Das Schweigen der Nacht

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von Hauptgefreiter Tunnelblick (RUM)
Online seit 26. 09. 2001
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Es wird nicht mehr unlinzenziert geraubt und gemordet!
Eigentlich ganz schön, denn durch gut formulierte Monatsberichte an Rince, schöpft dieser keinen Verdacht. Aber lange kann das nicht mehr bleiben, wer erklärt sich freiwillig AMs Straßen zu überprüfen?

Dafür vergebene Note: 15


„Wir haben ein klitzekleines Problem. Kaum der Rede wert. Reine Bürokratie. Im allerschlimmsten Falle sitzen wir alle in zwei Wochen auf der Straße.“
Nach dieser Einleitung hatte Hauptmann Lewton tatsächlich die ungeteilte Aufmerksamkeit der gesamten Abteilung „Raub und Unlizensierter Mord“ – das war ihm noch nie gelungen. Nur konnte er sich wenig dafür kaufen, wenn er in zwei Wochen wirklich eine neue Karriere als Türsteher, Söldner oder Penner anstreben durfte.
„Was fällt euch an meinem Schreibtisch auf?“
Die gesamte Abteilung starrte den Tisch an. Ein alter, nicht besonders edler Tisch aus dunklem Holz, mit mehreren Kaffeerändern und Staub, der sich schon seit Jahrzehnten in den Fugen der Maserung einnistete. Ein Tisch mit einer Geschichte. Kein Tisch, den sie schon einmal gesehen hatten.
Irina traute sich als erste. „Ist der neu?“
Lewtons Augenbrauen zogen sich unheilverkündend zusammen.
„Nein, der Tisch ist nicht neu. Der Tisch ist alt. Uralt. Und er steht schon seit weit über zwei Jahren unbewegt an dieser Stelle. Nur liegen da normal etwa 2500 Blatt an unerledigten Vorgängen, abzuschließenden Akten, eingegangenen Hinweisen und abgelaufenen Lotteriescheinen drauf, so dass man ihn nicht sieht. Und genau DAS, liebe Kollegen, ist unser Problem.“
Erwartungsvoll starrte er in acht leere Augenpaare. Es war offensichtlich, dass er seine Truppe unterwegs verloren hatte. Also nahm er einen neuen Anlauf.
„Dieser Tisch ist leer. Sonst ist er voll. Das hier ist der Hinweiseingang,“ – leer – „das der Zu-Erledigen-Korb,“ - leer – „das der Überfällig-Stapel,“ - eine freie Fläche auf dem Tisch – „und das die Nicht-So-Dringend-Schublade.“ Er zeigte auf den Papierkorb – leer. „Mit anderen Worten: nach meinem Aktenstand hat diese Abteilung erstens nichts zu tun und zweitens seit Wochen auch nichts getan. Kein Straßenraub, kein Toter in der Kneipe. Nicht mal ein mieser kleiner verlorener Geldbeutel – einfach Schweigen in der Nacht. Was sollen wir jetzt bitte machen?“
Granit wagte einen Versuch.
„Urlaub?“
Ein Fehler, wie sich schnell herausstellte.
„Oh, der Herr Hauptgefreite möchte es sich ein bisschen gutgehen lassen in den Spitzhornbergen, ja? Als hätten wir hier nichts zu tun, ja?“
Der Troll kratzte sich am Kopf. Er kam nicht mit, aber er hatte das sichere Gefühl, dass es diesmal nicht seine Schuld war.
„Sir – wir seit Wochen nichts zu tun haben.
„Und genau das ist unser Problem!“
Allmählich hatte Lewton das Gefühl, sich im Kreis zu drehen. Noch immer hatte keiner seiner Mitarbeiter begriffen, worauf er hinaus wollte.
„Also – versuchen wir das noch einmal. Unsere Abteilung hat seit Wochen keinen Handschlag getan. Das ist nicht mal ein Vorwurf an Euch – ohne Verbrechen keine Verfolgung, das gebe ich ja zu. Hier ist noch ein einziger Bericht, damit kann ich Rince noch ein paar Tage beschäftigen.“ Er zog ein kleines Blatt aus einer verborgenen Schublade. „Wenn der irgendwie verschwindet, haben wir NICHTS MEHR. Der letzte Monatsbericht sah noch ganz gut aus, aber was soll ich denn bitte in den nächsten schreiben? 'Keinerlei Verbrechen in der Stadt, die Abteilung fährt zum Schlittenfahren nach Kupferkopf'?“
„Das ist keine so schlechte Idee“, meldete sich Schmiedehammer. Wie die meisten Zwerge neigte er dazu, alle Aussagen wörtlich zu nehmen. „Ich habe Verwandte da, die ich eh schon lange besuchen wollte. Vielleicht kann ich uns Gästezimmer...“
„RUHE!!! Was meint ihr, passiert, wenn ich so einen Bericht an Rince schicke? Im Namen der Stadt verleihe ich dir, Hauptmann Lewton, für überdurchschnittliche effektive Verbrechensbekämpfung das Ehrenband der Wache. Eure Abteilung wird wegen Überflüssigkeit geschlossen. Räum deinen Schreibtisch ab und teil deinen Mitarbeitern mit, sie sind gefeuert. Wollt ihr das?“
Trillian nickte nachdenklich. „Scheint, als hätten wir ein Problem.“
Der Hauptmann seufzte auf. „Danke. Wenigstens einer hat's begriffen. Und was sollen wir jetzt machen? Ich warte auf Vorschläge.“
„Wir fahren könnten nach Kupferkopf in die Spitzhornberge...“
„Granit!“
„Wenn wir die Verbrecher vielleicht lieb bitten, dass sie wieder mit dem Stehlen anfangen...“
Gefreite Pigeon war noch nicht lang bei der Wache.
„Nein, so geht man nicht mit Verbrechern um.“ Das war Schmiedehammer. „Wir sollten ihnen mit der Axt drohen, damit sie wieder Unrecht tun.“
„Wir werden rauben, stehlen und morden.“
„Tunnelblick, nimm Deine Medizin.“
„Halt!“ Lewton hob die linke Hand. „Tunnelblick, sag das nochmal.“
Überrascht schüttelte sich Tunnelblick, als wache er aus einer Trance auf.
„Was? Rauben, Stehlen und Morden?“
„Das ist es!“ Hauptmann Lewton klatschte vor Freude in die Hände. Sieben Wächter blickten sich besorgt an. Ein gefährlicher Irrer in der Abteilung hatte ihnen eigentlich gereicht. Ob alle Werwölfe zu diesem Leiden neigten? Am allerwenigsten verstand aber Tunnelblick. Er hatte überhaupt nicht zugehört und nur gesagt, was ihm gerade durch den Kopf ging.
„Ihr habt es nicht kapiert! Tunnelblick hat die einzige brauchbare Idee. Es gibt keine Verbrechen in der Stadt, und ohne Verbrechen kann RUM dichtmachen. Ich ordne hiermit zwei Wächter ab, unlizensierte Diebstähle zu begehen. Vom Morden sehen wir im Moment noch ab. Der Rest unterstützt unseren Püschologen dabei, herauszufinden, warum unsere Stammkunden uns so schmählich im Stich lassen. Freiwillige für das Raubkommando?“
Eine Hand flog nach oben.
„Irina? So enthusiastisch?“
„Äh – ja. Ich... wollte schon immer einmal erfahren, was in so einem Kriminellen bei einem Raubzug vorgeht. Weil ich mich so gar nicht da hineinversetzen kann.“
„So? Na, dann kann man das ganze ja sogar noch als Fortbildungsmaßnahme sehen. Das muss ich bloß im Bericht schön formulieren.“
Hauptmann Lewton hatte keine Ahnung, dass Irinas Lieblingshobby unlizensierte Einbrüche waren. Was Kinder reicher Eltern halt so machen. In letzter Zeit allerdings – und nach einem ordentlichen Denkzettel einiger Kollegen – hatte sie sich hierbei doch deutlich einschränken müssen und wollte diese Chance auf keinen Fall verstreichen lassen. Korporal Panther, der sie seither im Auge behielt, konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Irina klaute auf Befehl des Hauptmanns! Das gefiel dem Vampir, dem man nicht zu Unrecht einen Hang zum Zynismus nachsagte.
Lewton plante weiter. „Denk daran, die Einbrüche müssen genug Aufsehen erregen, dass es so aussieht, als hätten wir hier Arbeit, kapiert? So. Noch jemand für das Kommando?“
Angie LeFays Hand stieg zögerlich in die Höhe, stieß gegen eine an die Wand gelehnte Hellebarde, die zur Seite kippte und funkenschlagend auf Granit prallte. Die Funken setzten die Schwanzfedern der Taube auf Pigeons Schulter in Brand. Vor dem Versuch, die Flammen auszuschlagen, brachte sich der Vogel auf den Schreibtisch in Sicherheit, wo sich Lewtons letzter Bericht prompt in Asche verwandelte.
„Angie.“ Lewton lächelte ein angestrengtes Sei-froh-dass-du-nicht-hörst-was-ich-jetzt-denke-Lächeln. „Um das Aufsehen müssen wir uns dann wohl keine Sorgen machen.“
„Aber wieso denn?“
Wortlos goss der Hauptmann ein Glas Wasser auf das brennende Papier, das die Abteilung noch ein paar Tage vor dem Untergang gerettet hätte.
„Das weh getan hat“, maulte Granit, fand aber keine weitere Beachtung. Pigeon kümmerte sich um den immer noch schwelenden Vogel und warf Angie böse Blicke zu. Lewton fuhr fort.
„Also. Das Überfallkommando steht. Schmiede, du bist sowieso zu GRUND abkommandiert. Geh mal rüber – je weniger Leute tagsüber in der Abteilung sind, desto weniger Resultate müssen wir am Ende des Monats liefern. Gut, fassen wir zusammen: Irina und Angie erleichtern die Bürger um ihr sauer verdientes Geld, und denkt bitte daran, vorher eure Uniformen abzulegen. Tunnelblick findet heraus, was die Verbrecher so friedlich macht, Panther, Tricia, Granit und Pigeon schwärmen aus und sammeln Informationen, die Tunnel helfen könnten. Lagebesprechung heute abend im Eimer. Alles klar? Los!“
Korporal Panther zuckte zusammen. Zwar konnte sich der Vampir mit einer starken Sonnenschutzcreme auch tagsüber draußen bewegen, er bevorzugte aber die Nachtschicht. Ein Blick in Lewtons Gesicht zeigte aber schon, dass Widerspruch zwecklos war.
Im Gehen vergewisserte Granit sich noch einmal. „Wir also nicht fahren nach Kupferkopf?“
Trillian schob den Troll hinaus, während schon der Hauptmann schon rot anlief.
„Geh, Granit, geh, ich erklär's dir draußen.“

