Laura-Ingrid

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von Hauptgefreite Lilli Baum (RUM)
Online seit 27. 05. 2008
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Jeder Wächter hat eine Vergangenheit.

Dafür vergebene Note: 11

Es war einmal...

In Lancre.
Dem idyllischen Kleinkönigreich in den Spitzhornbergen. Heimat so bekannter Persönlichkeiten wie Oma Wetterwachs. Mit wilden Wäldern, einigen malerischen Dörfern und sogar einer Brücke, unter der ein Troll haust.
Und wenn auch klein an Fläche (zumindest horizontal gesehen), so ist Lancre doch reich an frohgemuten Einwohnern. Die natürlich regelmäßig etwas essen wollen.
Deswegen gibt es in Lancre einige landwirtschaftliche Betriebe, welche hochwertige agrarische Güter produzieren. Allerdings ist es auf Dauer etwas eintönig auf dem Korn herumzukauen; also gab es in Lancre auch eine Mühle.
Oh, die Lancremühle war ein architektonisches Kleinod. Eingepasst zwischen zwei Steilen Felswänden, die den Wind wie einen Trichter einfingen, stand sie da und unterschied sich von allen anderen Windmühlen der Scheibenwelt dadurch, dass die Flügel nicht vertikal an der Seite, sondern horizontal auf dem Dach eingepasst waren. Um all die Fallwinde einzufangen und zu nutzen.

In der Mühle wohnte ein Müller zusammen mit seiner Frau und seinen fünf Kindern. Der Müller war ein guter Mann namens Leonard Schuster, seine Frau war ebenso nett und freundlich und hörte auf den Namen Ilse. Die beiden führten ein frommes Leben, zahlten immer pünktlich die Steuern und waren Hexen gegenüber prinzipiell immer besonders großzügig. Wen wunderte es da, dass deren Sprösslinge allesamt mit besonderen Gaben gesegnet waren:
Das älteste Kind, eine Tochter namens Lisa-Isolde von neun Jahren konnte schon um Längen besser kochen als ihre Mutter. Das jüngste Kind, gerade mal ein Jahr alt, konnte alles wiederfinden, was auch immer es verlegte. Was ganz gut war, denn die kleine Luise-Ina war für ihr Alter schon sehr schlampig. Die Söhne nahmen Position zwei und vier in der Geburtsreihenfolge ein. Der siebenjährige Leif-Ingo konnte nicht nur jeden Baum und jede Felswand in der Umgebung so flink wie ein Eichhörnchen erklimmen - er kam auch jedes Mal ohne Probleme wieder heil herunter. Und Lukas-Isidor hatte mit seinen drei Jahren schon eine ungeheure Weisheit, was das Wetter betraf und die Mühle schon so manches Mal vor Sturmschäden durch rechtzeitige Unwetterwarnungen bewahrt. Nur das mittlere Kind schlug aus der Reihe, die fünfjährige Laura-Ingrid. Ständig lief sie gegen irgendwelche Sachen! Fiel von Treppen! Stolperte über Dinge!

Hätte das kleine Mädchen mit den braunen Haaren und den brauen Augen nicht noch ihr sonniges Gemüt und liebenswerte Neugier gehabt, dann hätten die Eltern wahrscheinlich an ihren Genen gezweifelt.
Laura-Ingrid war sogar überaus neugierig. Sie lechzte geradezu nach neuen Erfahrungen und Wissen und saugte letzteres wie ein großer Schwamm in sich auf.
Sie verstand sogar schon, wie die Mühle funktionierte; trotz dass sie meist schon nach wenigen Augenblicken weggescheucht wurde, wenn sie sich den Mühlsteinen und Zahnrädern näherte. [1]
Deswegen ging ihr Vater eines Tages zu ihr hin, ging in die Hocke, um mit der Kleinen auf Augenhöhe zu sein und fragte: "Laura-Ingrid, würdest du gerne die Schule besuchen?"
"Was ist denn das?", fragte sie arglos mit großen Augen.
"Die Schule ist ein Ort, an dem man Dinge lernt. Schreiben und Lesen und Rechnen und so."
"Au ja!", entgegnete das kleine Mädchen und klatschte begeistert in die Hände.

