Mutter Morpork

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von Obergefreiter Septimus Ebel (RUM)
Online seit 05. 03. 2008
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 Außerdem kommen vor: Ayure NamidaSillybosOphelia ZiegenbergerRomulus von GrauhaarKolumbiniMina von Nachtschatten

Zwei Opfer, zwei Verdächtige, eine Abteilung - Wird R.U.M. es schaffen den Fall aufzuklären oder verstricken sich die roten Fäden zu einem widerspenstigen Knäul?

Dafür vergebene Note: 12

Nach einer wahren Geschichte [1]

**1**



Bei dem Begräbnis der Mädchen sind die Gespräche im vollen Gange. Auch die Wächter der R.U.M.- Sonderkommision sind, teilweise verdeckt, anwesend. Ayure beobachtet. Geistesabwesend. Die anderen halten sie für abwesend. Wegen ihres fahlen Gesichts, wegen der trüben, ausdrucklosen Augen. Gebeugte Schultern, ein junger Körper, den ein dunkler Umhang umschlottert. Seit Jahren immer derselbe, von undefinierbarer Farbe. Die Besucher, Schaulustige und Gäste überfluten in neugieriger Erwartung das viel zu schmale Grasstück, in das die Kinder eingebettet werden sollen. Ayure steht da und beobachtet.
Schwarze Schleier, traurig lächelnde Gesichter, die Lider oft gerötet, aber die Wangen wider Willen - denn die Hitze ist in diesen Tagen eine bleibende Plage - von der kräftigen Farbe eines üppigen Rots. Vielen Müttern und Väter, die mit ihren Kindern gekommen sind, erinnert der Anblick an die Vergänglichkeit ihrer eigenen Nachkommen und die Sorge um sie muss ihnen fast das Herz zerreißen. Ayure kommt es vor als überzöge das Leichentuch alle mit Bitterkeit, die für einige unwiderruflich ist. Trotzdem sind die Gespräche im vollen Gange.
Zwei Schritte von ihr entfernt liegen die Toten, ausgestreckt unter dem makellosen Tuch. Hitze. Das Stimmengewirr wird gedämpfter, dezenter, verstummt. Ein Geistlicher beginnt zu sprechen.
Ayure beobachtet. Sie weint nicht. Sie schnäuzt sich von Zeit zu Zeit.
Neugier der schwarzen Schleier, die sich um sie herum drängeln. Eine neu aufgerissene Wunde, wie immer, wenn das Schicksal einer Familie für andere offenstehen muss, bei einem Trauerfall oder einer Hochzeit.
Die Eltern nehmen Abschied. Sie stehen nebeneinander am Grab ihrer Kinder. Sie stützen sich nicht, fällt Ayure auf. Es ist Monika Morporks Schwager, nicht ihr Ehemann, der sie am Arm hält.
Plötzlich erinnert die Ermittlerin sich an einen höchst merkwürdigen Satz aus der von der Mutter verfassten Todesanzeige, die am Tag zuvor in der Times zu lesen gewesen war. "Vater, wenn die Mutter fragt, wo sind unsere Kinder hin, dann sage ihr, dass sie im Himmel sind". Gruselig. Was hatte diese Zeile zu bedeutet? Was hatte sich bloß zwischen diesen beiden Menschen abgespielt?

***2**



Diese Geschichte beginnt für uns an einem wirklich heißen Augusttag. Er war so heiß, dass die Rekrutin Fantine Angrod Haderlump gerne bereit gewesen wäre einen halben Tageslohn dafür hinzublättern, irgendwie Kühlung zu bekommen. Der Schweiß rann ihr den Rücken herunter, sie wollte sich eine blonde Strähne aus der Stirn wischen, dabei klebte ihre Hand kurz am Wachetresen fest. Als wäre es nicht schon anstrengend genug, sich an einem Montag zur Arbeit zu schleppen, drückte die Hitze ihren Körper schwer wie Eisengewichte nach unten. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es halb zwei war. Toll, alle anderen waren gerade vermutlich dabei sich in der Kantine mit kühlen Getränken Erleichterung zu verschaffen. Nur sie musste hier wie in einem Backofen dahinschmelzen. Sie fragte sich gerade, ab welcher Temperatur ihre Haut anfangen würde Blasen zu werfen, da schwangen die Türflügel auf.
Eine Frau, sie mochte etwa zehn Jahre älter sein als Fantine, kam in einem für das Wetter beachtlichem Tempo auf den Tresen zugerannt. Ihr schulterlanges blondes Haar wirbelte wild über ihr rundes Gesicht. Die schmalen Augen waren jetzt weit aufgerissen, ihr Atem rasselte unkontrolliert, als sie endlich zum Stehen kam.
"Meine Kinder!", presste sie hervor. "Meine Kinder!" Sie versuchte mehrmals weiter zu sprechen, bekam aber nicht genügend Luft.
Fantine versuchte zuerst, beruhigend auf sie einzusprechen. "Ganz ruhig, meine Dame. Ich bin sicher, dass wir dir weiterhelfen können. Komm erstmal zu Atem."
Die Frau atmete jetzt langsamer und tiefer. "Meine Kinder! Sie sind verschwunden!"
"Ihre Kinder sind weg?", wiederholte die Rekrutin überflüssigerweise. "Seit wann denn, Frau-?"
"Morpork", hechelte sie. "Monika Morpork."
"Frau Morpork, seit wann sind deine Kinder denn verschwunden?"
"Seit ... seit zwei Stunden. Mein Mann und meine Schwester und ich ... wir suchen sie schon zwei Stunden."
Fantine bezweifelte, dass die Wache nach einer so kurzen Zeit bereits einschreiten würde. Immerhin waren Kinder unberechenbar, vielleicht hatten sie sich einfach verspätet oder spielten ihrer Mutter einen Streich. Die Skepsis der Rekrutin musste wohl deutlich an ihrer Miene erkennbar gewesen sein, denn Frau Morpork beeilte sich zu sagen: "Bitte, ihr müsst uns helfen. Meine Töchter sind sonst sehr brav und absolut zuverlässig. Sie würden sich ohne ausdrückliche Erlaubnis nie entfernen. Es muss etwas mit ihnen geschehen sein!" Tränen kullerten ihr über das Gesicht. "Bitte! Was ist, wenn den beiden etwas zugestoßen ist? Miriam ist erst sieben und Kristin erst fünf! Ihnen könnte alles Mögliche zugestoßen sein! Bitte, helft uns!" Geschwächt stützte sich die Mutter auf der Tischplatte ab.
"Ganz ruhig, Frau Morpork", wiederholte Fantine. "Ich bin sicher, dass wir unser Möglichstes tun werden. Allerdings brauchen wir mehr Informationen. Wo hast du die Kinder das letzte Mal gesehen?"
"Mein ... mein Mann, er sollte sie zum Essen abholen. Das war um Viertel nach zwölf. Ich hab sie zum Spielplatz um die Ecke geschickt. Sie würden niemals ohne Erlaubnis dort weggehen. Aber alles, was er gefunden hat, war Kristins rote Schaufel. Sonst nichts! Keine Spur von den beiden! Bitte, helfen sie mir! Das ist höchst ungewöhnlich für meine Töchter. Richard hat die ganze Straße abgesucht, Barbara und ich haben das Viertel durchkämmt - nichts!"
"In Ordnung, Frau Morpork, ich werde diese Informationen jetzt an die Abteilungsleiterin von S.E.A.L.S weitergeben. Die muss dann weiter entscheiden. Du müsstest den Wächtern dann noch deine genaue Adresse und eine Beschreibung deiner Töchter geben."
Dankbar strahlten die aquamarinblauen Augen der Frau mit dem tränengeröteten Gesicht.

*3*


Amalarie Mögebier presste ihre Waden enger an Schnorzies warmen Körper, um ihre Ratte zu größerer Eile anzuspornen. Der Grund dafür war eher der baldige Feierabend als der wirkliche Wille die Kinder zu finden. Aus ihrer Sicht war die Sache sowieso hoffnungslos. Im Dunkeln der Kanalisation konnte man die Hand vor den Augen gerade noch erkennen und oben auf der Straße erging es ihren Kollegen zu dieser Tageszeit sicher nicht viel besser. Mit Einbruch der Dunkelheit hatte Rea den Befehl zur Fahndung herausgegeben. Alle zur Verfügung stehenden S.E.A.L.S - Wächter beteiligten sich. Es waren ganze sieben Personen: Kannich und Damien suchten oben das Viertel ab, Scoglio und Chi befragten Passanten, Bjorn Bjornson und Ettark erkundigten sich bei Anwohnern. Und sie? Nun, für sie war nur noch die stinkende Kanalisation übrig geblieben. Zwar kannte sich Schnorzie gut in diesem feuchten Labyrinth der Verwesung aus, doch das abzusuchende Gelände war schlichtweg zu groß. Die Kinder hier zu finden wäre eine reine Glückssache gewesen und mit Glück, nun, damit lief es in dem Leben der Obergefreiten momentan ohnehin nicht besonders gut. Dass die Mädchen irgendwo in diesem Loch verunglückt sein konnten, berührte die Gnomin durchaus und brachte sie dazu ihren Drang nach einem erfrischendem Bier und einer beheizten und beleuchteten Schänke so gut es ging zu unterdrücken. Aber sie war sich sicher, dass jeder, der hier nicht gefunden werden wollte, im absoluten Vorteil war. Sollten die Mädchen sich verstecken oder versteckt werden, hatte Amalarie kaum eine Chance sie zu finden. Nach stundenlangem Suchen - Schnorzie trippelte nur noch erschöpft vor sich hin - brach die Informanten-Kontakterin die Suche ab und kehrte zum Treffpunkt zurück. Wie sich herausstellte, waren ihre Kollegen nicht erfolgreicher gewesen als sie. Von Miriam und Kristin war keine Spur zu entdecken.