Es gab eigentlich nur ein Ding, dass Tunnelblick an seinem Job nicht mochte. Nein, das stimmte nicht ganz. Er mochte ihn genauso wenig wie alle anderen Wächter auch, aber es gab eine Sache, die ihn ganz besonders wurmte: er wurde immer nur auf die von vornherein unlösbaren Fälle angesetzt. Immer musste er herausfinden, warum die Verbrechen geschahen. Diesmal lag der Fall noch viel schlimmer: er sollte herausfinden, warum sie nicht geschahen. In den Detektivromanen, die er so gerne las, hätte der Held sich das nicht bieten lassen: „So, Hauptmann, das reicht. Was genug ist, ist genug. Das steht nicht in meiner Jobbeschreibung.“ Das Dumme war nur, immer, wenn er schon vor Lewtons Tür stand, sah er den Zettel mit den alten Stellenanzeigen, und leider, leider: es stand in seiner Jobbeschreibung.
So saß er auch diesmal vor dem Nichts und versuchte, darauf aufzubauen.
„Also gut“, sagte er zu sich. „Wo fangen wir an?“
Wie wäre es, wenn wir...
Ach sei doch still, du hast doch keine Ahnung. Er muss...
Ihr wisst doch alle nicht Bescheid. Er...

„RUHE! Könnt ihr mich nicht einmal in Ruhe nachdenken lassen? Das hier ist wichtig!“
OK.
OK.
OK.

