Ein harter Tag

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von Hauptgefreiter Kannichgut Zwiebel (SEALS)
Online seit 05. 06. 2010
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"Holst du meine kleine Schwester vom Posthof ab?" Es klingt nach einer einfachen Aufgabe. Einfach genug für Daemon Llanddcairfyn? - Eine Wichtelgeschichte

Dafür vergebene Note: 13

Das letzte Licht eines lauen Tages floss über Ankh-Morpork hinweg. Dünne Wolken schwammen über einen blaugrauen Himmel und ließen den Mond dampfen.
"Ach komm schon, Daemon", sagte die Frau mit den blonden Locken, "sei ein netter Hauptmann und tu mir den Gefallen!"
Daemon wandte seinen Blick vom subtilen Schauspiel am Himmel ab und richtete ihn auf Lieselotte, die ihre sanften Augen und vollen Lippen zu einer perfekten Maske des Flehens arrangiert hatte. Er seufzte.
Lieselotte hatte in ihrer langen Karriere als Näherin das beschränkte Gefühlsarsenal ihrer männlichen Mitmenschen gründlich studiert und erkannte ihren Sieg. Freudig fiel sie dem Hauptmann um den Hals und drückte ihm einen feuchten Kuss auf die Wange, der einen von Lippenstift gezeichneten Kussmund zurückließ und das gejauchzte "Danke!" perfekt unterstrich.
"Sie heißt Lena", begann Lieselotte in geschäftlichem Tonfall, "und kommt morgen mit der Zwölf-Zweiunddreißig-Kutsche. Warte, ich habe ..." Sie begann in ihrer Handtasche zu kramen.
"Ich ...", versuchte Daemon.
"Hier! Gut, die Zeichnung ist schon etwas älter, und schwarzweiß, aber du wirst sie schon erkennen. Zeig sie ihr, sonst glaubt sie dir am Ende nicht, dass du sie für mich abholen sollst!"
Daemon ignorierte die Zeichnung und trat einen Schritt zurück. "Ich habe noch nicht einmal gesagt, dass ich überhaupt jemanden abhole!"
"Stimmt", antwortete die Näherin. "Aber du wirst, nicht wahr?" Jeder Dackel hätte in diesem Moment viel von Lieselotte lernen können. Die Zeichnung in ihrer Hand schien leise zu wimmern. Sei nicht so herzlos, Hauptmann, schien sie zu klagen. Nimm mich mit! Kümmer dich!
"Also gut", sagte Daemon wirsch und griff nach der Zeichnung. "Aber dir ist klar, dass dich das einiges kosten wird, ja?"
"Aber klar." Lieselotte winkte ab. Sonst war sie es, die ihre Gäste mit diesem Satz bedachte. "Ich habe an das doppelte Programm gedacht."
Daemon lächelte. "Lobenswert. Aber mir schwebte eher etwas ...", er ließ einige Sekunden verstreichen, in denen er mit seinen Händen gestikulierte, "epischeres vor."
Lieselottes Augen weiteten sich. "Das hältst du nie durch!"
"Lass das mal meine Sorge sein! Es gibt Mittel und Wege. Sind wir uns also einig?"
"Meinetwegen", beschied sie. Ein paar lange Abende mit dem Hauptmann waren ein kleiner Preis für die Sicherheit ihrer kleinen Schwester.
"Und nun hinein mit dir", sagte er sanft, um seinen Worten die Schärfe zu nehmen. "Nicht, dass die Leute noch ins Tratschen kommen, weil sie uns so lange zusammen vor dem Boucherie gesehen haben."
"Jawoll, Herr Hauptmann!" Lieselotte salutierte zackig, aber nicht ganz formvollendet. Zwar spielte sie die Wächterin nicht zum ersten Mal, andererseits wurde sie hierfür auch nicht in Dollar bezahlt.
Bevor Lieselotte sich zum Gehen wandte, zog sie ein Taschentuch aus ihrem Dekolleté und wischte dem Hauptmann den Kussmund aus dem Gesicht. Er ließ es geschehen. "Der würde sicher auch für einiges Gerede sorgen. Gute Nacht!"
Daemon schaute in den dunkel gewordenen Himmel hinauf. Die Nacht würde wieder kalt werden. Er hatte sich auf einen wohlverdienten ruhigen Tag gefreut. Die letzten Wochen im Boucherie waren anstrengend gewesen. Er dachte an den stetig schrumpfenden Aktenstapel in seinem Büro. Er würde nicht mehr lange reichen. Es wurde Zeit für den Sommer.

Quietschend kam die Kutsche zum Stehen. Seit sie die Stadtmauer von Ankh-Morpork passiert hatten, waren sie wegen des hohen Verkehrsaufkommens an fast jeder Kreuzung stehen geblieben. Das in der Mittagsbrise schaukelnde Postschild wies allerdings darauf hin, dass dieser Stopp beabsichtigt war. Lena klappte ihre Lektüre zu, die für sie vor allem Alibi gewesen war, um potenziell uninteressante Gespräche mit den übrigen Insassen der Kutsche zu verhindern. Sie freute sich über den ungestörten Verlauf ihrer Reise. Leider zu früh.
Der Mann, der einen zu weit geschnittenen Anzug trug und ihr gegenüber saß, lächelte sie an. "Na also!", rief er. "Das hätte gar nicht besser laufen können! Wir wurden nicht 'mal überfallen. Vor einem Monat, die Kutsche fuhr nach Gennua, da wurden wir gleich zweimal ..."
Lena bereute es sofort, ihr Buch voreilig zugeschlagen zu haben. Sie beschloss, den Mann zu ignorieren und griff stattdessen nach der Rettung verheißenden Tür. Sie zuckte zusammen, als der Mann seine weiche Hand auf ihre legte.
"Aber, aber, meine Liebe!", sagte der Mann und unterbrach sich damit selbst. "Lassen Sie mich das machen!"
Sie schluckte einen Kommentar hinunter und zog ihre Hand zurück. "Natürlich. Vielen Dank!"
"Junge Dame", mischte sich die Dame zu Lenas Linken ein, "Sie können sich glücklich schätzen, dass es noch Kavaliere der alten Schule gibt! Dieser Tage ist das nicht mehr selbstverständlich. Vor einigen Jahren kannte ich einen ..."
Lena rollte mit den Augen. Die beiden schienen es tatsächlich darauf anzulegen, in den letzten Minuten ihres Zusammenseins die Konversation der gesamten Fahrt aufzuholen.
Ein paar Minuten später stand sie mit ihrem Koffer ein paar Schritte abseits der belebten Poststation. Es hatte sie einige Mühe gekostet, dem Kutschenkavallier zu versichern, dass sie keinerlei weitere Hilfe benötigte. Sie sah sich um und schüttelte den Kopf.
"Meine Güte", entfuhr es ihr. "Was für ein Gewühl!"
"Am Wochenende ist es noch schlimmer."
Lena fuhr herum. Neben ihr stand ein hochgeschossener Mann um die dreißig. Er trug eine graue Uniform und beobachtete gelangweilt die Passanten. Sein Gesicht sah aus, als würde es wirklich, richtig schlimm. Nicht nur an Wochenenden. "Wieso sagen Sie das?"
Der Mann wandte sich ihr zu. "Ich wollte nur freundlich sein." Der Hauch eines Lächelns stahl sich in seine Augen. "Zum Boucherie geht's dort entlang. Kommen Sie!"
"Oh, gut ... Was?"
Der Mann hielt in seiner Bewegung inne und drehte sich zu Lena um. "Sie sind Lena, die Schwester von Lieselotte. Ich bin Hauptmann Llanddcairfyn, Stadtwache von Ankh-Morpork, Dienststelle zur Obersvierung von Gildenangelegenheiten, gern auch Herr Llanddcairfyn für Sie, und ich bin hier, um Sie abzuholen, weil ihre Schwester einen wichtigen Kundentermin hat. Wenn Sie mir also bitte folgen würden ...?"
Lena machte immer noch keine Anstalten, ihm zu folgen. Konnte sie ihm trauen? Er sah, dass sie zögerte, und begann über etwas nachzudenken. Als es ihm eingefallen war, griff er sich an die Brusttasche und zog ein Stück Papier hervor.
"Hier", sagte der Hauptmann und hielt Lena eine zerschundene Zeichnung hin. "Lieselotte sagte, ich solle Ihnen das zeigen, denn sonst würden Sie mir wahrscheinlich nicht glauben."
Die Wucht der Erinnerungen traf Lena unvorbereitet und ließ sie erzittern. Sie hielt das Zeugnis einer besseren, unbeschwerten und längst vergangenen Zeit in Händen - ihrer Kindheit. In dem kurzen Augenblick, bis sie sich gefangen hatte, zweifelte sie an allem, was sie bisher erreicht und für die nächste Zeit geplant hatte. Es erschien ihr bedeutungslos. Dann hatte sie sich wieder im Griff.
Der Wächter schien den schnellen Kampf in ihrem Innern nicht bemerkt zu haben. Er griff nach dem Koffer. "Gehen wir. Es wird spät."