Und so kam es, dass Laura-Ingrid Schuster in Kontakt mit Bildung kam, was unbedarfte Menschen als durchaus erstrebenswert erachteten.
Mit Bildung, so heißt es nämlich, kann man später einmal so ziemlich alles machen. [2]
Und das fanden Laura-Ingrids Eltern prima, denn wenn den anderen Kindern schon die Karrieren als Meisterköchin, professioneller Bergführer, Wetterfee und Suchmaschine offen standen, dann sollte auch Laura-Ingrid alle Chancen für ein glückliches und erfülltes Leben als Berufstätige in irgendeinen Beruf haben.

Laura-Ingrid mochte die Schule. Zumindest am Anfang.
Alles war aufregend und neu! Zum einen die Mitschüler, die allesamt älter als ihre große Schwester waren und dann auch das ganze Ambiente. Eine große Schiefertafel und bunte Kreide und sie hatte sogar ein Heft aus echtem Papier bekommen und Stifte auch!
Alles war so großartig und aufregend und neu!
Der Lehrer Hempel, ein hakennasiger, hochgewachsener Mann, strahlte in ihren Augen absolute Brillanz aus, war fast schon so etwas wie ein Gott, zumindest aus Laura-Ingrids Blickwinkel.
Sie lernte erstaunlich schnell. War stets auf geradezu fröhliche Art und Weise aufmerksam und pinselte mit großem Vergnügen jedes Wort und jede Zahl so gut sie konnte in ihr Heft ab,
Zu Beginn wurde sie die meiste Zeit ignoriert und der Lehrer Hempel gab ihr jeden Tag, wenn die anderen sich in stiller Fleißarbeit übten, extra Lektionen, um ihr die Grundlagen des Lesens und Schreibens beizubringen. Er war etwas irritiert von ihrer Begeisterung und geschmeichelt wegen der Bewunderung, die sie ihm offen gegenüber brachte.
Jeden Abend erzählte Laura-Ingrid mit strahlenden Augen, was sie für neue Dinge in der Schule gelernt hatte und brachte ihre Familie so manches Mal zum Staunen.
Als jedoch der Lehrer nach einem halben Jahr Laura-Ingrid in den normalen Unterricht integrierte, tauchten die ersten Probleme auf.

Eigentlich begann es ganz harmlos.
"Und da wir hier zwölf Bauernbetriebe in Lancre haben, die Rübsen anbauen und zwar 130 Scheffel pro Jahr, wovon 50 Prozent für die Eigennutzung im Inland einbehalten werden, können wir also im Jahr genau 760 Scheffel Rübsen in unsere Nachbarländer exportieren. Deshalb-"
"780", unterbrach in Laura-Ingrid.
"Was?", fragte der Lehrer Hempel irritiert und überrumpelt.
"Na, es können jedes Jahr genau 780 Scheffel exportiert werden. Zwölf mal 130 Scheffel mal 50 Prozent sind gleich 780 Scheffel."
Der Lehrer lief über und über rot an und der Rest der Klasse brach in schallendes Gelächter aus.

Das war der Anfang vom Ende.
Immer öfter verbesserte Laura-Ingrid ihn und der Lehrer sah sich selbst im Sinken. Dieses kleine Ungeheuer kostete ihm seine Reputation! Sie machte ihn lächerlich! Untergrub seine Autorität! Und das ausgerechnet vor Teenagern!!! Er begann, sie immer mehr zu hassen.
Laura-Ingrid hingegen blieb arglos und machte einfach so weiter wie bisher. Auch wenn sie langsam immer mehr zu ahnen begann, dass dieser Lehrer wohl doch nicht so allwissend war, wie sie gedacht hatte. Und ihr letztes bisschen Bewunderung schwand, als er begann sie zu triezen.
Er nutzte es aus, dass sie ständig Schreibfehler machte. Sie gab sich zwar die größte Mühe, starrte sogar manchmal so lang und intensiv an die Tafel, dass ihr die Augen tränten, aber trotzdem war ihr Text dann immer noch gespickt mit Fehlern.
Der Lehrer drehte diese Schwäche so, als wäre sie viel zu dumm zum Schreiben. Machte sich einen Spaß daraus aus ihren Fehlerübersäten Notizen vorzulesen und ließ sich auch sonst keine Gelegenheit zu Gemeinheiten aus.