Tunnelblick konnte es kaum fassen. Zum ersten Mal, seit er denken konnte, ließen ihn die Stimmen in Ruhe. Sie hatten wohl verstanden, dass jetzt keine Zeit für ihren alltäglichen Kleinkrieg war. Diese Ruhe musste er nutzen.
„Gut. Noch einmal. Was haben wir bisher?“
Nichts. Er hatte einfach gar nichts. Normalerweise gab es wenigstens Indizien zum Auswerten, aber diesmal war das einzig Ungewöhnliche, das schlicht nichts ungewöhnliches passierte. Und das war nicht viel.
„Gut. Ganz von vorne. Es werden also keine unlizensierten Verbrechen mehr begangen, und zwar seit... Seit wann eigentlich?“
Er schob eine kurze Nachricht fürs Archiv in die Rohrpost: Brauche sämtliche RUM-Akten aus dem letzten halben Jahr. Eilig.
Schon drei Minuten später war die Antwort da: Komm und hol sie dir.
Sorgfältig formulierte er seine Antwort: Bitte sei so gut und lass sie mir bringen, oder ihr werdet alle einer nach dem anderen eines langsamen qualvollen Todes sterben! Er las das Geschriebene durch und fügte noch !!!! hinzu. Fünf Ausrufezeichen funktionierten immer, wenn er jemanden nervös machen wollte.
In der Tat schob sich etwa zehn Minuten später ein turmhoher Aktenstapel in sein Büro, an dessen Unterseite ein ihm unbekannter Zwerg befestigt war. Dieser ließ den Papierberg auf den Schreibtisch fallen, wobei sich die Akten zwar in hohem Bogen verteilten, aber wie durch ein Wunder in chronologischer Reihenfolge liegenblieben. Wahrscheinlich gehörte der Trick zur Bibliothekarsausbildung.
„So, da hast du deinen Scheiß. Komm ja nicht auf die Idee, mir nochmal...“
Tunnelblick knipste das Lächeln an, bei dem Mütter immer ihre Kinder an sich zogen.
„Weißt du eigentlich, dass deine Hintertür nicht richtig schließt?“
Ohne weiteres Wort, aber ziemlich hastig verzog sich der Archivar wieder in den Keller.
Die nächsten zwei Stunden verbrachte Tunnelblick mit wenig spannender Recherche, dann war seine Statistik fertig. Sie zeigte zunächst ein erstes leichtes Abnehmen der Verbrechensrate vor drei Monaten, dann ging die Quote jede Woche schneller in den Keller. Seit drei Wochen verharrte sie bei Null. Die Kurve sah aus wie eine Flugbahn beim Versuch, mit selbstgebastelten Flügeln vom Dach zu starten.
„Schau mal an!“ entfuhr es dem Püschologen. „Am Anfang haben also nur wenige Diebe aufgehört. Wenn diese dann ihre Kollegen überreden, auch aufzuhören, und diese dann wieder... Wie kann das sein?“
Scharfe Denkfalten gruben sich in seine Stirn. Er war froh, dass die Stimmen ihn heute einigermaßen in Ruhe ließen, bis auf den kleinen Aussetzer vorhin bei der Besprechung. Sonst waren sie ständig da und begleiteten ihn, ob es ihm passte oder nicht – meistens nicht. Jetzt aber, da es drauf ankam, standen sie plötzlich wie ein Mann hinter seiner Hauptpersönlichkeit. Beeindruckend.
DAS WAR ES! Ankh-Morporks Verbrecherwelt sprach mit tausenden Stimmen, ein ständiges leises Hintergrundrauschen von Blut, Gier und Verderben. Seit Wochen aber herrschte Stille. Alle diese tausend Stimmen hielten auf einmal inne, sie hatten sich organisiert und verfolgten ein gemeinsames Ziel. Menschen, die ihre Unabhängigkeit so wichtig nahmen, dass sie sich lieber von einer Gilde umbringen ließen als ihr beizutreten. Nur eine wirklich starke Führungspersönlichkeit konnte so individualistische Geister einen. Diese Person mussten sie finden, wenn sie das „Schweigen der Nacht“ brechen wollten.
Eilig kritzelte er eine Nachricht für den Taubenschlag und warf sie in die Rohrpost. Er zögerte kurz und ging dann noch einmal zur Rohrmündung. Freundlich winkte er die Zustelldämonen zu sich heran:
„Und wenn der Schlaukopf da oben eine witzige Antwort schreibt, sagt ihm, ich weiß, wo er wohnt.“
Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und wart


Die zu Tunnelblicks Unterstützung abgeordneten Wächter begannen, wo jede Untersuchung beginnt. Im Eimer. Mit einem großen Bier. Jedenfalls Trillian trank Bier. Pigeon begnügte sich mit Regenwasser, Granit trank, was immer Trolle trinken, und keiner wollte so genau wissen, was das rote Zeug in Panthers Glas war.
„So.. soll.. sollten wir nich... nicht...“
Was immer Granit da trank, es wirkte schnell. Der Troll zeigt überhaupt keine Reaktion, als eine Brieftaube durchs Fenster schoss und sich genau auf seiner Schulter niederließ.
„Wie hat sie uns gefunden? Wir haben unsere Tauben doch bei uns!“
Pigeon half weiter. Mit Tauben kannte sie sich aus. Schließlich war sie selbst einmal eine gewesen.
„Das ist keine von unseren Tauben. Das ist die Wachhaus-Eimer-Linie.“
„Aber woher weiß Tunnelblick, dass wir hier sind?“
Betroffen sahen sich die Wächter an. Waren sie wirklich so ausrechenbar?
„Los, lies vor. Was schreibt er?“
Trillian nestelte an der Nachricht herum. „Moment. So, ich hab's. Freischaffende Verbrecher der Stadt haben Organisation gebildet. Bitte Anführer herausfinden. Na, das ist doch schon mal etwas! Los, trinkt aus, und dann klappern wir unsere Informanten ab!“

Sorgsam faltete Tunnelblick die Taubennachricht auf, die durch die Rohrpost gekommen war.
Informanten sind sehr verschüchtert. Mehrere Hinweise auf Herrn Barbas Rohwald, der wohl einigen Einfluss in der Verbrecherszene gewonnen hat. Unbescholtener Kaufmann.
Wenn du uns suchst, wir sind im Eimer.

Herr Rohwald also. Nun, Herr Rohwald würde bald Besuch bekommen.