"Dann warst du also sozusagen Kommandeur deiner eigenen kleinen Wache?"
Für Daemon klang ihre Stimme wie heiße Milch mit Honig. Es fiel ihm schwer, dem Inhalt ihrer Worte zu folgen, da sie Saiten in seinem Innersten erschwingen ließ, die lange nicht mehr geschwungen hatten. Er war alles andere als musikalisch, trotzdem konnte eine perfekte Harmonie ihn von den Füßen holen. Er bewunderte Lieselottes Schwester. In kürzester Zeit hatte die zierliche Frau es geschafft, dass er sich gut fühlte wie seit Langem nicht mehr.
"Ach", sagte er und gab sich bescheiden. "Ein kleines Kommando hier und da." Er winkte lässig ab. "Nicht der Rede wert."
"Doch, doch!", betonte Lena. "Besonders für einen Mann in deinem Al ... Hey, ist das da drüben nicht ein Sichelmond-Café? Die gibt's ja inzwischen überall, außer natürlich in Sto-Lat. Ich muss unbedingt einen Doppel-Gecko-Mokka haben!"
"Wir haben wirklich nicht die Zeit für ..."
"Ach komm schon!" Sie zerrte Daemon in Richtung des grün gestrichenen Gebäudes. Hätte jemand Lenas Verwandschaft mit ihrer Schwester geleugnet, wäre er bei dem Hundeblick schnell eines Besseren belehrt worden.
Über der Eingangstür hing das Markenzeichen der Café-Kette, ein weißer Sichelmond auf einem grünen Kaffee-Becher. Vor dem Eingangsbereich hatten sich die Leute, ganz anders als sonst in Ankh-Morpork üblich, artig zu einer Schlange aufgereiht. Die Vermutung lag nahe, dass der Troll mit der grünen Schürze und den großen Steinfäusten großen Anteil an der Disziplin der Wartenden hatte. Er stand neben dem Eingang und beäugte jeden Neuankömmling misstrauisch.
"Ich verstehe nicht", sagte Daemon, "was alle an Sichelmond finden. Wenn ich mal in Ankh bin, geh ich doch lieber zum guten alten Sternenbock. Das ist Kaffee mit Tradition! Nicht so ein neumodischer Schnickschnack." Daemon schüttelte den Kopf. In den letzten zwei Monaten hatten in Ankh-Morpork fünf Filialen der Grünen Seuche aufgemacht, wie das Klatschianische Kaffee-Imperium unter Traditionalisten manchmal genannt wurde. In seinem Stapel knapp überflogener Akten lag bereits die Beschwerde der Gilde der Händler und Kaufleute. Wo sollte das noch enden? Eigentlich interessierte es ihn nicht.
"Naja", sagte Lena mürrisch. "Heute kommen wir da eh nicht mehr rein, wenn ich mir die Schlange so anschaue."
Daemon lächelte. Vielleicht konnte er ja endlich mal wieder einen Fall nach Vorschrift zu den Akten legen. "Lass mich das machen. Folge mir!"
Daemon ging direkt auf den Troll zu, der gerade einen Drängler ans ungefähre Ende der Schlange warf.
"'Tschuldigung ..."
Der Troll drehte sich knirschend zu Daemon um. An seine steinerne Brust hatte jemand ein Namensschild mit dem Logo der Café-Kette genagelt.
"... Herr Faust. Wie treffend! Stadtwache Ankh-Morpork, ich muss mit dem Geschäftsführer sprechen. Eine dringende Angelegenheit."
"Hinten anstellen ist, was du müssen."
"Wenn ich einen Kaffee wollte, würde ich das selbstverständlich sofort tun! Aber ich bin hier, um mit dem Geschäftsführer zu reden. Sie wollen doch nicht ernsthaft die Ermittlungen der Stadtwache behindern, oder?"
"Na gut", sagte der Troll, als eine kühle Brise ihn streifte ihm eine schnelle Entscheidung ermöglichte, "aber du nur reden!" Der Troll rumpelte zur Seite. Interessanterweise gab es keine Einwände von den übrigen Wartenden.
Daemon ließ Lena den Vortritt und folgte ihr in den Schankraum. Er steuerte die Theke an, wo drei Jugendliche mit grüner Schürze die Kaffeespezialitäten ausgaben. Bei einem von ihnen, einem rotschopfigen Jungen mit Sommersprossen, wiederholte er den Satz, mit dem er bereits den Türsteher überzeugt hatte, und freute sich über seine Wirkung. Nach Jahren hinterm Schreibtisch hatte er es immer noch drauf! Der Junge verschwand in den Verwaltungsräumen der Sichelmond-Filiale und kehrte kurz darauf zurück.
"Effendi Anjum hat Zeit für Sie. Sie haben Glück."
"Vielen Dank." Daemon setzte sich in Bewegung, hielt dann aber inne und wandte sich nochmal an den Jungen. "Ach", begann er, "bringen Sie der Dame dort drüben bitte einen Doppel-Mecko."
Der Junge überlegte nicht lang. "Gecko-Mocka?"
"Was?"
"Einen doppelten Gecko-Mocka. Der ist zurzeit der Renner!"
"Ja, meinetwegen." Er nickte dem Jungen zu und durchschritt die Tür zum hinteren Bereich.

Effendi Anjum hatte sich sehr verständnisvoll und kooperativ gezeigt. Daemon war überzeugt, dass sich Sichelmond schon bald mit Vertretern der Händlergilde zusammensetzen und über Bedingungen für einen Beitritt verhandeln würde. Falls dabei nichts herauskäme, wäre das ein Problem von der guten Sorte: ein Problem anderer Leute. Er setzte sich an den Tisch, den Lena ausgewählt hatte. Ihr Kaffee dampfte müde vor sich hin, doch von Lena und ihrem Koffer fand er keine Spur. Er wartete.
Nach zehn Minuten stand er auf und ging zu dem rothaarigen Kaffee-Austeiler.
"Meine Begleitung ... die Dame, mit der ich gekommen bin. Hat sie gesagt, wo sie hin wollte?"
"Oh, sie wollte unsere sanitären Anlagen aufsuchen." Der Junge zeigte in Richtung eines Schildes, auf dem verschieden breite und große Strichmännchen aufgemalt waren. "Wir haben Innen-Toiletten mit Einzelkabinen! Für fast alle Kaffee trinkenden Rassen!"
Daemon nickte unbeeindruckt.
Die Toiletten waren definitiv gehobener Morpork-Standard. Daemon betrat einen mindestens wöchentlich geputzten Raum mit fünf Holzkabinen, von denen eine etwas kleiner war als die übrigen vier. Zwei der vier für Menschen gemachten Türen waren angelehnt.
"Lena?"
Die einzige Antwort war ein sehr unweibliches Grunzen aus Kabine vier. Nacheinander öffnete er die drei angelehnten Türen. Alle waren leer. Die Kabinenwände standen auf kleinen Stelzen, die sie vom Boden trennten. Vermutlich erleichterte das die wöchentliche Reinigung. Er seufzte, suchte sich eine saubere Stelle vor den Kabinen und kniete nieder. Er brachte seinen Kopf in die Waagerechte und betete, dass in dem Moment niemand die Toiletten betrat. Er entdeckte zunächst das Gnomen-Klo, das vom Eingang aus nicht zu sehen war. Wie er schon geahnt hatte, wollte keiner der vier haarigen Unterschenkel in den menschgroßen Kabinen in irgendeiner Form zu Lena passen. Dafür fand er einen zerknüllten Zettel, der auf dem Boden in einer der leeren Kabinen lag. Seine Knie knackten, als er sich erhob und den Zettel las:


   NT PK SG VL EH VU EY PZ   


"Na toll! Kryptokram!" Oder eine neue Kaffeespezialität. So oder so: Lena war nicht mehr hier. Wäre sie zum Schankraum hinaus spaziert, hätte sie sicher jemand bemerkt. Der Toilettenraum besaß zwar zwei kleine Fenster, doch Daemon bezweifelte, dass selbst Lenas schlanke Taille dort hindurch gepasst hätte. In der Kabine, in der er den Zettel gefunden hatte, beugte er sich über die dunkle Öffnung. Fäkaler Gestank bewahrte ihn davor, sich weiter als nötig vorzubeugen. Vielleicht eine Fluchtmöglichkeit für fette Fliegen, nicht aber für ein junges Mädchen. Warum sollte Lena überhaupt fliehen? War er zu forsch gewesen? Hatte er sie gelangweilt? Wo war sie jetzt und wie um alles in der Welt sollte er das Lieselotte erklären? Das Boucherie wollte er zunächst meiden, um ihr nicht über den Weg zu laufen. Sein erstes Ziel war der Pseudopolisplatz.
"Jetzt brauch' ich auch einen Kaffee", erklärte er der leeren Kabine.
"Nehmen Sie bloß keinen Trippel-Dippel-Vanille!", antwortete Tür Nummer drei. "Ich sitze schon seit einer halben Stunde hier!"

Die letzten Wochen waren anstrengend gewesen. Unerklärliche Brände an verschiedenen Stellen der Stadt hatten Ankh-Morpork in dichten Rauch gehüllt. Der Straßenverkehr war zeitweilig komplett zum Erliegen gekommen und die S.E.A.L.S. hatten alle Hände voll zu tun gehabt, um wieder Herren der Lage zu werden. Anstatt in seinem Büro saß Kannichgut Zwiebel ein paar Räume weiter im Durchgangszimmer zum Semaphorenturm, dem Codeknacker-Raum, wie er ihn nannte. Er kippte seinen Stuhl an und legte die Beine auf den Tisch. Womöglich wurde das endlich wieder eine stressfreie Spätschicht. Er schlug "Theorie der Information" von Pierre L. Wutt auf und tauchte in seine Lektüre ab. Die Theorie war ihm bereits bestens bekannt, immerhin hatte er das Buch schon zweimal gelesen. Er hoffte trotzdem auf weitere Erkenntnisse, da es in der Praxis mit dem Kommunizieren oft noch gewaltig haperte.
Das Durchgangszimmer war üblicherweise rege frequentiert, doch heute war der Klacker außer Betrieb. Die Strang-Gesellschaft hatte Spezialisten vorbeigeschickt, die eine Klacker-Aktualisierung durchführten. Er hatte sich den Grund der Aktualisierung haarklein erklären lassen wollen, doch die Mechaniker waren nicht sehr gesprächig gewesen und hatten ihn schließlich des Raumes verwiesen. Kannichgut übte sich in Geduld, da er wusste, dass ein anschließendes Rundschreiben Sinn und Zweck der durchgeführten Umbauten erklären würde.
"Hey, Diestel!"
Die Diestel fiel vor Überraschung fast vom Stuhl. In der Tür stand der Mann, der sich keine Namen merken konnte oder wollte und der kürzlich seine Überraschungsfete zum zehnjährigen Dienstjubiläum verpasst hatte. Die Feier war trotz der Abwesenheit des Hauptmanns, oder vielleicht gerade deshalb, ein voller Erfolg gewesen. Kannichgut sprang auf und salutierte.
"Sir ...?"
Hauptmann Llanddcairfyn nickte müde und winkte mit einem kleinen Zettel. "Das hier muss entschlüsselt werden. Das ist doch dein Metier, oder?"
"Wahrscheinlich, Sir!" Der Kommunikationsexperte nahm den Zettel entgegen und studierte ihn eingehend. "Haben Sie irgendwelche Anhaltspunkte, worum es in der Nachricht geht?"
Der Hauptmann starrte ihn entgeistert an. "Das", betonte er, "will ich doch gerade von dir wissen ... Experte!"
Kannichgut schluckte. Ihm war sofort klar, dass Diskussionen und Erklärungen hier höchstwahrscheinlich fruchtlos würden. "Ähm ja, Sir, natürlich!" Er starrte die Nachricht an, deren Informationsgehalt nach Pierre Wutt solange null war, wie er keinen Anhaltspunkt für den Code zum Entschlüsseln fand. Er schaute den Hauptmann an.
"Ist das Kaffee auf Ihrer Uniform, Sir?"
"Keine Sorge, er ist koffeinfrei."
"Ah gut. Also das Entschlüsseln der Nachricht könnte etwas dauern, Sir."
"Das hat oberste Priorität. So schnell wie möglich." Der Hauptmann wedelte mit der Hand.
Kannichgut zögerte. Sein erster Impuls war ein schnelles 'Schnell ist hier unmöglich, Sir!' gewesen. Stattdessen entschied er sich für die diplomatische Option.
"Klar, ich mach mich sofort dran!"
Das zumindest entsprach der Wahrheit. Er verschwieg dem Hauptmann lediglich, dass die Kryptoanalyse ein unwägbares Feld voller Tücken und Untiefen war und eine so kurze Nachricht ohne Hinweise auf den Inhalt oder den verwendeten Verschlüsselungsalgorithmus kaum zu knacken. Aber es war eine spannende Herausforderung, auf die er sich gern einließ. Er tauchte fast sofort ein in die Welt der sechzehn Buchstaben und bemerkte schon nicht mehr, wie der Hauptmann wortlos das Wachhaus am Pseudopolisplatz verließ.

