Das alte Meer und der Gnom

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von Spieß Harry (DOG)
Online seit 13. 03. 2002
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 Außerdem kommen vor: Ikari GernetodMückensturm

Von den vielen Gilden der Stadt ist die Tauchergilde sicher eine der am wenigsten bekannten. Trotzdem sorgt sie für einen Auftrag vom Patrizier persönlich...

Dafür vergebene Note: 13

Das Klingeln der Taubenschlag-Glocke riss Pigeon unsanft aus ihrem Schlaf. Es war kein normales kurzes "Eine-Taube-kommt-gerade-durch-die-Luke"-Klingeln, sondern ein hektisches "Eine-Taube-ist-durch-die-Luke-gekommen-und-zerrt-gerade-mit-ihrem-Schnabel-am-Klingelseil"-Klingeln.
Schlaftrunken drehte die Kommunikationsexpertin der DOG sich um und sah eine Taube im Taubenschlag, die gerade mit ihrem Schnabel am Klingelseil zerrte. Sie hielt einen versiegelten Brief in den Krallen und blickte die Wächterin ungeduldig an.
Auf der ganzen Scheibenwelt gab es wohl nur eine Taube, die so intelligent war - und das war Ölzweig, die persönliche Brieftaube des Patriziers. Vetinari hatte sie vom Kunstturm der Unsichtbaren Universität rekrutiert, wo die thaumaturgische Strahlung bekanntlich seltsame Dinge mit der Intelligenz von Tieren anstellen konnte.
Als die Taube merkte, dass sie Pigeons Aufmerksamkeit geweckt hatte, hob sie kurz den rechten Flügel an den Kopf (wahrscheinlich sollte das ein Salutieren sein, überlegte sich die Hauptgefreite), ließ den Brief fallen und flog wieder davon.
Pigeon erhob sich und ging zum Taubenschlag. Briefe von Ölzweig bedeuteten nie etwas Gutes.

"Ölzweig?" fragte Mückensturm irritiert.
"Ja - hat Daemon dir nichts von ihr erzählt, als er dir den Abteilungsleiter-Posten übergeben hat?"
"Nicht, dass ich mich erinnere."
"Na dann... hier ist der Brief", meinte Pigeon grinsend und gab ihm den Umschlag. Als sie aus dem Büro ging, dachte sie schmunzelnd daran, wie Daemon sich noch Tage später mit seinen Brandblasen gequält hatte.

DEM ABTEILUNGSLEITER stand in großen Blockbuchsrtaben auf dem Kuvert, und verschlossen war es mit Vetinaris persönlichem Siegel.
Mückensturm öffnete den Umschlag und entfaltete den darin befindlichen Zettel:

Die Tauchergilde hat im Runden Meer mittwärts des Hafens das Wrack der 1645 untergegangenen Isabella gefunden und will heute Mittag mit der Bergung beginnen.
Es ist im Interesse der Stadt, dass einige im Schiff befindlichen Dokumente nicht an die Öffentlichkeit gelangen.
Dieser Brief wird sich in...


Eine grelle Stichflamme entzündete plötzlich das Papier und Mückensturm ließ es mit einem Aufschrei auf den Boden fallen. Pigeon, die nur auf den Schrei gewartet hatte, kam mit einer Blumenvase voll Wasser ins Büro gelaufen und leerte den Inhalt über dem Teppich aus.
"Das war bei Dae genau so", meinte sie, nachdem das Feuer gelöscht war. Vetinari hält euch wohl für schnellere Leser."
"Hättest du mich nicht warnen können?"
"Das wäre nicht so lustig gewesen", grinste die Hauptgefreite, worauf Mückensturm eine nicht jugendfreie Antwort murmelte.
Dieser Brief war typisch Vetinari: Keine Anweisungen oder Bitten, keine Anrede, keine Unterschrift - nur eine Aufzählung von zwei Tatsachen. Und wer oder was war die Tauchergilde?
Der Fähnrich drehte sich zu seinem Bücherregal um und griff nach dem aktuellen VOGUE - dem Verzeichnis obskurer Gilden für den unerschrockenen Ermittler. Nach letztem Stand gab es 108 Gilden in Ankh-Morpork, von denen die kleinsten nur ein Mitglied hatten *, und die DOG waren per Definition für alle zuständig. Daher hatte der Leitfaden sich als unentbehrlich für ihre Ermittlungen erwiesen.