***


Die Tür öffnete sich, und einträchtig scherzend traten Knochen-Willy und Tom die Trümmernase aus dem Haus. Tunnelblick traute seinen Augen nicht. Normalerweise verwandelte sich die Straße zum Kriegsgebiet, wenn die beiden sich einander auch nur näherten. Mit hängender Kinnlade wandte er sich wieder seinem Ziel zu.
Er stand vor einem recht imposanten Bürgerhaus, von dessen Fassade jedoch an ein oder zwei Stellen die Farbe blätterte. Offensichtlich hatten die Rohwalds zumindest einmal Geld und Einfluss gehabt, hatten jedoch ihre gesellschaftliche Position nicht halten können. Der Püschologe fühlte sich etwas merkwürdig bei dem Besuch. Nach seinen Recherchen hatte die alteingesessene Kaufmannsfamilie niemals etwas unrechtes getan – damit war die Dynastie im Haifischbecken Ankh-Morpork natürlich dem Untergang geweiht gewesen. Aber jetzt stand er vor der Tür, um einen Mann zu verhören, weil er andere davon abhielt, Unrecht zu tun. Dieser Fall driftete in immer eigenartigere Fahrwasser.
Vorsichtig bediente der Hauptgefreite den massiven Türklopfer. Eine kleine Luke in der Türe öffnete sich, und ein Paar Butleraugen sezierten den Wächter.
„Sie wünschen?“
„Ich – äh – würde gerne mit Herrn Rohwald sprechen.“
„Bedaure, Herr Rohwald hat kein Interesse an Unterhaltungen mit Ihresgleichen.“
Die Luke war schon wieder zugeschossen, und das Adrenalin zog rote Schleier vor Tunnelblicks Augen. Er hatte alle Mühe, die Verwandlung zum Wolf zu verhindern. Da hörte er eine joviale Stimme durch die Tür: „Aber, aber, Chillum, wir wollen doch nicht unhöflich sein. Bitte öffnen Sie unserem Gast.“
Man sah den missbilligenden Blick, den Chillum seinem Herrn zuwarf, beinahe durch die geschlossene Tür. Dennoch öffnete der Butler und winkte den Wächter herein. Seine Miene spiegelte allzu deutlich wieder, was er von dem Besuch hielt: Wurm. Herr Barbas Rohwald hingegen, im hinteren Teil der Eingangshalle und mit einem rotsamtenen Morgenmantel gekleidet, war die Freundlichkeit selbst. Ein imposanter Mann mit leichtem Bauchansatz, von fröhlichem Naturell und von einer Stimme, die Operngebäude zum Vibrieren gebracht hätte. Man hätte ihn viel eher für einen Schauspieler als für einen Kaufmann gehalten. Seine Paraderolle wäre wohl der Schneevater gewesen. Man wartete förmlich auf das Ho! Ho! Ho! Seine Bewegungen allerdings wirkten nicht gemütlich, sondern kraftvoll. Rohwald wusste das gute Leben zu schätzen, doch er hielt seine Muskeln stark und geschmeidig.
Tunnelblick versuchte den Händler einzuschätzen. Seine Werwolfsinne wollten ihn warnen: dieser Mann roch falsch. Auch die Stimmen in seinem Kopf hatten abgestimmt und riefen ihm das Ergebnis zu: Bloß weg hier! Außerdem war zuviel Frohsinn bei einem geistig gesunden Menschen verdächtig. Dennoch: Fröhlichkeit war laut Gesetz kein Verbrechen, und sonst hatte sich dieser Mann nichts zu schulden kommen lassen.
„Nur herein, nur herein mit Ihnen, junger Freund. Wie kann ich der Wache behilflich sein?“
Der Püschologe atmete durch, dann kam er zur Sache.
„Wir... Ich... äh, es ist mir ein wenig peinlich, Sie behelligen zu müssen, aber möglicherweise können Sie uns bei einigen Nachforschungen helfen.“
„Oh, nur zu, nur zu, stellen Sie Ihre Fragen! Es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen zu helfen!“
„Gut. Äh, danke. Ähm – sagen Sie, Herr Rohwald, es gibt Gerüchte, dass Sie Kontakte zur Unterwelt von Ankh-Morpork unterhalten. Ich will damit natürlich nicht sagen...“
„Aber ja, aber ja. Sehr enge Kontakte. Die Kriminellen der Stadt fressen mir praktisch aus der Hand.“
Der Wächter stand sprachlos da. Dieses Gespräch verlief überhaupt nicht nach Plan. In den Büchern gestand der Täter nicht einfach, er verhaspelte sich und wurde dann vom Helden festgenagelt. Allein ein Verstoß gegen dieses Gesetz war in Tunnelblicks Augen schon ein Verbrechen. Zudem war es ihm zuwider, wenn Leute ihre Sätze mit „Oh“ oder Wiederholungen begannen. Das hatte immer so einen herablassenden Beiklang.
Rohwald ließ die Pause wirken. Er hatte wirklich eine enorme Ausstrahlung. Tunnelblick konnte sich vorstellen, dass dieser Mann einen gewöhnlichen Kriminellen mit seiner Art schwer beeindrucken konnte. Nach kurzer Zeit fing sich der Wächter wieder.
„Darf ich fragen, welcher Art Ihre... Kontakte sind?“
„Aber ja, natürlich. Ich bin der Streiksprecher der gildenfreien Diebe und Mörder.“
„STREIK?“
„Aber ja, aber ja. Ich hätte gedacht, die Wache hätte inzwischen...“
„DIE DIEBE UND MÖRDER STREIKEN?“
„Aber ja. Sie...“
„WOFÜR?“
„Oh, jeder Streik will doch immer dasselbe: bessere Arbeitsbedingungen. Keine Verurteilung durch die Gilden, Fangquoten für die Wache. Jeder lizenzlose Dieb in der Stadt soll hocherhobenen Hauptes die Straße passieren können.“
Tunnelblick war verblüfft, und das ärgerte ihn. Mühsam versuchte er die Fakten zu sortieren.
„Gut. Moment. Mal sehen, ob ich mitgekommen bin. Sie haben die Diebe und Mörder dieser Stadt dazu gebracht, das Morden und Stehlen einzustellen. Sie haben sie glauben gemacht, dass sie straflos das Gesetz brechen können, wenn sie eine Zeit lang stillhalten.“
„Oh ja, natürlich! Dafür werden die Gilden schon sorgen!“
„Welche Gilden?“
„Nun, die Tischler, die keine Särge mehr zimmern, die Steinmetze ohne Grabsteinaufträge; auch die Pfandleiher dürften in Schwierigkeiten kommen, wenn ihnen keine Hehlerware mehr angeboten wird.“
Das hatte Hand und Fuß.
„Ich verstehe. Damit könnte man den Patrizier tatsächlich unter Druck setzen. Aber warum? Was haben Sie davon?“
„Sehen Sie, es ist mir gelungen, eine Gruppe zu einen, die stolz darauf war, dass jeder für sich arbeitet. Ich darf mir berechtigte Hoffnungen machen, dass die Vereinigung nach Durchsetzen dieser Ziele nicht auseinanderbricht. Und eine solche Vereinigung bräuchte natürlich einen geeigneten Vorsitzenden mit entsprechendem Jahressalär. Es brächte meine finanziell etwas angeschlagene Familie wieder auf die Beine.“
Rohwald strich sich mit beiden Händen über den Bauch, als hätte er gerade eine ganz besonders köstliche Mahlzeit genossen. Tunnelblick suchte weiter nach dem Fehler in dem Plan.
„Das wäre praktisch eine zweite Diebesgilde. Sie wissen natürlich, dass die alte Gilde das niemals zulassen wird.“
„Oh, die Gilde der Diebe wird von Lord Vetinari geduldet, weil sie das Verbrechen unter Kontrolle hält. Ich denke, wir haben eindrucksvoll bewiesen, dass wir dazu besser in der Lage sind.“
„Aber die ganze Unterwelt von Ankh-Morpork hält still! Wovon leben sie, wenn sie nicht stehlen?“
„Kommen Sie, kommen Sie. Ich möchte Ihnen etwas zeigen!“
Tunnelblick folgte dem Hausherrn über eine ausladende Treppe in den ersten Stock und dort in ein Zimmer, dessen Wände eine Art Ahnengalerie bildeten. Wie sich zeigte, waren die Rohwalds sogar von Adel. Ein alter und vermutlich sehr teurer Teppich bedeckte den Boden. Eine breite Flügeltür führte auf den Balkon hinaus. Erst spät fiel Tunnelblicks Auge auf die Hauptattraktion im Raum: Unter dem jüngsten Portrait – es zeigte natürlich Herrn Barbas selbst – war ein kopfgroßer Lederbeutel mit Goldmünzen drapiert.
„Das hier ist unsere Streikkasse. Jeder Kriminelle in Ankh-Morpork hat während der letzten sechs Monate zehn Prozent seiner Einnahmen in diesen Topf eingezahlt, damit sie während der Stillhaltephase nicht am Hungertuch nagen müss
Auf einmal schoss Tunnelblicks Kopf nach oben. Er hatte den Fehler gefunden. „Und was ist, wenn jemand den Streik bricht?“
„Oh, diese Person müssten wir bedauerlicherweise liquidieren.“
„Aber der Mörder wäre dann selbst ein Streikbrecher, wegen unlizensiertem Mord! Das ergibt eine Kette, die sie...“
„Aber nein, aber nein. Aus der Streikkasse werden auch die Assassinen bezahlt. Jeder unlizensierte Dieb wird nach Möglichkeit noch am Tatort inhumiert. Ganz legal mit Quittung. Aber wer sollte schon jetzt noch stehlen? Wir wollen doch nicht hoffen, dass ein paar verzweifelte Wächter zu solchen Maßnahmen greifen. Wussten Sie, dass die Assassinengilde Kontrakte für Wächter zum Discountpreis anbietet? Nur drei Dollar pro Dienstgrad, bei zweien einer umsonst...“
Unten knallte die Tür ins Schloss. Auf einmal wirkte Rohwalds Grinsen alles andere als gutmütig.
„Jetzt aber schnell, junger Freund.“