In der Schwimmerstraße herrschte nie viel Betrieb, daher bot sie sich werktags auch als Abkürzung von Weißer Gasse zur Springstraße an. Daemon dachte an die glimpflich verlaufene Begegnung mit dem missmutigen Troll. Daemon hatte ihm versichert, keinen Kaffee trinken zu wollen und war dann mit einem Kaffee-im-Gehen aus dem Laden marschiert. Jeder Türsteher hätte da überreagiert. Zum Glück hatte Daemon die blendende Idee mit der Kaffeedusche gehabt. Die spontane Hitze auf Herrn Fausts Schädeldecke hatte ihm genügend Zeit für einen geordneten Rückzug verschafft. Leider hatte ihm das die Uniform versaut. Aber morgen war Waschtag.
Daemon blickte auf. Heute herrschte besonders wenig Betrieb. Aber manchmal waren es die Dinge, die fehlten, die einen stutzen ließen. Ihm fehlten zum Beispiel die Windler-Zwillinge, die durch ihr ständiges öffentliches Gekeife in der ganzen Schwimmerstraße wohlbekannt waren. Oft ging es um ausgeliehene Klamotten, Parfums oder Männer, seltener auch um andere Frauen. Keine Kinder, die durch die Straße tollten, keine alten Männer, die auf Bänken vor ihren Häusern Pfeife rauchten. Die Straße war leer und der Kies knirschte laut unter seinen Stiefeln.
Die Leere füllte ein Mann mit auffälligem Mantel und tiefem Hut. Er begutachtete am Ende der Straße die Auslage eines Ladens, dessen Besitzer vor einigen Wochen die Stadt verlassen hatte. 'Probleme mit den Nachbarn' hieß es. Daemon blieb abrupt stehen. Hinter ihm knirschte der Kies einmal. Jemand verfolgte ihn! Und jemand anderes schnitt ihm vorne den Fluchtweg ab. Lenas Entführer! Die verschlüsselte Toiletten-Nachricht war bestimmt eine Warnung gewesen. Hinter Daemon stampften schwere Schritte auf ihn zu. Jahrelang geschulte Instinkte übernahmen die Kontrolle.
Er wusste, dass ihm nicht viel Zeit blieb. Also sprang er an die rostige Feuerleiter, die zu seiner Linken in der Luft hing, und zog sich an ihr hoch. Nicht schnell genug, wie sich herausstellte, denn ein Handschuh griff nach seinem Fuß und bekam ihn am Knöchel zu fassen. Daemon trat zu, doch der Knöchel verblieb fest im Griff des Unbekannten. Der Mann mit Hut hatte sein Interesse an dem leer stehenden Laden verloren und sprintete auf ihn zu.
Das unverkennbare Geräusch einer Klinge, die ihre Scheide verlässt, beflügelte Daemon. Ein erneuter Tritt und sein Fuß war frei. Sein Stiefel leider nicht. Die Klinge ritzte ihm durch die eh schon löchrige Socke. Der Schmerz war auszuhalten, aber die Socke endgültig hin. Er hastete hinauf und nahm zwei bis drei Stufen auf einmal. Vielleicht konnte er die Dachkante erreichen, bevor seine Verfolger zu ihm aufschließen konnten. Doch unter ihm knallten bereits die Stiefel der Männer auf die eisernen Stufen. Daemon fragte sich, wie viel Rost in einer Wunde für eine Blutvergiftung ausreichen mochte. Die Treppe endete dicht unter dem Dach. Er streckte seine knappen zwei Meter Körperhöhe zu voller Länge und zog sich hinauf. Ein Muskelkater war ihm sicher!
Er schwang die Beine aufs Dach, knickte aber mit dem Arm ein, als ein Bolzen - vermutlich 85er Kaliber - den Ärmel seiner Uniform zerfetzte. Daemon war froh, ein paar Näherinnen zu seinen Bekanntschaften zu zählen. Der Muskel darunter litt leider mit und Blut spritzte, doch zum Jammern war später Zeit. Wenigstens fiel der verschüttete Kaffee auf seiner Uniform dadurch weniger auf.
Es gab nicht viele Flachdächer in Ankh-Morpork. Das hier eignete sich optimal als Anlaufstrecke für einen Sprung die Reihergasse hinüber. Daemon schätze seine Chancen für einen erfolgreichen Sprung. Die Reihergasse war sechs Schritt breit und die Häuser auf der anderen Seite besaßen keine Flachdächer. Das Ergebnis war deprimierend. Er musste es trotzdem versuchen, hinter ihm hatte Dreistiefel das Ende der Feuerleiter erreicht. Daemon beschleunigte. Positives Denken war jetzt angesagt, wenn das was werden sollte! Er suchte den idealen Absprungpunkt, fand aber nur einen, bei dem er mit dem verletzten Fuß abspringen musste. Er sah keine Möglichkeit, daran noch etwas zu ändern. Dann war er in der Luft. Nicht so hoch und nicht so schnell, wie er gehofft hatte, aber immerhin.
Ein weiterer Bolzen, ja, eindeutig Kaliber 85, flog in unendlich langsamer Geschwindigkeit dicht an seinem Kopf vorbei. Vermutlich nur schlecht gezielt. Sie wollten ihn sicher nur stoppen, nicht umbringen. Stoppen würde ihn in jedem Fall das Dach, dessen rote Ziegel im Licht der untergehenden Sonne strahlten. Zusammen mit den zwei Dachfenstern lachten sie ihn an wie eine ironisch grinsende Fratze. Der Sprung war von vornherein zum Scheitern verurteilt, das wurde Daemon mehr und mehr klar. Seine Optionen bestanden aus einem doppelt gestreckten Rippenbrecher und einem gehockten Knieknirscher, beide mit einem anschließenden getaumelten Salto mortale. Er warf einen Blick nach unten, was ihm möglicherweise das Leben rettete. Er rollte sich zu einer Kugel und hoffte auf das Beste.

Der "Akki" war die einzige Kneipe in Ankh-Morpork, die einen eigenen Klackerturm besaß. Oder der einzige Klacker mit Gastronomiebetrieb. Je nachdem, welche Gilde gerade wegen der Mitgliedschaftsgebühren anfragte. Genaugenommen war die Kneipe ein großer Klacker. Noch genauer: Drei große Klacker. Die Betreiber bewarben den "Akki" in der ganzen Stadt mit "Kommunikation auf drei Etagen!"
Der Turm grenzte an ein ehemaliges Lagerhaus, das sie zur Warte- und Schankhalle ausgebaut hatten. Neben einer wirklich kleinen Anzahl von Leuten, die nur zum Trinken in den "Akki" gekommen waren, war die Schankhalle voll von Wartenden. Ihre Gruppe unterteilte sich in Operatoren, die selbst einen der drei drehgelagerten Klacker benutzen wollten, und die Klackertreffer. Die beiden Gruppen unterschieden sich fundamental in ihrem Verständnis vom Aufbau eines Semaphorenturms. Während es den Operatoren auf eine erfolgreiche und möglichst schnelle Übertragung von Nachrichten ankam, ging es den Klackertreffern nur um deren Inhalt. Ihnen war egal, ob der Semaphor acht, sechzehn oder gar vierundsechzig Klappen besaß oder ob die Nachricht unter Umgehung der Primärpufferplatte im Scheuklappenmodus übertragen wurde. Ihnen ging es allein um einen möglichst aktuellen Klackertreff.
Klackertreffs gab es in immer mehr der großen Städte der Scheibenwelt. Im Prinzip waren sie eine Vereinbarung, wie beliebige Themen zu katalogisieren und aktualisieren sind. Mehrmals in der Woche synchronisierten sie ihren Datenbestand untereinander und ermöglichten so eine neue Art von interaktivem Zeitungswesen. Willem war einer der Hobby-Redakteure, ein Klackertreffer, und stöberte durch seine Abonnements in Form eines bereits mehrfach gelesenen Papierstapels, als eine Welle der Stille über die Wartehalle hereinbrach und ihn traf.
Die meisten Anwesenden waren Männer, deren übliche Frauengeschichten sich auf die eigene Mutter, die alte Obstverkäuferin am Markt oder die reiche Tante aus Quirm beschränkten. Keinem von ihnen war es zu verdenken, dass sie im Gespräch verstummten, den Atem anhielten oder sich als Übersprungshandlung das halbe Thunfisch-Sandwich in den Mund stopften, als die schlanke Blondine zur Tür herein kam und sich suchen umsah.
In jeder gewöhnlichen Kneipe wäre sie keine zwei Minuten allein geblieben, doch das war der "Akki". Willem merkte, dass ihm wie vielen anderen der Mund offen stand und schloss ihn schnell wieder. Gemurmel setzte ein. Es schien, dass keiner den Vorstoß wagte, die offensichtlich ohne Begleitung reisende Frau zur Bar zu geleiten, doch Willem wusste es besser: Von den hier Anwesenden dachte überhaupt niemand daran, sich als Begleitung anzubieten. Das war etwas, das vorwiegend anderen Leuten passierte. Die Frau schritt zur Bar, nein, "schwebte wie ein blonder Engel" würden hinterher einige behaupten. Willem versuchte, sich auf "Diskussion über die Vielfalt der Straßenverkehrsverbote" zu konzentrieren, doch sein Blick wanderte immer wieder zur Bar hinüber, wo die Unbekannte sich einen dieser neuen Alchimisten-Drinks bestellt hatte und mit dem Rücken zur Theke verträumt vor sich hin starrte. Über das Alchimisten-Gesöff, wie er es nannte, hatte er bereits einiges im Klackertreff gelesen und sogar einige Beiträge über den Konsum von "Koko-Orange" und "Bitter-Zitrone" und dessen Langzeitfolgen beigesteuert. Vielleicht gelang ihm damit eine ergiebige Gesprächseröffnung? Was konnte schon Schlimmes passieren? Außer sich vor allen Anwesenden zum Gespött zu machen natürlich. Andererseits ... Wenn sie darauf einging und ein paar Worte mit ihm wechselte und er sich dann höflich und bescheiden zurückzog, dann konnte er zum Helden werden!
Die Frau nahm ihm seine Entscheidung ab, indem sie ihren Drink nahm und einen der Tische nahe der Treppe zum Turm ansteuerte. Willem seufzte, teils aus Frust, teils aber auch vor Erleichterung. Sie sprach den Mann an, der dort saß, und setzte sich zu ihm, nachdem sie das verdatterte Zittern seines Kinns als positive Antwort auf ihre Frage gewertet hatte. Sie schien ihn zu kennen, er sie aber ganz offensichtlich nicht. Das schloss Willem aus der Einseitigkeit, mit der das Gespräch verlief. Sie redete, lachte und scherzte, während der andere, Morrpork82 oder so nannte er sich, mit Nicken und Kopfschütteln beschäftigt war. Willem zwang sich nach einiger Zeit, sich wieder seiner Diskussion zu widmen, zumal er am Morgen erste Ideen für einen Antwortbeitrag gesammelt hatte. Es gelang ihm so gut, dass er verpasste, wie die Unbekannte sich bei Morrpork82 unterhakte und mit ihm den "Akki" verließ.