Mückensturm blätterte sich zum Buchstaben T durch.

"Tauchergilde: gegr. 1982 von einer Gruppe von Hobbytauchern, nachdem sie in der Hafenbucht ein paar wertvolle Goldmünzen gefunden hatten. Mitglieder: 15. Die T. kontrolliert sämtliche Tauchgänge und Bergungsversuche im ankh-morporkianischen Hoheitsgewässern und hofft ständig auf die 'große Entdeckung'. Durch den damaligen Fund ist sie - jedenfalls gemessen an der Mitgliederzahl - relativ reich und zögert nicht, ihr Vermögen gegen unlizensierte Taucher einzusetzen."

Der Abteilungsleiter legte das Heft zurück. Bis Mittag waren es noch gut zwei Stunden. "Pig, sag den anderen Bescheid. In einer halben Stunde ist hier Einsatzbesprechung." Er dachte kurz nach. "Und sag Steini, ich habe einen Spezialauftrag für ihn..."

"Wir machen folgendes", sagte Mückensturm zu dem versammelten Rest seiner Abteilung, nachdem er die Situation geschildert hatte. "Wir fahren als Fischer getarnt zur Bergungsstelle. Dann lassen wir einen von uns unbemerkt ins Wassser, und der holt sich die Dokumente bevor die Gilde sie findet. Ganz einfach. Alles klar?"
"Wie sollen wir das unbemerkt schaffen?" wandte Harry ein. "Die Tauchergilde hat sicher ein Schiff dort, und die passen doch wohl auf, dass kein Boot in der Gegend Taucher absetzt. Und wenn sie selbst Taucher dort unten haben, dann wird unserer doch sofort entdeckt..."
Während er sprach, war der Gnom immer leiser geworden, da ihm düstere Vorahnungen überkamen. Jetzt sah er Mückensturms frendliches Lächeln, und seine Befürchtungen bestätigten sich.
"Nein! Nicht mit mir! Wieso soll eigentlich immer ich die Drecksarbeit machen?"
"Sieh es einmal so, Harry - du bist einfach der Qualifizierteste von uns! Du kannst dich in dem Wrack gut verstecken, du fällst nicht auf, als Gnom macht dir der Druck nicht so viel aus und die Luft kannst du auch gut anhalten. Außerdem kannst du gut schwimmen."
Harry dachte an sein Abenteuer auf der Kannibaleninsel zurück. "'Können' heißt aber nicht 'mögen'", murmelte er.
"Gut, dann wäre ja alles geklärt. Ikari, Dyn, ihr besorgt euch Fischerklamotten. Herr Butt von der Fischergilde hat uns ein Boot und die nötigen Papiere gegeben. Wir legen in einer Stunde ab."

Steingesicht, der erfinderische Wache-Geist, hatte im Keller der DOG einen alten Gartenschlauch gefunden und ihn kunstvoll mit einem Fischernetz verflochten. "Damit bekommst du Luft, ohne auftauchen zu müssen", erklärte er Harry. "Du musst nur daran denken, diesen Korken immer wieder auf das Mundstück zu setzen."
Harry nickte missmutig und wandte sich an den Abteilungsleiter. "Gibt es hier in der Bucht eigentlich gefährliche Fische?"
"Ach was." Mückensturm schüttelte den Kopf. Der Fähnrich hatte sich gelbes Ölzeug angezogen und einen künstlichen Schnauzer angeklebt. "Die paar Raubfische, die es hier gibt, sine zu klein, um einem Menschen ge... oh."
"Dachte ich mir." Harry tastete nach seinem Messer.
Sie standen am Anleger der Fischergilde. Die beiden verdeckten Ermittler Dyn Amit und Ikari hatten sich ebenfalls Fischerkleidung angezogen (oder was sie dafür hielten): Dyn trug eine weiße Mütze und ein blau-weißes Hemd, und Ikari hatte sich für den "Verwegener Pirat"-Look entschieden und die Nahtstellen an seinem Körper mit etwas Make-Up in sehr realistische Narben verwandelt.
"Ich habe das Gefühl, wir hätten uns besser absprechen sollten", meinte Mückensturm mit einem Blick auf seine Truppe. "Aber egal, die Zeit drängt." Er deutete auf einen etwa zehnjährigen Jungen, der im Bug des Bootes stand. "Das ist Hein von der Fischergilde", stellte er ihn vor. "Er kümmert sich um das Boot." Der Fähnrich räusperte sich. "Ahoi, Landratten, alle Mann an Bord! Anker lichten und Leinen los, hein!"
Der Junge verdrehte die Augen und machte die Taue los. Eine schwache Brise erfasste das Segel und trieb das Schiff auf die Bucht hinaus.