*4*


Am darauf folgenden Tag ordnete Rea Dubiata eine Großfahndung an und bat die restlichen Abteilungsleitungen darum die Suche mit allen entbehrlichen Wächtern zu unterstützen. Mittlerweile hatte sich die Meldung um das Verschwinden der Mädchen herumgesprochen. Die Wache konnte sich ein Nicht-Eingreifen keineswegs leisten, Rea befürchtete begründet eine Welle der Empörung, aufgeblasen durch die Zeitungen und getragen von Monika Morpork, die für die Presse weinte und um Hilfe bettelte, weil die Wache sich nicht um die Sache kümmerte. Die Abteilungsleiterin sah die Schlagzeilen schon vor sich. Nein, mangelnde Hilfeleistung wollte sie sich nicht zu Schulden kommen lassen, daher aktivierte sie alle Kräfte, die ihr zur Verfügung standen. Ergebnislos. Die Mädchen waren wie vom Erdboden verschluckt. Nach zwei Nächten und zwei Tagen musste sie die Suche schweren Herzens abbrechen.

*5*


Drei Tage nach der Vermisstenmeldung, 15 Kilometer außerhalb von Ankh-Morpork

"Ich wollte es mir gerade auf meinem Karren bei einer Zigarette gemütlich machen, weil ich doch immer hier meine Pause mache auf dem Weg nach Ankh-Mopork, da sah ich sie, Offissör."
"Inspäctor."
"'Tschuldigung." Der Mann zog ein blau-weiß kariertes Stofftaschentuch hervor und tupfte sich damit den Schweiß von seinen roten Pausbacken. "Inspäctor, meinte ich. Hab erst gedacht es wär ne Schaufensterpuppe. Aber dann bin ich schon neugierig geworden und näher dran gegangen und dann hab ich's gesehen, also, dass es ein Mädchen ist ... war."
"Vielen Dank, dass du uns informiert hast, Herr Grünhold."
"Grünheld, es heißt Grünheld."
Kolumbini zog kräftig an seiner Pfeife und blickte dem Gemüsehändler tief in die Augen. "Ja, natürlich. Entschuldigung. Jedenfalls vielen Dank für deine Meldung und dafür, dass du uns die Stelle gezeigt hast."
Herr Grünheld lächelte stolz. "Man tut was man kann, nich? Außerdem musste ich ja eh wieder aus der Stadt raus, hab nur die Fuhre Karotten abgegeben. Wenn noch irgendwas is, weiß die Wache ja, wo sie mich finden kann." Er steckte das Taschentuch wieder in die Hosentasche und seufzte.
"Genau, Herr Grünheld. Auf Wiedersehen."
Der Mann warf noch einen letzten Blick auf die Leiche im Gestrüpp, schüttelte traurig den Kopf und verabschiedete sich: "Eine Schande ist das, Inspäctor. Ich hoffe, du findest den Kerl, der dahinter steckt. Viel Glück." Dann schnalzte er mit der Zunge und sein Karren rollte gemächlich davon.
Langsam und nachdenklich ging Kolumbini zu seinem Vorgesetzten hinüber, der seit dem Zeitpunkt ihrer Ankunft seinen Blick nicht von der Toten abgewandt hatte. Sie lag hinter der Straßenböschung, mitten in Brennnesseln, den Hals zurückgebogen, mit dem Gesicht nach oben. Es zerfloss in Stille, in dem abgerissenen Laut, den der halb geöffnete Mund nur noch erahnen ließ.
Das Kind trug einen kaminroten Rock und eine ordentlich gebügelte, weiße Bluse. Die langen orangeroten Haare waren zu Zöpfen geflochten und wurden von Haarspangen zusammengehalten. Der Ermittler blieb stumm. Was hätte er auch sagen sollen? Was sagt man, wenn man die Leiche eines Kindes vor sich sieht? Eines Kindes, das vielleicht hätte gerettet werden können.
"Ihr Aussehen passt zu der Beschreibung von Miriam Morpork, Sör."
Romulus nickte nur stumm.
Erstaunt suchte Kolumbini nach dem Urheber dieser Wortmeldung, der die schlimmste Befürchtung der beiden Ranghöheren ausgesprochen hatte. Er hatte den Gnom zuvor wohl gesehen, aber nicht wirklich wahrgenommen. Das geschah ihm selten, normalerweise registrierte der Ermittler sehr viele Fakten seiner Außenwelt. Er hatte zum Beispiel die langen Rillen im Boden und die Hufspuren in der Nähe der Leiche bemerkt, die auf eine Kutsche hindeuteten. Der Rastplatz, der selten von Reisenden genutzt wurde, lag ein Stück weiter die Straße aufwärts. Außerdem sah er nirgendwo einen Hinweis auf einen Kampf. Wieder nahm er einen tiefen Zug aus seiner Pfeife.
"Ich bezweifle, dass sie hier getötet worden ist", sagte er zu Romulus. Dieser nickte wiederum wortlos, als sei ihm dies schon vor längerem aufgefallen.
Nach einer kurzen Weile des Schweigens ergänzte der Feldwebel: "Ein Pferd, vier Räder, kein Blut."
Der Korporal nickte und pustete träge Rauchwölkchen. "Soweit ich das sehe, keinerlei Anzeichen eines gewaltsamen Todes."
"Wir müssen die Obduktion abwarten", sagte Romulus trocken. "S.U.S.I. wird es nicht leicht haben, die Verwesung hat bei dem Wetter längst eingesetzt."
Wieder schwiegen die drei R.U.M.- Mitglieder lange. Und wieder war es der Gnom, der die Stille unterbrach. "Sör von Grauhaar, Sör?"
"Ja?"
"Bitte um die Erlaubnis ein botanisches Register des Fundortes anlegen zu dürfen."
Kolumbini sah den Abteilungsleiter an mit einem Blick, der fragte: Warum bei den Göttern hast du eigentlich diese Knalltüte mitgenommen?
Romulus antwortete mit einem Blick, der sagte: Von Zeit zu Zeit ist er brauchbar.
Er konnte sich nur schwer vorstellen, dass ihnen ein solches Register bei den Ermittlungen eine Hilfe sein würde. Auf der Steppe um die Stadt konnte man die verschiedenen Arten Unkraut an einer Hand abzählen. Aber immerhin war der Gnom so beschäftigt.
"Erlaubnis erteilt, Obergefreiter Ebel."
Septimus lächelte leicht, was beide Kollegen für unangebracht hielten. Verlegen machte er sich an die Arbeit.