Laura-Ingrid wurde immer niedergeschlagener und zurückhaltender und traute sich irgendwann gar nicht mehr, überhaupt den Mund aufzumachen. Auch ihre Eltern merkten, dass sich ihr Verhalten änderte, missinterpretierten das aber als erste Zeichen von beginnender Gelehrtheit und waren mächtig stolz auf ihr kleines Töchterchen.
Das schlimmste aber war, dass Laura-Ingrid dem Lehrer Hempel immer noch glaubte. So oft hielt er ihr vor, dass sie nur ein dummes, kleines Kind war und auch immer auf geradezu bestürzende Weise dumm bleiben würde, dass Laura-Ingrid irgendwann selbst davon überzeugt war.
Immer stiller werdend, arbeitete sie aber dennoch weiterhin mit, in der Hoffnung, dann vielleicht später nicht ganz so dumm zu sein. Sie hielt durch, klammerte sich an diesen kleinen Funken Hoffnung.

Eines Tages dann aber dachte sich der Lehrer Hempel eine besonders fiese Gemeinheit aus.
Er hatte sich wieder einmal ihr Heft geschnappt und schweifte mit seinem Blick über ihr geschriebenes Werk. Verächtlich schüttelte er den Kopf: "Also wirklich, du hast dich mal wieder selbst übertroffen. 37 Fehler auf einer einzigen Seite!" Er beugte sich zu ihr hinunter und schaute sie mit scharfen Blick an: "Sag mal, kannst du überhaupt deinen eigenen Namen richtig schreiben?"
Laura-Ingrid wollte zu einer Antwort ansetzen, aber der Lehrer unterbrach sie, bevor sie überhaupt einen Piep heraus bringen konnte.
"Irgendwie bezweifle ich das sehr", sagte er, "also solltest du einen neuen Namen in Erwägung ziehen, Laura-Ingrid. Ich wäre für Lilli. Der besteht nur aus zwei verschiedenen Buchstaben. Den sollte sogar ein kleines, dummes Kind wie du richtig schreiben können!"
Laura-Ingrid lief über und über rot an und wünschte sich, im Boden zu versinken, doch der tat ihr nicht den Gefallen. Die Klasse lachte.

An diesem Tag ging Laura-Ingrid am Abend zu ihrem Vater mit der festen Absicht, ihn darum zu bitten, dass sie nicht mehr zur Schule gehen muss.
"Du, Vati", sagte sie.
Der nahm sein Töchterchen auf den Schoss und wuschelte ihr liebevoll durchs Haar: "Was möchtest du denn, meine Kleine?"
"Es geht um die Schule", brachte sie schüchtern hervor.
Er lächelte sie an: "Aja, die Schule. Du weißt ja bestimmt, wie stolz deine Mutter und ich auf dich sind, oder? Also streng dich immer fleißig an, damit wir die Mühle nicht umsonst verkauft haben."
"Was?", fragte Laura-Ingrid mit einem Anflug von Entsetzen.
Ihr Vater winkte ab: "Ach nichts, ach nichts. Wir haben die Mühle nur an den König verkauft und sie nun gepachtet. Aber in zehn Jahren müssten wir genug angespart haben, um sie wieder zurück kaufen zu können." Er drückte seine Tochter: "Da wir dadurch jetzt genug Geld haben um dir eine Schulbildung zu ermöglichen, ist es uns auf jeden Fall wert. Jedes unsrer Kinder soll eine Chance auf ein glückliches und erfülltes Berufsleben haben. Du wirst bestimmt einmal eine tolle ähm... Irgendwas."
Laura-Ingrid stockte der Atem. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ihren Eltern von ihrem furchtbaren Lehrer zu erzählen, aber nun traute sie sich einfach nicht mehr. Sie konnte ihre Eltern doch nicht einfach so furchtbar enttäuschen! Vor allem, da sie ganz genau wusste, wie stolz sie doch auf ihre Mühle schon immer gewesen waren.
Also log Laura-Ingrid ihm lang und ausführlich vor, wie toll und wundervoll die Schule doch war.

Am nächsten Tag genauso. Und am übernächsten. Laura-Ingrid begann zu Hause wieder so muntern zu plappern wie zu Beginn ihrer Schulzeit.
Während sie in der Schuler immer zurückhaltender und schreckhafter wurde. Irgendwann genügte ein Blick vom Lehrer in ihre Richtung, um sie zum Zittern zu bringen. Laura-Ingrid war ein seelisches Wrack.

