlich kratzte und mit dem man eher jemanden hätte erwürgen können statt ihn als wärmendes Kleidungsstück zu benutzen. Im Stillen verfluchte Thymian seine beiden Großmütter. Der Gefreite trat zu dem Spiegel in der Ecke und betrachtete sich eine Weile. Sein blaues Auge war mittlerweile fast abgeschwollen, die Kratzer verheilt. Er schob den Jackenärmel hoch und sah auf die Innenseite seines Unterarms, wo die Wunden verschwunden waren und kleine Narben zurück gelassen hatten[1]. Thymian seufzte leise, seit dem Eintritt in die Wache schien er nur noch Pech zu haben. Aber andererseits hatte er auch die Stelle bei R.U.M. bekommen...
Darüber weiter nachdenkend trat er wieder aus der Umkleide und von dort in sein neues Büro. Thymian betrachtete es noch einmal ausgiebig. Er wusste einfach, dass es eine ehemalige Besenkammer war, diese Tatsache drang aus jeder Ritze zwischen den Holzbrettern, sprach aus jedem Staubkorn und jedem Spinnennetz. Vor allem aber teilte sich ihm diese Erkenntnis durch den Besen mit, der Thymian aus dem Schrank entgegen fiel, als er ihn neugierig öffnete. Mit dem Besen und einer Portion Enthusiasmus ausgerüstet, fegte er Staub und Spinnen aus dem Büro und bemühte sich die Kammer ein wenig ordentlicher werden zu lassen. Am Ende stand er leicht schnaufend vor seinem Büro, es wirkte noch ein wenig kahl und leer, obwohl fast bereits jeder Raum genutzt war. Der Schreibtisch war leer, abgesehen von dem Notizblock und dem Kohlestift, zögernd steckte Thymian schließlich beide Dinge ein, vielleicht waren sie ja doch noch zu etwas gut. Rückwärts trat er wieder aus der Kammer und prallte prompt gegen einen anderen Wächter, Thymian drehte sich um und blickte in ein freundlich lächelndes Gesicht.
"Du bist der neue Anwerber bei uns?", begrüßte ihn der ältere Wächter.
"Ja, Sir. Thymian Pech.", antwortete Thymian und versuchte nebenbei Herr über seinen langen Schal zu werden, der sich erneut selbstständig gemacht hatte und wie eine riesige Schlange über den Boden quoll.
"Ich bin Dragor Nemod, Lance-Korporal und Verdeckter Ermittler bei R.U.M.", erwiderte der Mann und sah leicht schmunzelnd zu wie Thymian den Schal umständlich aufraffte, um ihn aber nach einer Weile zur Hand zu gehen und zu helfen. "Wenn ich dir sonst irgendwie helfen kann, sag ruhig Bescheid.", bot er an.
"Danke, Sir. Es ist so, ich muss drei Personen anwerben, habe aber keine Ahnung wie." Thymian sah zu Boden. "Wie soll ich Informanten überzeugen?"
"Nun... wie du einen überzeugst sollst... tja, ich denke, das ist von Informant zu Informant verschieden. Jeder wird auf deine Anwerbungsversuche anders reagieren, deswegen solltest du immer vorsichtig sein. Ein unbedachtes Wort könnte schon das vorläufige Ende bedeuten."

Du wirst Teil eines Ganzen sein... und du musst stark sein, sonst bist du eine Gefahr für uns. Die Worte von seinem neuen Abteilungsleiter, die er im Bewerbungsgespräch gesagt hatte, schwirrten Thymian immer wieder im Kopf umher. Er musste stark sein, sonst war er eine Gefahr. Stark sein. Er musste stark sein. Von ihm hing alles ab.
"Verdammt, das schaffe ich nie...", murmelte er und schlang die Jacke enger um sich. Es war kalt geworden in Ankh-Morpork, die Luft schneidend und der Himmel grau. Bald würde es sicherlich den ersten Schnee geben. In Gedanken versunken und grübelnd, wie er denn nun jemanden anwerben sollte, ging Thymian zu seinem Onkel Jesko, der eine schmierige Kneipe in einem ebenso schmierigen Viertel von Ankh-Morpork betrieb. Zwar nicht die Schatten, dafür aber genauso herunter gekommen und düster. Der Gefreite bog in die Weilandgasse und trat in die kleine Kneipe "Zum", warme Luft schlug ihm sofort entgegen, was wohl auch der Grund war, warum der Schankraum regelrecht überfüllt wirkte. Barbaren und Schläger jeder Sorte saßen an den Tischen oder lehnten an der Theke, um laut grölend mit neusten Siegen zu prahlen oder im Armdrücken ihre Kräfte zu messen. Ängstlich quetschte sich Thymian an den großen Männern vorbei bis zur Theke, wo sein Onkel dabei war in schäbigen Krügen heißen Grog auszuschenken. Als er Thymian sah, brummte er nur kurz und ließ ihn hinter die Theke.
"Was gibt's, Jungchen?", fragte er, wischte sich die Hände kurz an seiner Schürze ab, die sich wie ein Segel über seinen fettleibigen Bauch wölbte. Thymian zögerte, er wusste nicht, warum er gerade seinen Onkel um Rat fragen wollte, aber er hatte immerhin am meisten Erfahrung im Umgang mit zwielichtigen Gestalten. Irgendjemand musste ihm helfen, er würde das niemals alleine schaffen. Er war ganz und gar nicht stark.
"Ich..." Seine Stimme sank zu einem leisen Wispern herab, was sich in dem Stimmengewirr der Barbaren verlor.
"Was hast du gesagt? Pack doch mal mit an.", forderte Jesko, klopfte Thymian tüchtig auf den Rücken und drückte ihm zwei schwere Krüge in die Hand unter deren Last er beinahe zusammen gebrochen wäre. Und so vergingen Stunden. Thymian schleppte überlaufende Krüge, er spülte Krüge, er füllte Krüge, er verbrannte sich am heißen Punsch, er wischte den Dreck der Barbaren weg, er hetzte von einem Tisch zum anderen. Erst, als die Nacht herein gebrochen war und der Morgen beinahe dämmerte, wurde es ruhiger. Mit zitternden Händen kehrte Thymian gerade die letzten zerbrochenen Krüge auf. Sein Rücken schmerzte, die Beine schienen mit Blei gefüllt. Er sehnte sich einfach nur nach seinem Bett.
"Ich liebe die kalte Jahreszeit, die Leute sind dann immer besonders freigiebig." Onkel Jesko zählte die Münzen in seinem Beutel ab. Thymian schloss die Kneipentüre zu und sah zu dem großen Mann, der gerade seine Schürze auszog.
"Onkel, ich...", begann er matt.
"Na gut, ausnahmsweise, weil du heute so gut geholfen hast.", sagte Jesko gönnerhaft und warf ihm zwei Dollar zu. Thymian fing sie ungelenk auf, steckte sie ein und ging zu seinem Onkel.
"Nein, ich bin doch jetzt bei der Wache... und, und bin nun Gefreiter.", erzählte er stockend. Jesko räumte unter lautem Scheppern die letzten Krüge weg und hörte ihm brummelnd zu.
"Erst Gefreiter, sagst du? Streng dich mal ordentlich an, damit du da auch was Anständiges wirst."
"Ja, aber ich bin kein Rekrut mehr. Ich bin jetzt ein richtiger Wächter.", erwiderte Thymian nicht ohne Stolz.
"Kannst du anderen was befehlen?", fuhr sein Onkel sofort dazwischen und kratzte sich an seinem kurzen Bart. Der junge Wächter sah zu Boden und schüttelte den Kopf. "Na, siehst du.", kommentierte Onkel Jesko dies.
"Es ist nur so... ich bin jetzt Anwerber. Ich soll drei Informanten anwerben."
"Anwerber??! Wer hat dir gesagt, dass du anwerben sollst, häh?", brauste Jesko auf und sah mit wütendem Gesichtsausdruck zu Thymian, der immer kleiner wurde. "Du sollst doch keine ehrlichen Leute in die Pfanne hauen!", setzte der Wirt der "Zum" nach.
"Aber das ist doch jetzt meine Aufgabe. Ich brauche drei Informanten, bitte, Onkel, kannst du mir nicht helfen?", bat Thymian und setzte mit anerkennendem Tonfall nach. "Du kennst dich doch so gut aus in Allem, du weißt doch sicher einen Rat." Nachdenklich rieb sich Jesko am Kinn.
"Naja.. ich weiß schon viel, was in Ankh-Morpork gerade so läuft." Er legte die Schürze beiseite und sah eindringlich zu Thymian. "Aber Informanten, die verhaftest du doch nicht oder?"
"Nein, sonst könnten sie mir ja nichts mehr erzählen.. glaube ich.", gab Thymian zurück, er spürte wie ihn die Müdigkeit weiter einnahm. Sein Onkel kam zu ihm und legte väterlich seinen großen Arm um Thymians Schulter, die die Last mit einem schmerzhaften Pochen quittierte.
"Wenn du Informanten willst, dann musste auch mal großzügig sein. Hier und da mal nen paar Dollar sehen lassen, zu nem Bierchen einladen. So läuft das.", begann Jesko in verschwörerischem Tonfall zu erzählen.
"Aber ich hab doch nicht so viel Geld.", wandte Thymian ein.
"Ne, ist ja auch nur für den Anfang, um ins Gespräch zu kommen. Von nem Wächter wollen die Leute meist kein Geld, die wollen was anderes."
"Was denn?", fragte der junge Gefreite neugierig. Mit großen Augen sah er seinen welterfahrenen Verwandten an.
"Eine Hand wäscht die andere. Merk dir das, Junge. Eine Hand wäscht die andere. Du musst die Leute bei Stange halten, ab und zu mal nen Auge zudrücken. Wenn du weißt, dass der gerade ein Ding am Laufen hat, dann kannste ja da auch mal wegsehen, dann ist der dir gut gesonnen. Dafür kannste dann vielleicht mit den Informationen von dem einen Konkurrenten hinter Gittern bringen.", erklärte Onkel Jesko. Thymian begann in seiner Armbeuge zu schwitzen.
"Das ist doch gegen das Gesetz.", erwiderte der Wächter.
"Bürschchen, es gibt auch ungeschriebene Gesetze. Die musst du befolgen, du musst den Leuten Gefallen tun. Eine Hand wäscht die andere. Wenn du an den richtigen Stellen den Mund hältst, kannst du es mal weit bringen. Gesetze... das is alles Auslegungsding da. Haste alles verstanden?" Thymian nickte folgsam und wollte dem Griff seines Onkels entfliehen, doch dieser hielt ihn weiter fest. "Aber verrat bloß keinen deiner Informanten, so was spricht sich rum. Da liegste im Ankh ehe du noch was sagen kannst. Die müssen dir nicht nur trauen, die müssen dir vertrauen. Dann is alles in Butter, dann läuft das auch."
"O-okay. Danke, Onkel." Jesko kratzte sich am Bauch und gähnte herzhaft. Er nickte nur kurz, klopfte Thymian noch einmal auf die Schulter und wankte dann die knarrenden Treppenstufen hinauf. Noch über die Worte nachdenkend, schlurfte Thymian in seine Kammer, fiel abgekämpft in das muffige Bett, rollte sich in die Decke und schlief auf der Stelle ein.

Die Mittagszeit war bereits vorüber, als Thymian nach einigen Stunden wieder zum ersten Mal blinzelte und sich frierend aufrichtete. Noch verschlafen zwängte er seine gefrorenen Füße in die Stiefel, zog sich murmelnd an, nahm den Schal mit und ging mit halb geöffneten Augen nach draußen in die Kälte und den Hinterhof. Das Waschwasser in der Tonne war mit einer dünnen Eisschicht bedeckt und so wurde aus Thymians Bad nur eine kurze Katzenwäsche. Nun noch mehr schlotternd, trocknete er sich mit dem Schal ab, legte ihn an und sah nach oben in den Himmel.
Pures Entsetzen packte ihn. Er hatte verschlafen!! Das war sein zweiter Tag, als Anwerber und er hatte verschlafen! Kopflos rannte er nach vorne auf die Straße und eilte zum Wachhaus. Nach der Sonne zu urteilen, musste es schon längst Mittag sein und er hatte noch nicht einmal angefangen anzuwerben. Thymians Schritte wurden langsamer. Nun hatte er einige Ratschläge bekommen, aber niemand hatte ihm gesagt wo man Informanten fand und wie der erste Schritt aussah. Sollte er einfach jemanden ansprechen und auf sein Glück hoffen? Sein Glück... Thymian begann es zu vermissen. Nachdenklich hob er ein paar Münzen auf und reichte sie einigen Bettlern an einer Straßenecke. Wenn er auf sein Glück vertraute, dann müsste ihm praktisch ein Informant direkt in die Arme getrieben werden, der Fingerzeig der Göttin würde ihm den Weg weisen. Doch, wenn Thymian ehrlich war: er mochte die Lady nicht. Er hatte ständig das Gefühl, sie würde mit ihm nur ein Spiel treiben. Wie ein kleines Holzschiffchen auf einem reißenden Fluss...
So in Gedanken versunken auf den Boden starrend, gelangte Thymian zur nächsten Kreuzung und prallte prompt mit jemanden zusammen. Erschrocken schrie er auf und fiel nach hinten auf das Kopfsteinpflaster.
"Pass doch auf, wo du hingehst!", fuhr ihn ein Mädchen mit hellblonden Haaren an, das sich ebenfalls wieder aufrappelte und die Schürfwunden an ihren Knien begutachtete.
"Entschuldigung.. ich äh äh.." Thymian starrte das Mädchen an und die Röte kroch ihm ins Gesicht. "Äh.. äh.."
"Schönen Tag noch.", sagte sie nur zornig, stieß ihn grob beiseite und stapfte davon, ihren langen Rock wieder gerade ziehend. Der Gefreite ließ die Schultern hängen und wandte sich in die andere Richtung. Er musste Informanten finden. Ich muss stark sein, sonst bin ich eine Gefahr für die anderen, ging ihm wieder der Satz des Oberleutnants durch den Kopf. Stark sein. Wenn er nicht stark war, war er eine Gefahr. Wenn er eine Gefahr war, war er schwach. Wie ging dieser Spruch gleich? Das schwache Glied in der Kette. Er wollte das nicht sein, er würde stark sein. Nur wie?
"Nur wie was? Du redest ganz schönen Blödsinn vor dich her, weißt du das, Thymian Pech?" Der junge Mann fuhr augenblicklich zusammen und entdeckte neben ihm an einer Hausmauer einen Narren, der mit einer Schweinsblase an einem Stock hantierte. Der Narr sah den Wächter verschmitzt lächelnd an. "Sag bloß, du erkennst mich nicht! Ich bin's, Springteufel." Wie zum Beweis hüpfte der Narr mit schellenden Glöckchen um Thymian herum, der hastig in seiner Erinnerung wühlte.
"Ja, ich erinner mich, wir haben gemeinsam im 2. Jahr nebeneinander gesessen.", sagte er lahm. Eigentlich hatte Thymian gehofft nie mehr an seine Zeit in der Narrengilde erinnert zu werden. Selbst sein Kostüm und die restlichen Utensilien hatte er in seiner Kammer tief in einer Kiste verstaut[2].
"Na, weißt du noch, wie wir Bruder Leithammel mit seinem eigenen Trick reingelegt haben?" Springteufel boxte den ehemaligen Narren kameradschaftlich in die Seite. Thymian überlegte sich schon wie er einem längeren Gespräch über "Gute alte Zeiten" entgehen konnte, als ihn der Narr plötzlich sehr merkwürdig ansah. Es schien, als ob irgendetwas 'Klick' in seinem Geist gemacht hätte. "Oh, DU warst das doch mit dem Tintenfisch oder??" Begeisterung schwang in seiner Stimme mit. Thymian wehrte mit den Händen ab, aber es half nichts. "Doch, doch. Ich erinner mich ganz genau! Die jüngeren Schüler reden jetzt noch von dir. Das war eine ganz große Stunde der Quiekenden-Ballon-Tier-Ausrüstung!!"
"Ich durfte danach nie wieder eine in die Hand nehmen. Bruder Kakao stellte mich an die Tortenmauer. Es war schrecklich.", wand Thymian ein und wollte schon ein paar Schritte weiter gehen, aber Springteufel hielt ihn fest.
"Red doch nicht so ein Unsinn. Keine einzige Torte hat dich getroffen. Jaja, ich erinnere mich wieder ganz genau. Dieser Ton!", schwärmte er.
"Ich glaube nicht, dass ein Tintenfisch so klingen würde. Außerdem habe ich überhaupt noch nie einen Tintenfisch zu Gesicht bekommen." Der Gefreite versuchte sich wieder von dem Narren zu lösen, mittlerweile hatte sich durch das laute euphorische Gekreische von Springteufel eine interessierte Masse um die beiden gebildet, die darauf wartete, dass etwas Interessantes passierte.
"Rate mal, was ich dabei habe! Rate mal, was ich dabei habe.", sang der Narr lauthals und als er hinter sich eine Quiekende-Ballon-Tier-Ausrüstung hervorzog, seufzte Thymian leise. "Oh bitte, nur ein einziges Mal.", bettelte Springteufel noch ehe der Gefreite etwas sagen konnte.
"Ich hab leider keine Zeit, ich bin jetzt äh Wächter.. hör mal, die Leute gucken schon. Äh, hat mich gefreut dich mal wieder zu sehen und so..", begann er verzweifelt, während der Narr ihn mit flehenden Augen ansah.
"Es ist eine Nummer 3 Ausrüstung. Bitteeeee, nur ein einziges Mal." Springteufel beherrschte perfekt den Bittenden-Augenaufschlag-dem-niemand-widerstehen-kann. Thymian seufzte noch einmal und nickte schließlich. Die neugierige Menge rückte ein Stück näher, um auch alles mitzubekommen, als der Wächter leise flüsterte:
"Na schön.. aber es darf niemand erfahren. Das bleibt unter uns."