"So, Harry, jetzt zu dir." Mückensturm wandte sich an den Gnom. "Steini hat das hier für dich gemacht."
Er kramte in einem Eimer und holte ein enorm stinkendes Etwas heraus, das wie ein Fischkopf mit daran befestigtem Leder aussah.
"Was in aller Götter Namen ist das?" fragte Harry, obwohl er die Antwort schon kannte.
"Ein Fischkostüm. Wir wollen doch nicht, dass du von der Tauchergilde entdeckt wirst."
"Ein Fischkostüm? Wollt ihr mich ver..."
"Jetzt hab dich nicht so, Harry. Wir wollen dich doch nur beschützen - die Gilde soll sehr rabiat mit illegalen Tauchern umgehen."
"Habt ihr wenigstens an eine Nasenklammer gedacht? Das Teil stinkt ja bestialisch!"
"Aber sicher." Mückensturm holte eine Klammer hervor, die Harry einmal von seinem Ausflug in die Kanalisation mit seinem Vetter Arthur mitgebracht hatte.
"Ihr wisst, dass ich mich nie darauf eingelassen hätte, wenn ihr mir das an Land erzählt hättet, nehme ich an", knurrte Harry, während er sich aus seiner Uniform quälte.
"Natürlich", schmunzelte sein Vorgesetzter. "Deswegen sage ich es dir ja auch erst jetzt."
Widerwillig schlüpfte der Spieß in das Kostüm. Steingesicht hatte ganze Arbeit geleistet, wenn man bedenkt, wie wenig Zeit er gehabt hatte. Wenn man nicht allzu genau hinsah, fiel es kaum auf, dass dem "Fisch" je zwei kleine Arme und Beine zwischen den Flossen wuchsen.
Nur der Kopf missfiel dem Gnom. Es war eindeutig ein echter Fischkopf - der Geruch ließ keinen Zweifel daran. Er war ausgehöhlt und hatte ungefähr die richtige Größe, aber es gab definitiv schönere Gefühle, als mit dem eigenen Kopf in dem eines toten Fisches zu stecken. Es fehlte nicht viel, und Harry hätte sich trotz der Nasenklammer übergeben.
Vorne in den Kopf hatte Steingesicht zwei unauffällige Gucklöcher gebohrt, und durch diese sah und hörte Harry, wie seine Kollegen in schallendes Gelächter ausbrachen: Der Anblick eines auf zwei Beinen mit verschränkten Armen in einem Fischerboot stehenden Fisches war einfach zu drollig.
"Perfekt, Harry!" kicherte Mückensturm. "Du gibst einen wunderbaren Fisch ab. Und jetzt stell dich tot, ja? Wir sind gleich da."
Der Fähnrich hob Harry hoch und legte ihn vorsichtig in einen leeren Eimer.

Etwas später hörte der Spieß folgenden Dialog:

"Tauchergilde, guten Tag. Was tut ihr hier?"
"Wir? Wir sind raubeinige Seemänner vonner Fischergilde, nich, Kinners?" Das war Mückensturm mit seiner Version eines Seemannes.
"Jau" "Ahoi!" Dyn und Ikari, die versuchten, es ihrem Chef gleichzutun.
"Fischergilde? Kann ich mal eure Lizenzen und Fischereizonenscheine sehen?"
"Aber klar, min Jung. Hier hew ick sie."
(Geraschel) "Okay, scheint alles in Ordnung zu sein. Laut Paragraf 4 der Tauchergildenordnung dürfen wir das Boot nach illegalem Tauch- und Bergungsgerät durchsuchen."
"Nur zu! We hew nix zu verbergen, was, Kinners?"
"Nö!" "Ahoi!"
Schritte, dann:
"Hier ist nichts, Chef. Nur Netze und ein stinkender Fisch."
"Und ihr wollt ausgerechnet hier fischen?"
"Das war nich unsre Idee, das glaub uns mal. Aber du weißt ja, wie des mit den Gilden ist. We hew nunmal diesen Platz zugewisen kriegt, also fischen we hier ooch."
"Na gut. Aber denkt dran, wir behalten euch im Auge!"
Das Schiff der Taucher entfernte sich wieder etwas vom Fischerboot.
"Alles klar, Hein, wirf den Anker! Dyn, Ikari, ihr geht ans Netz!" Eine kurze Pause, dann sprach der Fähnrich erneut, diesmal flüsternd und aus der Nähe: "Harry?" Wir werfen jetzt die Netze aus. Bist du bereit?"
"Bereit wozu?"
Der Eimer wurde hochgehoben und Harry stürzte kopfüber ins Wasser.
"Was war das für ein Schrei?" rief einer der Taucher fragend vom anderen Boote herüber.
"Schrei? Ach das... das ist ein Fischlockruf!" improvisierte Mückensturm. "Eine neue Fangmethode. Wir werfen einen toten Fisch ins Wasser und benutzen den Lockruf, um andere Fische anzulocken." Er zwinkerte Dyn zu, der sich gehorsam über die Reling beugte und "Aaaaaaaaaaaaah!" rief.
Der Taucher zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

Harry hatte gerade noch Zeit gehabt, einzuatmen, als das Wasser über ihm zusammenschlug. Nach einem kurzen Moment der Orientierungslosigkeit sah er den Rumpf des Fischerbootes und das Netz mit dem Schlauch, das vom Boot herunter hing. Schnell schwamm er zum Schlauch, entkorkte ihn und atmete tief durch.
Der Rumpf des anderen Bootes war in geringer Entfernung zu sehen, aber Harry konnte keine Taucher erkennen. Anscheinent hatten sich mit der Bergung noch nicht begonnen.
Mücke hatte ja recht: Er war für den Job am geeignetsten. Gnome sind äußerst widerstandsfähig und können daher auch relativ problemlos in extreme Tiefen*** tauchen und lange die Luft anhalten. Aber all das, wiederholte Harry in Gedanken, bedeutete eben nicht, dass man es gerne machte.
Er atmete noch einmal tief ein und korkte den Schlauch dann wieder zu. Je schneller er die Papiere fand, um so schneller konnte er wieder zurück ins Trockene.
Kurzentschlossen schwamm er abwärts.

Ein Fisch namens Harry näherte sich neugierig einem alten, versunkenen Schiff. Andere Fische in der Nähe hielten respektvollen Abstand - sie erkannten den Geruch des Todes, der von Harry ausging. Wenn Fische so etwas wie Zombies kennen würden, hätten sie den Gnom wahrscheinlich für einen gehalten - aber so hielten sie sich einfach mit einem vagen Angstgefühl von ihm fern. Harry war das ganz recht - er hatte sich schon ausgemalt, sich mit seinem Messer gegen blutrünstige Barsche verteidigen zu müssen.
Das Wrack war recht beeindruckend - es zeugte von einer Zeit, als Ankh-Morpork noch eine stolze Handelsflotte besaß und ein nicht zu unterschätzender Teil des Bruttosozialproduktes der Stadt durch staatlich genehmigte Piraterie erwirtschaftet wurde. Für sein Alter war es in ziemlich gutem Zustand, und Harry konnte sich vorstellen, dass die Mitglieder der Tauchergilde glänzende Augen bekommen hatten bei dem gedanken ann all die Schätze, die darin verborgen sein konnten.
Schnell schwamm er um das Schiff herum.
Mehrere Löcher boten einen Einblick ins Innere, und er fragte sich, wo er mit der Suche beginnen sollte. Vetinari hatte nur etwas von Dokumenten geschrieben - aber wenn die so wichtig warenm, wie er behauptet hatte, befanden sie sich wohl in einem Tresor oder etwas ähnlichem in den Räumen des Kapitäns. Bei seinem Glück waren sie bestimmt irgendwo sicher weggeschlossen und für ihn unerreichbar.
Die oberen Aufbauten des Schiffes, wo der Gnom die Quartiere des Kapitäns vermutete, waren noch fast vollständig erhalten. Er beschloss, noch einmal neue Luft zu tanken und dann das Schiffsinnere zu durchsuchen, und schwamm zurück zum Fischerboot.