Und eines Morgens dann, als ihr wieder einmal ein grausamer und quälender Schultag bevor stand, schaffte sie es nicht einmal mehr, sich zu überwinden, um die Klinke herunterzudrücken, um das Klassenzimmer zu betreten. Unwillkürlich wich sie rückwärts zurück und rannte davon, so schnell sie ihre Beinchen trugen.
Querfeldein ging es, über Stock und Stein, bis sie schließlich über eine große Wurzel stolperte.
Wie betäubt blieb sie eine Weile liegen. Dann setzte sie sich hin, schlang die Arme um die Beine und starrte eine ganze Zeitlang von trüben Gedanken beseelt vor sich hin.
Was sollte sie nur machen? Sie konnte einfach nicht mehr, nie wieder, nie, nie, niemals jemals wieder wollte sie in diese abscheuliche Schule gehen! Aber was würden ihre Eltern sagen? Das konnte sie ihrer Familie doch nicht antun!
Dicke Tränen der Verzweiflung rannten Laura-Ingrid über die Wange und sie schniefte herzergreifend, was aber niemand hörte.

Schließlich rappelte sie sich auf, klopfte sich den Staub aus den Kleidern und machte sich auf den Rückweg. Es brachte ja doch nichts. Sie hatte ihre Pflichten zu erfüllen und wenn es hieß, dass sie zurück in die Hölle musste, dann ging sie eben zurück in die Schule.
Laura-Ingrid blieb stehen und sah sich um. Wo war sie eigentlich gelandet? Diese Ecke kannte sie gar nicht. So übereilig war sie davon gestürmt, dass sie an einem völlig unbekannten Ort gelandet war.

Sie schaute sich genau um. Überall waren Bäume. Aber nicht so, wie Laura-Ingrid es von der einheimischen Flora kannte, nämlich bunt gemischt und und gut verteilt, sondern nach Größe und Sorte sortiert in Reih und Glied.
Staunend lief sie zwischen einer Reihe aus Miniulmen und Pappelchen entlang. So einen lustigen Wald hatte sie noch nie gesehen!
Schließlich kam sie an ein Schild und ging ganz nahe heran um es mühsam zu entziffern: "Be Ah Es Um Eszeha Ule. Baumschule. Baumschule?"
Bei dem bloßen Wort Schule wurde ihr schlecht und ihre Knie weich. Nein! Nicht schon wieder so eine Schule!
Was hatte sie nur verbrochen, dass sie ständig so gestraft wurde?

Laura-Ingrid begann schon wieder zu weinen, Tränen purzelten über ihr Gesicht, Schnoder lief aus ihrer Nase. Sie wurde lange vom Weinkrampf geschüttelt, und als er endlich vorbei war, wurde ihr klar, dass sie sich immer noch in der Baumschule befand. Ängstlich zuckte sie zusammen, aber da kam kein böses Wort, kein hämisches Gekicher und auch kein spöttisches "Du Heulsuse!".
Vorsichtig begann sie sich umzusehen. Nein. Keine großen Kinder, die über sie lachten, kein Lehrer, der sie daran erinnerte, wie dumm sie doch war. Nur viele kleine Bäume, der größte gerade mal ein Stück höher als sie.
Und ein herrlich frischer Wind. Und singende Vögel. Blumen, die hier und da neben den Bäumen blühten. Und warmer Sonnenschein, der die letzten Tränchen trocknete.
Was für eine wundersame und friedliche Schule!
Vor lauter überschwänglicher Freude umarmte Laura-Ingrid einen kleinen Ahorn (achtete dabei aber darauf, keine Äste oder Blätter zu knicken).
Fröhlich lachte sie, denn ihr wurde klar, dass such ein Ausweg bot aus ihrer Misere: Sie würde ab jetzt einfach zur Baumschule gehen, dann konnten ihre Eltern weiterhin stolz auf sie sein und trotzdem musste sie diesen dummen hakennasigen Lehrer, nie, nie, nie, NIE wiedersehen!
Die kleine Stimmer der Vernunft, die einwandte, dass die Baumschule etwas zu seltsam war, um als richtige Schule durchzugehen, ignorierte sie.
Stattdessen suchte sie den Rückweg und fand schließlich nach einigen Irrungen wund Wirrungen pünktlich zur normalen nach-Hause-komm-Zeit zurück zur heimatlichen Mühle.