NOOOOOOOOOOOOOOOOOOIIIIIIIIIIIIEEEEEEEEEEEE OOOOOOOOOOONKPFFFFFFFRRRRÄÄÄÄÄÄHHHHHHBÄÄÄÄHHHpfshhh...
Humph MeckDwarf prustete seinen gesamten Kaffee über die Unterlagen vor ihm, als das merkwürdige Geräusch durch sein Büro wanderte, die Uhr zum Zittern brachte und seine Trommelfelle beinahe zum Platzen.

NOOOOOOOOOOOOOOOOOOIIIIIIIIIIIIEEEEEEEEEEEE OOOOOOOOOOONKPFFFFFFFRRRRÄÄÄÄÄÄHHHHHHBÄÄÄÄHHHpfshhh...
Die kleine rosa geblümte Tasse in der zierlichen Hand von Lady von Grith zersprang klirrend und laut kreischend fiel die Adelige in die Arme eines Bediensteten, der sie verblüfft auffing. Der unheimliche Laut zehrte an den Fensterscheiben, drang durch das ganze Anwesen, ließ die Blumen draußen im weitläufigen Garten ihre Blüten verlieren und legte sich wie ein Paukenschlag über die gesamte Stadt, um dann mit einem Zischen zu verklingen.

"Du... du hast mir nicht gesagt, dass es eine Nummer 4 ist.. das hättest du sagen sollen." Thymian ließ die Ballons fallen und japste nach Luft.
"Ich dachte es wäre eine 3 Ausrüstung. Aber einmalig, wirklich einmalig!", rief Springteufel aus und klatschte in die Hände.
"Was?? Sprich lauter, ich höre nichts mehr!"
"Ich sagte: EINMALIG!!", brüllte der Narr und wich einer faulen Tomate aus, die plötzlich aus der Menge auf sie zuflog. Irgendwer hatte immer Tomaten dabei....
"Ja, einmalig. Dabei wird es auch bleiben!", gab Thymian zurück, als eine beleibte Frau auf den Wächter in Zivil zutrat und ihm eine schallende Ohrfeige versetzte.
"Widerling!", schimpfte sie. "Dass du dich nicht schämst." Kopfschüttelnd stapfte die Frau zurück zu der Masse an empörten Bürgern. Ein Stimmengemurmel erhob sich, eine besorgte Mutter hatte ihrem Kind die Augen zugehalten.
"Du hast einen Gefallen bei mir gut.", sagte Springteufel und nahm seine Schweinsblase an sich. "Aber ich äh glaube, ich habe Bruder Leithammel nach mir rufen hören.", sprach er weiter mit einem Blick auf die erboste Menge.
"Was hast du gesagt?" Bei Thymian sickerte jedes Wort nur noch wie durch dicke Watte. Sein Kopf dröhnte, außerdem hatte er das Gefühl Luft für die nächsten vier Monate verbraucht zu haben. Er sah sich um, aber sein ehemaliger Kamerad hüpfte schon um die Ecke. Eine Tomate zerplatzte mit einem 'Platsch' an Thymians Kopf. Als der rote Saft langsam über sein Gesicht lief, veranlasste ihn dies sehr rasch loszurennen.

Die Zwerge sahen vom Tisch auf, wo sie gerade ihre Äxte verglichen, als die Tavernentür mit lautem Knallen zugeschlagen wurde und Thymian sich schnaufend dagegen lehnte.
Thymian blickte auf und in zehn finstre Augenpaare, die sich unter buschigen Brauen und kraus gezogenen Stirnen verbargen.
"Hast du dich verlaufen?", knurrte einer der Zwerge. Der Gefreite versuchte sich zu sammeln und so zu tun, als sei es völlig normal mitten in eine reine Zwergenkneipe zu platzen. Aber wenigstens folgte ihm die Menschenmenge nicht mehr. Mit erhobenem Kopf trat Thymian tapfer in den Raum. Zumindest versuchte er es, bis ihn der eingeklemmte Schal in der Türe zurückriss und ruckartig zu Boden warf.
"Sollen wir vielleicht behilflich sein?", fragte ein anderer Zwerg und noch ehe Thymian etwas sagen konnte, holte der kleine Mann mit einer doppelt so großen Axt aus... und schlug zu.
Als Thymian seine zusammen gekniffenen Augen wieder öffnete, spürte er Erleichterung. Nein, sein Kopf war noch dran und der Rest auch. Dafür hatte man seinen Schal bis auf einige Zentimeter gekürzt. Unbeholfen stand der Gefreite wieder auf und sah zu den Zwergen, die sich wieder an ihre Tische begeben hatten. Ihre ihm zugewandten Rücken bildeten die undurchdringlichste Mauer, die Thymian je gesehen hatte[3].
Vorsichtig sah er sich um und entdeckte zwischen zwei verkleideten Stützsäulen an der Wand eine Sitzbank nah an einem Fenster, das sich aus Unterseiten von dunklen Flaschen zusammensetzte. Eine alte tropfende Kerze war auf dem Holztisch platziert, daneben ein alter tropfender Bierkrug, der einem alten tropfenden Zwerg gehörte. Mit dem Hemdsärmel wischte sich der Zwerg gerade über die Nase und Thymian war schon im Begriff voller Ekel aus der Kneipe zu stürmen, als ihm erneut die Worte von Humph MeckDwarf einfielen. Du musst stark sein, sonst bist du eine Gefahr für uns. Thymian war Anwerber und dort saß sein erster Informant, wie der Wächter gerade beschlossen hatte. All seinen Mut zusammen nehmend, ging er zu dem Tisch und setzte sich auf die Holzbank gegenüber dem Zwerg.
Er starrte den Zwerg an. Der Zwerg starrte zurück. Thymian verbuchte den ersten Erfolg für sich, da der Mann (er vermutete zumindest, dass es ein Mann war) nicht aufstand. Nur wie sollte er jetzt ein Gespräch beginnen? Die ersten Sekunden waren entscheidend, doch diese liefen gerade ungenutzt durch seine Finger.
"Ziemlich äh, äh glatt draußen, nicht wahr?", begann der einzige Anwerber von RUM. Geistig schlug er sich gegen die innere Stirn und verfluchte sich. Er wird aufstehen, er wird gehen und aufstehen. Thymian schluckte und sah seinen Gesprächspartner vor sich an, der ihn mit Schweigen strafte und ungerührt vor seinem Bier saß. Vielleicht versteht er mich nicht. Oder ich habe ihn beleidigt.
"Äh, womit ich natürlich nicht sagen will, dass du jemals auf glatten Straßen ausrutschen würdest. Ihr Zwerge steht doch mit beiden Beinen fest auf dem Boden." Thymian unterstrich seine Worte mit einer, wie er glaubte, kumpelhaften Geste. "Haha.", fügte er hinzu, als nichts die gewünschte Wirkung erzielte. Der Zwerg machte nur ein ekliges Geräusch[4] und nahm ein Schluck aus seinem Krug.
Thymian sah zu seinem Platz und merkte, dass etwas Entscheidendes fehlte und so winkte er zögerlich nach dem Wirt und bat nach einem Bier, doch entweder schien der Wirt kein Morporkianisch zu verstehen oder er ignorierte ihn bewusst. Der RUM-Wächter tippte auf letzteres, seufzte leise und besah sich sein Gegenüber genauer. Ein typischer Zwerg, langer verfilzter Bart, der schon langsam ergraute, eine knollenartige Nase, mehrere Schichten Kleidung, ein Kettenhemd, ein Helm mit spitzen Hörnern.
Humph wäre stolz auf ihn. Wer weiß, was dieser Zwerg schon alles erlebt hatte und was er so wusste.
"Ich nehme an, du kommst aus den Bergen oder?", versuchte Thymian das abgebrochene "Gespräch" wieder aufzunehmen. Er sah der kleinen Flamme auf dem Kerzendocht zu wie sie zitternd Licht und leichte Wärme ausstrahlte, während er auf eine Antwort wartete. Der Zwerg schwieg beharrlich. "Ich heiße übrigens Thymian.", probierte der Anwerber eine neue Taktik. Stille, nur unterbrochen vom Schlürfen des Bieres. "Und du?"
"Gebratene Ratte.", nuschelte der Zwerg plötzlich. Oh ja, er hat was gesagt! Er hat geredet!, freute sich der Gefreite und ließ prompt darauf die Schultern sinken. Aber nicht mit mir. Es dauerte jedoch nicht lange, da tauchte aus den Tiefen der Kneipe der Wirt auf und stellte vor dem alten Zwerg eine Holzplatte mit einer gebratenen Ratte ab. Der Wirt knurrte etwas auf zwergisch, der Mann auf der Bank knurrte zurück und begann zu essen.
Thymian schluckte und starrte auf das runde Holzbrettchen, wo eindeutig eine tote Ratte drauf lag, die soeben mit Messer und Spieß[5] bearbeitet wurde. Irgendetwas rumorte in Thymians Magen und es war eindeutig kein aufsteigendes Appetitgefühl. Er isst eine Ratte., schoss es durch den Kopf des Gefreiten. Er isst eine tote, stinkende, ekelhafte, vermutlich mit Krankheiten überladene, fette Ratte.
"Guten Appetit.", würgte er trotzdem hervor, während erste Fleisch- oder Hautfetzen unter mahlenden Zwergenzähnen begraben wurden. Fett rann ihm über den langen Bart, kleine Essensreste sammelten sich darin. Thymian musste den Blick abwenden und widmete die Aufmerksamkeit seinen zitternden Knien. In seinen Ohren hörte er das leise Knacken der kleinen Rattenknochen. Vorsichtig blinzelte der junge Mensch über den dreckigen Tisch zu dem Zwerg hin, der gerade dabei war die letzten Reste zu verzehren. Ist das eine Pfote auf der er grad rumkaut? Oh bitte, lass es keine Pfote sein.. oh nein, jetzt hat er es mitten auf den Tisch gespuck-
"Ahhh!! Igitt, ein Auge!!", kreischte der beste und einzige Anwerber von RUM.

"Und lass dich hier nie wieder blicken!" Der verhältnismäßig große Zwergenwirt hatte Thymian vor die Tür geschleift und wollte ihm gerade einen Tritt verpassen, als er mit Schwung auf dem glatten Kopfsteinpflaster ausrutschte und hinfiel. Der Wirt fluchte etwas in Zwergensprache.
"Im Winter sind die Straßen öfters glatt.", gab der Wächter den Ratschlag von Korporal Vintongo weiter und entkam dem wütenden Zwerg mit einer raschen, aus Gewohnheit, hüpfend zurückgelegten Flucht. Thymian Pech wurde langsamer und verschnaufte, als er genug Entfernung zwischen sich und der Kneipe gebracht hatte. Zwerge waren ihm schon immer suspekt gewesen. Irgendwie verstand er diese Kerle nicht und sie waren ihm mit ihrer Verschwiegenheit und offener Härte ein wenig unheimlich. Er würde schon mal keine weiteren Zwerge ansprechen, entschloss er.
Aber wie sollte er nur die Informanten anwerben? Es war nun schon Nachmittag. So wurde das nie was. Der Gefreite seufzte. Er hatte geahnt, dass diese Spezialisierung nicht leicht sein würde, aber als Stump laut die Tschobbeschreibungen vorgelesen hatte, weil er selbst noch etwas für sich suchte, hatte es ganz interessant geklungen und vor allem wurde nirgendwo ein Schwert erwähnt oder sonstige Aufgaben, die mit Waffen und Kämpfen zu tun hatten. Thymian machte sich grübelnd auf den Weg zurück zum Wachhaus. Wie sollte er so nur Oberleutnant Humph vor die Augen treten können? Was hatte er sich nur dabei gedacht?
Der Wächter verfiel betrübt in einen schlurfenden Gang. RUM-Anwerber, das konnte doch nicht gut gehen. Er als Anwerber... er war doch selbst angeworben worden[6]. Ein ahnungsloser Informant des Patriziers, auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Thymian dachte nach. Er war praktisch ein Opfer, machte ihn das nicht geeigneter als jeder andere für die Spezialisierung? Zumindest wusste Thymian wie einem als Bote oder Informant zu mute war. Nach seinen ersten Tagen bei der Wache hatte er eine Spionin mit Kautionsgeld freikaufen müssen, Helen hatte sich aus der Stadt abgesetzt. Sie war entkommen und Thymian steckte mittendrin. Er kannte die Angst der Informanten jeden Moment enttarnt zu werden, praktisch als Verräter abgestempelt zu werden. Die Angst in einem umpassenden Augenblick von der Kontaktperson angesprochen zu werden, die Angst zu versagen, die Angst auf welcher Seite man stand, stehen wollte, stehen durfte, stehen musste...
Aber noch wiegte sich Thymian halbwegs in Sicherheit in Ruhe gelassen zu werden, seit seinem ersten Fall bei der Wache war weder der Patrizier noch ein Verbindungsmann auf ihn zugetreten. Außerdem war er Bote. Er war ein einfacher Bote, kein Informant. Ein Bote, der Wissen weitergibt ohne zu wissen. So hatte sich Lord Vetinari ausgedrückt. Trotzdem... der Wächter wanderte über den Pseudopolisplatz. Humph würde ihm sicher den Kopf abreißen, wenn er je davon erführe. Aber, aber, er war ein Opfer, das mussten die Leute doch verstehen. Er hatte das alles nicht gewollt. Der Patrizier hatte ihn irgendwie ausgetrickst und...
Thymian Pech hielt inne. Wie hatte ihn Vetinari ausgetrickst? Er hatte eine Regel angewandt... eine Regel, die für jeden Bewohner in dieser Stadt galt. Es war die vierte und letzte Regel. Die wichtigste. Sie lautete:
Jeder arbeitet nur für sich.