Die ganze Zeit über hatten die Männer der Tauchergilde die Wächter nicht aus den Augen gelassen. Mückensturm und seine Kollegen gaben sich alle Mühe, so seemännisch wie möglich zu wirken - Hein wäre vor Scham am Liebsten im Deck versunken, als Mückensturm wieder anfing, Dinge wie "Mast- und Schotbruch, Matrosen!" und "Ho, ho, beim Klabautermann!" zu rufen, die stets von einem "Jau!" beziehungsweise einem "Ahoi!" von seiten Ikari und Dyn beantwortet wurden.
An Bord des Gildenschiffes zogen sich gerade zwei Taucher ihre Anzüge an. "Das können keine Spione sein", meinte einer der beiden zu dem anderen. "Dafür sind sie zu dämlich."
"Und was dann? Du willst mir doch nicht weismachen, dass diese Komiker wirklich Fischer sind!"
"Vielleicht sind es einfach harmlose Irre", spekulierte der erste.
Das Bergungsboot der Gilde war erstklassig ausgestattet: Zwei lange Schlauchrollen versorgten die Taucher mit Luft und konnten gleichzeitig als Sprachrohre verwendet werden, und ein schwenkbarer Kran erlaubte das mühelose Bergen schwerer Gegenstände. Die Gilde war stolz auf ihre Fortschrittlichkeit und besaß nur die allerneueste Technik.

Harry schwamm gerade wieder Richtung Schiff, als er die beiden Gestalten abtauchen sah. Anscheinend hatte die Gilde mit ihrer Bergungsoperation begonnen.
So schnell es ihm sein Kostüm erlaubte, tauchte er ab, und kam zeitgleich mit dne beiden Gildentauchern unten an. Während diese sich noch umsahen, schwamm er schnell in die Räume des Oberdecks.
Am Grund sagte einer der beiden Gildentaucher etwas in seine Gesichtsmaske. Ein Mitarbeiter, der oben am ersten Luftschlauch lauschte, sagte es dem Lauscher am zweiten Schlauch weiter, der es in seinen Schlauch hineinrief. Der zweite Taucher auf dem Meeresboden nickte, und beide schwammen in Richtung Schiff.

Harry hatte mehrere Räume des Schiffes durchschwommen, und außer verrotteten Möbeln und grinsenden Skeletten nichts entdeckt, als er endlich die Kapitänsräume fand. Jedenfalls waren sie prachtvoller ausgestattet als die anderen - neben mehreren großen Schränken und einem massiven Mahagoni-Schreibtisch hing unter anderem ein recht gut erhaltenes Portrait eines aristokratisch dreinblickenden Mannes an der Wand. Ein Loch in der Decke ließ genügend Licht in den Raum, um die Ausstattung gut erkennen zu können.
Hier mussten die Dokumente irgendwo sein, wenn er ausnahmsweise einmal Glück hatte - aber um sie zu finden, brauchte er neue Luft.
Er wandte sich um, um zurück zum Fischerboot zu schwimmen, als einer der Taucher in den Raum kam. Harry zuckte zurück und versuchte, so fischig wie möglich auszusehen, während er sich in eine dunkle Ecke zurückzog.
Der Taucher sah sich kurz im Raum um, als sein Blick auf das Gemälde fiel. Er rief etwas in seinen Schlauch und schwamm ein Stück nach oben, um sich das Kunstwerk näher anzusehen, während der Gnom die Gelegenheit nutzte, um den Raum fluchtartig zu verlassen.