*6*


Abteilungssitzung R.U.M., fast spät nachts

Romulus stellte sich an eine Stelle im Raum, von der aus alle Mitglieder ihn gut sehen konnten, nahm etwas mehr Haltung ein und beschloss das allgemeine aufgeregte Gemurmel zu beenden.
"So, wenn sich nun fast alle eingefunden haben, können wir ja anfangen."
Die meisten Gespräche hörten tatsächlich auf, die übrigen kapierten es auch kurze Zeit später.
"Ihr bekommt zuerst eine kurze Einweisung in den Fall", fuhr Romulus fort. "Die am Montag durch ihre Mutter vermisst gemeldeten Geschwister Miriam und Kristin sind gefunden worden."
Ein Raunen schwappte durch den Raum.
"Bedauerlicherweise geht der Fall damit auf unsere Abteilung über. Miriams Leiche wurde 15 Kilometer außerhalb der Stadt von Herrn Grünheld, Gemüsehändler, 43 Jahre, gefunden. Kolumbini, Ebel", Romulus nickte den beiden Wächtern leicht zu, "und ich haben den Fundort unter die Lupe genommen. Auch die Jüngere wurde kurze Zeit darauf gefunden, sie lag vier Kilometer weiter. Beide, soviel konnten wir bereits feststellen, sind nicht an den Fundorten getötet worden, sondern müssen mit einem Fahrzeug, wahrscheinlich einem Einspänner mit vier Rädern, dorthin gebracht worden sein. Bisher konnten wir keine Anzeichen eines gewaltsamen Todes feststellen. Aber für Genaueres müssen wir noch auf Pismire warten."
Romulus seufzte tief. Mehr hatte er eigentlich nicht zu berichten. Der Gerichtsmediziner war bereits einige Stunden mit der Obduktion beschäftigt, hatte aber versprochen, so schnell wie möglich zur Sitzung zu kommen. Resigniert schickte der Feldwebel eine auffordernde Geste in den Raum. "Nun? Was haltet ihr davon? Ideen zum Tathergang oder zu Verdächtigen?"
Eine Weile herrschte Schweigen. Bis Romulus die Geste wiederholte.
Zögerlich hob Mina von Nachtschatten die Hand. "Könnten sie entführt worden sein, aus finanziellen Gründen?"
"Natürlich", beantwortete Minas Zimmerkollegin Ayure die Frage in sarkastischem Tonfall. "Weil die Familie ja so wohlhabend ist."
"Vielleicht hat der Entführer ihnen das nicht geglaubt und die Mädchen tatsächlich nach einer Frist umgebracht", erwiderte Mina ohne wirklich überzeugt von dieser Möglichkeit zu sein.
Septimus stand auf und ging hin und her, langsam zog er störrische Kreise in der Mitte des kargen Zimmers. Bei Bewegung fiel ihm das Denken immer leichter.
"Dass ein Unbekannter die Kinder in der Nähe des Wohnhauses getötet und die Leichname anschließend in eine Kutsche verfrachtet hat, kommt mir sehr unwahrscheinlich vor. Schließlich müssen wir damit rechnen, dass das am helllichten Tag geschehen ist. Er wäre sicher gesehen worden", sagte Ophelia.
Unter der Gruppe brach eine Diskussion über die möglichen Verdächtigen und den Verlauf der Tat aus. Die meisten warfen einfach wild Vermutungen durch den Raum. Jemand machte die Bemerkung, dass es sich um ein Sexualverbrechen handeln könnte. Und es wurde wieder still im Zimmer. Einige Anwesende verzerrten das Gesicht, andere nickten ernst.
Nach einer Weile sagte Pyro nachdenklich: "Wenn die Kinder nicht in der unmittelbaren Umgebung des Wohnhauses getötet wurden, sondern bei dem oder einem der beiden späteren Fundorte, dann müssen sie zu dem Täter in das Fahrzeug gestiegen sein. Das drängt die Vermutung auf, dass Täter und Opfer sich gekannt haben."
Es entstand eine längere Pause. Die meisten nutzten die Zeit, um sich Notizen zu machen, sich eine Pfeife zu stopfen, die Maserung des Holzbodens zu beobachten oder einfach nur grimmig auszusehen.
Romulus seufzte tief. "Letztendlich sind wir auf Vermutungen angewiesen, solange ..."
In diesem Moment öffnete sich die Tür und der Schamane trat ein. Nach kurzer Begrüßung verkündete er: "Miriam ist behutsam erstickt worden. Kristin sanft erwürgt. Beide ohne dass weitere heftigere Gewalt angewendet worden ist. Das geschah um die Zeit ihres Verschwindens herum. Genaueres kann ich zu dem Todeszeitpunkt noch nicht sagen. Beide wiesen deutliche Anzeichen von Verwesung auf und müssen schon mehrere Tage dort gelegen haben."
Frän nickte langsam und fragte: "Liegt ein Sexualverbechen vor?"
"Beide Mädchen", sagte Pismire schnell, "Waren unberührt."
Leises Gemurmel.
"Außerdem sind ihre Unterhosen blütenweiß. Sie zeigen keinerlei Spuren eines Einnässens. Was seltsam ist, denn zu den normalen Symptomen eines Erstickungstodes gehört das Einnässen oder Einkoten. Es kann schon einmal vorkommen, dass dies nicht der Fall ist. Aber, dass diese Spuren bei beiden Kindern fehlen, ist sehr ungewöhnlich."
Das Gemurmel wurde lauter.
"Das heißt", sagte Thask Verschoor, "Der oder die Mörder wollten den Geschwistern nicht weh tun, obwohl sie ihnen das Leben nahmen."
Pismire trat auf den Zombie zu und belehrte ihn ernst: "Auch wenn es nicht nach Gewalt aussieht: Der Tod durch Ersticken ist grausam und dauert sehr lange. Wir reden hier von einem Zeitraum von fünf bis zehn Minuten, vielleicht noch länger. Drei Minuten sind jedenfalls das Minimum. Auch bei Kindern. Dabei erlebt das Opfer, was mit ihm passiert. Bewusstlosigkeit tritt frühestens nach neunzig Sekunden ein. Außer man verschließt durch Druck zusätzlich die Halsschlagader, was bei den Mädchen nicht gemacht wurde."

*7*


Da Morde an Kindern in der Bevölkerung grundsätzlich besondere Aufmerksamkeit erregen, richtete die Abteilung umgehend ein Sonderkommando ein. Der Obduktionsbericht von Pismire brachte die Wächter von ihrer ursprünglichen Vermutung, es mit einem Sexualverbrechen zu tun zu haben, ab. Die "sanften" Tötungsarten wurden so gedeutet, dass zwischen Täter und Opfern eine Beziehung bestanden haben musste. Die Sonderkommision beschränkte die Suche also auf Personen, die mit den Kindern näher bekannt gewesen waren. Aus diesem Grunde wurden die trauernden Eltern in den kleinen Kreis der Verdächtigen aufgenommen.
Weil die Zusammenarbeit in der Abteilung immer noch zu wünschen übrig ließ und sich das Prinzip schon mehrere Male bewährt hatte, teilte Romulus die Gruppe in Ermittlerpaare auf. Ayu und Lilli hatten die Aufgabe einen möglichst detaillierten Lebenslauf der beiden Elternteile zu erstellen. Sofort nach dem Eintreffen erster Informationen sollten Ophelia und Septimus im Umfeld der beiden verdeckt weiter ermitteln. Frän, Mina, Mimosa und Pyro wurden mit der Befragung von Nachbarn betraut. Kolumbini und Romulus schließlich befassten sich mit dem Verhör von Barbara, der Tante der Opfer.

*8*


Am Nachmittag des nächsten Tages hatten Ayure und Lilli die wichtigsten Lebensdaten der Morporks gesammelt und sie an Ophelia und Septimus weiter geleitet. Die zwei waren erleichtert, endlich die Informationen zu bekommen mit denen sie weiterarbeiten konnten. Das erlöste beide von der Zeit des peinlichen Schweigens und des eintönigen Däumchendrehens. Septimus hatte ein paar Mal versucht ein Gespräch über Brennnesseln und ihre blutreinigende Wirkung anzukurbeln, hatte aber schnell gemerkt, dass die verdeckte Ermittlerin nicht viel Interesse daran aufbringen konnte [2].
Als die Akten ankamen, griff sich jeder eine und schlug sie eilig auf. Der Gnom hatte Richard Morporks erwischt. Er las laut vor: "Morpork, Richard, 34 Jahre, 1 Meter und 78 Zentimeter groß, 120 Kilo, rotbraunes Haar und Schnurrbart, gelernter Schlosser, jetzt Kutscher, hält sich meist im 'Fliegenden Schwein' auf."
Anschließend las der Korporal: "Morpork, Monika, geborene Bäcker, 27 Jahre alt, 1 Meter 68 groß, 70 Kilo, gelernte Krankenpflegerin, jetzt Hausfrau, hält sich regelmäßig im 'Musikolymp' auf. Die beiden haben ein Jahr nachdem sie sich kennen gelernt haben geheiratet. Im Jahr darauf direkt die Geburt von Miriam, zwei Jahre später die von Kristin."
Nach kurzer Zeit waren die Lebensläufe ausgelesen und Ophelia und Septimus beschlossen, mit den Ermittlungen im 'Fliegendem Schwein' und im 'Musikolymp' zu beginnen. Sie besorgten sich im Fundus angemessene Kleidung und zogen einzeln los, denn sie wollten getrennt voneinander ermitteln ohne in Verbindung gebracht werden zu können.

*9*


Septimus stand im Regen vor der Kneipe. Das Gebäude sah aus, als hätte es ein riesiger Golem einfach in die viel zu enge Spalte zwischen zwei Häusern gedrückt. Die scharfen Kanten des Steins stachen direkt ins Auge, vor allem aufgrund ihrer bizarren Anordnung. Das konnten weder die Frauen ändern, die im oberen Stockwerk mit kurzen Röcken versuchten, dem Ganzen ein etwas menschlicheres Aussehen zu geben, noch der dumpfe menschliche Lärm, der aus dem unteren Stockwerk drang, ein Lärm, der nach Schweiß und Alkohol roch. Gewohnheitsgemäß sah sich der Gnom auf der Straße um, prüfend, ob ihn nicht jemand beobachtete. Lieferanten, Frauen auf ihrem täglichen Weg zum Markt, Fischstände voller Fische mit grauen, traurigen Augen. Ihnen fehlte die Überlebenskraft, vor der die Parolen der Fischhändler nur so strotzten. Von ihrer leblosen Traurigkeit angesteckt betrat Septimus die Schänke, suchte sich einen einsamen Trinker und begann: "Kennst du Richard Morpork?"
Der Mann sah Septimus mit verquollenen Augen an. "Wie bitsche?"
"Kennst du Richard Morpork?"
"Isch weisch nischt, wie schpät esch ischt." Seine Augen wurden trüb und sein Kopf fiel kraftlos auf die Tischplatte.
Septimus ließ ihn schlafen und marschierte weiter. Er ärgerte sich über den schlechten Auftakt seiner Suche, denn er hatte sich vorgenommen in jeder Nische nach Informationen über den möglichen Mörder zu schnüffeln. Als würde er am Rande stehen und eine Szene beobachten, sah der Obergefreite sich selbst, wie er tausendmal nach dem Namen fragte, Säufer für Säufer, während sich deren Nasen gegen seinen Wachegeruch sträubten. Eine Gruppe behelmter Bauarbeiter machte auf seine Kosten Scherze. Ein alter Mann, der vor seinen geschmorten Linsen mit Kalbsbraten nach Gärtnerinnen-Art saß, spuckte ihm sogar ein Teil des toten Tierbabys ins Gesicht. Warum beim Himmel hatte er sich bloß diese Spezialisierung ausgesucht? Er brauchte dringend irgendeine mit weniger Kontakt.
Fast hätte er sich dabei erwischt, wie er einen Veilchentee bestellte, schnell änderte er den Auftrag und orderte ein großes Bier. Er mochte Bier nicht. Er hatte auch nicht vor es zu trinken. Aber Dank eines großzügigen Trinkgeldes kam er mit dem jungen, schüchternen Kellner ins Gespräch, der ihm antwortete, ohne ihn wirklich anzusehen. Es war ein Junge mit zwei roten Flecken auf den Wangen und großen, eiternden Frostbeulen an den Händen. "Der ist hier öfter", erzählte er. "Der kennt nur seine Arbeit und Alkohol. Trinken kann der. Ab und zu spielt er ne Runde Leg-Herrn-Zwiebel-rein."
"Kennst du auch seine Frau?", erkundigte sich der Gnom.
"Die hat zu Hause zu bleiben, sagt der immer. Letztens hat er erzählt, dass sie ihn gebeten hat, die Abende öfter mit ihr zu verbringen."
"Und?"
"Er hat geprahlt damit, dass er ihr rechts und links eins auf die Ohren gegeben hat dafür."
"Mh", machte Septimus. "Er scheint seine Frau nicht gerade zu mögen, wie?"
Der Wirt befürchtete wahrscheinlich, dass der Kellner einen guten Stammkunden belasten und damit eine sichere Einnahmequelle zum Versiegen bringen würde. Der Junge bemerkte, wie er ihm von der Theke aus einen zornigen Blick zuwarf. Daraufhin zuckte er nur die Schultern und bediente rasch den nächsten Tisch.