Ein Funken der Erkenntnis entzündete sich an Thymians Geist. Er arbeitete auch für sich... um zu überleben und so indirekt auch für den Patrizier, weil der eben gewährleistete, dass Thymian noch viele weitere Jahre friedlich verbrachte. Das war es! Das war der Dreh- und Angelpunkt eines guten Anwerbers. Er musste herausfinden, wie die Leute für sich arbeiteten und gleichzeitig für ihn. Den Grund herausfinden, ihre Bedürfnisse. Natürlich hatte er nicht die Macht im Rücken wie Vetinari und gewiss auch nicht so viel Geld, also musste er es anders angehen. Nur die vierte Regel blieb gleich. Um erfolgreich zu sein, würde er ihren Tagesablauf verfolgen, ihre Gewohnheiten, ihre Schwächen und Stärken, beobachten mit wem Gespräche geführt werden und warum. Und dann... dann, wenn alles ausgekundschaftet war, wenn er den Punkt hatte, wo er ansetzen konnte... dann würde er anwerben.
"Okay, auf ihn drauf!!", schrie plötzlich laut jemand und es wurde dunkel um Thymian. Er spürte, wie ihn jemand unter einer Decke zu Boden drückte. Verzweifelt wollte er sich wehren, aber der Angreifer war zu schwer, um ihn abzuschütteln. Die wütenden Bürger! Thymian dachte kurz nach. Oder die Zwerge!
"Haltet ihr das wirklich für notwendig? Wir sind vier gegen einen, er wird sich schon nicht wehren.", sagte eine andere Stimme.
"Helft mir doch mal! Ich glaub, ich kann ihn nicht mehr lange in Schach halten." Thymian versuchte lautstark zu protestieren, aber er war noch vollkommen überrumpelt. Noch nie hatte ihn jemand auf offener Straße so kurz vorm Wachhaus angegriffen. Das...
"Das grenzt schon an Dreistigkeit, finde ich.", gab jemand anders zurück.
"Jetzt mach schon!", drängte offenbar die vierte Person. "Du kriegst sonst nur wieder Ärger."
"Okay, okay... meint ihr nicht, dass ich ihn erst kampfunfähig machen soll?"
"Mach schon!!", riefen die anderen drei. Sie rauben mich aus. Genau vorm Wachhaus., bildete sich ein Gedanke in Thymians momentan verwirrten Geist.
"Na schön... Stadtwache Ankh-Morpork, du hast das Recht zu schweigen oder äh zu reden. Du bist vorläufig festgenommen, da verbrecherische Pläne belauscht worden sind." Die Decke wurde herunter gerissen. "Was hast du dazu zu sagen?" Thymian Pech blickte in das Gesicht von Ledamahn und wartete geduldig bis es offenbar 'Klick' machte im Gesicht des Rekruten.
"Hallo, Ledamahn. Ich äh freue mich auch dich zu sehen." Thymian rappelte sich wieder auf und sah zu den Rekruten.
"Oh oh, oh DU bist das!", rief Ledamahn aus. "Weißt du, unser Fall, der liegt doch schon so lang zurück und wir haben dich doch nur von hinten gesehen und du bist in Zivil und also, wir dachten-"
"Wir?", unterbrach der Rekrut daneben. Die anderen sahen betreten zu Boden und scharrten mit den Füßen.
"Ich habe wohl laut gedacht, hm?", fragte Thymian nach, als keiner was sagte. Dann fiel ihm wieder ein, WAS er gedacht hatte. "Seit wann habt ihr zugehört??", setzte er hastig nach.
"Äh... seit du etwas von Dreh- und Angelpunkten geredet hast.", erwiderte eine weibliche Mumie, in der Thymian nefer-pa-isis erkannte mit der er einmal Streife gegangen war[7].
"Oh gott, Leda, du hast ihn verletzt!", unterbrach der dritte Rekrut, ein junger Mensch, der wohl fast im gleichen Alter wie Thymian war. Abgesehen von ihm schienen alle -mit Blick auf nefer- bedeutend älter. Der Wächter fasste sich an die Stirn, wo immer noch Reste der Tomate kleben geblieben waren.
"Äh nein, äh das ist nur ähm Tomate.", erklärte Thymian und fügte auf die neugierigen Blicke hinzu: "Ich wollte ein neues äh Kochrezept ausprobieren."
"Also waren es keine verbrecherischen Pläne?", hakte ein kleiner Wächter in einem langen verschlissenen Mantel nach.
"Ich bin der Anwerber bei RUM, da äh, also, das ist alles Taktik. Streng geheim und so."
"Dann solltest du dir vielleicht das laute Denken abgewöhnen.", sagte die nefer mit einem Grinsen. Erst jetzt bemerkte Thymian Getier, einen kleinen merkwürdig tot aussehenden Hund, neben ihr. "Das da sind übrigens Robin und Kolumbini."
"Freut mich euch äh kennen zu lernen. Ich bin Thymian Pech, Anwerber bei RUM." Er schüttelte die ausgestreckte Hand von Robin, der sich nochmals entschuldigte und mit vorwurfsvollen Blicken zu Ledamahn sah. "Ich muss zu meinem Abteilungsleiter und eine Ausrüstungs- Erweiterung genehmigen lassen. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder."
"Ich hoffe doch sehr.", sagte Kolumbini. Etwas übereilt verabschiedete sich Thymian, ihm war die ganze Sache höchst peinlich und er wollte vermeiden, dass sie ihn mit rotem Gesicht sahen. Außerdem war ihm eingefallen, dass er unbedingt mehr Sachen für seine Aufgabe brauchte. Ein Ikonographen-Kasten auf jeden Fall, dazu ein Diktierdämon und am besten noch einen Zeitdämon, damit er nicht wieder verschlafen würde. Und eine kleine Waffe zum Verteidigen wäre nur von Vorteil. Alles außer einem Schwert wäre recht, vielleicht ein Dolch. Außerdem ein Beutel Geld für den Anfang. Und er bräuchte... ob es Vergrößerungsdämonen gab mit denen man auch weit entfernte Dinge beobachten konnte?
Thymian wollte ins Wachhaus treten und hielt kurz davor noch einmal inne, um sich den Rekruten zu zuwenden, die immer noch auf dem Platz standen.
"Äh, hab ich schon wieder laut gedacht?", rief er zögernd herüber. Die Vier schüttelten die Köpfe und konnten mit ansehen wie sich das Gesicht des Gefreiten chamäleonartig an die Farbe der Tomate anpasste.

Humph MeckDwarf las zum wiederholten Male eine Akte und rieb sich übermüdet die Stirn. Verstohlen warf er immer wieder Blicke zur Uhr, die unaufhaltsam, aber trotzdem sehr langsam, Richtung Feierabend schritt. Er hatte eine Doppelschicht geschoben, nur um sich in die Fälle von RUM einzuarbeiten. Wegen der ständigen Personalknappheit war einiges liegen geblieben, halbfertig abgeschlossen oder schlampig ermittelt worden. Humph seufzte. Alles Fälle, die schon längst hätten erledigt sein müssen. Zwar hatte er neue Mitglieder bekommen, aber die steckten alle noch mitten in der Ausbildung.
Plötzlich ertönte ein halbes Klopfen an der Tür. Halb, weil es so klang, als hätte es sich der Besitzer der Faust auf dem Weg zur Türe doch anders überlegt.
"Herein!", forderte der Oberleutnant. Die Türe öffnete sich einen Spalt breit und Stück für Stück schob sich eine Person in den Raum.
"Äh, Sir?", begann Thymian Pech und salutierte zitternd. "Wegen der Ausrüstung, Sir... ich äh, also ich benötige noch ein paar Dinge, Sir."
"Was denn für Dinge, Gefreiter?", fragte der Abteilungsleiter nach und legte die Akte beiseite.
"Ich bräuchte noch einen Ikonographenkasten mit Dämon und einen Diktierdämon, einen Zeitdämon, einen Vergrößerungsdämon, falls es so etwas gibt und-", zählte Thymian an seinen Fingern auf, doch Humph unterbrach ihn schnell.
"Weißt du eigentlich wie teuer Dämonen betriebene Geräte sind? Außerdem brauchst du doch diesen ganzen Firlefanz nicht als Anwerber, du musst dir höchstens Notizen machen, um nichts durcheinander zu bringen, das ist alles."
"Aber zum Anwerben brauch ich zumindest eine höhere Sonderzulage, also äh Zusatzsold für meine äh Ausgaben an potentielle Informanten.", versuchte es der Gefreite erneut. Humph überlegte kurz und nickte dann schließlich.
"Gut, das sehe ich ein." Er notierte sich einen entsprechenden Vermerk auf einem Blatt. "Du bekommst 15 Dollar extra im Monat voraus und ich hoffe sehr, dass du damit auskommst." Mit einem mahnenden Blick warf Humph seinem Anwerber einen Lederbeutel mit Münzen zu. "Verlier ihn nicht. Sonst noch etwas?"
"Sir, so sehr ich an meinem Schwert gehangen habe.. äh, ich würde trotzdem lieber eine kleine, unauffällige und vor allem leichte Waffe haben.", bat der Gefreite weiter. "Kann ich mir etwas aus der Waffenkammer nehmen?" Der Oberleutnant nickte wieder.
"Und die Dämonen?"
"Das sprengt unsere Mittel.", widersprach der Abteilungsleiter. Der Gefreite blickte zu Boden. "Du wirst doch wohl ohne diese Geräte auskommen. Mach dir eben ein paar Notizen."