Ein Luftholen später kam er wieder am Wrack an - gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie die beiden Taucher das Portrait mit Gurten an einen Haken hingen, der vom Bergungsschiff ins Wasser gelassen worden war. Unbemerkt schwamm er an ihnen vorbei und zurück ins Kapitänsquartier, wo er sich auf die Suche machte.
Die Schranktüren waren morsch und fielen bei der ersten Berührung aus den Angeln. Außer eineigen Krebsen, die es sich in der Dunkelheit dahinter häuslich eingerichtet hatten und nun verärgert das Weite suchten, waren die Schränke praktisch leer - ein paar schwarze Fetzen zeugten noch davon, dass dort wohl früher einmal die Garderobe des Kapitäns gehangen hatte.
Also der Schreibtisch. Dieser hatte dank seiner Massivität dem Zahn der Zeit Widerstand leisten können. In seiner Vorderseite waren drei reich verzierte Schubladen eingelassen, die sich, als Harry versuchsweise und ohne viel Hoffnung an ihnen zog, als äußerst verschlossen erwiesen.
Nachdem er eine Weile erfolglos mit seinem Messer im Schlüsselloch gebohrt hatte, kamen die beiden Taucher in den Raum - diesmal mit einer Brechstange bewaffnet. Anscheinend hatten sie das gleiche Ziel wie der Gnom gewählt: Er konnte sich gerade noch ein Stück zurückziehen, als die Männer auf den Schreibtisch zu gingen.
Harrys Verstand raste. Was tun? Langsam war es wieder Zeit, zurück zum Boot zu schwimmen und Luft zu holen, aber dann riskierte er, dass die Gilde die Dokumente fand. Andererseits konnte er nicht an den Schreibtisch, solange die beiden hier waren - und selbst wenn, wie sollte er ihn öffnen?
Er brauchte einen Plan, und zwar schnell.

Mückensturm war aufgefallen, dass die Taucher gegenüber misstrauisch zu werden schienen, und hatte seine Truppe deshalb dazu verdonnert, "fischeriger" zu wirken, wie er sich ausdrückte.
Das Ergebnis war, dass Ikari unmotivierte kreisende Bewegungen mit dem Netz machte, während Dyn mit einem Stofffetzen das Deck abwischte und dabei sogenannte "Schänties" gröhlte****. Hein, der Junge von der Fischergilde, hatte sich seine Wollmütze über die Ohren gezogen und versuchte, das Treiben zu ignorieren.
Sie hatten gesehen, wie die Gildentaucher ein großes Gemälde an einem Kran aus dem Wasser zogen, und der Abteilungsleiter der DOG versuchte fieberhaft, sich einen Alternativplan zu überlegen, falls die Gilde schneller sein sollte.