*10*


Derweilen befanden sich Romulus und Kolumbini mit Barbara Bäcker im Verhörraum. Monika Morporks Schwester wirkte auf eine bäuerliche Art freundlich. Sie trug vergoldete Ohrreifen, die klirrten, sobald sie ihren Kopf bewegte. Ein zahghaftes Lächeln brachte eine Miene zu stande, die es sichtlich gewohnt war, viel zu lachen. Einen Keks anbieten, die schwarzen Haare schütteln, hier und da mal einen über den Durst trinken - alles Gewohnheiten, die man spontan mit Barbare assoziierte, wenn man sie das erste Mal betrachtete.
Nachdem die Wächter über die Frau selbst, welche unverheiratet war und im selben Haus wie die Morporks wohnte, nichts Verdächtiges herausgefunden hatten, wollten sie Näheres über das Ehepaar erfahren. Wie sich bald herausstellte, war die Ehe von Richard und Monika alles andere als ideal.
"Die ganze Nachbarschaft weiß es schon", klagte die untersetzte Barbara, die um einige Jahre älter sein musste als ihre Schwester. "Nach außen hin versucht die Familie ein 'normales'", sie zeichnete die Gänsefüßchen theatralisch in die Luft, "und unauffälliges Leben zu führen, wie viele andere auch. Aber mittlerweile können sie den Schein nicht mehr aufrecht erhalten. Monika ist die eintönige, begrenzte Existenz ihres Ehelebens zu eng geworden. Und ihr tollpatschiger Ehemann unternimmt nichts gegen ihre Unzufriedenheit, das einzige, was der tut, ist saufen und arbeiten und saufen und arbeiten."
"Kam es zum Streit oder zu körperlichen Ausschreitungen?", erkundigte sich Kolumbini.
"Allerdings", Barbara nickte traurig. "Das erste Mal wegen einer einfachen Bitte. Sie wollte nur mehr Zeit mit ihm verbringen! Aus Trotz hat sie dann eine Teilzeitstelle bei einem Arzt angenommen - es war ein kleiner Ausweg aus der häuslichen Misere. Aber das passte Richard natürlich gar nicht. Also kam es wieder zu Streitereien und Schlägen. Die armen Kinder! Monika sprach von Scheidung, aber Richard wollte sie nicht freigeben. Irgendwann hat sie sich ihm im Bett verweigert, dafür gab es dann wieder Prügel."
"Und du hast nichts getan, Frau Bäcker? Verstehe ich das richtig? Du hast zugesehen, wie deine Schwester verprügelt wurde?", hakte Romulus nach.
"Ich habe etwas getan!", empörte sie sich. "Immer, wenn es laut wurde, habe ich die Kinder in mein Zimmer geholt und abgelenkt. Die armen Dinger. Außerdem war ich die Einzige, die Monika mal aus dem Haus geholt hat. Ich war es, die sie zur Gegeninitiative angestiftet hat. Um Richard unsere Unabhängigkeit zu beweisen, sind wir jeden Freitag tanzen gegangen. Ich habe mir den Mund fusselig geredet, dass sie sich scheiden lassen soll. Aber Richard weigerte sich, selbst als er das mit Keith rausgefunden hat, selbst als das ganze Viertel davon geredet hat! Die häusliche Versorgung, seine Ruhe und ein geregeltes Leben sind ihm lieber als eine harmonische Ehe."
"Keith?"