Es war dunkel geworden, als Thymian durch die Straßen der Stadt ging. Er hatte mindestens eine halbe Stunde damit verbracht in der Waffenkammer nach einer vernünftigen Waffe zu suchen. Dann hatte er nur noch nach einer brauchbaren gesucht und zum Schluss einfach irgendeine Waffe. Herausgekommen bei seiner Aktion war ein Messer, das er aus der Kantine geklaut hatte.
Eigentlich neigte sich der zweite Tag bei RUM allmählich seinem Ende ohne dass er etwas Nennenswertes getan hatte. Und Erfolge hatte er auch keine gehabt, es sei denn, man nannte die Benutzung der Quiekenden-Ballon-Tier Ausrüstung einen Erfolg. Aber er hatte eine Taktik (oder etwas in der Art) und er brauchte nur noch eine Zielperson an der er sie ausprobieren konnte. Nur wer?
"Gemüsche, Gemüsche, Gemüsche.", erschall plötzlich hinter ihm und eine etwas dicklichere Frau ging an ihm rufend vorbei, während sie eine Schubkarre mit verschiedenen Gemüsesorten vor sich her schob. Die Gemüsefrau! Das war es. Eine einfache Gemüsefrau, die tagaus tagein durch die Straßen ging und den allgemeinen Klatsch wusste, sicher bekam sie viel mit, war neugierig und immer auf dem Laufenden. Sozusagen das tickende Metronom der ehrlichen Bürger in Ankh-Morpork. Oder so in der Art.
Thymian folgte ihr vorsichtig in einigem Abstand. Im Stillen bedauerte er, dass er keinen Diktierdämonen bekommen hatte, wie sollte er sich nur alle Dinge merken? Leise holte er den Notizblock raus und den dazugehörigen Stift. Schreiben und Lesen war für ihn eine Art Mysterium, das er nie würde enthüllen können und dürfen, also musste er sich irgendwie anders helfen.
Inzwischen bog die Gemüsefrau in eine weitere Gasse, sie hatte aufgehört ihre Ware anzupreisen und war wohl auf dem Heimweg, vermutete der junge Gefreite. Schritt für Schritt tastete er sich in sicherem Abstand weiter vor und versuchte wie ein zufälliger Passant zu wirken. Ihm fielen wieder die Worte ein, die Daemon einmal zu ihm gesagt hatte:
Versuche dir Namen zu merken. Ebenso bei Aussagen von Zeugen. Jedes Detail kann wichtig sein, jede noch so unwichtige Äußerung. Du musst dir alles einprägen. Du besonders. Ohne Notizen, die du auf einem Block machen kannst, bist du auf ein gutes Gedächtnis angewiesen. Ein ikonographisches Gedächtnis ist nur von Vorteil.
Aber er konnte Notizen auf einem Block machen... Thymian überlegte, ungelenk nahm er den Stift in die Hand und malte einen Halbmond in die erste Zeilenreihe. Daneben eine runde Figur mit einer Haube. Somit hatte er seine erste Feststellung auf Papier gebannt: Gemüsefrau nachts getroffen. Zunächst musste er grundlegendes über sie herausbekommen, ihren Wohnort, ihren Name, dann ihr Verhalten beobachten, ihre Interessen bis er dann endlich das erste Gespräch starten konnte. Während Thymian ihr folgte, sah er sich aufmerksam um und versuchte sich zu orientieren, damit er hinterher auch die Straße wieder fand. Gerade noch rechtzeitig bemerkte er, dass die Frau mit ihrem Handkarren in einem Hinterhof verschwunden war und vorsichtig lugte der Wächter um die Ecke. Da die Gemüsefrau offenbar nicht ahnte, dass sie beobachtet wurde, ließ sie den Karren im Hof stehen und öffnete mit einem Schlüssel die Türe des rechten Hauses. Thymian kritzelte hastig das Symbol eines Hauses auf einen Block und dazu einen Torbogen. Krach!
Thymian zuckte zusammen. Die Gemüsefrau war im Haus verschwunden und mit ihr Thymians Selbstvertrauen. Sollte er jetzt einfach nach Hause gehen, sich schlafen legen und die Gelegenheit verstreichen lassen etwas über sie heraus zu bekommen? Und wenn, wie sollte er das anstellen? Wenn er anklopfte, würde ihn die Frau sehen und er wollte erst mit ihr reden, sobald er mehr über sie wusste. Der Gefreite betrachtete den Hof, links und rechts standen zwei Häuser und in der Mitte, gegenüber dem Torbogen, ein weiteres. In zwei Fenstern brannte Licht und soeben ging im rechten Haus, im ersten Stockwerk ebenfalls eine Kerze an. Thymian kombinierte daraus, dass die Gemüsefrau dort lebte und besah sich das rechte Haus genauer, irgendwie musste er es von innen einsehen können...
Er trat zurück auf die Straße und ging zu der Häuserwand, die dort angrenzte. Es waren ebenfalls ein paar Fenster zu sehen und ein Regenrohr, das nach oben führte..
Der RUM-Wächter hatte mal davon gehört, dass man an Regenrohren nach oben klettern konnte, um sich so aufs Dach zu ziehen oder in Fenster einzusteigen. Seine Hände umfassten das kalte Blech, er zögerte. Was tat er hier eigentlich? Er konnte nicht ernsthaft irgendwelche Leute beobachten. Das tat man sicher nicht als Wächter... es würde schon alles gut gehen, redete er sich ein, hielt sich am Rohr fest und zog sich nach oben. So jedenfalls sein Plan, aber mit dem Ziehen war das so eine Sache. Thymian versuchte es mit Hüpfen und ruckelte am Rohr, dessen Halterungen bedrohlich ächzten. Schließlich hatte er sich mit Ziehen und Springen einige Zentimeter vom Boden erhoben, klammerte sich fest an das Rohr, stemmte die Füße gegen die Häuserwand und schnaufte angestrengt. Der nächste Schritt bestand darin, dass er mit der rechten Hand weiter nach oben griff und versuchte sich emporzuziehen, während seine Füße am Putz kratzten, der unter ihm hinwegbröckelte. Der junge Mann bekam vor lauter Anstrengung ein rotes Gesicht, bemerkte, dass seine linke Hand halb am kalten Rohr festfror und kletterte hastig weiter. Auf der Hälfte des "Weges" löste sich weiter oben plötzlich mit einem Pling! die Halterung und das Regenrohr bog sich der Straße entgegen, schwankte wie ein Schilfrohr im Wind und Thymian kam sich vor wie die kleine dazugehörige Grille am Halm[7a].
Panisch drückte sich Thymian gegen das Rohr und es schlug mit einem lauten Krachen zurück gegen die Häuserwand, was er sofort nutzte, um sich mit den Füßen abzustützen, hoch zu stemmen und sich ein Stück weiter nach oben zu arbeiten. Genau in diesem Moment hörte der Wächter Schritte näher kommen, er sah nach unten und bemerkte einen weiß gekleideten Mann, der sich immer wieder nach rechts und links umschauend dem Torbogen näherte. Im Dunkeln erkannte Thymian die weiße Kleidung, aber auch das Gesicht und die Hände schienen vollkommen bleich. Ein Vampir!, schoss es erschrocken durch Thymians Kopf und vor Entsetzen passte er einen Augenblick nicht auf, worauf er prompt abrutschte und schmerzhaft auf das Kopfsteinpflaster fiel. Doch er hatte Glück, der Mann war zum selben Zeitpunkt in den Hof getreten und hatte Thymians Unfall nicht bemerkt. Leise stöhnend richtete sich dieser auf, humpelte zum Torbogen und sah vorsichtig um die Ecke, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, dass der weiß gekleidete Mann einen kleinen Brief zwischen das Gemüse im Karren steckte. Als der Mann Anstalten machte sich wieder herumzudrehen, lief Thymian rasch zum nächsten Türeingang auf der Straße und verbarg sich darin. Sein Herz pochte aufgeregt, er atmete schneller. Aus den Augenwinkeln sah er wie der große, kräftig aussehende Mann aus dem Hof trat und aus Thymians Sichtfeld verschwand, der neugierig den Kopf aus dem Türeingang streckte und hinterher sah. Was sollte er nun tun? Der Mann musste irgendetwas mit der Gemüsefrau zu tun haben, der Brief war sicher für sie bestimmt, denn Thymian konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Karren ein toter Briefkasten für irgendwelche Verschwörungen war.
Thymian dachte einen Augenblick nach. Wenn er es nicht war und der RUM-Wächter es schaffte die Frau anzuwerben, könnte ihr Karren ein perfekter wandernder Briefkasten für seine Abteilung werden. Zufrieden über diese Idee traute er sich schließlich auf die Straße zu treten. Ihm blieben drei Möglichkeiten und er musste sich rasch entscheiden. Entweder nahm er den Brief an sich, obwohl er ihn selber nicht lesen konnte oder er verfolgte den geheimnisvollen Mann oder er blieb hier und versuchte sich erneut an dem Regenrohr. Schnell klammerte er die letzte Option aus, eilte in den Hof und wühlte in dem Gemüse. Es dauerte nicht lange, da hatte er das kleine Brieflein entdeckt, Thymian steckte es mit dem Versprechen ein, ihn auf jeden Fall später der Gemüsefrau auszuhändigen und ging die Straße entlang, die der Mann genommen hatte. Vielleicht drohte er ihr in irgendeiner Weise, wenn Thymian ihn überführen könnte, würde ihm die Gemüsefrau sicher dankbar sein.
Beinahe hätte er ihn verloren, wenn Thymian nicht glücklicherweise in der Dunkelheit auf dem gefrorenen Kopfsteinpflaster ausgerutscht wäre und so das weiße Pulver gesehen hätte, das der Mann offenbar verteilte. Er ist kein Vampir, schlussfolgerte der Gefreite. Er muss mit Platte, dieser Trolldroge handeln oder Schlimmeres. Und die Gemüsefrau hat ihn dabei beobachtet und nun droht er sie umzubringen, wenn sie die Wache verständigen würde. Oder noch Schlimmeres. In diesen Befürchtungen versunken, strich Thymian zögernd mit dem Finger durch das feine Puder und leckte zaghaft daran. Oder Mehl.
Der junge Wächter erhob sich wieder und ging vorsichtig weiter, in der Ferne sah er den Mann wie einen weißen Fleck in der Dunkelheit. Mittlerweile war es tiefe Nacht und Thymian hatte keine Ahnung wo er sich befand. Nur, dass er sich fürchtete, das wusste er. Schwach drangen an sein Ohr immer wieder Unterhaltungen aus Nebengassen oder merkwürdige Gestalten schlurften an ihm vorbei. Aber in den Augen anderer, war er wohl auch eine merkwürdige Gestalt. Thymian steckte das Ende seines Schals in die Jacke und versuchte jede Wärme an seinem Körper zu halten, während er den Mann weiter verfolgte. Dessen Angst schien verflogen, denn er schritt immer schneller aus bis er an einem Laden angekommen war, in der Dunkelheit schwang ein Schild in Form einer Brezel über der Türe, die sich in diesem Moment schloss.
Der Mann war Bäcker. Thymian blieb stehen, holte seinen Notizblock wieder hervor und kritzelte die Symbole "Brief" und "Brezel" auf das Blatt, wobei die Brezel eher wie ein ziemlich misslungener Seemannsknoten anmutete. Warum steckte ein Bäcker einer Gemüsefrau einen Brief heimlich zu? Es waren keine Konkurrenten. Die Sache ergab absolut keinen Sinn. Thymian sah sich mit wachsender Verwirrung um, er musste sich orientieren. Wo war er bloß? Er war zwar in dieser Stadt geboren, aber schon als Kind in der Narrengilde gewesen und nur sehr selten weiter außerhalb des Gebäudes. Gerade kam neben ihm ein Bettler vorbei, der bittend die Hand aufhielt.
"Ich geb dir einen Dollar, wenn du mir sagst, wie dieser Bäcker dort heißt und in welcher Straße ich bin.", sagte Thymian zu dem Mann, der in Dutzenden von Lumpen gekleidet war. Er brummte etwas und packte den Gefreiten am Arm, um ihn mit sich zu zerren. Unbeholfen stolperte Thymian mit, als der Mann zu Sprechen anfing.
"Wir möchten dir in Namen aller Glücksbettler danken.", sagte er, nur unterbrochen von einigen qualvollen Hustenattacken. "Du bist immer sehr großzügig. Der Bäcker heißt Hilarius Flöckli, kommt aus Quirm, seit fünf Jahren hier. Du befindest dich in der Zuckerbäckergasse." Dann beschrieb ihm der Bettler zu seiner großen Verblüffung noch den Weg zum Wachhaus, obwohl Thymian nicht seine Uniform trug.
"Ähm.. danke." Der Gefreite gab dem Bettler zwei Dollar aus dem Beutel und machte sich eilig auf den Weg. Gedanklich fügte er einen Nachrichtendämonen zu der Liste, der Dämonen, die er unbedingt noch brauchte, da er ja keine Zettel schreiben konnte, um sie an Tauben anzubringen, blieben diese nutzlos für ihn. So rannte Thymian zum Wachhaus, während seine Glieder noch vom Sturz schmerzten und die Müdigkeit sich langsam breit machte.

Im Wachhaus war es nachts so gut wie leer, aber er sah am Tresen eine zusammengesunkene Gestalt, die friedlich schlief. Thymian trat näher und sah, dass es ein Vampir war und nach der Uniform zu urteilen ein Rekrut und als er noch genauer hinsah, erinnerte er sich wieder an ihn. Leopold von Leermach, er hatte den Vampir an seinem ersten Tag in der Wache getroffen und eine Uniform für ihn rausgesucht[9].
"Ähm... Entschuldigung.", begann Thymian und räusperte sich. Der Vampir rührte sich nicht. Thymian hustete laut. "Entschuldigung!", setzte er lauter an und plötzlich gab Leopold einen markerschütternden Schrei von sich, der beinahe an Thymians Versuch mit der Quiekenden-Ballon-Tier Ausrüstung herangekommen wäre, es klang ungefähr wie "AAAAAAAAAHHHHHHIIIIIIIIIIEEEEEEEEEEEE!!!!"
Der Vampir riss die Augen auf und kippte nach hinten. Thymians Herz wummerte wild, er hatte sich mindestens genauso erschrocken und in seinen Ohren klingelte es.
"Äh... entschuldigung, Leo.. pold, äh, ich hätte eine Bitte.", fand er endlich seine Worte wieder. Leopold rappelte sich auf und sah ein wenig peinlich berührt zu Thymian.
"Oh, hallo." Er schien kurz zu überlegen. "Hallo, Thymian. Ich hätte nicht gedacht, dass noch jemand ehm... zu dieser Stunde ins Wachhaus kommt. Was denn für eine Bitte?" Daraufhin holte der junge Gefreite den Brief aus seiner Tasche.
"Ich äh... nun ja, also..." Er überlegte eine passende Ausrede. "Ich habe diese geheime Nachricht hier abgefangen, aber bei diesem ähm wagemutigen äh Wagnis bin ich unglücklich hingefallen." Wie zum Beweis zeigte er einige blaue Flecken. "Und nun sehe ich alles verschwommen. Kannst du mir den Brief vorlesen?" Der Rekrut wirkte ein wenig enttäuscht, er hatte sich anscheinend einen größeren "Auftrag" erhofft. Trotzdem nahm Leopold den Umschlag entgegen, öffnete ihn neugierig und faltete das Papier daraus auseinander.
"Wenn das so ist, gerne.", stimmte er endlich zu und räusperte sich.

"Oh holder Zimtstern an meinem Himmel,
Oh süßer Zuckerguss in meinem Leben,
Du Galionsfigur im täglichen Gewimmel.
Gern' mag ich dir dies Brieflein geben,
Auf dass du erfahrest von meinem Streben.

Ach, vielleicht grämen dich meine Briefe ja auch sehr,
Doch eines musst du wissen,
Ich verehr' dich mehr und mehr,
Möcht' dich niemals wieder missen.

Ich weiß, meine Poetik, die ist spärlich,
Aber glaub mir, gemeint höchst ehrlich.
Wärest du nur mein und ich dein,
Ich würd' dich auf Händen tragen,
Immer dein Wohlergehen erfragen,
Nie mehr allein...

In ew'ger Treu'


Ähem, ähem..." Leopold hustete sehr laut. "Meine Stimme klang irgendwie auf einmal so komisch, ich muss einen Frosch im Hals gehabt haben."
"Steht ein Absender drunter?", fragte Thymian, während sich der Vampir mehrmals räusperte, dann sah er aufs Blatt und nickte schließlich.
"Ja, aber kein Name, nur: Dein anonymer Verehrer, aber 'anonym' ist durchgestrichen und überkritzelt und mit 'geheimnisvoll' ersetzt worden. Der Umschlag ist adressiert an eine Dolores Leeb.", las Leopold vor. "Wenn du mich fragst, das sind irgendwelche geheimen Codes. Dieses Wohlergehen fragen und auf Händen tragen, das sind sicher Anfragen für die nächsten Instruktionen, versteckt in diesen bewusst schlecht gedichteten Versen."
"Äh... ja, danke für deine Theorie, die werde ich berücksichtigen in meinem öhm Fall.", erwiderte Thymian und nahm den Brief wieder an sich. Der Rekrut nickte ihm freundlich zu, erfreut darüber, dass er hatte helfen können.