Der Gnomenfisch schlängelte sich an den Tauchern vorbei, die gerade mit dem Brecheisen der zweiten Schublade zu Leibe rückten. Die erste hatte eine zur Hälfte verrottete Seekarte enthalten, die die ohne viel Begeisterung in einer Tasche landete.
Keiner von beiden schenkte dem Gnom Beachtung, als er an ihnen vorbei zurück in den Korridor schwamm.
Aus sicherer Entfernung beobachtete Harry die Taucher bei ihrer Arbeit. Die Luft wurde ihm langsam knapp, aber wenn sein Plan Erfolg haben sollte, musste er noch warten. Mit einer Hand hielt er sein Messer fest umklammert, während er wartete.
Die zweite Schublade gab nach.
Harry sah von seinem Beobachtungsposten, wie die beiden Männer wild mit den Armen fuchtelten (jedenfalls so wild, wie das unter Wasser möglich ist), und mehrere Schmuckstücke aus der Lade holten, die alle in die Tasche wanderten.
Bunte Muster begannen, am Rande des Sichtfeldes des Gnoms zu flimmern. Beeilt euch! flüsterte er in Gedanken den Tauchern zu, während er langsam das Messer bereit machte.
Die Taucher wandten sich der letzten Lade zu und setzten das Brecheisen an. Wenn die Papiere dort nicht drin waren, dann war sein ganzer Plan umsonst. Aber die beiden Männer mussten sich beeilen, denn lange hielt er hier nicht mehr durch.
Einer der Männer stemmte sich gegen die Stange...
...und sie rutschte ab.
Macht zu! rief Harry ihnen gedanklich zu. Schwarze Flecken begannen, vor seinen Augen obszöne Tänze aufzuführen. Zehn Sekunden noch, versprach er sich. Wenn sie es dann noch nicht geschafft hatten, musste Mücke sich etwas anderes ausdenken.
Der Taucher setzte das Brecheisen erneut an,
(acht)
und drückte es nach unten.
(sieben)
Nichts rührte sich.
(sechs)
Die Anstrengung stand dem Mann ins Gesicht geschrieben,
(fünf)
als er sich mit aller Kraft auf das Eisen lehnte.
(vier)
Etwas knirschte,
(drei)
und die Schublade brach auf.
Harry stach mit seinem Messer in einen der Schläuche, die sich neben ihm durch den Korridor schlängelten und die Taucher mit Luft versorgten. Schnell presste er seinen Mund auf das Loch und sog begierig die frische Atemluft ein. Nach drei tiefen Zügen drehte er sich um und sah, wie einer der Taucher den anderen am Arm packte und Handzeichen machte. Der andere nahm sofort seine Atemmaske ab und drückte sie seinem Kollegen, der seine ebenfalls abgenommen hatte, aufs Gesicht. Zusammen drehten sie sich um und schwammen in Richtung Deck.
Harry jubelte sich innerlich zu: Sein Plan ging auf! Die Taucher hatten keine Zeit mehr gehabt, in die letzte Schublade zu sehen.
Er drückte sich in eine Ecke des Korridors, als die Taucher an ihm vorbei schwammen. Dann schwamm er schnell in die Kajüte und sah in die Lade: Darin lag tatsächlich eine eiserne Schatulle, die noch intakt zu sein schien.
Nun gut, das Aufmachen musste warten... Harry packte die Schatulle, die etwas größer war als er selbst, mit beiden Händen und schleppte sie nach draußen.
Der Taucher, dessen Schlauch er zerstochen hatte, war inzwischen anscheinend zur Oberfläche geschwommen, und der andere kehrte gerade in diesem Moment wieder zurück. Harry konnte sich gerade noch hinter der Reling verstecken, um nicht gesehen zu werden - mit einer Schatulle in den Armen hätte ihm wohl auch seine Fischverkleidung nichts genützt.
Am Fischerboot angekommen atmete er noch einmal frische Luft ein und legte dann die Schatulle ins Netz und sich selber darauf. Dann zog er einmal kräftig am Atemschlauch.

"Mücke, da ist das Signal!" zischte Ikari, als er das Ziehen am Schlauch bemerkte.
"Na dann: Matrosen - holt das Netz ein!"
Gehorsam zogen Ikari und Dyn an den Seilen, und aus dem Wasser tauchte ein etwas merkwürdig im Netz liegender Fisch auf - von der Art, wie er die Flossen ausgebreitet hatte, sah es so aus, als würde er versuchen, etwas zu verbergen, was unter ihm lag. Aber um solche Feinheiten zu erkennen, waren die Gildentaucher eindeutig zu weit entfernt - alles, was sie sehen konnten, war, dass die "harmlosen Irren" anscheinend nicht viel gefangen hatten.
"Nicht euer Tag heute, was?" rief einer von ihnen, der gerade seinen Schlauch untersuchte, um die undichte Stelle zu finden, und deshalb froh war, dass es anderen auch nicht besser ging, hämisch hinüber.
"Nich wirklich, min Jung", rief Mückensturm lächelnd zurück, während Dyn hinter dem Rücken des Fähnrichs Gnom und Schatulle aus dem Netz nahm. "Ich glaub, wir versuchen's doch lewer woanners. Volle Fahrt voraus, Hein - Schotten dicht und Pinne geradeaus!"
Hein seufzte und holte den Anker ein, woraufhin das Boot wieder Kurs Richtung Ankh-Morpork nahm.