Unschlüssig stand Daemon vor der mit rosa Bändern geschmückten Tür. Er hatte erwogen, seine Uniformjacke zu wechseln. Aber die Ersatzuniform befand sich mehrere Höhenmeter von ihm entfernt in seinem Büro und sein Körper war nicht gewillt, auch nur eine unnötige Treppenstufe zu nehmen. Was soll's, dachte er und klopfte an die Tür.
Ein Rascheln kündigte Lieselotte an, die die Tür hastig öffnete. Ihr erwartungsvolles Lächeln erstarrte, als sie Daemon sah. Ihre Augen weiteten sich und ihr Mund formte ein stummes Oh.
"Meine Güte!", fasste sie Daemons Tag in zwei Wörtern zusammen.
"Allerdings", bestätigte er.
"Ist das Kohl in deinem Haar?"
"Unter Anderem." Er dachte an seinen zurückliegenden Sturz. "Zum Glück hält sich niemand an das Halteverbot in der Reihergasse."
"Wo ist Lena?"
"Das ist ..."
"Du stinkst übrigens, als wärst du in Jauche gefallen!"
"Das kommt der Wahrheit ..."
Lieselotte stemmte die Hände in die Hüften. "Du nimmst gefälligst erstmal ein Bad! Der Gestank vergrault uns ja alle Gäste. Halt. Die Uniform bleibt hier! Die gehört ordentlich genäht, sonst geht sie in der Wäsche vollends auseinander. Und jetzt: Abmarsch!"
Fünfzehn Minuten später saß Daemon in einem viel zu kleinen und farblich unpassenden Bademantel bei Lieselotte und sah zu, wie sie die Erste Hilfe an ihm vollendete. Eigentlich war es die Zweite Hilfe, denn Schmutz, Schweiß und Adrenalin hatten in den letzten Stunden bereits hervorragende erste Dienste geleistet. Daemon ächzte, als Lieselotte einen hässlichen Kratzer an seiner Stirn mit Alkohol abtupfte. Sie hatte seiner Geschichte mit stoischer Ruhe gelauscht, aber Daemon hatte das Gefühl, als laste eine brennende Frage auf ihr.
"Warum Lena?", platzte es schließlich aus ihr heraus.
Daemon senkte den Kopf. "Ich weiß es nicht. Vielleicht ist sie in irgendwelche ... Dinge verstrickt."
"Geheime Dinge?"
Er sah auf. "Ah genau. Ich wollte dir noch was zeigen." Er griff sich an die Brusttasche, fand dort aber nur seidiges Rosa mit Spitzenabschluss. Er sah zu dem Bottich hinüber, in dem seine notdürftig geflickte Uniformjacke in aggressiver Lauge badete. "Das hat sich wohl erledigt."
Lieselotte grinste. "Ich habe mir erlaubt, die Taschen vorher zu leeren." Sie griff nach einer kleinen Schachtel, in der sie Daemons Sachen verstaut hatte, und reichte sie ihm.
"Ah." Daemon fischte den Zettel heraus und zeigte ihn Lieselotte. "Das müssen sie oder ihre Entführer zurückgelassen haben. Ich lasse es bereits analysieren, aber vielleicht weißt du etwas darüber."
Lieselotte studierte den kleinen Zettel wie ein Zauberer an der Unsichtbaren Universität eine Mahlzeit. "Ich glaube ...", begann sie. Dann ging sie zu ihrem Kleiderschrank und kramte eine Weile darin herum. "Früher haben wir uns heimlich Nachrichten geschrieben." Ihre Stimme klang dumpf, weil sie kopfvoran im Schrank steckte. "Wir haben sie nicht nur insgeheim ausgetauscht, sondern auch die Texte, hm ... verschlüsselt. Lena hatte sich da ein System ausgedacht. Ich konnte es mir nie merken, deshalb habe ich es aufgeschrieben. Ah, hier ist es!" Triumphierend hielt sie Daemon ein Buch entgegen, als hätte sie ohne sich zu verbrennen Kartoffeln aus dem Feuer geholt. "Warte, ich brauche einen Moment." Sie überflog die Anleitung. "Genau: NT, also vom N nach links bis zum T, mach M. Vom T nach rechts bis zum M, macht I." Sie strahlte Daemon an. "MI!"
"Mi?"
"Warte, es geht ja noch weiter. RG, ... EH, ... TE, ... SG, ... UT, ... LE, ... NA, ..."
"Prima!" Den Umweg zum Pseudopolisplatz hätte er sich sparen können.
"Ihr geht es gut!" Lieselotte lachte.
"Ja", murmelte Daemon, "jetzt müssen wir sie nur noch finden, bevor jemand anderes es tut."