***


Irina und Angie standen vor dem Haus eines reichen Kaufmanns. Schon bei ihren nächtlichen Touren hatte Irina das Haus als lohnendes Zielobjekt ausgemacht. Jetzt würde sich zeigen, ob ihr Gefühl richtig war. Ein Einbruch bei hellichtem Tag war aber auch für sie neu – sie bebte vor Spannung. Das allerdings wollte sie sich vor ihrer Kollegin nicht anmerken lassen.
„Völlig einfallslose Alarmanlage. Drei Dämonen, die die Straße beobachten und unerlaubte Annäherung melden. Wir gehen über das Dach und seilen uns im toten Winkel ab. Dann schneiden wir das Glas aus dem Fenster und überprüfen die Bilder. Solche Leute verstecken ihr Geld immer hinter einem Bild im Dachgeschoss. Es ist immer das gleiche. Fast langweilig.“
Beeindruckt sah Angie zu ihrer Kollegin.
„Weißt du, Irina, du bist richtig gut darin. Man könnte fast meinen, du hättest so etwas schon mal gemacht.“
„Äh... ja. Natürliche Begabung vielleicht. Keine Ahnung. Gut, dass ich bei der Wache bin – sonst könnte ich tatsächlich in Versuchung kommen. Komm, lass uns loslegen.“
Sie kletterten auf ein unbewachtes Haus am Ende der Straße und schlichen über die Dächer zu ihrem Ziel. Irina befestigte ihr Seil an einem Wasserspeier, nachdem sie sich überzeugt hatte, dass es sich nur um eine Statue handelte. Anschließend ließ sie sich einige Meter hinunter, bis sie vor einem Fenster schwebte, hielt sich mit der linken Hand am Seil fest und zog mit der rechten ein Diamantmesser aus ihrer Tasche. Nach drei raschen Schnitten griff sie durch das Loch in der Scheibe und öffnete. Ein eleganter Schwung, dann stand sie in dem Zimmer und winkte Angie zu sich herunter.
„So, da wären wir. Nimm dir die Bilder da vor, ich schaue auf dieser Seite nach. Ah, das ist ja der Safe. Immer das gleiche.“
„Irina...“
„Was? Das Ding ist nicht mal abgeschlossen? Das gibt's doch gar nicht! Dann sind die Leute hier wirklich selber schuld!“
„Irina...“
Irina schnappte sich das Geld und schüttelte den Kopf.
„So was leichtsinniges. Dabei müssten die doch wissen, dass man heutzutage niemandem mehr trauen kann. ICH hätte hier wenigstens einen Diener postiert, der gelegentlich nach dem Rechten sieht!“
„Irina!“
„Ja, was ist denn, Angie?“
„Da steht ein Diener mit einer Armbrust hinter Dir!“
„Was? Scheiße!“
Blitzschnell ließ Irina sich fallen. In der Bewegung streckte sie ein Bein und wirbelte um die eigene Achse. Sie erwischte den Bewaffneten völlig überraschend – der Diener knickte ein und ließ die Armbrust fallen. Die Freizeitdiebin kickte die Waffe außer Reichweite.
„Blödmann! Hat 'ne Fernwaffe und stellt sich direkt hinter mich! Hier, fang! Nichts wie weg!“
Irina warf Angie einen Geldbeutel zu und hastete zum Fenster. Auch Angie wollte fliehen, blieb aber mit dem Fuß in der Teppichkante hängen. Als sie fiel, flog ihr der Geldsack aus den Händen, prallte am Rahmen zurück und traf den Kopf des Dieners, der sich gerade wieder aufgerappelt hatte. Angie nutzte den kleinen Zeitgewinn zur Flucht. Mehr auf allen vieren erreichte sie das Fenster, griff nach dem Seil und ließ sich auf zur Straße hinabrutschen. Irina stand schon in den Startlöchern.
„Weg hier! Wo ist das Geld?“
„Oben! Hast du deins?“
„Ja! Weg! Los!“
„Meine Damen...“
Die Wächterinnen fuhren herum und blickten auf zwei Armbrüste in den Händen zweier Assassinen. Diese beiden waren leider schlau genug gewesen, außer Trittreichweite zu bleiben. So blieb den beiden Frauen nichts übrig, als die Hände zu heben und auf irgendeinen unwahrscheinlichen Glücksfall zu hoffen, der ihr Leben über die nächsten zwei Minuten hinaus verlängern könnte.
„Es tut mir leid, ihnen mitteilen zu müssen, dass wir einen Kontrakt auf lizenzlose Diebe haben. Wenn Sie so freundlich wären, uns Ihre Lizenz vorzuweisen, könnten wir davon absehen, Sie...“
Er brach ab. Langsam knickten seine Knie ein. Seine Augen brachen. Auch sein Kollege sackte in sich zusammen und fiel vornüber. In ihrer beider Rücken sah man die Eintrittswunden zweier Kleinkaliberbolzen.
Aus einem Hauseingang traten zwei Diebe hervor, steckten ihre Waffen ein und gingen achtlos an den Assassinenleichen vorbei.
„Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten, meine Damen. Ich kann mich nicht ganz des Eindrucks erwehren, dass Sie soeben einen nicht lizensierten Einbruch begangen haben. Wenn Sie so freundlich wären, uns die Beute zu überstellen, lässt sich diese Kleinigkeit bestimmt aus der Welt schaffen. Sie erhalten selbstverständlich eine Quittung.“
Er pflückte den Geldbeutel aus Irinas immer noch erhobener Hand, während sein Kollege die Quittung ausschrieb und sie Angie in die Hand drückte.
„So, wir empfehlen uns. Wenn Sie weiterhin in diesem Beruf tätig werden wollen, wäre es ratsam, sich bei der Gilde anzumelden. Wenn Sie das mit ihren Posten bei der Wache vereinbaren können. Wenn Sie inkognito einbrechen wollen, sollten Sie übrigens keine Wachenstiefel tragen. Das Fabrikat ist zu leicht wiederzuerkennen.“
Die beiden Diebe verschwanden in einer Seitengasse. Angie starrte immer noch ungläubig auf die Diebstahlsquittung in ihrer Hand, da fand Irina die Sprache wieder.
„Angie.“
„Ja?“
„Zwei Assassinen waren auf uns angesetzt.“
„Ja.“
„Zwei Diebe haben uns beim unlizensierten Stehlen gesehen.“
„Ja.“
„Angie – warum leben wir noch?“
Völlig außer Atem kam Tunnelblick angehetzt. Die ganze Stadt hatte er nach den beiden abgesucht. Sprachlos starrte er die Leichen und die Wächterinnen an, die ihrerseits nur mit den Schultern zucken konnten. Eine Untersuchung förderte eine beträchtliche Anzahl versteckter und absolut tödlicher Waffen zu Tage, die der Püschologe fasziniert anstarrte. Dann jedoch fiel sein Blick auf den Termindämon eines der beiden Assassinen.
„Gib mal den Dämon her, bitte. Mal sehen, was die beiden heute noch auf dem Zettel hatten.“
Es handelte sich um eines der ganz neuen Modelle ohne Mund, die völlig lautlos arbeiteten – eine wichtige Eigenschaft für das Arbeitsgerät eines Assassinen. Einträge und Abfragen wurden eingegeben, indem man den Dämon an bestimmten Stellen kitzelte, worauf Buchstaben und Zahlen auf seiner Haut erschienen. Tunnelblick nestelte eine Weile an der praktischen kleinen Alltagshilfe herum, dann gab er auf.
„Ich kann mit diesem neumodischen Kram nicht umgehen. So wie es aussieht, ist der einzige Eintrag 'Sofortige Inhumierung von lizenzlosen Dieben'.“
Plötzlich hielt der Werwolf inne und schnüffelte kurz. Dann steckte er den Dämon wieder in die Tasche des Assassinen. Damit war Irina ganz und gar nicht einverstanden.
„Was soll denn das, Tunnel? Sollten wir den Dämon nicht zur Spurensuche bringen?“
Tunnelblick sah sie ernst an und deutete mit einer Bewegung der Schulter zu einem Dach schräg hinter ihnen.
„Wenn Du Dich umschaust, Irina, siehst Du inzwischen mindestens vier Assassinen, die unterschiedlich tödliche Waffen auf uns gerichtet haben. Wir sind noch nicht tot, weil sie gesehen haben, was mit ihren Kollegen passiert ist. Sie sind vorsichtig. Aber ich glaube, ich werde jetzt nicht vor ihren Augen die Leiche eines Kollegen beklauen.“