*11*


Korporal Ophelia Ziegenberger hatte sich in einem langen feuerroten Rock, einer dunkelblauen Bluse und einem schwarzen Umhang zu der Diskothek 'Musikolymp' begeben. Vor dem Eingang, einer Steintreppe, die in einen Keller führte, standen zwei junge, schmale Türsteher, die eher Mitleid als Respekt einflößten. Unterwürfig grinsend kassierte der eine zwei Dollar Eintritt, dann öffnete sich die Tür.
'Diskothek', das war ein momentan geläufiges Wort für etwas, das die älteren Generationen 'Tanzschuppen' nannten. Ophelia fand es unsinnig, neue Wörter für die gleiche bekannte Sache zu verwenden, allerdings fand sie das Wort 'Tanzschuppen' auch ziemlich antiquiert. Das 'Musikolymp' passte sicherlich nicht in die Vorstellung eines Tanzschuppens, dazu klang das Wort einfach zu sehr nach Unschuld und ... Heu ... und Geigen. In diesem Haus ging es mit Sicherheit nicht um Unschuld. Das hatte Ophelia spätestens in dem Moment gemerkt, in dem sie ihren Blick das erste Mal durch den Raum gleiten ließ - an ziemlich vielen Stellen standen eng umschlungene Paare oder es unterhielten sich solche, die es bald werden wollten. Ophelia musterte die Leute. Es schien so als würde dieses Etablissement vor allem von Söldnern und Soldaten unterschiedlichster Herkunft besucht werden.
Zu ihrer Rechten verlief eine lange schwarzglänzende Theke, an der ein in Anzug gekleideter Kellner Getränke mixte [3]. Die Mitte des Raums bestand aus einer großen Tanzfläche, auf der sich ein junges Klientel räkelte. In diesem Moment sprang die Musik um und die Tänzer fingen an, wild herumzuhopsen. Ihr Gewicht stellte den Tanzboden auf eine harte Probe.
Der Song wurde von einer bunt zusammengewürfelten Band gespielt, die ihren Platz auf der gegenüber liegenden Seite zugewiesen bekommen hatte. Es waren zwei Zwerge, ein Gnom und drei Menschen, bewaffnet mit mehreren Trommeln, einer Flöte, einer Leier und tatsächlich zwei Geigen. Sie erzeugten so wild wirre Töne, dass Ophelia sich fragte, ob sie auf den Instrumenten spielten oder sie verprügelten [4]. Dabei erzeugten sie so viel Lärm, dass Gespräche nur möglich waren, wenn man beinah schon schrie.
Über der Tanzfläche waren Laternen wie Bienenwaben angeordnet. Sie sah zwischen ihnen kleine dunkle Gestalten umher huschen. Die Gnome waren damit beschäftigt bunte transparente Platten vor die Lichtquellen zu schieben und wieder zu entfernen. Auf einem Balken stand ein etwas größerer Gnom, der mittels Taktstock verzweifelt versuchte, das Lichtorchester mit der Musik in Einklang zu bringen.
Auf der linken Seite konnte die verdeckte Ermittlerin eine Reihe von hufeisenförmigen zinnoberroten Sofas erkennen, zu der sie sich vorarbeitete. Dort hatte sie eine Gruppe von drei Frauen entdeckt. Auf dem Weg dorthin erschien ein menschlicher Kreisel neben ihr, besessen von einer musikalischen Leidenschaft, die ihren Ausdruck in einem energischem Hin und Herschleudern der Arme fand. Die Wächterin stutzte kurz, entschied sich dann aber ihn zu ignorieren. Sie ging zu den drei Frauen und spürte bei jedem Schritt wie klebrig der Boden war.
Nach einer Einladung auf ein paar Drinks saß Ophelia auch schon auf dem muffigen Möbelstück und plauderte. Es gelang ihr schnell das Gespräch in die gewollte Richtung zu lenken, sie zeigten sich sehr bereitwillig über Monika Morpork zu lästern. Ophelia fand heraus, dass Monika und ihre Schwester seit mehreren Wochen Stammgäste in dem Etablissement waren.
Hier hatte Monika einen Mann kennen gelernt. Nochmals sah Ophelia sich kritisch um. Das Licht war schummrig, die bunten Effekte irritierend, es roch nach Schweiß und die Luft war rauchgeschwängert. Jene Besucher, die nicht mit Fleischschau beschäftigt waren, gossen sich literweise Alkohol in den Rachen. Nicht gerade der schönste Ort, um sich kennen zu lernen, dachte Ophelia. Dann kehrte sie wieder zum Gespräch zurück. Die kleine Rothaarige der drei sagte gerade: "Er ist jünger als sie. Um vier Jahre. Und sie ist eigentlich verheiratet."
Die Wächterin horchte neugierig auf. "Wer ist es?"
"Sein Name ist Keith Protty, er kommt aus Borograwien", erzählte die hagere Brünette.
"Er sieht ihrem Mann äußerlich zwar sehr ähnlich, aber vom Wesen her ist Keith ganz anders", meldete sich jetzt die dritte, deren aufgetürmte Frisur bei ihren Gesten bedrohlich schaukelte. "Innerhalb von drei Wochen hat er sie rumgekriegt, der Schamör."
Die drei kicherten. Ophelia kicherte mit, obwohl sie die Sache ganz und gar nicht lustig fand. Lästereien dieser Art waren ihr unangenehm. Aber hier hatte sie die Chance, mehr Informationen zu bekommen, daher animierte sie die Frauen mit gespieltem neugierigen Eifer und einem weiteren Bier, fortzufahren.
"Und zwar in der Kutsche von ihrem Mann!"
Jetzt kreischten die drei Weiber wild vor Vergnügen. Innerlich verdrehte die Ermittlerin die Augen. Der Ehemann tat ihr irgendwie leid.
"Ich habe gehört", ergänzte die Rothaarige und bückte sich verschwörerisch näher zu ihren Komplizinnen hin, "Sie soll dort in dieser Nacht ihren ersten ... ", der Lärm verschluckte ihre Worte, "... ihres Lebens erlebt haben."
Die Frauen schlugen sich mit der Hand vor den Mund und riefen erstaunt: "Nein! Wirklich!"
"Aber wenn ich es euch doch sage!", versicherte die Kleine.
"Was für ein schlechter Ehemann", folgerte der Turm und kicherte wieder.
"Fantasielos", mit übertriebener Anteilnahme schüttelte die Brünette den Kopf, nur um gleich wieder loszulachen.
"Und will sie sich nicht scheiden lassen?", fragte Ophelia.
"Keith war es, der zuerst von Heirat geredet hat", antwortete der Turm, der Keith offenbar am besten kannte. "Er meinte, Monika sollte sich sofort scheiden lassen, um seine Frau zu werden."
"Wie romantisch", kommentierte die Hagere ironisch.
"Was er ihr aber verschwiegen hat", ergänzte der Turm schnell, "Ist, dass er auch schon verheiratet ist und drei Kinder hat in Borograwien. Allerdings ist seine Scheidung schon im Gange, also läuft es auf das Gleiche hinaus. " Sie hob ihr Glas und trank einen winzigen Schluck. "Bei ihr ist das anders. Monika hat sich immer noch nicht für eine Scheidung entschieden. Ich nehme an, sie fürchtet, ihre Kinder zu verlieren. Immer wieder hat sie Keith hingehalten, bis er ihr ein ... ein ... ein Ulti ... ein Ultidingsda stellte." Um Zeit zu gewinnen, nahm sie einen Schluck von ihrem Bier. "Ja, genau! Er hat ihr ein Ultimatum gestellt. Er wollte eine Entscheidung. Deswegen gab's hier dann auch den großen Scho-Daun."
"Wann?", fragte Ophelia neugierig.
"Letzten Freitag", erzählte der Turm. Es bereitete ihr offensichtlich höchsten Genuss mit dieser Geschichte im Mittelpunkt zu stehen. Sie kündigte die große Tragweite ihrer kommenden Ausführung mit einem angemessenen Gesichtsausdruck an: glänzende halbgeschlossene Augen, Händereiben und Schweigen, das die Spannung noch steigern sollte. "Die beiden haben sich richtig in die Wolle gekriegt. Monika kam zu spät hier hin und hat gesehen, dass Keith mit einem anderen Mädchen flörtete. Um ihn zu provozieren, tanzte sie mit einem anderen Soldaten. Keith schmiss ihr daraufhin die Goldkette, die sie ihm geschenkt hatte [5], vor die Füße und ist raus gerannt."
"Und?", drängte Ophelia.
"Tja", sie zuckte mit den Schultern, "Sie haben sich wieder vertragen. Aber Keith hat ihr gedroht, sie wegen diesem Mädchen zu verlassen, wenn sie nicht innerhalb von einer Woche die Scheidung eingereicht hat."
Die drei Frauen diskutierten nun, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass Monika die Frist einhalten würde. Der Rothaarigen fiel als Erste auf, dass Ophelia ruhig geworden war.
"Aber was hast du denn, Schätzchen?"
"Ich habe mir gerade vorgestellt", sagte sie nachdenklich, "Wie das für ihren Mann gewesen sein muss. Ich meine zu wissen, dass sie ihn betrogen hat. Eine so lange Zeit lang. Ich an seiner Stelle wäre wütend gewesen", behauptete sie. "Und er hat das einfach so hingenommen?"
"Ui, ich weiß nicht", sagte die Brünette und schaukelte ihre rechte Hand zweifelnd, "Vermutlich hat er seinen ..." Wieder konnte Ophelia nicht verstehen was die Frau sagte. "... woanders abgelassen. Eine Freundin von mir, die Lisa, die hat ihn in ..." Die Musik war viel zu laut, das ärgerte die Wächterin. "... bei einer Näherin."
"Einer Näherin?", fragte Ophelia nach. "Bist du sicher? Und bei welcher?"

*12*


Elf Tage nach der Vermisstenmeldung, SoKo-Sitzung

"Also", fasste Romulus die Ergebnisse der letzten Tage zusammen, "So wie es aussieht, steht es mit der Ehe der Morporks nicht gerade gut. Der Mann ist ein Trinker und dazu noch gewalttätig. Die Frau eine Ehebrecherin. Das hilft uns aber nicht weiter, wenn wir wissen wollen, wer von den beiden die Tat begangen hat." Müde rieb der Abteilungsleiter seine Augen. "Außerdem sind gestern zwei Briefe aufgetaucht, die Frau Morpork erhalten und uns übergeben hat. Im ersten heißt es: 'Das ist die Schtraafe! Es tutige mir Laid um die Kinda, aber es musste sein.' Und im anderen Brief steht: 'Erst die Kinda, nur zur Qual. Jetzt bist du dran! Von wem der Auftrak kam, kannst du dier denkigen!'"
"Darf ich mal?", fragte Kolumbini, nahm die anonymen Zuschriften an sich und betrachtete sie genau. Nach kurzer Zeit urteilte er: "Die Handschrift ist offensichtlich verstellt."
"Handelt es sich dabei tatsächlich um Briefe des Täters?", fragte Mimosa kritisch und gab die Zettel an Pyro weiter.
"Viel Sinn ergeben sie allerdings nicht", bemerkte dieser und streckte sie Lilli zum Begutachten hin. Lilli betrachtete die Briefe genau. Anschließend tippte sie energisch auf Horatius' Box und der Sprechdämon erschien verschlafen. "Lilli sagt, sie würden nur Sinn ergeben, wenn man sie auf Richard Morpork bezieht." Daraufhin gähnte er und verschwand wieder in seinem Kasten. Die Zettel machten weiter die Runde.
"Soll mit den beiden Schreiben der Verdacht auf ihn gelenkt werden?", fragte sich Mina.
"Dann wäre er der Auftraggeber der Morde", folgerte Frän. "Das kommt mir sehr eingefädelt vor."
"Können wir denn ganz sicher gehen", gab Ayure zu Bedenken, "dass es außerhalb der Familie keinen Verdächtigen und kein Motiv gibt?"
"Bei keinem der Verwandten", antwortete ihr Mimosa, "Und schon gar nicht bei den Nachbarn in den zwei angrenzenden Wohnhäusern konnten wir ein Motiv für die Mordtat ausfindig machen."
"Ich denke", antwortete ihr Romulus, "dass wir schon ganz richtig dabei liegen, die Ermittlung in Richtung der Eltern zu legen. So unangenehm das auch ist. Mina, würdest du?"
Die Vampirin zog eine Akte aus ihrer Tasche und berichtete: "Frän und ich haben einen Zeugen gefunden. Er gibt an, an dem Tag, an dem das Verbrechen verübt worden ist, eine hellbraune Kutsche mit einem einzelnen Schecken am Rastplatz stehen gesehen zu haben, in dessen Nähe die Leiche von Miriam gefunden wurde. Das war zwischen elf Uhr und zwanzig nach elf."
"Aussagen solcher Art sind wenig brauchbar", meckerte Septimus. "Schließlich kann es hundert solche Kutschen in Ankh-Morpork geben."
"Die Kutsche hat einen schwarzen Zierstreifen an der Seite und ist daher gut identifizierbar", erwiderte die Gefreite. "Außerdem konnte der Zeuge die Zeichnung des Pferdes genau beschreiben. Es handelt sich offenbar um die Kutsche von Richard Morpork."
"Er kann sich täuschen", grummelte der Gnom.
"Er war sich seiner Sache absolut sicher", sagte Frän bestimmt. "Außerdem hätten beide Elternteile ein Motiv. Bei Monika liegt es möglicherweise in ihrer Beziehung zu Keith Protty, bei Richard möglicherweise in der Eifersucht, mit der er diese Beziehung verfolgte."
"Fein", unterbrach der Abteilungsleiter die beiden. "Ich will, dass diese Kutsche sofort, und ich meine sofort, beschlagnahmt und der Spurensicherung übergeben wird. Außerdem soll jemand, der sich mit sowas auskennt, die Handschrift auf den Briefen mit denen der Eltern vergleichen. Und dann muss irgendwer die Morporks informieren, dass ich sie morgen Mittag zur Vernehmung sehen will. So", er seufzte wieder und griff nach einer Dose Superbulle. "Und jetzt wegtreten."