Die Tage danach kamen ihr vor wie ein wundervoller Traum.
Statt zur Schule ging sie einfach zur Baumschule und verbrachte dort ihre Zeit. Sie beobachtete die Insekten, schaute sich die Bäume an, genoss es, in der Natur zu sein. Das Ganze war wie heilsamer Balsam für ihre gemarterten Nerven und sie begann sich wieder wohl in ihrer Haut zu fühlen und zu ihrem fröhlichen und unbeschwerten Wesen zurück zu finden.

Mit der Zeit begann sich aber dann doch auch ihr Gewissen zu regen. Ihre Eltern wussten ja nicht, dass sie die normale Schule schwänzte um die hier zu besuchen.
Klar, dies war auch eine Lehranstalt - aber um ehrlich zu sein, hatte Laura-Ingrid nicht wirklich das Gefühl, etwas zu lernen. Anscheinend war die Baumschule eine Schule für Bäume. Und anscheinend wurden die in einer Art und Weise unterrichtet, die sie nicht begriff.
Auf der einen Seite fühlte sie sich so gut, wie lange nicht mehr, und war es nicht das, was ihre Eltern wollten; dass es ihr gut ging?
Laura-Ingrid beschloss, noch ein bisschen zu warten, bis sie ihren Eltern von der Schule erzählen würde. Einen guten Zeitpunkt abpassen, genau so würde sie es machen.
Allerdings war da noch ein Problem mit dem Lehrer Hempel. Wenn der ihre Eltern besuchte und sie verpetzte, dann würden die beiden erst recht schrecklich enttäuscht von ihr sein.
Allerdings fehlte sie ja schon bereits seit einigen Tagen. Wenn er sie bis jetzt noch nicht verraten hatte, wieso sollte er es dann jetzt noch tun?

Laura-Ingrid vertagte das Problem auf später und widmete sich weiter ihren Studien in der Baumschule.
Sie stellte fest, dass Bäume unglaublich toll waren. Niemand ärgerte einen anderen und sie waren standhaft und stolz, selbst wenn ihnen der Wind noch so sehr um die Kronen pfiff. Und wie hübsch sie doch aussahen, wenn die Sonne durch ihre Blätter strömte!
Laura-Ingrid begann eine gewisse Bewunderung für diese Wesen zu entwickeln.
Eines Tages probierte sie dann aus, wie es wäre, wenn sie selbst ein Baum wäre. Sie stellte sich einfach hin, breitete die Arme aus und ließ alles auf sich wirken, wobei sie versuchte, möglichst wenig zu denken. Nach ein paar Minuten taten ihr die Arme weh, also ließ sie sie sinken und machte ansonsten unbeirrt weiter.
Als sie schließlich die Zeit zur Heimkehr näherte, entspannte sie sich und fühlt sich zugleich von einer großen Euphorie erfüllt. Sie hatte absolut nichts gelernt, aber irgendwie fühlte sie sich etwas weniger dumm, auf einer seltsamen, nicht fassbaren Ebene.
Laura-Ingrid machte das einige Wochen lang und fand dabei sogar heraus, wie man sich im Wind bewegen musste, damit man noch baumhafter wirkte und dass einem nicht die Muskeln so sehr vom vielen Herumstehen schmerzten.

Eines Tages dann kam es zu einem Zwischenfall. Es hatte schon am Morgen nicht so gut begonnen, der Himmel war von grauen Wolken verhangen gewesen, die schlechtes Wetter verhießen. [3]
Laura-Ingrid störte das nicht so sehr, denn sie wusste ja, dass Regen etwas gutes war, denn er ließ die Pflanzen wachsen.
Als sie mittendrin bei ihrem üblichen ich-tu-so-als-wäre-ich-ein-Baum-Spiel war, hörte sie plötzlich Schritte. Erschrocken huschte sie hinter eine Fichte mit besonders dichten Nadelkleid.
Sie hörte wie jemand durch die Reihen stapfte und beobachtete einen ältlichen Mann. Ihr Herz gefror, als ihr klar wurde, dass das der Baumschullehrer sein musste. Na toll! Es war ja auch zu schön gewesen, um von Dauer zu sein!
Trotzdem blieb sie in ihrem Versteck. Vielleicht hatte sie ja Glück und der Baumschullehrer verschwand wieder so schnell, wie er gekommen war. Der alte Mann schien die Bäume zu betrachten. Er untersuchte sie, klopfte ans Holz, zupft hier und da ein Blättchen ab und überprüfte es auf irgendwelchen Krankheitsbefall.
Laura-Ingrid bemühte sich, möglichst nicht zu atmen, doch irgendwann musste sie doch nach Luft schnappen und japste gierig danach.
Der Mann drehte sie in ihre Richtung und sah sie, trotz ihres Verstecks: "Hey, was suchst du hier, Kleine?", rief er zu ihr herüber, woraufhin sie die Beine in die Hand nahm und so schnell weg rannte, wie sie konnte.