Nachtstreifen eigneten sich hervorragend, um über alles Mögliche nachzudenken. Optimalerweise hatte man noch einen gewissenhaften, aber schweigsamen Kollegen dabei, wie zum Beispiel Lance-Korporal Bleicht. Kannichgut war bei seinen Entschlüsselungsversuchen noch keinen Schritt weiter gekommen. Immerhin schloss er eine monoalphabetische Verschlüsselung, bei der jedem Buchstaben des Alphabets ein anderer Buchstabe fest zugeordnet war, bereits fast sicher aus. Da er weder Hinweise auf im Text vorkommende Wörter hatte noch der Text lang genug für eine statistische Überprüfung war, tappte er im Dunkeln. Dass die Geheimzeichen in Zweiergruppen angeordnet waren, ließ ihn einen Zusammenhang zum verwendeten Algorithmus vermuten. Andererseits durfte man sich auf solche Vermutungen nicht versteifen, da sie leicht in Sackgassen führen konnten. Wenigstens hatte er sich eine Tabelle mit der Häufigkeitsverteilung von morporkianischen Bigrammen besorgt. Hoffentlich war der Text in keiner Fremdsprache verfasst. So viele Unbekannte, es war zum Haare Raufen!
"Hey", Damien Bleicht brach sein Schweigen, "die Bohnenstange da ist ein Bekannter von dir. Willst du mit dem reden? Ich muss mal kurz weg. Ich hab' 'ne Unterhaltung mit Strippe, der vielleicht was über die Blumenmorde von letzter Woche weiß" Er zeigte auf eine Seitengasse schräg hinter sich.
Kannichgut nickte, fand aber die Bezeichnung 'Bekannter' leicht übertrieben. Er war dem Mann, der ihnen entgegen kam, nur ein paar Male im "Akki" begegnet. Woher überhaupt wusste Damien davon? Der Szenekenner kannte sich für seinen Geschmack in zu vielen Szenen aus!
Der Bekannte hatte ihn erkannt. "Hah-Beh, sieh an. So spät im Dienst?"
Anfangs hatte Kannichgut 'Herzensb' als Operator-Pseudonym für eine gute Idee gehalten. Seit sich in seinem Bekanntenkreis aber 'Hah-Beh' als Abkürzung durchgesetzt hatte, ging es ihm auf die Nerven. Es war schwer, die Leute davon wieder abzubringen. Vielleicht half eine subtil verteilte Spitze? "Willem ... wie geht's?"
Willem lächelte tadelnd. "Ihr sollt mich doch Ironisch424 nennen!"
"Entschuldige, was gibt's Neues?"
"Ach, das Übliche. Hast neulich im Akki was verpasst."
"Tatsächlich? Erzähl." Manchmal, aber sehr selten, kamen bei solchen Nachfragen tatsächlich interessante Gespräche zustande.
"Da ist so ein steiler Zahn aufgetaucht. Das hättest du sehen sollen! Allen so die Kinnlade runter und so. Ich hab' kurz überlegt, ob ich sie klar machen soll, aber sie war überhaupt nicht mein Typ."
"Nicht dein Typ? Wie sah sie denn aus? Hatte sie einen Bart oder ein Siliziumgehirn?"
"Was? Nee. Blond halt, schon ganz schmuck, aber eben so etepetete." Willem schwang seine Hüften kurz nach links und rechts, um seinen Standpunkt zu untermauern. "Und nicht ganz so heiß wie die dunkelhaarige Blasse, die du angeblich kennst."
"Verstehe. Und was wollte sie dort? Bestimmt nicht klackern, oder?"
"An meinen Klackern hätte ich sie jedenfalls spielen lassen!" Willem kicherte und merkte nicht, dass er sich selbst widersprach. "Ne, sie ist zu Morrpork82 hin, einem dieser neuen Amas. Hat mit ihm gequatscht und dann sind sie abgedampft."
Die Popularität von Klackertreffs führte dazu, dass fast täglich neue Gesichter in der Szene auftauchten und von Tuten und Blasen keine Ahnung hatten, Amateure halt oder kurz: Amas. Der harte Kern der Szene spaltete sich in zwei Lager. Kannichgut gehörte zu der Gruppe, die die steigende Beliebtheit begrüßten, weil sich dadurch die Akzeptanz der neuen Technologien verbreitete. Wenn die Leute sich selbst damit auskannten, würden sie ihn weniger mit Klackerproblemen belästigen, so seine Hoffnung. Die anderen befürchteten, dass sich die Szene durch die Schwemme von Unwissenden nach und nach aufweichte und das tiefere Verständnis von der Seele eines Klackers verloren gehen könnte.
"Spannend. Und sonst?"
"Nichts weiter. Wie weit bist du mit Wutt?"
Kannichgut tastete nach dem Einband von 'Theorie der Information'. "Ich hab's noch nicht ganz durch."
"Alles klar. Kein Problem. Bring es einfach nächste Woche zum Treff mit. Du kommst doch, oder?"
"Denke schon. Bis dann!"
Kannichgut blickte Willem eine Weile hinterher und schüttelte dann den Kopf. So ein Freak!

Morrpork82 hieß eigentlich Ben und war kein Amateur. Jedenfalls fühlte er sich nicht so. Im Gegenteil: Seit ein paar Wochen war er vom Glück verfolgt. Erst hatte er die Anstellung als Operator bei Dill Inkorporiert erhalten und jetzt auch noch eine Frau, die sich für ihn interessierte. Seit ein paar Tagen traf er sich mit ihr und sie war bezaubernd! Heute wollte er ihr seinen Arbeitsplatz zeigen und er hatte das starke Gefühl, dass das Date etwas besonderes werden würde. Er hatte Pastete und Wein besorgt und beides zusammen mit einer gemütlichen Decke in der Log-Trommel versteckt, bis er den Semaphorenturm für sich hatte. Das gedimmte Licht der Öllampen machte die Atmosphäre perfekt. Aufgeregt stand er seitdem am Fenster und wartete auf sie. Nur kurz warf er einen Blick auf das Operator-Pult, wo er den Klacker in den Wartungsmodus versetzt hatte. Das stellte sicher, dass keine störenden Nachrichten eintrafen, während er mit der Frau seiner Träume picknickte. Am Morgen hatte er seinen Namen an die Diskussionsgruppe "Operatoren am Limit" geschickt. Später würde er sicher das ein oder andere delikate Detail veröffentlichen. Er überlegte sich gerade ein paar Aufsehen erregende Formulierungen, als er eine vertraute Gestalt die Glimmerstraße entlang huschen sah. Sein Herz klopfte bis zum Hals, kurz darauf klopfte es auch an der Tür.
Ben öffnete und ihm stockte der Atem, als seine Angebetete die Kapuze ihres Mantels über die Schultern warf. "Yasmin!"
"Ben!" Sie lächelte. "Ich meine: Morrpork82!"
Kurze Zeit später saßen sie im Operator-Raum, direkt unterm Dach, und Ben offenbarte sich seiner Geliebten.
"Ich kann's immer noch kaum glauben, dass du dich für jemanden wie mich interessierst." Seine Wangen glühten.
Sie tat empört. "Na-na-na! Du hast eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe. All die Nachrichten, selbst die geheimsten, die jeden Tag durch deine Hände gehen. Erfährst du da nicht auch eine ganze Menge über anderer Leute Leben?"
Er nippte an seinem Glas. "Im Prinzip schon. Das fällt aber unters Gesetz zum Schutz von Daten anderer Leute." Er beschloss spontan, an den Faden anzuknüpfen und größere Maschinerie aufzufahren. "Im Großen und Ganzen mach' ich hier mein eigenes Ding. Ich hab' die volle Verantwortung für alle ein- und ausgehenden Nachrichten. Da schreibt mir keiner was vor. Bin sowas wie mein eigener Chef. Hab' meine eigenen Regeln." Er grinste. Ein bisschen Übertreibung konnte nicht schaden, bei der Aussicht, die sich ihm bot. Yasmin hatte ein rot-weiß getupftes Kleid gewählt, das ihre üppigen Rundungen kaum vor lüsternen Blicken schützte. Er liebte es, wenn sie sich die störrische Strähne hinters Ohr schob, obwohl sie ihr kurz darauf wieder ins Gesicht fiel. In solchen Momenten wollte er ihr einfach nicht gestehen, dass er eigentlich die Drecksarbeit für den Chef-Operator erledigte und nicht genau verstand, warum er von bestimmten Dokumenten der 'Geheimstufe Zwo' Kopien anfertigen sollte, während er andere gar nicht weiterleiten durfte, sondern vernichten musste. Aber hey: So war der Job nunmal!
"Das ist toll!", lobte sie ihn. "Zeigst du mir jetzt, wie der Wartungsmodus funktioniert? Darauf freue ich mich schon den ganzen Tag!"
Ben fühlte Unbehagen. "Dazu müssten wir aufs Dach. Da ist der Zugang strikt reglementiert ..."
Yasmin setzte sich auf ihre Schienbeine und beugte sich zu ihm. "Ich dachte", schnurrte sie, "wir machen hier und heute unsere eigenen Regeln?"