*13*


Am nächsten Morgen wurde Septimus zu S.U.S.I geschickt, um die Ergebnisse von Lady Rattenklein abzuholen. Auf dem Weg dorthin empörte er sich darüber, dass in der Wachekantine immer noch Gänse-und Entenfleisch aus Stopfmastbetrieben auf die Teller kam. Seine Beschwerdebriefe wurden einfach ignoriert! Aber so schnell ließ er sich nicht abschütteln. Er nicht! Manche Leute glaubten, sie könnten die Dinge über Nacht ändern, man brauche nur zu wollen, dass sie sich ändern. Denen fehlte eine Erfahrung wie der jahrelange Krieg, den er unerbittlich focht. Die sollten so einen Krieg mal mitmachen! Da brauchte man einen langen Atem. Auch wenn man dabei zwei- oder dreimal über den selben Stein stolperte.[6] Man musste mutig sein und engagiert. Sehr engagiert. Hier auf seinem Posten stand er seit ... ja, seit wann eigentlich? ... und er hatte alles durchgemacht, alles. Schläge ausgeteilt und Schläge eingesteckt[7]. Na und?
Er war fast im hintersten Teil der Wache, also dort, wo die Laboranten ihrer Tätigkeit nachgingen, angekommen, da entdeckte er ein farbiges Wesen auf dem Gang. Sein Herz schlug höher. Es war von seiner Größe! Nun ja, fast. Aber das Wichtigste: Es war eine Sie!
Wie aufregend und zugleich unangenehm.
Bei R.U.M. war er der einzige Gnom. Von seiner Größe war dort nur Lillis Dämon Horatius, der bei fast jeder Begegnung mit ihm Streit anfing. Er hatte auch Bekanntschaft mit Harry von D.O.G. gemacht; einem sehr professionellem Gnom, allerdings vom falschen Geschlecht. Dann gab es da noch Amalarie Mögebier von den S.E.A.L.S. - zu laut, zu hysterisch, zu faul. Gut, sie hatte eine Ratte, das sprach für sie, aber sonst war sie nicht gerade sein Typ. Das war bei dieser Gnomin ganz anders. Mit ihrem vollen lstrahlend roten Haar, dem schlanken Korsett und dem blauen Rock, der die Rundungen ihre Hinterbacken betonte, wirkte sie wie eine seiner Jugendlieben. Er musste sie einfach ansprechen.
"M-Mäm?", stammelte er unbeholfen. "K-Kannst du mir sagen, wo sich Lance-Korporal Rattenklein aufhält?"
Die Gnomin war stehen geblieben und betrachtete ihn jetzt kritisch. Was sie sah, konnte nicht besonders anziehend wirken. Ein schäbiger Gnom in einer mönchsartigen Kutte, ein verknautschtes Gesicht, das sich tomatenrot angelaufen um ein Lächeln bemühte und einen unförmigen Kopf, dem ein kreisrunder Ausschnitt an Haar fehlte. Einige braune Haarsträhnen standen von seinem Kopf ab wie bewegliche missgebildete Hörner.
"Ich habe bereits gespendet", log sie und ging an ihm vorbei, als sei die Sache damit erledigt.
Septimus blieb einen Moment verdutzt stehen, dann lief er ihr hinterher. "Nein! Lady, bitte", rief er ihr nach, "Es ist ganz anders."
Sie blieb wieder stehen, warf ihr rotes Haar in den Nacken und fragte keck: "Und? Wie ist es denn wirklich?"
Er holte sie ein und sagte beschwörend: "Ich bin Obergefreiter Septimus Ebel, Mäm."
Er hielt ihr die Hand hin. Sie nickte der Hand zu, erwiderte die Geste aber nicht.
Der Gnom beeilte sich, weiter zu sprechen. "F-Falls du Lady Rattenklein bist, soll ich die Ergebnisse des Morpork-Falls bei dir abholen."
"Ach so ist das", sagte sie streng. "Bist spät dran, ich war schon auf dem Weg zu euch. Willst du auf nen Ball oder warum läufst du in so einem Kostüm rum?"
"Ähm." Septimus sah an sich herunter.
Sag was Kluges!
"Ich ...äh ...ich."
Was Kluges!
"Ich bin Verdeckter Ermittler, Mäm."
Das soll klug sein? Oh, bitte.
"Ach so ist das", sagte sie und betrachtete ihn nochmals kritisch. Dann zog sie ein Papier aus ihrer Tasche, reichte es ihm und berichtete sachlich: "Ich habe in der Kutsche Textilfasern gefunden, die eindeutig von dem Rock Miriams und der gelben Strickhose Kristins stammen. Unter dem Kutschbock konnte ich Pflanzenteile sicherstellen, wie sie an den Fundorten der beiden Leichen wachsen. Zum Glück hat irgendwer dieses botanische Register erstellt, sonst hätte ich keine Vergleichsbasis gehabt und hätte extra nochmal rausfahren müssen. Was strahlst du denn so? Das ist eine ernste Sache, Obergefreiter!"
"Das war ich, Mäm!" Septimus grinste als hätte er mit einem Kleiderbügel im Mund geschlafen.
"Wie bitte?", fragte Lady Rattenklein irritiert.
"Ich hatte die Idee mit dem botanischen Register, Mäm. Alle dachten, es wäre Unsinn, aber es war nützlich, nicht? Ich habe das gemacht!"
"Aha", kommentierte sie und würgte ein kleines "Gut gemacht" hervor. Der Gnom wurde noch roter und lächelte noch breiter als es ihm anatomisch möglich hätte sein sollen.
"Die gleichen Pflanzen fand Pismire auch in den Haaren der Leichen, neben Fasern, die von den Sitzen der Kutsche stammen. Damit ist klar: Die Kinder müssen, beide schon tot, mit der familieneigenen Kutsche, zu den Auffindungsorten ihrer Leichen gefahren worden sein."
"Damit kommen wir zu der entscheidenden Frage: Wer fuhr an diesem Tag die Kutsche?", sagte Septimus und sein Grinsen wich einem grübelnden Gesichtsausdruck.
"Darum", sagte die Gnomin und drückte ihm das Papier in die Hand, "Müsst ihr euch kümmern."

*14*


"In Ordnung, Herr Morpork", sagte Kolumbini, "Bitte beschreibe uns ganz genau den Tag, an dem deine Kinder verschwunden sind. Und den Vorabend."
Der Mann rutschte nicht auf seinem Stuhl hin und her, fuhr sich nicht nervös durch die Haare und er sah nicht weg, als der Inspäctor ihm in die Augen sah. Er saß einfach nur da. Äußerlich wirkte er gelassen, aber seine Hände schwitzten und sein Adamsapfel hüpfte wie eine in die Enge getriebene Maus auf und ab.
"Aber das habe ich doch schon gemacht", sagte er schwerfällig. Seine Stimme klang tief und gleichzeitig schwach. Er war nicht in guter Verfassung, das konnte Kolumbini leicht erkennen. Richards Gesicht bestand, von dem großen Schnurrbart abgesehen, nur noch aus den von einem inneren Feind ausgehöhlten Ringen um die wässrigen kleinen Augen.
"Trotzdem."
"Bitte", fügte Ayure hinzu.
Der Inspäctor sah sie mit einem warnenden Blick an, der sie daran erinnerte, dass sie lediglich mitschreiben sollte ohne sich einzumischen, außer wenn es unbedingt notwendig war. Er schätzte es nicht sonderlich mit anderen zusammen arbeiten zu müssen, das ließ er die Obergefreite sehr deutlich an seinem Blick erkennen. Ayu verstummte und starrte mit neu erwachtem Interesse auf ihren Notizblock.
"Ich habe am Oktotag meinen Kindern eine Geschichte vorgelesen, ja. Danach sind wir alle schlafen gegangen ... mh ... so gegen zweiundzwanzig Uhr," berichtete er steif als würde eine Puppe für ihn sprechen und nicht er selbst.
"Ist das alles?"
Richard zuckte mit den schweren Schultern. "Ich kann mich an nichts anderes erinnern."
"Was für eine Geschichte hast du den Kindern vorgelesen?"
"Was?"
"Wie hieß die Geschichte, die du deinen Kindern vorgelesen hast?"
"Das weiß ich nicht mehr." Richard schwitzte noch mehr. "Ich weiß nur noch: Als ich am Montag um halb elf aufgestanden bin, waren die Mädchen und Monika schon weg. Monika ist dann kurz vor zwölf von irgendwelchen Besorgungen heimgekommen und hat Mittagessen gemacht."
Er behielt seine Bauchrednermiene bei. Starr und schwerfällig holperten seine Worte in den Raum.
Irgendwas ist in diesem Menschen kaputt gegangen, dachte Kolumbini.
"Für wie viele Personen hat sie gekocht?"
"Für vier", antwortete Richard.
"Und weiter?"
"Erst als sie fertig war, hab ich mich auf den Weg zum Spielplatz gemacht, denn da, hat sie gesagt, hat sie die Mädchen abgesetzt."
"Hast du dazu deine Kutsche benutzt?"
Der Mann schaute verwundert und schüttelte dann langsam den Kopf. "Nein."
"Zuvor an dem Morgen?"
"Nein."
"Hast du die Kutsche an diesem Tag gesäubert?", erkundigte sich Kolumbini und hoffte, dass der Mann nicht merkte, wie Ayure die Luft anhielt.
"Nein", wieder ein sehr langsames Kopfschütteln. Plötzlich kam wieder Leben in die Puppe. "Aber Monika hat sie am Dienstag sauber gemacht! Von innen und von außen, ja. Und da war noch etwas: Die eine Scheibe hatte plötzlich einen Sprung, nachdem Monika von der Bank wiedergekommen ist."
Dann erlosch der Funke in seinen Augen wieder und sein Gesicht wurde stumpf. Eine Weile lang betrachtete Kolumbini ihn schweigend.
"Herr Morprok", sagte er, als späche er mit einem Kind. "Ich muss dir jetzt eine Frage stellen und es ist wichtig, dass du sie ehrlich beantwortest."
Die Puppe nickte.
"Hast du deine Kinder ermordet und anschließend mit der Kutsche fort geschafft?"
Nichts. Seine Augen weiteten sich nicht. Sein Atem stockte nicht. Seine Lippen zitterten nicht. Er wirkte teilnahmslos, fremdgesteuert. Und er schüttelte langsam sein Haupt.
"Ich frage dich noch einmal: Hast du deine Kinder ermordet und anschließend mit der Kutsche fort geschafft?"
Endlich öffnete sich Richards Mund wie eine kleine Wunde und er sagte: "Ich kann mich nicht erinnern, die Kinder totgemacht zu haben, aber wenn ich als Täter in Frage komme, dann bin ich mir fast sicher, nicht auch die toten Kinder weggebracht zu haben."
Weder Ayure noch der Inspäctor verstanden den zweiten Teil des Satzes nicht ganz. Es war der längste Satz, den der Mann von sich brachte und das machte die Sache noch seltsamer. Eigentlich schien er nicht in der Lage einen solchen Satz zu konstruieren, er wirkte auswendig gelernt. Kolumbini stellte während des weiteren Verhörs immer wieder dieselben Fragen. Aber verständlicher wurde Richards Aussage dadurch nicht. Er blieb in seiner schwerfälligen Art exakt bei seiner ersten Aussage. Doch an Einzelheiten und Details des Tages konnte er sich nicht erinnern.