Nach einer Weile stellte sie fest, dass er ihr nicht folgte und blieb stehen, um erst einmal zu überlegen, was sie nun tun sollte. Sie beschloss, ausnahmsweise einmal etwas früher nach Hause zu gehen, unterwegs würde ihr schon eine Ausrede einfallen.
Außerdem hingen die Wolken mittlerweile schon beklemmend tief, also legte sie einen Zahn zu, der Mühle entgegen. Bei der sie nie ankommen sollte.
Denn noch ein ganzes Stück entfernt, hörte sie die Stimme ihres Lehrers. Und die ihrer Eltern.
Laura-Ingrid blieb stehen. Ihr Atem stockte. Es bestand kein Zweifel, auch wenn sie sich wünschte, dass ihr die Ohren nur einen Streich spielten. Einen langen Moment zögerte sie. Dann, genau in dem Moment, in dm die ersten Tropfen fielen, lief sie davon.

Sie wusste nicht, dass der Lehrer Hempel nicht gekommen war, weil er sie verpetzen wollte, sondern weil sich irgendwann sein schlechtes Gewissen geregt hatte, Das kam, als er mal wieder alte Aufsätze durchstöberte und einen von Laura-Ingrids frühesten Ergüssen fand, in dem die beschrieben (und teilweise auch gemalt) hatte, wie toll sie die Schule fand.
Außerdem hatten ihm ihre Eltern zu seinem Geburtstag einen Geschenkkorb mit einer Auswahl diverser Qualitätsmehle geschickt, aus lauter Dankbarkeit, dass er ihre Tochter unterrichtete. Und dass er immer noch das Schulgeld kassierte, obwohl Laura-Ingrid seit Wochen schon nicht aufgetaucht war, tat das Übrige zur Sache. Also entschuldigte er sich.

Laura-Ingrid aber rannte, rannte so lange und so schnell, bis ihre Lungen brannten, während der Regen kalt und schwer auf sie niederprasselte, sie durchnässte und den Weg in ein einziges Schlammloch verwandelte.
Das Mädchen lief an den einzigen Ort, der noch ein wenig Heimat verhieß: Die Baumschule natürlich.
Nach Hause würde sie natürlich nie wieder gehen, das stand fest. Ihre Eltern mussten so maßlos von ihr enttäuscht sein, dass sie sie bestimmt nie wieder sehen wollten. Also brauchte sie gar nicht erst zur Mühle zurück zu kehren.
Der Regen strömte und trommelte auf die Blätter und Nadeln der Bäumchen, die das gelassen hinnahmen.
Laura-Ingrid hätte am liebsten auf der Stelle wie ein Schlosshund losgeheult. Aber sie riss sich zusammen, jetzt nicht. Sie musste ihr bisheriges Leben ab nun hinter sich lassen und da war es doch töricht und dumm ihre Zeit mit Weinen zu vergeuden.
Ja, jetzt musste sie stark sein, hart sein, jetzt war sie eine Aufreißerin, eine verwegene Person, die machen konnte, was sie wollte.
Ja, genau. Nie wieder Spinat, nie wieder mit den kleinen Geschwistern spielen müssen, nie wieder beim Abwasch mithelfen und ab jetzt genau dann ins Bett gehen, wenn sie selbst Lust dazu hatte, und nicht wenn ihre Mama das sagte.
Ja, ab jetzt konnte Laura-Ingrid tun, was sie wollte, als unabhängiges Individuum, frei von Verpflichtungen!
Lauthals brach sie in Tränen aus und weinte so sehr, wie schon lange nicht mehr.
Was sollte sie nur tun? Sie war ganz alleine auf sich gestellt.