Daemon näherte sich dem Klackerturm in der Glimmerstraße mit einem Gefühl dumpfer Eile. Wenn Bredas Informationen stimmten, traf Lena sich hier mit einem Klackermann namens Morpork. Über ihre Absichten war er sich nicht im Klaren, aber sie hatte sicher nichts Gutes im Sinn. Der Turm ragte still in die Nacht hinaus. Die Eingangstür war verschlossen, deshalb hatte er sich Hilfe mitgebracht.
"Los, Harry, beeil dich!" Er hob den Viertelmeter Gnom, der sich eigentlich auf einen ruhigen Abend bei Roman und Kerzenschein gefreut hatte, an eines der Fenster im Erdgeschoss.
"Ja, ja! Bloß nicht hetzen! Immerhin wärst du ohne mich ganz schön aufgeschmissen!"
"Es gibt noch andere Gnome bei der D.O.G."
"Ja, aber die sind zu arm für einen Namen." Harry kicherte über den Witz, den er neulich in der Kantine aufgeschnappt hatte. "Müssten wir nicht eigentlich klopfen und laut 'Stadtwache von Ankh-Morpork' oder so rufen?"
"Nein," Daemon schüttelte den Kopf, "das ist eine verdeckte Operation. Außerdem wollen wir ja die Nachtruhe nicht stören."
"Hm, na gut. Warte kurz!"
Harry schlüpfte durch die Öffnung. Kurz darauf sprang der Türriegel zur Seite und Daemon trat ins Innere des Turmes. Im Erdgeschoss war es still. Wo tagsüber inzwischen mehr Leute ihre Nachrichten abgaben als bei der Post wirkte der große Tresen mitten in der Nacht unnötig und fehl am Platz. Das schwache Mondlicht erhellte einen der Nachrichtentische am Fenster. Daemon warf einen kurzen Blick auf eine der ausliegenden Buchstabentafeln, mit denen Absender ihre Nachrichten vor dem Versand notdürftig, wie man ihm versichert hatte, verschlüsseln konnten. Eine Treppe führte hinauf ins nächste Stockwerk. Harry erklomm einen Pfosten des Geländer und balancierte nach oben. Daemon folgte ihm.
"Archiv", las Harry das Schild an der verschlossenen Tür, die den Zugang zur eigentlichen Nutzfläche der Etage versperrte. "Hier bewahren sie alle Nachrichten auf, die Klackerfuzzis, Strang-Betreiber und zahlende Kunden als wichtig erachten", erklärte er.
"Ich kann mir nicht vorstellen, was das für Nachrichten sein sollten", erwiderte Daemon ohne großes Interesse.
"Zum Beispiel die Klackertreff-Kataloge! Das ist der angesagteste Hype zurzeit! Du erfährst eine Menge über ferne Orte und Leute und du kannst mit allen diskutieren. Über alles Mögliche! Zum Beispiel auch über das Wetter in Llamedos!"
"Das ist allerdings tatsächlich ein wichtiges Diskussionsthema. Über die vielen Möglichkeiten würde ich mich gern weiter mit dir unterhalten." Daemons Ironie war dicker als die Butterschicht auf Broten von Mama. "Andererseits habe ich hier auch einen Fall zu lösen."
"Stimmt!" Harry war gut darin sowohl Ironie zu ignorieren als auch Themen schnell zu wechseln. "Du wolltest mir dazu noch ein bisschen was erzählen."
"Da gibt es nichts zu erzählen." Daemon wandte sich der Treppe zum zweiten Stockwerk zu, von wo ein schwaches Leuchten herunter drang. "Wir prüfen die Lage und verhören vielleicht ein, zwei Verdächtige."
"Zu welchem Verbrechen?"
"Das wird sich noch zeigen."
Ein durch dickes Mauerwerk gedämpfter Schrei zog durch den Treppenbereich. Er endete mit einem ebenso dumpfen Schlag.
"Was war das?", fragte Harry.
"Der Schrei kam von unten, sieh dort nach, was geschehen ist!"
"Also ich fand, er kam eher von oben." Harry kratzte sich sichtlich verwirrt am Kopf.
"Dort seh ich nach. Beeilung!"
Daemon sprintete die Treppe hinauf. Er fand das zweite Obergeschoss leer vor. Die Klackermaschinerie beherrschte den Raum und hatte nur etwas Gesellschaft von einer kratzig aussehenden karierten Decke, auf der billiger Wein und zermanschter Teig ausgebreitet lagen. Drei Kerzen waren an taktisch-romantischen Stellen platziert, doch nur eine brannte flackernd und rußend. Ein kühler Windhauch streifte seine Wangen. Er blickte zur Decke, wo eine Dachluke offen stand. Mit langen Schritten hastete er hinüber zu der Leiter, die an die Luke gelehnt stand, und kletterte hinauf. Seine Muskeln und Knochen hatten wieder in den aktiven Dienst zurückgefunden und schmerzten nur noch unterschwellig. Er dankte Rogi im Stillen für die eine oder andere Anti-Schmerz-Pille.
Als er den Kopf vorsichtig durch die Öffnung steckte, erwartete er das Schlimmste, doch er sah nur eine Gestalt, die einige Schritt entfernt über die Brüstung gebeugt stand. Daemon stieg aufs Dach. Kalter Wind zerzauste ihm das Haar.
"Lena ..."
Ein Wort reichte, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Die Gestalt fuhr herum und sah ihn entsetzt an.
"Er ... er wollte mir den Wartungsmodus zeigen! Ein Seil hat sich gelöst!"
"Ja." Daemons Stimme war kälter als der Wind. "Ein bedauerlicher Unfall, nicht wahr?"
"Ich. Ich ..."
"Spar dir deine Geschichten. Ich weiß Bescheid. Über deinen Auftritt bei den Klackermännern. Über Morrpork82, oder soll ich Ben sagen? Über die Typen, die dich verfolgen. Dass du mich benutzt hast, um ihnen zu entkommen ..."
Lena nickte. "Ich hätte mich nie im Akki blicken lassen dürfen. Das war ein Fehler. Aber dass ich dich benutzt haben soll ... Das ist nicht wahr! Ich ... wollte dich da nicht mit reinziehen. Ehrlich! Und Lieselotte auch nicht ..." Sie senkte betreten den Kopf.
Daemon wollte ihr fast glauben. Er war auch überrascht, wie gut seine Schüsse ins Dunkel funktionierten. Vielleicht bekam er doch noch aus hier heraus, was eigentlich vor sich ging. "Was Ben betrifft ..."
Lena blickte auf. "Es musste sein. Er hat zugegeben, unsere Nachrichten abgefangen und weitergeleitet zu haben. Er hat nicht im Auftrag eines Hintermanns gehandelt. Er war das Primärziel."
Licht! Er musste Licht ins Dunkel bringen! "Und wenn du 'unsere' sagst, meinst du ..."
"Den Geheimdienst von Sto-Lat, ja."
Daemon war unsicher, ob er dem Pfad weiter folgen wollte, den er beschritten hatte. Stattdessen trat er ein paar Schritte an Lena heran. "Will ich über die Brüstung sehen?"
Lena warf einen Blick über ihre Schulter. "Ich habe das Seil gelöst. Er hätte sich einen solchen Tod gewünscht."
Daemon schluckte. Wem stand er da gegenüber? "Was ... Was wird jetzt aus uns? Bin ich ein ... Sekundärziel?"
Lena schaute ihn aus großen Augen an. "Ich mag dich wirklich, Dae. Doch ich muss gehen. Sie sind immer noch hinter mir her. Es tut mir Leid."
Sie griff nach seinem Arm und zog ihn näher. Daemons Verkrampfung löste sich ein wenig. Als er ihre Lippen auf seinen spürte, schwand sie ganz. Als er sie umarmte, zogen andere Teile seines Körpers sich zusammen.
Jemand klatschte. "Eine gar reizende Vorstellung, Fräulein Lanters! Auch Ihnen vielen Dank, Herr Lenkerfan! Ab hier übernehmen wir."
Entsetzt schauten Daemon und Lena in Richtung des Neuankömmlings, der vor der offenen Dachluke stand. Neben ihm hockten zwei Armbrustschützen, die ihre Läufe auf sie gerichtet hatten.
"Was geht hier vor?", wollte Daemon wissen.
Der Mann, den Daemon als Dreistiefel wieder erkannte, lachte. "Frau Lanters hier hat Ihnen doch schon alles gesagt, was Sie wissen müssen. Sto-Lat hat unseren wichtigsten Mann in der Operatorenszene ausgeschaltet. Dafür schalten wir jetzt sie aus. Bitte treten Sie zur Seite!"
Daemon erwartete einen flehenden Blick in Lenas Augen, doch er fand nur kühle Berechnung, als sie den Mann an der Dachluke taxierte. Dann wurden plötzlich ihre Augen weich, als sie Daemon ansah. "Ich muss gehen", formten ihre Lippen lautlos. Dann stieß sie ihn weg und sprang über die Brüstung. Zwei Bolzen flogen gewohnt dicht an Daemons Kopf vorbei, als sich das Seil straffte, das Lena mit sich gerissen hatte. Daemon rappelte sich auf und lief zu den Zinnen.
"Denk daran", schrie er in die Nacht hinaus, "weshalb du eigentlich nach Ankh-Morpork gekommen bist", und hoffte, dass sie ihn noch hörte.