"Danke, Frau Leeb." Die Gemüsefrau schreckte auf und sah Thymian Pech an, der soeben bei ihr ein Pfund Äpfel gekauft und sie großzügig dafür bezahlt hatte. Er hatte den ganzen heutigen Tag bis in die späte Mittagsstunde damit verbracht sie zu suchen und als er sie gefunden hatte, all seinen Mut zusammen genommen, um sie endlich anzusprechen. Sie hatte freundlich reagiert, doch ein wenig geistesabwesend ihm die Sachen überreicht.
"Woher weißt du meinen Namen?", fragte sie jetzt jedoch um einiges aufmerksamer. Misstrauen hatte sich in ihren Tonfall gemischt. Allgemein war sie Kunden nur als 'Die Gemüsefrau' bekannt.
"Ich weiß von den Briefen.", gab Thymian nur leise zurück und nun fuhr die Frau erst recht zusammen. Hastig rollte sie mit ihrem Karren weiter, aber er folgte ihr bis sie endlich in einer ruhigeren Ecke stehen blieb und sich ängstlich umsah.
"Woher-", begann sie, wurde aber von Thymian unterbrochen, als er ihr den Brief versteckt reichte. Er sah wie ihre Hände leicht zitterten und er nickte ihr freundlich lächelnd zu.
"Du kannst es ruhig lesen, Frau Leeb." Sie kehrte ihm daraufhin den Rücken zu, beugte sich über das Papier wie über einen wertvollen Schatz. Als sie sich wieder umdrehte, schob sie lächelnd eine hellbraune Haarsträhne in ihr buntes Kopftuch zurück. Ihre Wangen waren leicht rot von der Kälte.
"Danke, aber woher hast du den Brief? Hat er... er ihn dir gegeben?"
"Ich weiß jedenfalls, wer sie dir schreibt.", wich Thymian der Frage aus. Er wollte nicht unbedingt erklären, dass er nachts in ihrem Gemüsekarren herumgewühlt hatte. "Und ich weiß auch, dass du nachts deinen Karren mit offenem Gemüse im Hof stehen lässt, obwohl es genug Diebe und Bettler in dieser Gegend gibt, weil du darauf wartest, dass er vorbeikommt und dir dort einen Brief hinterlässt."
"Hat er dir das erzählt? Sag schon, wer es ist. Jeden Tag hoffe ich, es steht ein Name unter den Gedichten, aber so langsam glaube ich, man treibt nur einen Spaß mit mir." Sie seufzte leise.
"Es ist Hilarius Flöckli, ein Bäcker in der Zuckerbäckergasse.", antwortete Thymian ohne sie lange auf die Folter zu spannen.
"Flöckli?? Und ich dachte, er mag mich nicht!" Frau Leebs Stimme quietschte vor Freude. Sie wollte schon direkt mit ihrem Karren weiter gehen, als der Gefreite sie zurück hielt.
"Ich äh freue mich, dass dir der Name zusagt. Allerdings... ich.. äh.." Thymian stockte. Jetzt kam der kritische Teil. "Du könntest mir auch helfen, Frau Leeb."
"Ach, du willst eine Bezahlung dafür?" Die Gemüsefrau sah ihn abschätzend an und der junge Mann wehrte rasch mit den Händen ab.
"Nein, nein, auf keinen Fall. Es äh... also, ich brauche Hilfe. Ab und zu.. du wanderst doch mit deinem Karren durch die ganze Stadt, weißt so viel und bist immer so gut informiert, Frau Leeb.", schmeichelte er. "Und um diese Informationen geht es mir. Nicht für verbrecherische Zwecke, nein, ganz im Gegenteil." Zögernd schlug Thymian seine Jacke ein wenig auf und zeigte seine Dienstmarke, die die Gemüsefrau stirnrunzelnd betrachtete. "Es soll auch nicht zu deinem Schaden sein und äh wenn du mal Probleme hast und ebenfalls Hilfe brauchst, werden wir dir besonders tatkräftig und schnell zur Seite stehen.", versicherte er. Erwartungsvoll sah der Anwerber die Frau an.
"Hmmm...", begann Frau Leeb nach einer sehr langen Weile und betrachtete den jungen Mann vor sich. "Wie heißt du denn überhaupt?"
"Thymian Pech, Madam." Mühsam widerstand er dem Drang zu salutieren, der durch die autoritäre Stimme der Gemüsefrau hervorgerufen wurde.
"Und es soll nicht zu meinem Schaden sein, sagst du?", hakte sie weiter nach. Thymian nickte.
"Es geht dabei vor allem um deinen Gemüsekarren, Frau Leeb..."

Überglücklich strahlend ging Thymian durch die Straßen. Er hatte seine erste Person angeworben. Nun konnte er sich mit Fug und Recht Anwerber von RUM nennen. Mit ein paar Bildersymbolen mehr auf seinem Block und einem guten Gefühl im Bauch wandte sich der Gefreite zum Blechdosenweg. Besonders freute er sich darüber, dass er für seine Abteilung einen eigenen wandernden Briefkasten beschafft hatte. Wächter konnten gegen ein Entgelt von einem Dollar etwas bei der Gemüsefrau kaufen und gleich angekommene Nachrichten abholen. Er hatte sich die Hauptstandorte der Gemüsefrau mit Hilfe von Symbolen notiert und ein geheimes Fingerzeichensymbol ausgemacht beim Übergeben von Geld und Ware. Thymian war gespannt, was Oberleutnant Humph davon halten würde.
Beim Blechdosenweg angekommen sah Thymian nachdenklich zur Musikergilde. Eigentlich sah er eher nachdenklich zu einem Geschäft eines Barbiers, aber er wusste, dass sich oben drüber die Büros der Gilde befanden, weil er mal mit einigen anderen Narren hier gewesen war, um bestellte Lustige-Tröten-an-Schuhen abzuholen. Er wusste nicht genau warum, aber Thymian hatte sich vorgenommen einen jungen Gildenschüler anzuwerben und die Musikergilde erschien ihm harmlos genug, dass er sich traute, es dort einmal zu versuchen. Mit betont unauffälligem Gesichtsausdruck lehnte sich der Gefreite gegen eine Mauer und wartete. Mehrere Minuten verstrichen ohne besondere Vorkommnisse und er merkte allmählich, dass observieren vor allem eines war: sehr langweilig.
Thymian wäre beinahe schon eingenickt, als er plötzlich einen jungen schlaksigen Mann bemerkte, der soeben aus der Türe trat, die zu den Räumen der Gilde hinauf führte. Der Mann trug einen schwarzen Frack und einen Geigenkasten unter dem Arm. So unbeteiligt wie möglich löste sich Thymian von der Mauer und folgte dem Mann in einigem Abstand. Dieser schien es recht eilig zu haben, denn immer wieder starrte er auf eine kleine Uhr, die er in den Händen hielt und fluchte, wie der Wächter leise vernahm.
Für eine Weile eilte Thymian durch verschiedene Viertel der Straßen Ankh-Morporks bis sie in der Weberstraße beim Schlummerhügel Park waren. Während sich der RUM-Wächter noch fragte, was der Musiker hier nur wollte, näherten sie sich schon gefährlich schnell einer Parkbank, wo ein verliebtes Paar saß. Rasch verbarg sich Thymian in einigen umliegenden Büschen, was gar nicht so einfach war, da erstens die Zweige der Sträucher mit Dornen besetzt war und zweitens jede Bewegung ein Rascheln verursachte und er so gezwungen war in einer unbequemen Hocke zu kauern ohne mit einer Wimper zu zucken. Es war kalt und der Gefreite spähte leise atmend aus seinem Versteck zu der entfernten Bank, wo der Mann seiner Begleiterin gerade seinen Mantel umlegte.
"Das hat ja ewig gedauert.", zischte der Mann das junge Gildenmitglied an.
"Entschuldigung, die Verspätung. Es wird nicht wieder vorkommen." Der Musiker holte die Geige aus dem Kasten und begann zu spielen, was den Mann wieder zu beruhigen schien, denn er begann der Frau Liebeleien zu sagen, wurde dabei aber so leise, dass Thymian nichts mehr verstehen konnte. Sein Rücken schmerzte von seiner unglücklichen Sitzposition, doch tapfer biss er die Zähne zusammen und lauschte der Melodie.
Er lauschte und lauschte... seine Augen fielen immer wieder zu. Wach bleiben.. Er musste wach bleiben, aber die wenigen Stunden Schlaf machten sich nun bemerkbar.
...
"Helen..." Seine Stimme war krächzend, er spürte ihre spitzen Fingernägel wie sie über seine Wange krabbelten... krabbelten? Mit einem lauten Schrei fuhr Thymian auf und wischte sich hektisch das Insekt aus dem Gesicht. Als er sich wieder beruhigt hatte und die Gefahr gebannt war, bemerkte er, dass er sich soeben verraten hatte. Der Gefreite stand mitten in dem Busch und hatte laut geschrieen. Sie mussten ihn einfach bemerkt haben. Er sah zu der Parkbank. Er stutzte. Er legte den Kopf in den Nacken. Er betrachtete den Sternenhimmel.
Den Sternenhimmel...
Thymians Gedanken reihten sich Stück für Stück aneinander wie Perlen auf einer Schnur. Die Schlussfolgerung bestand in einem einfachen: Bei Io, ich bin eingeschlafen!!!
Sich selber verfluchend stolperte er aus dem Gebüsch, flog über eine herausragende Baumwurzel und knallte der Länge nach hin. Benommen stützte sich Thymian mit den Händen ab und bemerkte in diesem Moment die Uhr vor seiner Nase. Es war die goldene kleine Taschenuhr des Geigenspielers. Mit einem leisen Klick schnappte der Deckel auf, als Thymian sie öffnete. Innen war das übliche Ziffernblatt, was er nicht lesen konnte und in der Deckelinnenseite eine verschnörkelte Gravur, die er ebenfalls nicht lesen konnte. Thymian seufzte.

Wieder einmal kam Thymian Pech nachts ins Wachhaus, wo sich kaum jemand aufhielt. Eigentlich -soweit er es jedenfalls feststellen konnte- keiner.
"H-hallo?", rief er in den dunklen Eingangsraum. Keine Antwort, dafür hörte der Gefreite plötzlich von oben, dass jemand in einem Büro hin und her ging. Wahrscheinlich auch ein Wächter, der über einen Fall grübelte. Da niemand zugegen war, setzte Thymian sich hinter den Tresen. Auf dem Holz lag ein kleiner beschriebener Zettel, der junge Mann konnte es zwar nicht lesen, vermutete aber, dass etwas ähnliches wie "Bin kurz weg" oder "Verrückt ist wer dies liest" darauf stand. Nachdenklich schlug Thymian seinen Notizblock auf, wo sich bereits mehrere Symbole zu seinem zweiten potentiellen Informanten angesammelt hatten. Außerdem hatte er einen hilfsbereiten Bürger auf dem Weg zum Wachhaus gebeten ihm die Inschrift in der Uhr vorzulesen[10], nach dessen Aussage stand dort folgendes:

An meinen fleißigen Sohn Victor. Mögest Du Dich immer an deinen großherzigen Vater erinnern.
Emanuel Friedrich.


Wenn die Uhr also ein Erbstück war und der Musiker auch der rechtmäßige Besitzer, dann wusste Thymian bereits seinen Namen. Victor Friedrich. Was hatte er also noch an Angaben über ihn? Laut Notizblock: Blechdose- Wappen der Gilde- Geige- Drei Strichmännchen- Parkbank- Uhr.
Der Musiker hatte einen edlen Frack getragen, vermutlich spielte er begleitende Musik für reiche und adelige Paare in einsamen Parks, Lokalen und weiteren Treffpunkten. Sicher eine günstige Position, um vertrauliche Gespräche mitzubekommen.. Grübelnd ließ Thymian den Uhrdeckel auf- und zuschnappen. Aber wo sollte er nun die Spur wieder aufnehmen? Er konnte auch nicht so einfach zur Gilde spazieren und nach Herrn Friedrich fragen, denn dort würde man Erklärungen verlangen und die hatte er nicht. Zumindest keine vernünftige.
Über ihm knarrte die Decke, als der rastlose Wächter immer noch hartnäckig umher ging. Wenigstens hatte der dort sicher einen Fall. Er verzweifelte ja schon an der einfachen Aufgabe einen Musiker wieder zu finden, noch dazu hatte er absolut keine Idee wo er nach ihm suchen sollte. Und sein Glück würde ihn Thymian sicherlich auch nicht in die Arme treiben.
"Diebe!!", rief plötzlich jemand, die Tür war aufgesprungen und schnaufend trat ein junger Mann in einem schwarzen Anzug ein. Der Musiker! Vor Schreck klemmte sich Thymian den Finger unter dem Uhrdeckel ein, unterdrückte einen Schmerzensschrei, zog den gequetschten Daumen heraus und verbarg die Uhr hastig unter dem Tresen.
"Ja, wie kann ich helfen, Herr.. äh?", begann Thymian Pech und versuchte so zu tun, als säße er schon seit Stunden hier. "Es ist etwas ungewöhnlich mitten in der Nacht ins Wachhaus zu kommen, um etwas zu melden.", setzte er nach.
"Aber es ist wichtig! Man hat mich beraubt! Ich habe es gerade eben erst gemerkt.", antwortete der Geigenspieler und stellte sich dann als Victor Friedrich vor. Er wirkte so, als sei er regelrecht zur Wache gerannt, schnaufte hingebungsvoll und besaß ein vor Anstrengung gerötetes Gesicht.
"Ich bin Gefreiter Thymian Pech. Meine Uniform ist gerade in der äh Reinigung." So fachmännisch wie möglich klappte der Wächter interessiert den Notizblock auf und sah zu dem Mann. "Was wurde denn gestohlen? Und wann, wenn ich fragen darf?"
"Meine Uhr! Sie ist für mich von unschätzbarem Wert. Ich würde mein Leben für sie geben!", rief Victor Friedrich inbrünstig und fügte dann wesentlich leiser hinzu: "Jedenfalls würde mein Vater mir das Leben nehmen oder es mir verdammt schwer machen, wenn er wüsste, dass ich sie nicht mehr hätte. Und bemerkt habe ich es eben erst, als ich von meiner Arbeit nach Hause kam und meine Sachen ablegte. Da hatte ich sie nicht mehr und bin gleich hierher, um es zu melden." Thymian nickte und malte Strichlinien auf seinen Block. Im Inneren jubilierte er. Das war ein wahrer Glücksfall! Der Mann glaubte, dass ihm die Uhr gestohlen worden war und wenn Thymian sie ihm "wiederbeschaffte", würde er sicher dankbar sein.
"Was für eine Arbeit denn, Herr Friedrich?"
"Ich bin Musiker. Also ich äh spiele auf der Geige für Pärchen oder mache Hausmusik, meist am Flügel, in Clubs und auf großen Feierlichkeiten.", erklärte er rasch. "Bestehen Chancen, dass die Uhr wieder gefunden wird? Ich habe äh leider keine Quittung der Diebesgilde, sonst hätte ich mich an die gewandt, aber unlizenzierte Diebe, die schnappt ihr doch oft oder?"
"Oh ja, sehr oft. Es besteht kein Grund zur äh Besorgnis.", versicherte Thymian. "Ich werde mich persönlich um den Fall kümmern. Hausmusik, sagtest du, Herr? Da hört man bestimmt viel an Gerüchten und Klatsch und so.."
"Ja, natürlich, aber was hat das mit meiner Uhr zu tun? Ich brauche sie unbedingt wieder! Mein Vater kommt nächstes Wochenende zu Besuch und wenn ich da nicht die Uhr wieder habe, bringt er mich um! Bitte, die Wache muss schleunigst etwas unternehmen.", gab Herr Friedrich zurück. Es klang beinahe wie ein Flehen.
"Nun, um zu äh ermitteln, brauche ich Anhaltspunkte. Ich muss so viel wie möglich über deinen Tagesablauf wissen, Herr Friedrich." Thymian versuchte so gelassen und welterfahren wie einer der "großen" Kollegen zu wirken, aber innerlich freute er sich über den glücklichen Zufall und dankte seinem Glück auf Knien, dass er nicht nur den Musiker "gefunden" hatte, sondern gleich auch noch die Gelegenheit einiges über ihn in Erfahrung zu bringen.