Laura-Ingrid traf die folgenschwerste Entscheidung ihres jungen Lebens: Sie beschloss ein Baum zu werden. Ja, inmitten all der Tränen und dieses scheusslichen Regens waren die Bäume bei ihr, lachten sie nicht aus, verspotteten sie nicht, trösteten sie durch ihre bloße Anwesenheit. Also beschloss Laura Ingrid, auch einer zu werden.
Deshalb stellte sie sich, wie schon so oft hin und wartete. Was hätte sie auch sonst tun können?
Nach einer Weile taten ihr sie Arme weh.
Laura-Ingrid biss die Zähne zusammen und hielt sie weiter hoch.
Ihr Magen begann zu knurren.
Laura-Ingrid ignorierte den Hunger.
Es war eiskalt und die klatschnassen Klamotten klebten an ihrem Körper.
Laura-Ingrid begann sich so sehr zu fürchten, wie noch nie im Leben, aber sie blieb stehen, so tapfer und so stark wie... nun ein Baum eben.
Dennoch hielt sie nur gut drei Stunden nach Einbruch der Dunkelheit durch, bis sie vor physischer und psychischer Erschöpfung das Bewusstsein verlor.

Als sie wieder zu Bewusstsein kam, befand sie sich an einem ihr völlig unbekannten und doch auf verquere Weise bekannt vorkommenden Ort. Laura-Ingrid traute sich nicht recht, die Augen zu öffnen, aber sie hatte frischen, süßen Holzduft in der Nase, hörte leise Stimmen murmeln und spürte, dass sie in einem warmen, weichen Bett lag, das mit Laub gefüllt zu sein schien.
Die Neugier übermannte sie und so öffnete sie doch die Augen.
Sie sah einige Kinder in ungefähr ihrem Alter, vielleicht ein paar Jahre mehr als sie, aber sie alle hatten grüne Haut, waren fast nackt und hätten gut eine Haarbürste brauchen können.
"Na endlich biste wach!", meinte ein Mädchen mit einigen Ahornblättern im Haar und trat vor.
"Wo bin ich?", fragte Laura-Ingrid und sah sich zugleich in dieser großen, hölzernen Kammer um.
"Im Baum natürlich!", entgegnete die Nymphe schnippisch.
"Wow!" Die Müllerstochter war so erstaunt, dass sie sich nicht einmal wunderte.
"Hör mal, Kleine, was hast du dir eigentlich gedacht, hier bei diesem Wetter herum zu stehen?!"
Laura-Ingrid schaute die Nymphe an, die einen herablassenden Tonfall angeschlagen hatte.
Sie erinnerte sich daran, dass sie ab nun ein unabhängiges Individuum war. Deshalb verschränkte sie die Arme: "Pah! Ich kann herumstehen, wann und wo ich will! Die Bäume stehen schließlich auch bei jedem Wetter draußen."
Die Nymphe packte Laura-Ingrid am Kragen und blaffte: "Rede keinen Unsinn, Mensch! Wenn mein Ahornbaum nicht solches Mitleid mit dir gehabt hätte, dann wärst du wahrscheinlich längst erfroren und tot!" [4]
Laura-Ingrid blaffte zurück: "Ich wollte ja nur in Baum werden! Genauso großartig und toll sein!"
"Ha, du hast doch noch nicht einmal eine Nymphe, Mensch!"
"Ich habe zufällig einen Namen, falls du es wissen willst, du blöde, grüne Schnepfe!" Eine kurze Pause, dann: "Was ist überhaupt eine Nymphe?"
"ICH bin eine, Mensch! Und solange du mir deinen dämlichen Namen nicht verrätst, kann ich ihn auch nicht wissen!"
"Lilli!", entgegnete Laura-Ingrid energisch.
"Soso, Lilli also", meinte die Nymphe.
Laura-Ingrid fuhr ein Stich durchs Herz. Wieso hatte sie bloß diesen verhassten, beschämenden Namen genannt? Gleichzeitig bestärkte sie der Schmerz in ihrer Entscheidung, ein völlig neues Leben zu beginnen. Da konnte sie sich ja auch einen neuen Namen zulegen, jawohl!
"Also, Lilli, lass mich mal Tacheles reden: Du bist kein Baum und wirst auch nie einer sein. Man verwandelt sich nicht einfach so in einen Baum, nur weil man unbedingt einer sein will. Sonst wäre doch schon längst jeder einer! Finde dich damit ab und geh nach Hause, Das hier ist nichts für dich. Eine Baumschule ist nicht für Menschen da!"
Laura-Ingrid spürte, wie das Bett plötzlich unter ihr nachgab und ehe sie es sich versah, purzelten sie zu Füßen des Ahornbaumes, den sie einst umarmt hatte, nach draußen.
Beleidigt rieb sie sich den nun schmerzenden Hintern, stand auf, und stampfte über der von vielen Schritten aufgewühlten Erde davon. Der Schnepfe würde sie es noch zeigen!
Sie würde ein Baum werden, auf jeden Fall! Und wenn sie dafür Lancre verlassen müsste!