*15*


Gleichzeitig in einem anderen Verhörraum

"Nun, Frau Morpork", begann der Werwolf, "Bitte berichte uns noch einmal genau über den Ablauf des Tages und des Abends zuvor, damit wir die Aktivitäten genau rekonstruieren können."
Monika Morpork berichtete den Wächtern, dass sie nach der Auseinandersetzung und der darauffolgenden Versöhnung mit ihrem Liebhaber mit ihren Töchtern baden gewesen war. "Dann habe ich den beiden etwas zu essen gemacht und sie zum Schlafengehen gewaschen und angezogen. Miriam und Kristin", bei Erwähnung der Namen verzerrte ein innerer Schmerz ihr Gesicht, "saßen mit Richard im Wohnzimmer und haben eine Geschichte gehört, als ich um neun Uhr abends das Haus verlassen habe, um mich mit Keith zu treffen."
Minas Stift kritzelte fleißig auf das Papier. Sie hatte die Rolle des Schriftführers und stillen Beobachters übernommen.
"Wann bist du wieder gekommen?", fragte Romulus.
"Ich war erst am frühen Morgen wieder da, etwa um drei Uhr zwanzig. Da haben alle schon geschlafen."
"Und der Morgen darauf?"
Sie schluckte wieder schwer und wischte sich eine Träne aus dem Auge. "Ich hab den beiden Frühstück gemacht und sie dann spielen geschickt. Danach bin ich mit Richards Einspänner in die Stadt gefahren, um bei der Bank Geld für meine Mutter aufzugeben. Kurz nach elf Uhr war ich wieder zu Hause."
In diesem Moment klopfte es an der schweren Tür. Der Abteilungsleiter grummelte nicht gerade erfreut über die Störung ein "Herein".
Ayure trat ein, nickte ihren Kollegen stumm zu und übergab Romulus einen Zettel mit einer Botschaft von Kolumbini. Monika Morpork beobachtete die Szene neugierig. Ayure verschwand ohne ein Wort. Von Grauhaar las den Zettel und nahm sich für die kurze Zeile sehr viel Zeit. Anschließend sah er Monika fest in die Augen. Er wollte sie ein wenig unter Druck setzen. Sie hatte keine Ahnung, welche Information auf dem Stück Papier stand, das wollte er sich zu Nutze machen.
"Wann hast du das letzte mal eure Kutsche gereinigt, Frau Morpork?", fragte er gespielt beiläufig. Monika sah ihn erstaunt an, die Trauer war wie weggewischt aus ihrer Mimik.
"Das muss schon ewig her sein", sagte sie unsicher.
"Tatsächlich?" Zweifelnd zog Romulus eine Braue hoch. "Du bist dir sicher, dass du sie nicht am Tag nach der Vermisstenmeldung gesäubert hast?"
Sie hob den Kopf und bot ihm ihre verweinten blauen Augen dar, die von den Tränen glänzten."Daran würde ich mich sicherlich erinnern."
"Bist du dir da ganz sicher?", fragte er sehr langsam.
"Absolut!", sie wurde plötzlich lauter. "Ich war das bestimmt nicht!" Sie dachte kurz nach. "Vielmehr hat Richard das gemacht. Jawohl! Ich erinnere mich ganz genau. Er hat sie gründlicher gewaschen denn je. Ich hatte damit gar nichts zu tun!"
Sie ahnt, dass ich deshalb auf diese Frage bestehe, weil nur der Täter daran interessiert gewesen sein konnte, mögliche Spuren zu verwischen.
"Und was ist mit dem Sprung in der Scheibe?"
"Was?"
"Im hinteren Glasfenster der Kutsche ist ein Sprung, der vor deiner Fahrt in die Stadt nicht da war. Wie ist der zustande gekommen?"
"Ein Karren hat versucht, mich zu überholen, als ich wegen einer verstopften Straße gewartet habe. Er hatte seine Ladung katastrophal untergebracht, schwankte als er das Hindernis sah und ein Holzbalken stieß gegen das Glas", sagte sie mit schlecht beherrschter Stimme.
Im Laufe des anschließenden Verhörs bat der Werwolf die Frau immer wieder darum, die Geschehnisse genau zu schildern. Dabei fiel ihm und Mina auf, dass sie sich immer wieder in Widersprüche verwickelte und in kleinen Details von ihrer Aussage abwich.