"Jetzt bin ich mal gespannt, was das für Dokumente sind", meinte Mückensturm, nachdem sie außer Sichtweite der Taucher waren, und betrachtete die Schatulle.
"Wenn da wirklich die Dokumente drin sind", entgegnete Harry skeptisch. "Vielleicht waren sie auch in einem ganz anderen Raum oder sind längst verrottet."
"Das werden wir gleich sehen." Der Fähnrich spannte seine Armbrust und schoss auf das Schloss. Metallsplitter sprangen in alle Richtungen, und diverse Wächter suchten fluchend hinter- und untereinander Deckung.
Nachdem das Chaos sich etwas gelegt hatte, sah Mückensturm vorsichtig hinter Dyn hervor. Die Vorderseite der Schatulle war zerstört - das vom Wasser schon arg angegriffene Metall hatte dem Armbrustbolzen kaum Widerstand leisten können. Im Inneren der Schatulle befand sich etwas Wasser und - tatsächlich - eine zwar schon arg angegriffene aber dennoch intakte Schriftrolle.
Mückensturm nahm das Dokument vom Boden auf. "Sieht so aus, als hätten wir es gefunden! 'Im Interesse der Stadt'... mal sehen, was Vetinari so wichtig findet." Er machte sich daran, das Pergament zu entrollen.
Das war Ölzweigs Signal: Die Taube, die sich die ganze Zeit über auf dem Mast in der Tagelage des Bootes versteckt hatte, schwang sich von ihrem Aussichtsposten herab und griff aus einem Sturzflug heraus mit den Krallen nach der Rolle. Die Wächter waren völlig überrumpelt und merkte erst, was vor sich ging, als der Vogel mit dem Pergament schon wieder an Höhe gewann.
"Na warte, du..." knurrte Mückensturm und spannte seine Armbrust erneut.
"Halt, warte!" rief Harry aus Dyns Hemdtasche, wo er sich versteckt hatte, als Mücke die Schatulle aufgeschossen hatte. "Das muss diese... diese Ölzweig sein. Du willst doch nicht dem Patrizier erzählen, dass du seine Brieftaube erschossen hast, oder?"
Widerwillig senkte der Fähnrich die Armbrust wieder und sah zu, wie der Vogel geradewegs Richtung Ankh-Morpork flog. "Stimmt. Aber ich hätte gerne gewusst, was für ein Dokument das war."

Und wie es sich für ein Ende gehört, zoomt die Kamera zurück und zeigt das offene Meer - und in der Mitte des Bildes sieht man ein Boot, dessen Insassen während ihrer Heimfahrt über einem Geheimnis grübeln, das wahrscheinlich für immer eines bleiben wird.


ENDE


* Zum Beispiel die Gilde der "Leute-die-Seile-senkrecht-aus-Krügen-emporsteigen-lassen-Schlangen-beschwören-auf-Nagelbrettern-sitzen-und-über-glühende-Kohlen-laufen"**, deren Vorsitzender und einziges Mitglied Jussuf ben Haschmich, ein klatschianischer Einwanderer, ist.

** Das Gesetz zur Wahrung der Morporkianischen Sprache verlangt, dass Gildenbezeichnungen keine Fremdwörter enthalten dürfen - deshalb wurde Jussufs Antrag auf den Namen "Fakirsgilde" sehr zu seinem Leidwesen abgelehnt.

*** Jedenfalls extrem gemessen an der Körpergröße eines durchschnittlichen Gnoms.

**** Zum Beispiel den vom "Morporker Dreimaster", oder "Wir lagen vor XXXX"



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Feedback:

Von D-N-T Vinni

22.03.2002 14:21

Besser spät als nie und besser ich als niemand *g*

Vorneweg will ich sagen, dass dein Stil auf jeden Fall zu den Besten gehört die es in der Wache gibt. Die Wortwahl ist immer passend un anschaulich (jaja, ein blödes Deutsch-Unterrichts-Wort *g*) und die Adjektive und Vergleiche wissen auch zu gefallen.

Mir gefiel auch sehr Gut wie du unsere Abteilung rübergebracht hast, so was sollte in DOG-Singles/Coops häufiger Vorkommen.
Besonders die Stellen an denen Mücke, Ikari und Dyn sich als Seemänner versuchen..da hab ich mich schlappgelacht.

Was fehlte zum 'Notenpunkt' (ich nenn es jetzt einfach mal so) 15 ?
Das ist meiner Meinung nach hier schwer zu sagen, da die Single (so scheint es mir zumindest) gar nicht auf eine so hohe Note ausgelegt war. Es war halt ein schön geschriebenes, witziges Abenteuer des G.i.A. :)

Von Atera

22.03.2002 14:49

Ja, kann Vinni nur zustimmen. Es war eine amüsante, witzige Single, die man gut lesen konnte.
Wie gesagt, beim nächsten Mal wirst du mit einer umfangreichereren Story noch mehr Punkte bekommen, da bin ich mir sicher.

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