Als sich die Abteilung abends im Eimer traf, wartete Lewton schon auf seine Mitarbeiter. Bei ihm war eine unbekannte junge Frau.
„Guten Abend allerseits. Ich habe die Ehre, Euch unsere neue verdeckte Ermittlerin vorzustellen, Gefreite Charlotta.“
Froh war der Hauptmann nicht über die Versetzung, das war ihm anzusehen. Normalerweise freute er sich über neue Mitarbeiter, die er schicken konnte – heute allerdings hieß mehr Personal größere Erwartungen am Monatsende, und das konnte ihm überhaupt nicht recht sein. Die Wächter begrüßten ihre neue Kollegin, dann berichteten sie, was ihnen im Laufe des Tages passiert war. Lewton konnte es nicht fassen.
„Was ist denn bitte aus der guten alten Zeit geworden? Früher war alles einfach! Lizenzlose Diebe wurden von der Wache verhaftet, bevor die Diebesgilde Geschnetzeltes aus ihnen macht. Heute klaut die Wache, die freien Diebe lassen uns dafür niedermetzeln, und die Diebesgilde schützt uns! Das kann doch alles gar nicht wahr sein!“
Lewton hatte den politischen Knoten gut in Worte gefasst. Wer versuchte, die jüngsten Entwicklungen nachzuvollziehen, bekam leicht geistigen Drehwurm. Was die freien Diebe vorhatten, hatte Tunnelblick herausbekommen – aber warum wurde die Wache von der Diebesgilde beschützt? Die Wächter waren ratlos. So fühlten sich wohl Seiltänzer ohne Netz in absoluter Finsternis.
„Was sollen wir jetzt machen? Selber stehlen ist eindeutig zu gefährlich, solange die Assassinen die Stadt bewachen. Den Plan können wir vergessen.“
„Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm. Vielleicht werden wir einfach in andere Abteilungen versetzt.“
Tunnelblick schaute von seinem Bier auf.
„Das wäre schlecht. Es gibt schon keine unlizensierten Diebstähle und Morde mehr. Wenn die anderen Abteilungen der Wache auch noch verstärkt werden, gibt bald überhaupt keine Verbrechen mehr in der Stadt. Bestatter, Sargtischler, Grabsteinmetze, Hehler, Geldwäscher, Schmuggler – die halbe Stadt würde pleite gehen. Das lässt der Patrizier nicht zu. Eher wird die Wache verboten.“
Es wurde still am Tisch, als ihnen die Tragweite von Tunnelblicks Worten bewusst wurde.
Lewtons Gesicht nahm einen entschlossenen Zug an.
„Es geht nicht länger nur um uns, Leute. Jetzt geht es um die Existenz der Wache!“