Das Gespräch dauerte sicherlich eine Stunde in der Victor Friedrich immer wieder nachfragte, ob das auch nötig wäre und Thymian nicht müde wurde zu beteuern, dass der Täter ganz sicher geschnappt werden würde. Am Ende notierte sich der Gefreite scheinbar die Adresse der Wohnung auf seinem Block und versuchte sich gedanklich Dunnerlittchengasse 28 zu merken. Als der Mann endlich gegangen war, atmete Thymian auf.
Hatte er das richtig gemacht? War das schon ein Vergehen? Mit einem schlechten Gewissen sah der Wächter zur Uhr in seinen Händen. Dem Musiker lag sehr viel daran, er hatte sich extra die Mühe gemacht deswegen nachts ins Wachhaus zu laufen. Thymian packte die grässliche Reue etwas sehr falsches getan zu haben. Er hätte die Uhr aushändigen müssen, es nicht verschweigen dürfen. Es wäre seine Pflicht gewesen.
Aber er würde sie ja zurückgeben... in ein, zwei Tagen, so damit es echt wirkte, dass er die Uhr einem Dieb abgenommen hätte. Damit es echt wirkte... Thymian ließ die Schultern hängen. Er kam sich schäbig vor.
Mit solchen Gedanken beladen ging er aus dem Wachhaus zur Kneipe und ließ sich dort müde auf das quietschende Bett in der Besenkammer fallen. Was er tat, war verlogen. Er hielt einen Gegenstand eines einfachen Musikers zurück, nur, damit dieser ihm nach "Wiederbeschaffung" gut gesonnen und dankbar war, damit er ein Informant wurde. Aber was hätte er sonst sagen sollen? Friedrich die Uhr in die Hand drücken und so etwas sagen wie 'Hier, die habe ich gefunden, als ich dir nachgeschlichen bin.'? Dann wäre er sicher sofort misstrauisch geworden und der Versuch ihn anzuwerben geplatzt. Trotzdem... es war.. schäbig. Unruhig wälzte sich Thymian hin und her bis er endlich darüber einschlief.

Die nächsten zwei Tage verbrachte der Gefreite damit heimlich Victor Friedrich nachzuschleichen und ihn zu beobachten, um weitere Punkte zu erhalten an denen er seine Methode der vierten Regel erproben konnte. Der Musiker hatte offenbar einen vollen Terminkalender und Thymian verbrachte des öfteren Stunden in der Kälte, frierend, sich die Beine in den Bauch stehend, während der junge Gildenangehörige drinnen in großen Anwesen oder gehobeneren Bars am Flügel spielte. Der RUM-Anwerber musste noch mehr Abstand halten und Vorsicht walten lassen als sonst, denn immerhin kannte ihn Herr Friedrich von der Wache.
Doch als Thymian auch am zweiten Tag nichts Besonderes mehr herausfand, beschloss er endlich sein Gewissen zu erleichtern und die Uhr abzugeben. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch eilte er dem Musiker hinterher, der soeben ein Lokal verlassen hatte. Thymians Hand glitt in seine Tasche und berührte das kühle Metall der Uhr, er holte sie heraus und betrachtete sie noch einmal. Die Unterseite war rau und mit verschnörkelten tiefen Linien durchzogen, die der Gefreite mit seinem Finger nachzog, während er zum jungen Mann aufschloss. Er wollte ihn gerade ansprechen, als dieser einen Mann in einem ähnlichen Frack grüßte, der auf der anderen Straßenseite ging. Rasch verbarg sich Thymian in einer engen Gasse hinter einigen Mülltonnen[11]. Der Gestank einer toten Ratte stieg ihm penetrant in die Nase und Thymian zog den Schal höher.
"Hast du die Uhr?", hielt sich der andere Mann nicht lange mit einer Begrüßung auf. Thymian wurde hellhörig.
"Nein, immer noch nicht.", erwiderte Friedrich. Der andere fluchte leise. "Es ist wie zum verrückt werden, wenn ich nur wüsste, wann und wo sie mir gestohlen wurde. Und vor allem wer. Ich habe keinerlei Anhaltspunkte. Es muss ein ganz gerissener Hund gewesen sein."
"Vielleicht hast du sie ja auch einfach verloren.", stichelte der andere. Er besaß eine von der Kälte gerötete große Nase und hatte eine unförmige Pelzkappe auf, die so gar nicht zum Frack passen wollte.
"Ich? Verloren?" Der Musiker schien empört. "Ich bin ein Profi durch und durch. Werd ja wohl kaum die Uhr verlieren, schließlich hängt von ihr alles ab."
"Vater wird ausrasten, wenn du die Uhr nicht morgen Abend hast, Richard." Mit wachsender Verwirrung folgte Thymian dem Gespräch und hatte das Gefühl, dass ihm die entscheidenden Sätze fehlten. Irgendetwas stimmte da nicht... und warum nannte der Mann Victor Friedrich Richard?
"Du kennst wohl die Speisekarte des Lokals nicht richtig, Richard.", erwiderte Herr Friedrich darauf.
"Richard? Oh, ich bin... oh.", sagte der andere Mann mit Verblüffung im Gesicht. "Victor?", hakte er ungläubig nach.
"In Person." Dann folgte plötzlich eine Umarmung, Thymian linste zwischen einem halb aufgeklappten Deckel hinweg und sah, dass sich die Lippen des Mannes, der wohl doch Richard zu heißen schien, bewegten. Irgendetwas wurde geflüstert.
"Dann bis morgen Abend auf dem Familientreffen, Bruder." Der Mann mit der Pelzmütze klopfte dem Musiker freundschaftlich auf die Schulter. "Und denk an die Uhr. Vater denkt auch an dich." Dann war er weg. Wie ein bösartiger Nebelspuk, der nicht real war.
Thymian hockte hinter den stinkenden Mülltonnen und dachte nach. Etwas verwirrte ihn an dem Gespräch der beiden Männer, er sah zur Uhr, die so dringend gesucht wurde. Wenn er sie dem Musiker nicht geben würde, würde er nie erfahren, was dahinter steckte. Steckte überhaupt etwas dahinter? Es war seine Pflicht die Uhr zurück zu geben, doch Thymian ergriff Unbehagen bei den Gedanken wieder zu lügen. War das wirklich die richtige Methode? Voller Zweifel erhob sich der Wächter, trat bei einem günstigen Moment zu Victor Friedrich, der gerade im Begriff war weiterzugehen und tippte ihn auf die Schulter.
Erschrocken fuhr der Mann zusammen und wirbelte herum. Thymian erschrak nicht minder, für einen kurzen Augenblick sah er eine entsetzliche grimverzerrte Fratze vor sich.
"Ich... ich komme von der Wache. Erinnerst du dich, Herr? W-wegen der Uhr.", begann der Anwerber stockend. Friedrich rüttelte ihn plötzlich aufgebracht an den Schultern.
"Ist sie gefunden worden?? So sprich endlich!"
"J-j-ja. Ich... äh, also der Dieb... das war ein großer Kerl, äh... den haben wir leider nicht schnappen können, aber bei einer äh höchst gefährlichen Verfolgungsjagd verlor er sein Beutegut und die Uhr war auch dabei." Thymian rang sich die Lüge mühsam Wort für Wort von den Lippen. Mit einem gezwungenen Lächeln zog er die Taschenuhr hervor, die ihm sofort aus der Hand gerissen wurde.
"Fabelhaft! Mir fällt ein wahrer Stein vom Herz. Wer hätte das gedacht, dass die Wache mal meine Rettung sein würde." Thymian wollte etwas darauf erwidern, aber der junge Mann eilte fort noch ehe der Gefreite dazu Gelegenheit hatte. Somit war auch die Chance vertan ihn an dieser Stelle anzuwerben, so wie er es eigentlich geplant hatte.
Morgen Abend war jedoch das Familientreffen, vielleicht bot sich ja dort eine zweite Chance. Der Gefreite beschloss dann bei der Wohnung des Musikers auf der Lauer zu liegen.

Bleich waren seine Hände und sie zitterten vor Kälte. Nun wartete er schon seit Stunden, dass sein potentieller Informant aus dem Haus trat, doch nichts war geschehen. Nichts außer Kälte, Zittern und durchgefrorenem Hosenboden, während Thymian neben einem Bettler auf der Straße saß. Dicht gedrängt hinter der Gossenrinne an einer Häuserzeile, die Knie eng an den Körper gezogen. Bisher hatte Thymian 60 Cent eingenommen, die ihm der Bettler jedoch wieder abgeluchst hatte. Immer noch rührte sich nichts im Haus und der Wächter dachte schon man hätte ihn zum Narren gehalten und ausgetrickst, als sich mit einem Male die Türe öffnete.
Beinahe hätte ihn Thymian nicht erkannt ohne den edlen schwarzen Anzug. Friedrich trug abgerissene Sachen, einen alten zerschundenen Pelzmantel, der schon einige Büschel Haare verloren zu haben schien und ein Paar dreckige mit Ankh Schlamm verkrustete Stiefel. Dreck statt Puder bedeckte das Gesicht und die sonst so säuberlich und glatt gekämmten mittellangen schwarzen Haare waren wirr nach hinten geworfen. Der Musiker hatte sich in einen einfachen Arbeiter verwandelt, vorsichtig sah er sich mehrmals um und stapfte dann mit seinen schweren Stiefeln Richtung Hafen.
Thymian blieb teilnahmslos sitzen. Zog man zu einem Familienfest nicht die besten Kleider an? Aber er kannte sich auch nicht so gut darin aus, denn seine einzige Verwandtschaft bestand in seinem Onkel, zwei Großmüttern und einigen entfernten Familienangehörigen, die Thymian noch nie zu Gesicht bekommen hatte.
Langsam erhob er sich und schlich Herrn Friedrich nach, der oft durch unbelebte Straßen ging, so dass Thymian gezwungen war blitzschnell zu reagieren und sich Verstecke zu suchen. Er hatte Glück und entkam jedes Mal haarscharf den vorsichtigen Blicken Victors. Dann gelangten sie zu den Docks in Ankh-Morpork. Thymian zwängte sich durch enge Kistenstapel, sah aus den Augenwinkeln die hohen Mäste der Schiffe. Es roch nach altem Fisch, Ruß und nicht genauer definierbaren Sachen. Bullige Männer mit geröteten Gesichtern wankten aus dem Dunst rauchverhangener Kneipen. Grölen und Gelächter drang zu Thymians Ohr, nur unterbrochen von derben Schimpfwörtern und zotigem Seemannsgarn.
Im ganzen Treiben des Hafens versuchte der Wächter in Zivil verzweifelt seine Zielperson nicht aus den Augen zu verlieren und gleichzeitig sich nicht von Furcht übermannen zu lassen, die ihn in solchen Gegenden immer packte.
Dann kamen sie erneut in eine abgelegenere Gegend, dunkel ragten Lagerhäuser der Dämmerung entgegen, die sich blutorange über den Himmel legte. Vor einem kastenförmigen Bau standen weitere vermeintliche Arbeiter. Friedrich trat zu ihnen, während sich Thymian in den Schatten eines Hauses drängte und sich bemühte mit selbigen zu verschmelzen. Er hatte gehört, dass das möglich sein sollte und Ledamahn hatte mit diesem Können einmal geprahlt. Jetzt wünschte Thymian, dass er an seiner Stelle wäre, er wäre sicher tollkühn genug, um irgendetwas... Tollkühnes zu tun.
Thymians Herz schlug schneller. Das hatte ganz und gar nicht nach einem Familientreffen ausgesehen. Als er das Rattern einer Blechtüre hörte, die auf- und wieder zugeschoben wurde, riskierte der Gefreite einen weiteren Blick zu den Männern. Sie waren weg.
Noch eine Weile wartete er, dann wagte er sich Schritt für Schritt vor bis er den Lagerschuppen erreicht hatte. Er musste wissen, was darin vor sich ging, was sein potentieller zweiter Informant gerade tat, aber Thymian konnte weder Fenster noch Risse zum Hineinspähen entdecken. Allerdings bemerkte er, dass im leicht schrägem Dach ein Fenster oder etwas in der Art eingelassen war. An der Wand befand sich ein Regenrohr...

Humph MeckDwarf nippte an seinem heißen Kaffee und blickte erneut auf eine Personalakte in seinen Händen. -Thymian Pech. Anwerber. Der Abteilungsleiter erinnerte sich nur zu gut an das Bewerbungsgespräch. Ein nervöser junger Bursche, der noch nicht mal genau zu wissen schien, worin der Tschob bestand. Ein gefährlicher Tschob für einen unerfahrenen Gefreiten, das wusste auch Humph. Nun war schon eine Woche um seit dem ersten Auftrag, den er dem Wächter gegeben hatte und immer noch war nichts geschehen. Ja, der Wächter hatte es auch nicht für nötig befunden sich mal zu melden.
Langsam machte sich der Oberleutnant Sorgen...
Er lehnte sich zurück und hörte wie es draußen anfing zu regnen.