Lena hatte ihn gehört und zwei schöne Tage mit ihrer Schwester verbracht. Am Posthof wischte sich Lieselotte schniefend eine dicke Träne von der Wange. "Schade, dass du schon abreisen musst. Wir hatten viel zu wenig Zeit!"
"Ich weiß", antwortete Lena, "und es tut mir Leid. Aber ich dachte, wenn ich schon mal hier bin", Lenas Geste umfasste die ganze Stadt und noch ein wenig mehr, "muss ich wenigstens einmal die Stadt auf eigene Faust erkunden. Ich wollte nicht, dass du dich sorgst."
"Und ich dummes Huhn schicke extra einen erfahrenen Wächter, damit er auf dich aufpasst. Tja, alles wie früher eben." Lieselotte lachte und bekam dann erneut feuchte Augen. "Vielen Dank für die schönen Tage. Du hast mir gefehlt."
"Du mir doch auch, Lotte!"
Liebevoll nahm die Näherin ihre kleine Schwester in den Arm und drückte sie. "Melde dich, sobald du angekommen bist, ja? Schick einen Brief. Oder noch besser: eine von diesen komischen Turm-Nachrichten, du weißt schon." Sie zwinkerte verschwörerisch, als sie die Umarmung löste und Lena ihren Koffer reichte. "Damit kann man sogar geheime und verschlüsselte Nachrichten übermitteln! Genau das richtige für uns beide!" Lieselotte strahlte.
"Ja", sagte Lena mit trockener Kehle. "Genau das richtige." Sie schluckte angestrengt, doch der schwere Brocken schlechten Gewissens hielt sich hartnäckig in ihrer Kehle.
Die beiden Schwestern umarmten sich erneut, während der Kutscher Lenas Koffer auflud. Sie stieg in die Kutsche und atmete erleichtert auf, als sie in zwei Frauengesichter blickte. Wenigstens auf der Rückfahrt würde sie von aufdringlichen Kerlen verschont bleiben. Die Wagentür wurde geschlossen und Lena steckte den Kopf aus der Öffnung, um ihrer Schwester zum Abschied zu winken. Sie hatte insgeheim gehofft, dass Daemon sich noch einmal melden würde, aber sie hatte ihn nach der Nacht auf dem Turm nicht wieder gesehen. Langsam rollte die Kutsche Richtung Großes Tor. Lena schloss das kleine Fenster, als ihre Schwester aus ihrer Sicht entschwand, und lehnte sich seufzend zurück. Sie konnte von Glück sagen, dass der Ankh-Morporkianische Geheimdienst sie nicht aufgespürt hatte. Sie wussten offenbar nichts von Lieselotte. Das war gut.
"Diese Stadt ist ganz schön anstrengend, nicht wahr?"
Sie brauchte einige Sekunden, ehe sie bemerkte, dass die Frau neben ihr sie angesprochen hatte.
"Allerdings", antwortete sie knapp und wandte den Blick wieder aus dem Fenster. Doch die Frau ließ nicht locker.
"Waren Sie wegen der Familie hier? Hier wohnen wirklich eine Menge Leute. Hildegart und ich besuchen jedes Jahr um diese Zeit unsere Enkelkinder. Es ist jedes Mal ein großes Fest, wenn wir alle zusammenkommen, nicht wahr Hildi?"
Die Angesprochene nickte, blieb aber stumm.
"Wen aus Ihrer Familie haben Sie denn besucht, Liebes?"
"Meine Schwester." Lenas Blick pendelte zwischen der rothaarigen Dame ihr gegenüber und der Welt außerhalb der Kutsche. Obwohl sie gut durch den Frühverkehr von Morpork vorankamen, war das Große Tor noch nicht in Sicht gekommen.
"Ihre Schwester, wie nett! Und was ist mit Ihren Eltern?" Die Dame lächelte.
"Was? Wieso wollen Sie ...?" Lena warf einen weiteren Blick aus dem Fenster und erschrak. "Wir fahren falsch!" Sie deutete mit dem Finger nach draußen. "Das ist der Pseudopolisplatz!"
Die beiden Damen lächelten Sie nur an. Lena rüttelte am Türgriff, doch die Tür der Kutsche blieb geschlossen.
"Was hat das zu bedeuten?" Lena erschauerte. Sie wusste, dass sie die Kontrolle über die Situation verloren hatte, bevor die Kutsche ruckelnd zum Stehen kam. Ophelia Ziegenberger zog ihre Dienstmarke aus dem falschen Busen.
"Stadtwache von Ankh-Morpork. Lena Lanters, Sie sind verhaftet wegen Mordes an Ben Kammer. Mina, die Handschellen bitte." An Lena gewandt: "Wir befinden uns direkt am Wachhaus Pseudopolisplatz. Sie haben die gute Gelegenheit, das hier diskret abzuwickeln."
Mina ließ sich nicht lange bitten und Lena sah ein, dass sie verloren hatte.

Daemon starrte nachdenklich aus dem Fenster seines Büros. In der Hand hielt er einen kleinen Zettel mit sechzehn Buchstaben. Mir geht's gut, Lena, dachte er. Aber ging es ihr wirklich gut? Seit drei Wochen saß sie bei R.U.M. in Haft und ihr stand ein Mordprozess bevor, über dessen Ausgang kein Zweifel bestand. Soweit Daemon informiert war, waren die diplomatischen Anfragen nach Sto-Lat ohne Antwort geblieben. Es klopfte.
Humph MeckDwarf, Leiter der D.O.G., trat herein. Er hielt sich nicht mit Formalitäten auf. "Ich dachte, das könnte dich interessieren." Unter Daemons missmutigem Blick durchquerte er den Raum und legte eine Akte auf den Schreibtisch. "Sie ist jetzt in den Händen des Patriziers."
Kurz nachdem Humph den Raum verlassen hatte, hielt Daemon den Bericht in seinen Händen und studierte ihn aufmerksam.
"Vom Regen in die Traufe", murmelte er. "Aber immerhin eine Chance." Er legte den Zettel mit der nicht mehr geheimen Botschaft zusammen mit dem Bericht in die Akte. Er schloss den Deckel und warf sie nach kurzem Zögern ins Feuer, das schwach in seinem Kamin glomm. Er starrte eine Weile in die hungrig auflodernde Flamme.
"Mach's gut, Lena", sagte er, bevor er sich abwandte. Er hatte noch eine Bezahlung einzufordern und freute sich auf das epische Schauspiel, das Lieselotte ihm präsentieren würde.
Lenas Botschaft wurde mit Hilfe der Playfair-Verschlüsselung kodiert. Das Schlüsselwort für das Playfair-Quadrat lässt sich sicher leicht erraten. Entgegen Kannichs Vermutung handelt es sich bei der Playfair-Verschlüsselung um eine monoalphabetische, da ein feststehendes Alphabet zu Kodierung und Dekodierung verwendet wird.

Zählt als Patch-Mission für den Komm-Ex-Patch.



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Feedback:

Von Breda Krulock

14.06.2010 19:43

Quote:...doch in der Praxis haperte es nochgewaltig...:) Mein Lieblingssatz!

Von Lilli Baum

14.06.2010 19:43

Wow, was für eine klasse Geschichte! Die hatte einfach alles, es war ein wahres Vergnügen sie zu lesen :)

Von Kannichgut Zwiebel

28.06.2010 22:30

Anlässlich der gerade geführten Diskussion bezüglich Feedback tue ich hier meinen Wunsch über weiteres Feedback kund. Nur keine Scheu! 8)

Von Sebulon, Sohn des Samax

28.06.2010 22:47

Ich für meinen Teil fand die Geschichte [b]sehr[/b] unterhaltsam. Gerade das Ende war beeindruckend düster.

But then again ... du willst bestimmt die Meinung von Leuten hören, die deine Geschichte nicht so toll fanden, um daraus lernen zu können ...

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