***


Der Plan war einfach: sie mussten die Streikkasse stehlen. Ohne Streikkasse konnten die Assassinen nicht bezahlt werden, und ohne Streikkasse hatten die freien Diebe kein Einkommen mehr. Dann mussten sie wieder anfangen, zu rauben, zu morden und zu plündern, wie in der guten alten Zeit.
So, wie Tunnelblick es vorschlug, klang es fast zu einfach: Angie und Irina als bewährtes Einbruchkommando und er selbst wegen seiner Ortskenntnis würden ins Haus gehen, Schmiedehammer und Granit warteten als Verstärkung in einem Versteck neben der Tür, Pigeon saß auf dem Dach und hielt die Seile, Lewton und Charlotta patroullierten in Wolfsgestalt die Straße, Panther übernahm als Fledermaus die Luftaufklärung, und Trillian hatte die Assassinenposten von dem Haus weggelockt.
Das Einstiegskommando hatte sich vorsichtig auf den Balkon abgeseilt. Mit Handzeichen verständigten sich die drei Wächter. Rina würde sich das Geld schnappen, Tunnel und Angie würden ihr den Rücken freihalten, um solche unangenehme Überraschungen wie am Nachmittag zu vermeiden. Große Schwierigkeiten erwarteten sie allerdings nicht. Im Erdgeschoss leuchteten Kerzen. Vermutlich hielten sich Rohwald und Chillum also unten auf. Drei schnelle Schnitte im Glas, und schon hatte Irina die Balkontür geöffnet. Sie schlichen in das dunkle Zimmer. Lautlos ergriff Tunnelblick den Geldbeutel – da entzündeten zwei Sumpfdrachen die Fackeln an der Wand. Auf einmal war der Raum in Licht getaucht. Rohwald und Chillum, beide mit Armbrüsten bewehrt, hatten sich in einer dunklen Ecke neben der Tür zur Treppe versteckt. Angeekelt schüttelte Rohwald den Kopf.
„Wächter! Ihr seid so ausrechenbar!“
Tunnelblick rechnete die Chancen aus. Der Gegner wusste nicht, dass er einen Werwolf im Haus hatte – das war ein Vorteil. Der Püschologe lächelte überlegen, bis er sah, dass zumindest Chillums Armbrustbolzen mit Silber beschlagen war. Diese Waffe konnte einen Werwolf töten. Rohwald war verflucht gut vorbereitet, das musste man ihm lassen. Seine Augen verengten sich... gleich würde er abdrücken, wenn nicht...
„Los!“
Tunnelblick warf sich auf Rohwald und rumpelte mit dem völlig überraschten Händler verkeilt die Treppe hinunter. Irina täuschte eine Flucht in Richtung Treppe an. Chillum sprang in die gleiche Richtung. Aus der Drehung warf Rina den Geldsack zu Angie, die in Richtung Fenster gestartet war. Angie fing, lief und...
stolperte im vollen Lauf über eine Teppichkante. Der Geldsack löste sich aus ihren Fingern und flog durch das offene Fenster...
doch statt auf dem Pflaster aufzuschlagen und die Münzen über die Straße zu verteilen, wurde er von der vorbeifliegenden Fledermaus aufgegriffen – Korporal Panther war auf Posten gewesen. Nur war der Sack viel zu schwer. In einer engen Spirale schoss der Vampir auf den Boden zu...
bis die kräftigen Wolfskiefer Lewtons das Leder aus der Luft schnappten. Mit rasanter Geschwindigkeit brachte der Hauptmann die Beute in Sicherheit. Chillum platzte aus der Tür heraus, konnte sich aber nicht entscheiden, auf welchen der beiden Werwölfe er schießen sollte: Lewton oder Charlotta, die ein Ablenkungsmanöver in die entgegengesetzte Richtung lief. Als er auf Lewton feuern wollte, zertrümmerte Schmiedehammers Axt die Armbrust in seinen Händen. Granit gab dem Butler einen sanften Klaps, so dass er bewusstlos zusammenbrach. Angie und Irina nutzten den Augenblick und schwangen sich an Pigeons Seilen zum gegenüberliegenden Haus, von wo sie sich über die Dächer in Sicherheit brachten.
Auf getrennten Wegen schlugen sich die Wächter zum Pseudopolisplatz durch, wo sie sich in Lewtons Büro trafen. Andächtig standen die Wächter um den Geldbeutel – soviel Golddollar auf einmal hatte noch keiner von ihnen gesehen.
Allmählich waren sie alle wieder zu Atem gekommen. Hauptmann Lewton sprach als erster wieder: „Tunnelblick, das war ein guter Plan.“
Die Züge des Hauptmanns verhärteten sich, als er in die Runde blickte.
„Wo ist Tunnelblick?“

***


Tunnelblick erwachte mit dröhnendem Schädel. Er hatte sich beim Fall den Kopf an einer Treppenstufe angeschlagen. Jetzt öffnete er vorsichtig die Augen. Er fand sich an einen Stuhl gefesselt. Rohwald hielt ihm die Armbrust unter die Nase.
„Schau an, er kommt zu sich. Das wurde aber auch Zeit. Und wohin sind jetzt wohl Ihre Kollegen mit unserer Kasse verschwunden.“
„Wahrscheinlich... Lewtons... Büro!“
Das Sprechen kostete Mühe. Aber die Worte erzielten Wirkung: Rohwald war verblüfft, Chillum sah enttäuscht aus. Vermutlich hatte er sich auf ein langes, schmerzhaftes Verhör gefreut.
„Das ist es? Sie verraten Ihre Kollegen so ohne weiteres?“
„Sie werden... nie an das Geld herankommen... Wir können uns verteidigen!“
„Ah, so wie Sie, ja? Ich verspreche Ihnen, das Geld ist in einer Stunde wieder hier. Mit Ihnen als Druckmittel werde ich selbst in das Büro spazieren und es herausholen.“
In seinen Romanen war jetzt die Stelle, an der der Böse dem todgeweihten Helden den Rest des Planes verriet. Das musste Tunnelblick erreichen. Nicht so sehr aus Neugier – falls in Rohwalds Armbrust ein Silberbolzen lag, wirkte ein kleiner Plausch lebensverlängernd.
„Sie... Sie hatten uns erwartet. Sie wussten, dass etwas passieren würde. Wieso?“
„Nun, es war klar, dass mein Plan der Wache nicht behagen konnte. Also habe ich mich vorgesehen.“
„Ihr Plan... wird niemals aufgehen. Die Gilde wird Sie töten!“
Rohwald lachte dröhnend.
„Die Gilde? Die Gilde ist schwach geworden! Sie verlässt sich auf die Wache! Deshalb haben die Diebe auch Ihre Kolleginnen geschützt! Lieber jetzt zwei Tote erklären, als mit einer Wache leben, die aus Angst vor Assassinen nicht mehr durchgreift! Außerdem ist die Gilde völlig egal!“
Tunnelblick hob den schmerzenden Kopf und sah zu dem Händler hoch. Würde er jetzt die Wahrheit erfahren?
„Sie... wollen doch die Gilde auflösen!“
Einmal mehr lachte der Diebesführer.
„Aber nein, das ist doch nur ein Vorwand! Es geht um die Auflösung der Wache! Die Stadt wird durch mein kleines Komplott viel zu sicher werden – die Hälfte der Geschäfte wird pleite gehen. Die Gilden werden den Patrizier zwingen, die Wache zu verbieten, damit das Verbrechen zurückkehrt. Und dann schlagen wir los. Alle Kriminellen von Ankh-Morpork gemeinsam – wir werden das Leben hier zu Hölle machen! Dann werden sie wieder alle nach der Wache schreien. Der Patrizier wird schwach und kurzsichtig erscheinen und am Ende abgesetzt. Und neuer Patrizier wird der einzige, der dem Treiben der Verbrecher Einhalt gebieten kann – ich!“
Ein diabolischer Plan, soviel stand fest. Rohwald wollte eine ganze Stadt als Geisel nehmen, um sich Macht und Geld zu verschaffen. Tunnelblicks Ärger auf den Größenwahnsinnigen steigerte sich. Nur mühsam beherrschte er sich.
„Sie sind überheblich, Rohwald. Überheblichkeit führt immer zu Fehlern.“
„So, meinen Sie? Wir werden sehen. Das heißt, Sie nicht mehr.“
Rohwald drückte ab.