Ein kleines Rinnsal aus Wasser kroch durch die Rinne, gluckerte durch das Rohr und sickerte zu dem Unrat und Dreck in der Gosse, die sich in trüben schmutziggrauen Schlamm verwandelte. Zwei Stiefel lagen in einer Ecke, die gerade an den Schnürsenkeln von einem Bettler davon gezogen wurden. Ein bunter Schal fiel nach unten, landete in der Gosse und ein Fluchen war zu hören.
Das Regenrohr klapperte, als sich zwei schmächtige Hände daran hochzogen. Jemand schnaufte. Wassertropfen rannen über die Wangen eines jungen Anwerbers auf der ersten Sprosse der Leiter des Aufstiegs. Er wünschte, er hätte wenigstens irgendeine Leiter, stattdessen quälte er sich zum wiederholten Male ein Regenrohr empor, rutschte mit nassen Händen wieder ab und versuchte es erneut. Nach einigen Minuten der Anstrengung bekam Thymian Pech endlich die Regenrinne zu fassen, krallte sich mit den Fingerkuppen um den glitschigen Rand, der unter der Last bedrohlich ächzte. Thymian stützte sich mit seinen nackten Füßen ab und drückte sich nach oben. Die bedrückende Enge der Stiefel hatte er nach einigen vergeblichen Versuchen mit ihnen das Regenrohr zu erklimmen verlassen und gemerkt, dass entblößte Füße beim Klettern zwar um einiges praktischer, aber auch um ein vielfaches schmerzanfälliger waren.
Mit letzter Kraft zog er sich nach oben aufs Dach, rollte sich mit dem Rest seines Körpers von der Kante weg und verschnaufte, während Regentropfen in langen dünnen Fäden von den düsteren sich bedrohlich zusammen getürmten Wolken fielen und sein Gesicht benetzten.
Was tat er hier nur? Schweiß rann mit dem Regen vermengt seinen Rücken hinunter, er keuchte leise, seine Füße waren zerkratzt und seine Arme fühlten sich an wie ein in die Länge gezogener Mürbeteig. In solchen Momenten wünschte er sich das ernste "Ha ha" der Narrengilde zurück. Was war er schon? Sicher kein draufgängerischer Kerl, der sich auch vor solchen Wagnissen wie das Herumklettern auf einem Lagerschuppen nicht scheute. Und auch kein verschlagenes Schlitzohr, das jede Schwäche und jeden Nachteil seines Gegners nutzte, um erbarmungslos zuzuschlagen. Doch was tat er dann hier, wenn nicht genau das...?
Zitternd richtete sich Thymian ein wenig auf und kroch auf allen Vieren auf das Dachfenster zu. Um ruhiger zu werden, zählte er im Geiste einige Prüfungsfragen des dritten Jahres der Gilde auf, doch es verursachte in ihm nur noch mehr Unruhe. Es gab viel Platz zum Nachdenken, wenn man alleine nachts bei schlechtem Wetter auf einem Dach lag und sich kaum mehr erinnern konnte, warum eigentlich...
Sie haben mich rausgeschmissen. Rausgeschmissen aus der Narrengilde, dazu musste man schon verdammt viel Pech haben. Oder Glück wie in meinem Fall. Aber nannte man das wirklich Glück? War es Glück, wenn einen Sahnetorten verfehlten und er nie auf Bananenschalen getreten, dafür aber aus der Gilde geworfen worden war? Thymian glaubte langsam nicht mehr an sein eigenes Glück. Vielleicht hatte er nie welches besessen...
Mit schmerzenden Füßen arbeitete sich der Wächter über das regennasse Dach zum Fenster vor. Er musste stark sein. Er durfte nicht rumjammern und sich selbst bemitleiden. Wenn er nicht stark war, war er eine Gefahr für alle anderen. So hatte es sein Abteilungsleiter ihm gesagt. Zentimeter für Zentimeter schob der Gefreite seinen Kopf über das schräge Fenster und lugte vorsichtig hinein.
Die Qualität des Glases war schlecht, überall hatten sich Luftblasen und milchige Stellen gebildet, so dass Thymian nur mühsam etwas erkennen konnte. Unter dem Fenster sah er die Männer. Einige trugen Öllampen, der Feuerschein brach sich an dem Glas und blendete den Wächter. Mit einer Handbewegung fuhr er sich durchs Gesicht und auch über das Glas, um besser gucken zu können. Die Männer standen um etwas... eine, was war das? Ja, eine einzelne Truhe. Und da war sein Musiker, er hatte die Uhr in der Hand, bückte sich... Thymian schob sich weiter vor, rutschte mit den Knien über das Glas. Was tat Friedrich da? Die Uhr... die Uhr war nicht nur eine Uhr, er hatte es geahnt. Es war offenbar eine Art Schlüssel. Der Musiker steckte sie irgendwo in eine der Seiten der Truhe, drehte sie.
Gespannt wagte sich Thymian noch ein weiteres Stückchen vor, die übrigen Männer scharten sich ebenfalls um die Truhe. Der Deckel sprang auf und die Männer beugten über den nun erblickten Inhalt. Der Anwerber auf dem Dach sah davon jedoch nichts, er blickte nur fragend auf seine Hand unter der sich plötzlich feine Risse im Glas ausgebreitet hatten, als besäße er magische Kräfte in seiner Handfläche.
Doch es war nur einfache Physik (von der Thymian keine Ahnung hatte).
Wie Adern verästelten sich die Sprünge im Fenster. Es knackte. Und das Netz aus Rissen gab nach, fing Thymian ein, brach und stürzte im Feuerschein wie der Vorbote des nachfolgenden Regens nach unten. Ein einzelner Schrei gellte durch das Fenster und die mit herein brechende Nacht.
Thymian ruderte hilflos mit den Armen und wünschte sich, er wäre ein Vampir, wenigstens diesen einen Augenblick, während er fiel. Der Sturz dauerte nur wenige Sekunden, doch die Zeit dehnte sich wie eine Luftblase in einem schlecht geformten Stück Geschichte. Thymian sah. Er sah die um ihn herumwirbelnden Splitter, er sah die sich entfernende Decke, wo er eben noch den Halt verloren hatte und in die Tiefe gestürzt war. Diese Tiefe wartete nun unter ihm und mit ihr eine Gruppe Männer, die in Zeitlupe die Köpfe hoben und ebenfalls entsetzt aufschrieen. Ihre Münder taten sich auf wie eben der Deckel der Truhe und formten stumme 'O's und 'A's, unhörbar in der Zeitblase. Sie bedeckten ihre Köpfe mit den Händen und flohen vor dem Glasregen.
In solchen Momenten pflegte man sein Leben zu sehen wie es vor den eigenen Augen vorüber zog...

Ein schmächtiger kleiner Junge, kaum 7 Jahre alt, dessen Hand in der wuchtigen Pranke eines großen Mannes verschwindet. Die Füße stemmen sich gegen jede Ritze im Kopfsteinpflaster, doch es hilft nichts. Der Junge wird vor ein großes Tor gezerrt. Das Klopfen dröhnt in den Ohren. Ein Clown öffnet. Fieses Grinsen, erwartungsvoller trotzdem hämischer Blick, als er den Jungen hinter dem bulligen Körper des Mannes entdeckt.
"Der Knabe hat zu viel Glück im Leib, treibt ihm das aus, das ist nicht gut für ihn."
Der Junge wird nach vorne geschoben, verschwindet mit dem Clown hinter den großen hohen Torflügeln, die sich krachend wieder schließen.
"Jesko! Jesko..."


Mit einem geräuschlosen 'Plop' zerplatzte die Zeitblase und Thymian stürzte so ungeschickt, dass er die ganze Truhe dabei unglücklich mit umriss, deren Inhalt sich auf dem Holzboden verteilte. Er schnitt sich an den Glassplittern, bemühte sich aufzustehen, doch seine Hände versanken in einer zähen klebrigen Masse, in der er ausrutschte, sich hilflos wälzte und endlich klebrig und verdreckt schaffte aufzustehen. Ein Moment der Stille entstand, nur der Regen prasselte auf sie nieder. Thymian stand in der Mitte des Raumes, jedoch nicht in der Mitte der Aufmerksamkeit. Die Männer starrten auf die Reste der dunklen Masse, die wie ein Schatten aus der umgestürzten Truhe geronnen war.
"Er hat das afyun verunreinigt!!!", fand ein Mann vorne seine Worte wieder und trat auf Thymian zu. Es dauerte noch weitere Sekunden ehe das seltsame Wort zu Thymians Geist vordrang.
"ahfjunn?", fragte er ungläubig nach. Hinter dem Mann hatten sich die anderen Arbeiter gesammelt und rückten näher, ihre Gesichter spiegelten Entsetzen wieder, der rasch in Zorn umschlug. Thymian erkannte "seinen" Musiker wieder und auch Richard, den Mann, der mit ihm gesprochen hatte. Dann teilten sich die Reihen, während ein einzelner älterer Mann in einem langen weiten Mantel hervortrat. Er besaß eine dunkle Hautfarbe und leicht schräge mandelförmige Augen, als er die Kapuze seines Ölmantels abnahm, sah Thymian seine grauen geflochtenen Haare.
"Was hat das zu bedeuten?!", polterte er los. "Wo kommst du her? Wer bist du?? Was tust du hier??!"
"Äh äh äh..." Thymian stammelte herum, deutete zur Decke und war immer noch vollkommen geschockt, noch dazu klebte die Masse zwischen seinen Zehen. Alles war schief gegangen. Nass und zerkratzt von den Glassplittern griff er zu dem einzigen Zauberspruch, den er besaß. "Stadtwache Ankh-Morpork, ihr seid alle festgenommen wegen... wegen Handel mit äh afyun." Er holte seine Dienstmarke hervor, doch es schien ihm, als würde es ewig dauern bis er sich nervös durch sein Hemd getastet hatte, zitternd die Dienstmarke erfühlte, sich mehrmals an der Ansteckklammer stach und sie endlich hervorzog und wie ein Schutzschild von sich hielt. Thymian wusste, nein, er spürte, dass er weder die Professionalität noch Abgebrühtheit besaß, um hier ungeschoren davon zu kommen. Hilflos stand er da, wusste nicht, was er tun sollte. Davon hatte ihm niemand in der Ausbildung etwas gesagt.
"Ich kenne den, Bushon! Das ist der Wächter, der mir die Uhr-" Friedrich brach abrupt ab und räusperte sich laut. Der Mann in dem Mantel sah ihn scharf an.
"Was redest du da? Woher kennst du ihn? Sprich weiter, Pierre.", forderte er, doch Friedrich, der anscheinend Pierre hieß täuschte einen Hustenanfall vor und schüttelte nur den Kopf. So wandte sich der Mann wieder an Thymian. "Also du willst uns wohl festnehmen, häh?!"
"J-a. Ich äh.. äh habe alle eure Schritte verfolgt. Ihr seid alle verhaftet wegen diesen äh kriminellen Machenschaften.", redete der Gefreite hastig, aber auf einen Fingerwink des scheinbaren Anführers traten die Männer auf ihn zu. Thymian schluckte, als erste Hände sich nach ihm ausstreckten. "Wenn ich in zehn Minuten nicht unversehrt hier aus dem Gebäude komme, stürmt eine voll ausgerüstete FROG Mannschaft das Lagerhaus!", quiekte er kurz bevor ihn einer an der Kehle packte. "Ich.. ich kann euch alle hoch gehen lassen! Ein Wort von mir und ihr seit für Jahrzehnte im Gefängnis!!" Seine Stimme klang in seinen eigenen Ohren grell und hysterisch, aber Thymian wusste sich einfach nicht zu helfen. Die Gruppe um ihn zögerte. "Die haben da große Trolle draußen!", setzte der Wächter verzweifelt nach. Er wünschte sich nichts sehnlichster, als dass er die Wahrheit sagen würde, aber Fakt war, dass er vollkommen ohne Sinn und Verstand alleine in einem der schlimmsten Viertel der Stadt war, allein... mit diesen Schmugglern.
"Du hast uns ein riesiges Geschäft verdorben, es wird Monate dauern bis wieder eine neue Ladung gewonnen und hierher verschifft ist." Der Mann namens Bushon deutete auf den Matsch auf dem Holz. "Außerdem, warum sollten wir dir glauben?"
"Auf Handel mit... mit äh schwarzer Mas.. äh afyun steht eine hohe Strafe. Die Gilde der.." Thymian überlegte, aber ihm fiel keine passende ein. "äh, also sicher ist irgendeine Gilde darüber sehr verärgert, wenn das rauskäme."
"Hah! Du weißt gar nichts!", versetzte der Anführer. "Niemand hier bei euch kennt afyun. Und bis jetzt hat uns auch niemand bemerkt. Wir verstoßen gegen kein Gesetz, weil es noch kein Gesetz dafür gibt."
Thymian sah zu Boden, wo gerade Pierre dabei war mit einem Lappen die Reste Richtung Truhe zu wischen, aber Glassplitter hinderten ihn daran.
"Gib es auf, das afyun ist unrettbar verunreinigt. Niemand würde uns das abkaufen.", sagte ein anderer und klopfte dem Musiker auf die Schulter.
"Warum diese Geheimniskrämerei?", hakte der Gefreite nach. "Wenn ihr doch nichts Unrechtes tut, wie du behauptest."
"Wir haben nur beste Ware in unserem Sortiment, sehr teuer und schwer beschaffbar, aber es gibt Adelige, die Unsummen dafür bezahlen. Natürlich will niemand, dass die Öffentlichkeit davon erfährt, solche.. Mittel sind doch in unverständigen Kreisen verpönt, aber du weißt gar nicht wie viel solche Leute für afyun ausgeben. Also geht Pierre mit seiner Hausmusik dort hin und dient als verschwiegener Ansprechpartner. Wir haben alle zweite Identitäten, damit es so unauffällig wie möglich über die Bühne geht. Jeder hier-" Und dabei deutete er in die Runde seiner Gehilfen. "-trägt seinen Teil dazu bei. Wir sind eine große Familie und ich bin der Vater.", erklärte Bushon und steckte seine Hände in den Mantel. Er sah zu Thymian. "Noch sieben Minuten."
"Sieben Minuten bis was?", fragte dieser zurück. Der Mann grinste hässlich.
"Bis deine großen Trolle hier hereinstürmen."
"Das ist wahr! Ihr dürft mir nichts tun, ich könnte euch alle verraten, es sei denn..." Thymian wurde leiser, nicht weil dass die Taktik war, die man bei 'es sei denn' Sätzen gebrauchte, sondern weil er selbst nicht wusste, was er nun sagen sollte. Er war sich sicher, dass hier etwas unrechtes geschah, ein Verbrechen, doch war es nicht besser, wenn er darüber schweigen würde? Er sollte überhaupt nicht hier sein. Und wenn er nicht hier war, konnte er auch nichts gesehen haben. Er würde einfach die Augen schließen und noch einmal öffnen und dann ahnungslos wieder im Wachhaus sein und all das wäre nie geschehen.
"Das klingt sehr vernünftig.", sagte in diesem Moment der Anführer. Thymian fuhr zusammen. Was hatte er von seinen Gedanken laut gesagt? Warum merkte er das nie? "Aber du verlangst doch sicher etwas für dein Schweigen oder?"
"Äh.. ja, also ich bin der Anwerber der Wache.", verriet er mit hängenden Schultern, während er mit dem linken Fuß über seine Wade rieb. Die schwarze Masse verströmte einen schwachen Bittergeruch.. "In unserem äh Tschob braucht man oft Informationen, wenn wir an einem Fall oder so dran sind, dann ist es öhm nützlich, wenn.. wenn wir Informationen darüber bekommen können. Und um diese Informationen zu bekommen, braucht man Informanten." Er holte tief Luft. "Ihr äh wisst sicher vieles, über den Handel, die äh reichen Leute und all so etwas." Verächtlich spuckte der 'Vater' darauf auf den Boden.
"Du willst uns kaufen. Erst vereitelst du unser Geschäft und dann willst du uns anwerben. Gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, was?" Er wurde lauter. "So geht also die berühmte Stadtwache von Ankh-Morpork vor!"
"Es soll natürlich nicht äh mehr zu eurem Schaden sein. Im Gegenzug kann... kann ich auch bei den zukünftigen Geschäften von euch ein Auge zudrücken. Ich werde niemanden etwas sagen, obwohl ich weiß, dass euer Handel nicht sauber ist.", schlug Thymian hastig vor. Er drückte die Dienstmarke an sich, die schweißnass in seiner Hand ruhte. Das kühle Metall beruhigte ihn dieses Mal nicht und doch.. es war das einzige, was ihn noch als Wächter auszeichnete. Wäre dies nicht, könnte man ihn für einen Verbrecher halten. Aber er wollte doch nur sein Leben retten. Thymian Pech betrachtete die Männer, die alle ähnlich gekleidet waren. Abgerissene Sachen, grobe Mäntel, schwere Stiefel, unter den Arbeitern des Hafens fielen sie kaum auf, doch vermutlich sahen sie in ihrer richtigen Identität vollkommen anders aus. Nur Bushon stach aus der Reihe, er wirkte fremdländisch.
"Hmm, das klingt schon besser. Aber als Wächter kannst du uns sicher auch helfen. Eine Hand wäscht die andere.", forderte Bushon. Thymian beeilte sich zu nicken.
"Ja, äh, gut, dann wäre ja alles geklärt. Und äh es gibt eine Menge toter Briefkästen in der Stadt, aber ich schlage euch einen ganz besonderen vor." Rasch erzählte er vom Karren der Gemüsefrau, weil dies der einzige "Briefkasten" war, den er bisher kannte und machte noch einen Treffpunkt beim Schlummerhügel Park aus. Thymian stolperte zur Türe hin. Er floh. Er floh aus diesem Lagerschuppen, vor den Männern und dem, was er dort gesagt und getan hatte. Wenn er doch nur wirklich einmal blinzeln könnte, um im Wachhaus zu stehen. Wenn er sich klein wie eine Maus machen könnte. Er hatte von Wächtern gehört, die zaubern konnten, die unsichtbar und in den Schatten wandeln konnten, die sich sogar verwandeln konnten, die keine Angst besaßen und die Wache mit Mut und Stärke bereicherten. Thymian wünschte, er wäre einer davon. Wenigstens einer, der nicht kopflos durch den Hafen rannte.
Er kam nicht weit. Gerade erst hatte sich das trügerische Gefühl von Sicherheit breit gemacht, als es ihm auch schon wieder mit einem Sprung vom Dach genommen wurde. Genau vor ihm landete der Musiker, Thymian stieß einen kleinen Laut des Entsetzens aus und wollte in die andere Richtung davon laufen, doch Pierre bekam ihn rechtzeitig zu fassen und stieß ihn mit solcher Kraft gegen die nächste Wand, dass Thymian für einen Augenblick die Luft wegblieb. Für eine Weile, wie er so den Regen auf seiner Haut spürte und den Dolch in den Händen von Pierre sah, überkam Thymian das Gefühl, dies alles schon einmal erlebt zu haben, doch es verging abrupt mit dem Faustschlag, den er plötzlich abbekam. Der Anwerber schmeckte das Blut seiner aufgeplatzten Lippe und rang nach Atem.
"Du hast das wirklich sauber eingefädelt. Mir die Uhr zu stehlen, um darüber an uns heran zu kommen. Du wolltest uns doch von Anfang nicht verhaften, sondern nur anwerben. Gib es zu!" Pierre presste seine Hand gegen Thymians Kehle und drückte so seinen Kopf nach hinten. Der Wächter und Narr sah in den dunklen Himmel. Röchelnd bejahte er, was Pierres Wut nur umso mehr anfachte. "Du widerlicher Kerl. Ich möchte nicht wissen, wie viele von ehrbaren Leuten du so schon hereingelegt hast, nur um neue Informanten anzuwerben, die sich dann von deinen Forderungen nicht mehr lösen können. Wie viele waren das, hm?" Der Mann umfasste Thymians Kinn und drückte seinen Kopf weiter in den Nacken. "Wie viele?!!"
Seine Brust tat weh von dem wilden Hämmern seines Herzens, Thymian hatte Angst, Todesangst. Gedankenblitze schossen durch seinen Geist. Wie kam er hier nur weg? Er wollte doch nur weg, wollte nur, dass es endlich vorbei war. Das Küchenmesser war an Thymians Gürtel befestigt, doch er wagte es nicht es zu ziehen. Seine einzige Waffe waren seine Worte und so sehr es ihm zuwider war, so sah er dennoch keinen anderen Ausweg als diesen:
"Wenn du mich nicht loslässt, werde ich so laut schreien, dass 'dein Vater' dadurch herkommt und ihm werde ich sagen, dass du die Uhr verloren hattest, dass du überhaupt nicht der Profi bist für den du dich immer ausgibst, dass dich selbst ein einfacher Wächter verfolgen konnte." Er gab es unter Husten und Ängsten hervor. Der Griff lockerte sich, doch Pierre stützte sich mit beiden Händen an der Wand ab, während Thymian dazwischen eingekeilt war. "Ich könnte ihm noch mehr sagen.", redete er mit der Not eines Verzweifelten. "Werd ein Informant der Wache und es wird nur Vorteile für dich geben. Und niemand wird dich je für einen Anfänger halten, dass dich ein Wächter hatte austricksen können." Der Musiker vor ihm sah ihn mit mühsam unterdrückter Wut an.
"Was bleibt mir anderes übrig? Du hast mir die Antwort ja schon praktisch in den Mund gelegt." Er trat einen Schritt zurück und betrachtete Thymian voller Widerwillen. "Renn, ehe ich es mir anders überlege." Thymian ließ es sich nicht zweimal sagen, schlüpfte unter den Armen des Musikers durch und rannte mit nackten Füßen die Straße entlang.
Seine Gedanken ein heilloses Chaos, wo in den Tiefen ein immer schlechteres Gewissen heranreifte. Es gab niemanden, der ihm sagte, ob das nun falsch oder richtig gewesen war, keinen Ausbilder oder erfahrenen Wächter, der einem immer zur Seite stand, doch Thymian fühlte, dass es falsch gewesen war. Er hatte die Männer dazu gedrängt einzustimmen Informanten zu werden und er hatte sich selbst verkauft und ihren Forderungen zugestimmt.
Er rannte und rannte bis er kaum mehr wusste, wo er war.