Und so ließ Laura-Ingrid Schuster, Müllerstochter, an der Grenze von Lancre alles zurück. Ihr altes Leben, ihre Familie und sogar ihren eigenen Namen.

Und da sie nicht gestorben ist, lebt sie noch heute...
[1] Natürlich nur, weil ihre Eltern - gar nicht mal so unbegründet - sich davor fürchteten, dass sie irgendwie zwischen die Räder gelangen könnte.

[2] Abgesehen von den Dingen, die man nicht machen konnte, will man das falsche Geschlecht, die falsche Hautfarbe, das falsche Alter hatte, der falschen Spezies angehörte oder irgendwelche körperlichen Voraussetzungen nicht erfüllte. Und natürlich auch die Berufe, bei denen es um so profundes Wissen wie "Wie schirre ich das Pferd vor dem Pflug" ankam und nicht auf intellektuelle Glanzleistungen wie "Wie heißt die Hauptstadt von Klatsch".

[3] Da musste man nicht einmal Lukas-Isidor fragen.

[4] Ein Irrtum. Tatsächlich kam nämlich ein Suchtrupp, kurz nachdem die Nymphen Laura-Ingrid gerettet hatten, auf der Suche nach ihr durch die Baumschule.




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Feedback:

Von Ophelia Ziegenberger

05.06.2008 21:35

Der märchenhafte Erzählstil hat mir sehr gut gefallen. Auch fand ich es prima, endlich einmal ein wichtiges Stück Vorgeschichte zu deinem Chara zu erfahren, welches viel erklärt. Es waren eine ganze Reihe von Rechtschreibfehlern dabei, die vielleicht noch korrigiert hätten werden können. Durch die Vergangenheitsform der Erzählung, die sogar inhaltlich noch weiter von uns geschoben wurde, entstand ein merkbares Distanzgefühl, welches durch den alten Namen der Hauptfigur im Gegensatz zum jetzt bekannten noch vertieft wurde. Das fand ich etwas schade, war aber natürlich eine direkte Folge des Aufbaus und gewählten Stils. Dagegen konnte ich dem Erzählstrang problemlos folgen. Und dadurch, dass Lilis späteres Dasein dem Leser ja schon allzu bekannt ist, baute sich doch zum Ende hin noch ein leichter Spannungsbogen zu der Frage auf, wann es und warum es zu ihrer folgenschweren Entscheidung kommen sollte. Ich bin gespannt, ob in Lilis Zukunft jemals wieder ihre Familie auftauschen und ihren Weg kreuzen wird.

Von Ruppert ag LochMoloch

05.06.2008 21:35

Hmmmm ja. Du solltest allmählich wirklich mal an deine Chara gehen ... ;-)Bisher habe ich mir Lillis Aufenthaltszeit in der Baumschule vieeel länger vorgestellt. Daher ist diese kleine Geschichte auch nur ein Fragment, das noch viele Fragen offen lässt. Warum schweigt sie? Wie ist das mit der Verzauberung? u.s.w. Ich mag es aber, wenn eine Figur durch solche Geschichten mehr an Kontur gewinnt, deshalb habe ich sie mit Interesse und auch mit Vergnügen gelesen. Ich hoffe doch, dass es da noch die eine oder andere Fortsetzung geben wird.

Von Lilli Baum

05.06.2008 22:55

Oh gut, dass mein Alptraum, dass ich nur ne 6 bekomme, nicht wahr geworden ist O:-)



Hm.. ich dachte, ich hätte alle Rechtschreibfehler erwischt. Wie ärgerlich.

Ja, zu Lillis Vorgeschichte sind noch einige Teile geplant, kann ja noch nicht das Ende gewesen sein, schon allein wegen der enormen Altersklaffung zwischen dem Weggang von zu Hause und ihrem Eintritt. Und ja, du hast Recht Ruppi II, ihr Aufenthalt in der Baumschule war sehr kurz - aber du bist trotzdem auf dem richtigen Riecher.



Vielen Dank fürs Lesen und bewerten.

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