***


Gerade wollte die Abteilung aufs Neue aufbrechen, um ihren Kollegen zu befreien, da ließ ein Geräusch am Fenster die Wächter zurückfahren. Rohwald klopfte an die Scheibe und begehrte Einlass. Lewton öffnete. Er gab sich nicht mal Mühe, seine Wut zu beherrschen.
„Was wollen Sie? Wo ist unser Mann?“
„In sicherer Verwahrung. Ich werde ihn freilassen, sobald ich mein Geld habe. Wie tief sind wir gesunken, wenn die Wache einen unbescholtenen Bürger bestiehlt?“
„Und warum klettert ein unbescholtener Bürger nachts durch mein Fenster?“
Rohwald zeigte wieder sein siegessicheres Grinsen.
„Ihr Mitarbeiter ist nicht dumm. Er hat mich vor Überheblichkeit gewarnt. Ich höre auf kluge Ratschläge – es wäre überheblich, durchs Wachhaus zu stolzieren und mein Geld zu fordern. Zu viele Leute würden von meinem kleinen Plan erfahren. Es ist schlauer, mein Geld unbeobachtet abzuholen. Außer uns erfährt ja keiner von diesem unerfreulichen Vorfall, nicht? Schließlich wäre es ja doch ein wenig peinlich für die Wache, wenn Hauptmann Lewtons Abteilung Einbrüche organisiert. Also, meine Damen und Herren, ich wünsche Ihnen ein angenehmes restliches Leben, womit auch immer Sie in Zukunft Ihr Geld verdienen.“
Mit diesen Worte ergriff Rohwald das Geld und ging zum Fenster. Schmiede wollte ihm die Axt in den Rücken schleudern, doch Lewton drückte seinen Arm herunter.
„Lass es, sonst sehen wir Tunnel nicht wieder.“
Rohwald dreht sich noch einmal um.
„Sehr wahr, und sehr klug, Hauptmann. Aus Ihnen hätte etwas werden können. Aber Wächter? Wie erschreckend phantasielos! Wenn ich Patrizier bin, dürfen Sie vielleicht bei mir die Aborte reinigen.“
Mit höhnischem Grinsen trat der Führer der Diebe auf das Fenstersims und verbeugte sich ein letztes Mal wie ein großer Mime vor begeistertem Publikum.
Ein langgezogenes Wolfsheulen durchschnitt das Schweigen der Nacht wie ein unendlich leidvolles Klagen. Rohwald fuhr herum – ein Armbrustbolzen traf ihn mitten ins Herz. Langsam, ganz langsam kippte der Getroffene vom Sims. Als der Führer der freien Diebe auf der Straße aufschlug, war er bereits tot.
Der Geldsack schlug eine andere Richtung ein: zunächst fiel auf das Fensterbrett. Einen Moment schien er dort der Schwerkraft trotzen zu wollen, kippte erst Richtung Straße, bis eine Wolfsschnauze ihn wieder ins Büro hineinstieß. Es klirrte laut, dann verteilte sich ein Goldregen auf den Holzbohlen.
Ein Pfeil schoss durchs Fenster zwischen vier Wächtern hindurch und blieb zitternd in Lewtons Schreibtisch stecken. Ein Zettel war daran befestigt:
Assassinenquittung über eine Inhumierung. Danke für das Zeichen!

Keiner der Anwesenden verstand, was gerade vorgefallen war. Ein neues Geräusch am Fenster ließ sie herumfahren. Tunnelblick verwandelte sich wieder in menschliche Gestalt, abgekämpft, blutend, nackt, mit einer frischen Wunde in der Brust. Trillian ließ ihrer Erleichterung freien Lauf.
„Tunnel! Wir dachten, du...“
Lewton reichte dem Hauptgefreiten eine Decke. Der Hauptmann kannte das peinliche Gefühl, wenn man sich weit entfernt von seiner Uniform in menschliche Gestalt zurückverwandelte. Allmählich kam der Püschologe wieder zu Atem.
„Das Schwein hat auf mich geschossen, aber ohne Silberbolzen kann man einen Werwolf kaum töten. Sie haben mich zurückgelassen, weil sie dachten, ich sei tot. In Wolfsgestalt konnte ich mich dann leicht befreien. Dann rannte ich zum Wachhaus zurück und gab den Assassinen das Signal.“
Niemand verstand, was Tunnelblick da redete.
„Welches Signal?“
„Ach so! Das hatte ich euch nicht gesagt, weil ich mir meiner Sache noch nicht sicher war – heute mittag hatte Rohwald ja noch kein Verbrechen begangen. Als ich den Termindämonen das Assassinen untersucht habe, habe ich eine Nachricht eingegeben: Unlizensierter Einbruch in Lewtons Büro. Wolfsheulen als Signal. Deshalb habe ich Rohwald hierher geschickt. Die anderen Assassinen haben den Termin gefunden und die Arbeit erledigt. Sie werden sich wundern, wenn sie morgen Rohwald um Bezahlung bitten wollen.“
Lewton hatte genug. Er wollte die Zusammenhänge hören.
„Tunnelblick – wieso?“
Der Püschologe stieß die Luft aus.
„Glaubt ihr, es hätte gereicht, die Kasse zu stehlen? Ein Mann, der Ankh-Morporks Verbrechern ihr Geld abschwatzen kann, ist so leicht nicht zu schlagen! Er hätte es immer aufs neue versucht, und irgendwann hätte er es geschafft! Sein Plan war gut, nur uns hat er unterschätzt. So konnte ich ihn in seine eigene Falle laufen lassen. Glaubt mir einfach – es ist besser so.“
Jetzt redeten die Wächter durcheinander wie sonst nur die Stimmen in Tunnelblicks Kopf.
„Wieso...“
„Was...“
„Welcher Plan?“
Erschöpft winkte der Wächter ab.
„Später.“
Lewton deutete den anderen an, sie sollten ihren Kollegen erst einmal in Ruhe lassen. Dann fiel sein Blick auf die über den Boden verteilten Münzen.
„Wir haben immer noch die Streikkasse hier. Die wird wohl kaum mehr jemand vermissen. Was machen wir jetzt damit?“
Tunnelblicks Kopf hob sich ein bisschen.
„Wir gehen in den Eimer. Was sonst?“



*** ENDE ***




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