Die Uhr im Büro des RUM-Abteilungsleiters hatte schon längst die Zeit des Feierabends überschritten und unter dem Ticken des Uhrwerks mischte sich leises Schnarchen. Beinahe liebevoll hatte der Oberleutnant den Arm über den hohen Aktenstapel gelegt und seinen Kopf darauf gebettet. Eine Papierkante zitterte leicht unter dem ein- und ausströmenden Atem des Wächters. Sie zitterte genau wie der Finger, der sich langsam der Schulter des Abteilungsleiters näherte, kurz darüber verharrte und sie schließlich einmal rasch antippte.
"Sir?" Der Finger tippte erneut und zog sich mit dem Rest des Körpers hastig zurück, als sich Humph regte und verschlafen blinzend über den Rand der Akten blickte.
"Wlusn?", brachte der Oberleutnant mit trockener Stimme hervor.
"Sir?" Humph blinzelte mehrmals, rieb sich den Schlaf aus den Augen und sah einen Bettler vor sich stehen.
"Verschwinde, ich geb nix." Er wedelte mit der Hand, doch die Gestalt verschwand nicht. Das ist einer deiner Leute, du solltest denen mal beibringen wie man seine Kleidung in Ordnung hält, sieht ja fürchterlich aus., steuerte Murphy, der Kobold in Humphs Kopf bei. "Ach, halt deinen Mund."
"Entschuldigung, äh, Sir. Ich wollte nur melden, dass ich meine Aufgabe geschafft habe.", sagte die Gestalt in abgerissener durchnässter und mit schwarzem Matsch beschmierter Kleidung, das Haar war dreckig und zersaust, die Lippe aufgeschlagen und Gesicht sowie Hände zerkratzt. Humph kramte rasch in seinem Gedächtnis und versuchte sich zu erinnern.
"Wasn fürne Aufgabe?", nuschelte er und strich über die Wange, mit der er auf den Akten gelegen hatte.
"Thymian Pech, Sir. Meine Aufgabe war es drei Informanten anzuwerben. Ich bin damit soeben fertig geworden.", berichtete der junge Mann, aber der Oberleutnant bemerkte das Fehlen des sonst üblichen Enthusiasmus der jüngeren Wächter.
"Wer hat dich denn so zugerichtet?", fragte er nach.
"Zugerichtet?" Der junge Anwerber sah an sich hinunter, fasste sich dann an die Lippe und strich das Blut hastig weg. "Äh, eine gemeine streunende Katze griff mich in den Schatten an und zerkratzte mich.", brachte Thymian Pech stockend hervor.
"Sieht nicht so aus, als ob du gewonnen hättest." Humph rang sich ein flüchtiges Grinsen ab. "Also, du hast drei Informanten? Gab es Probleme?", setzte er knapp nach. Er musste nach Hause, warum war er nur eingeschlafen? Diese Schreckschraube von einer Amme seiner Tochter würde wieder mal wütend sein und einen Nachtaufschlag fordern. So hörte er sich mit halbem Ohr den Bericht des Gefreiten an und runzelte mehrmals die Stirn.
"Eine Gemüsefrau, ein Musiker und wer war der dritte, sagtest du?"
"Ein Verkäufer namens Thaddäus Hutt, er besitzt einen Laden, wo er mit Salamandern und Ikonographen handelt, Sir. Er weiß viel über die Stadt, aber seine Auskünfte sind sehr teuer.", antworte der junge Mann und spielte dabei nervös mit seinen Händen. "Ich habe ihn in meinen ersten Tagen bei der Wache kennen gelernt, Sir[12]. Neuerdings erzählt er nur nach Vorkasse, ab zehn Dollar aufwärts." Humph lehnte sich in seinem Stuhl zurück und seufzte unhörbar leise.
"Also willst du mir sagen, dass du in über einer Woche nicht mehr als eine einfache Gemüsefrau, einen Musikanten und einen überteuerten Verkäufer angeworben hast?" Der Oberleutnant sah Thymian fragend an.
"Ja, Sir.. äh, und nein, Sir. Frau Leeb kann von der allgemeinen Stimmung der Bürger reden, außerdem geht sie täglich mit ihrem Gemüsekarren durch die Stadt, da sieht sie sicher vieles. Und äh, Sir, ich hatte mir gedacht, dass ihr Karren ein toter Briefkasten sein könnte. Ich habe mir ihre Hauptstandorte aufgeschrieben.." Der Wächter holte einen voll gekritzelten Notizblock hervor und starrte darauf.
"Schön, dass du dir alles aufschreibst.", lobte Humph MeckDwarf.
"Ja, in äh Geheimschrift, Sir." Der Gefreite erzählte, was er sich bei dem Karren gedacht hatte und der Abteilungsleiter musste einsehen, dass das gar keine so schlechte Idee war und als Thymian auch noch von dem Musiker berichtete, der auf adeligen Festen spielte und als Geigenspieler Gespräche von unzähligen verliebten Paaren mitbekam, änderte Humph seine Meinung.
"Nun, das klingt ja doch schon ordentlich. Du hast dir deine Informanten gut ausgesucht. Und wenn du noch mehr Übung als Anwerber bekommst, wird das alles noch viel reibungsloser klappen.", sagte er und salutierte. "Komm morgen noch mal in mein Büro, ich habe einige Fälle, wo die Ermittler Informanten aus bestimmten Bereichen gut gebrauchen könnten. Dort wirst du dann gezielt angesetzt."
"Ja, Sir.." Der Gefreite salutierte und wandte sich zum Gehen.
"Ach, und Thymian?"
"Ja, Sir?" Der junge Mann drehte sich noch einmal um. Er sah müde und geschafft aus, fand Humph.
"Gut gemacht.", lobte er und Thymian Pech lächelte kurz schwach. Beim Hinausgehen sah der Abteilungsleiter, dass seinem Anwerber die Stiefel fehlten.

Gut gemacht. Was hatte er denn gut gemacht? Die Worte klangen in seinen eigenen Ohren hohl und dumpf, als Thymian in seinem Bett darüber nachdachte. Er hatte seinen eigenen Abteilungsleiter angelogen, die Gruppe um den 'Vater' verschwiegen und nur Pierre erwähnt. Und Thaddäus Hutt war nur aus Verlegenheit genannt worden, nachts war der Gefreite noch zu seinem Geschäft und Wohnung gelaufen, weil er wusste, dass Hutt ein gutes Geschäft nicht abschlagen würde, bereitwillig hatte er zugestimmt der Wache zu helfen, doch beide, er und Thymian, wussten, dass es eine Lüge war. Hutt würde nicht helfen. Jeder arbeitete nur für sich. Der schmierige Salamanderverkäufer hatte nur das gesagt, wovon Thymian wusste, dass er es dort zu hören bekommen würde. Eine schnelle Zusage für einen schnellen Abschluss seiner Aufgabe drei Informanten anzuwerben. Die Hoffnung, dass sein Gewissen sich beruhigen würde, wenn nur erst einmal alles vorbei war, hatte sich dadurch nicht erfüllt. Im Gegenteil. Er hatte gelogen, betrogen, Sachen gestohlen, unterschlagen und die Leute gegeneinander ausgespielt. Und dafür war er gelobt worden...
Schlotternd raffte Thymian die Decke enger um sich und rollte sich ein. Seine Füße schmerzten, er fühlte sich zerschlagen und geschafft. Angst vor dem morgigen Tag stieg in ihm auf. Es war nicht vorbei, es fing gerade erst einmal an. Gezieltes Ansetzen auf Informanten...
Der Anwerber zog sich die Decke über den Kopf.
Wenn das der Tschob eines Anwerbers war, dann wollte er ihn nicht.

Du wirst Teil eines Ganzen sein... und du musst stark sein, sonst bist du eine Gefahr für uns.
Ein unbedachtes Wort könnte schon das vorläufige Ende bedeuten.
Wenn du an den richtigen Stellen den Mund hältst, kannst du es mal weit bringen.
Jeder arbeitet nur für sich.




[1] Die Verletzungen stammen aus den Geschehnissen in der Single "Ich und mein Schwert".

[2] Unter anderem auch deswegen, weil er sonst immer morgens begann aus Gewohnheit die Narrenkleidung anzulegen.

[3] Die gleiche, die man auch sieht, wenn man ungebeten in eine Familienfeier platzt. Manchmal auch gebeten.

[4] Es soll hier nicht genauer beschrieben werden, aber der Klang eines sterbenden Tintenfisches mit Nebenhöhlenverstopfung (so fern Tintenfische Nebenhöhlen besäßen) wäre vermutlich treffend.

[5] Ein richtiger wohlgemerkt.

[6] Aus den Ereignissen in der Single "Das Netz der Spinne", wo Thymian im Laufe einer Kutschfahrt vom Patrizier mit der Frage "Arbeitest du für dich oder gegen dich?" unfreiwillig zum Ja-Sagen gezwungen wurde.

[7] Siehe die Live "Im Angesicht des Untodes".

[7a] Im Gegensatz zu Grillen konnte er jedoch nicht ein Vielfaches seiner Körperlänge im Sprung zurücklegen.

[9] Nachzulesen in Leo's Single "Gehasst, Verdammt, Vergöttert! - Das Leben eines Untoten".

[10] Es war genauso genommen der siebte, den er gefragt hatte. Die ersten beiden hatten versucht ihm die Uhr zu stehlen, der dritte und vierte hatten einen unverschämten Preis dafür verlangt, während der fünfte ihn wüst beschimpft hatte und der sechste hatte sehr absonderliche Sätze vorgelesen, die so ganz sicher nicht in der Uhr standen.

[11] Manche Klischees sterben einfach nicht aus.

[12] Siehe dazu die Single "Das Netz der Spinne"




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