*16*


Für Romulus waren die Indizien gegen Monika Morpork eindeutiger und ihr Motiv stärker. Die Kinder waren ihr im Weg gewesen, deshalb mussten sie verschwinden. Vielleicht hatte ihr Liebhaber sogar dabei geholfen. Dieser befand sich allerdings wieder in Borograwien und musste erst zurück nach AM gebeten werden. Als ein Schriftsachverständiger noch dazu nachwies, dass die beiden anonymen Schreiben eindeutig von ihr selbst stammten, wurde sie Ende August in Untersuchungshaft genommen.
Am nächsten Morgen verlangte sie dringend, einen Ermittler zu sprechen. Was sie Kolumbini erzählte, war jedoch ganz und gar nicht das erwartete Geständnis.
"Ich kam in der Nacht zum 4. August zwischen drei und halb vier nach Hause", erzählte Monika Morpork dem Inspäctor händeringend. "Mein Mann saß in gebeugter Haltung am Fußende von Kristins Bett. Er war total verstört und weinte. Er schien geistig abwesend zu sein, gar nicht da. Als ich ihn so sah, habe ich sofort vermutet: Mit den Kindern muss etwas passiert sein. Zuerst ging ich zu Miriam. Ich packte sie am Arm, schüttelte sie. Sie lag da und bewegte sich nicht ..."
Sie brach in Tränen aus und schluchzte heftig. Nach ein paar Minuten hatte sie sich wieder beruhigt und fuhr fort: "Dann ging ich rüber zum Bett von Kristin. Auch sie habe ich am Arm gepackt und geschüttelt. Mir wurde klar, dass die Kinder nicht mehr lebten ..."
"Warum hast du keinen Arzt gerufen?"
Tränen ronnen über ihr verzerrtes Gesicht. Kolumbini reichte ihr stumm ein Taschentuch und sie schnäuzte kräftig hinein.
"Ich bin Krankenpflegerin", erklärte sie. "Ich wusste eben, dass sie keine Chance hatten. Ich konnte ihren Anblick nicht länger ertragen und bin wieder ins Schlafzimmer gelaufen und dabei hab ich eine Flasche Bier, die Richard stehen gelassen hat, umgeworfen. Ich war außer mir! Ich konnte nur auf dem Bett sitzen und weinen - stundenlang. Ihnen war nicht mehr zu helfen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich war verzweifelt! Er hat mir das Liebste genommen, was ich hatte!"
Sie schluchzte, weinte wie ein Kind. Die Tränen kullerten nur so herunter.
"Irgendwann habe ich gehört, wie Richard raus ist und ich hab auch gehört, dass eine Kutsche vor unserem Haus weggefahren ist. Aber ich weiß nicht genau, ob es unsere war. Nach mehreren Stunden war Richard wieder da. Er kam zu mir ins Schlafzimmer und sagte: 'Jetzt kriegt keiner von uns die Kinder.' Dann hab ich ihn gefragt, wohin er sie gebracht hat und er hat es mir gesagt. Danach ist er ins Bett gegangen. Ich bin noch auf Toilette gegangen, dann hab ich mich neben ihm ins Bett gelegt. Aber er hat so laut geschnarcht, dass ich nicht einschlafen konnte."
"Wegen seines Schnarchens?", unterbrach Kolumbini sie ungläubig. "Ich würde mich nie neben den Mörder meiner Kinder legen!"
Sie sah ihn traurig an, zuckte schwach mit den Schultern und fuhr fort: "Gegen zehn oder halb elf bin ich alleine aufgestanden und zum Postamt gefahren, um Briefmarken zu holen. Dann bin ich zu dem Rastplatz gefahren. Miriam habe ich gesehen. Kristin habe ich aber nicht gefunden. Danach bin ich wieder nach Hause gefahren und hab Mittagessen gekocht."
Schweigen trat ein. Monikas neue Version der Ereignisse deckte tatsächlich alle bisher gefundenen Indizien ab, von den Textilfasern im Fahrzeug bis zu den Kletten im Haar der kleinen Leichen. Sie erklärte zudem, warum die Kutsche der Familie am Fundort der Toten gesehen worden war. Kolumbini ließ einige Zeit verstreichen und stellte dann seine Fragen.
"Wenn du wusstest, dass deine Kinder tot sind, warum dann das Theater mit dem Spielplatz und der Sucherei?"
"Das habe ich nur gemacht, um Richard zu schützen."
"Und die anonymen Briefe?"
"Die hab ich geschrieben, um verhört zu werden und dabei endlich die Wahrheit sagen zu können."
Eine etwas holprige Erklärung, dachte der Ermittler kritisch, fragte aber nicht weiter. Richard Morpork, der am Abend des 3. Augusts mit den Kindern allein gewesen war, hätte genug Zeit für die Tat gehabt. Als Vater hätte er auch für die "sanfte" Tötungsart verantwortlich sein können. Und vor allem hatte er ein Motiv: Monikas Untreue und die Möglichkeit, durch eine Scheidung nicht nur die Frau, sondern auch seine Kinder zu verlieren. War diesem ansonsten so phlegmatischen und passiven Mann an diesem Abend doch der Kragen geplatzt?
Aber war ihre Story wirklich plausibel?
"Ich frage mich", sagte Kolumbini ohne die Stimme zu heben, "wieso du so ruhig reagiert hast, als du die toten Kinder gefunden hast und deinen Mann als Mörder erkennen musstest. Warum bist du nicht sofort auf ihn los gegangen? Das hätte ich jedenfalls getan, wenn ich in deiner Situation gesteckt hätte."
"Ich fühlte mich mitschuldig an der Geschichte", entgegnete sie auf diese Frage. "Wegen meines Verhältnisses mit Keith."
"Aber wieso hast du dich dann neben den Mörder deiner Kinder ins Bett gelegt und dort die ganze Nacht, bis in den späten Morgen, darin ausgehalten?"
Auf diese Frage antwortete sie nicht, sondern blickte nur stumm zu Boden.
"Und", fuhr Kolumbini fort, "aus welchem Grund hast du Richard mit einer so ausgeklügelten Inszenierung schützen wollen?"
Auch diese Frage blieb unbeantwortet.
"Und wie war es möglich, dass du deine ältere Tochter tot und allein im Unkraut hast liegen lassen, wo sie Wind, Wetter und Tieren ausgesetzt war?"
Monika schwieg weiterhin und blieb beharrlich bei ihrer Aussage.

*17*


Die Rekrutin Fantine Angrod Haderlump hatte soeben ihren Posten am Wachetresen eingenommen. Sorglos bot sie ihrem Leidensgenossen, einem anderen Rekruten, der ihr unbekannt war, einen Apfel an. Dieser lehnte mit einer Handbewegung ab. Also aß sie ihre Frucht alleine und trank dabei ihren Kaffee wie ein Lebenselixier. Atmete die stinkende Morgenluft, die durch die halb geöffnete Tür drang, und seufzte so zufrieden, wie man als Rekrutin im Tresendienst seufzen kann.
In diesem Moment betrat ein Mann den Raum und kam zielstrebig auf sie zu. Er war etwa in den Dreißigern und von schlanker, hoher Gestalt. Seine Haare legten sich in einer braunen Lockenpracht um sein Haupt wie ein gefärbter Heiligenschein. Kleine blaue Augen sahen die Rekrutin durch kreisrunde Brillengläser freundlich an.
"Guten Morgen", grüßte er sie heiter als könne er niemandem auf der Welt je etwas Böses antun. "Ich würde gerne Frau Morpork besuchen."
"Und du bist?", fragte Fantine.
"Ein Verwandter", antwortete der Mann. "Ihr Cousin. Mein Name ist Tim Teig."
Da Fantine nicht den Befehl bekommen hatte, niemanden zu Frau Morpork durchzulassen, fiel ihr nicht ein, warum sie diesem netten Mann nicht Einlass gewähren sollte. Sie untersuchte ihn auf Waffen und Werkzeuge, aber er trug lediglich eine Kanne Kaffee und eine Dose Kekse bei sich. Also führte sie ihn zu Monikas Zelle.

*18*


Überall türmten sich Abfälle. Die Gasse vor ihm war nur wenig beleuchtet, auf dem Pflaster spiegelte sich das ein oder andere Kerzenlicht in einer Pfütze. Immer wieder sah Pyronekdan vor sich das Bild der beiden kleinen Kinder auf dem kalten Tisch der Gerichtsmedizin. Sie waren die Opfer. Niemand würde sie noch einmal lebend sehen können. Nie wieder. Er dachte an die Verdächtigen. An den undurchsichtigen Richard und an Monika, die Mutter, deren Schmerz auf der Beerdigung so unübersehbar gewesen war. Und er dachte an den Sand. An diesen elenden Sand.
Der Treffpunkt war nur noch eine Biegung entfernt. Der Kontakter verlangsamte sein Tempo und kontrollierte noch einmal, ob er verfolgt oder beobachtet wurde. Er konnte keine Gefahr ausmachen und begann nach dem Haus zu suchen. Schließlich fand er die kurze steinerne Treppe, die zu der kadmiumrot gestrichenen Tür führte und klopfte in einem ganz bestimmten Rhythmus an. Plötzlich öffnete sie sich, eine schmale Hand zog ihn ins Innere und es wurde abgeschlossen.
Jemand zündete ein Streichholz an. Die kleine goldene Lichtquelle ließ eine blonde Frau mit hoher Stirn erkennen. Der Lichtschein wurde größer als sie ihn auf eine Kerze hinübergleiten ließ. Vor Pyronekdan stand eine Frau mit goldenen Korkenzieherlocken, einem schmalen Gesicht, großen blauen Augen und mit rot nachgezeichneten, runden Lippen. Katzengleich bewegte sie ihren schmalen Körper durch mehrere dunkle Gänge, ihn ständig stumm auffordernd, zu folgen.
Wieder musste Pyronekdan an die Mädchen denken. Sie würden nie die Erfahrung machen, vor einem Mann so hergehen zu wollen. Sie wären sicher wunderbare Frauen geworden, er dachte an die Ehemänner, die sie sicher gehabt hätten.
Schließlich blieb sie stehen und zeigte entschieden auf ein Zimmer hinter einem rosa Vorhang. Sie lächelte leicht und er trat ein.
Viele Kerzen warfen ihr schlängelndes Licht auf die Wände, auf denen nackte Frauengestalten, Hunde, kleine dicke Engel und ein Mann mit einem Hirschkopf zu sehen waren. In diesem Moment war sich der Kontakter sicher, dass er hier tatsächlich die gesuchte Näherin gefunden hatte. Alle Gestalten tanzten in verschiedenen, teilweise sehr fantasievollen, Posen auf dem Wandgemälde [7a]. Dem gegenüber befand sich ein unübersehbares Himmelbett in rosa, das fast den ganzen Raum einnahm und außerdem die einzige Sitzgelegenheit darbot.
"Du", sagte die Näherin und deutete ihm, sich zu setzen, "bist also der Mann mit dem Geld."
"Ähm ...", er setzte sich auf die federnde Matratze. "Richtig. Ich nehme an, du bist Frau Kitzler."
Sie nickte, ging auf ihn zu, stützte den rechten Fuß auf dem Bett ab, sodass der Rock sich ein beängstigendes Stück nach oben bewegte, und sah ihm direkt in die Augen. "Aber du darfst mich auch Rosa nennen. Womit kann ich dienen?"
"Ich habe einige Fragen an dich", sagte Pyro und strich sich etwas verlegen durch den Bart.
Rosa zuckte mit den Schultern und setzte sich neben ihn. "Wenn's nur Fragen sind."
"Kennst du Richard Morpork?"
Rosa betrachtete interessiert ihre Fingernägel und schwieg. Sie seufzte und streckte ihm die offene Handfläche entgegen. "Nil volvpi, sine lvcre", erinnerte sie ihn mit einem frechen Lächeln. "Auch wenn es nur Informationen sind."
Pyro zog ein paar Scheine hervor und legte sie ihr in die Hand.
"Märci", sagte sie und gab ihm mit der einen Hand einen Luftkuss, während die andere das Geld geschickt in ihrem Ausschnitt verschwinden ließ. "Hast du ein Bild?"
Der Kontakter zog eine Ikonographie heraus und zeigte sie ihr.
"Ja", bestätigte sie. "Aber er hatte natürlich einen anderen Namen."
"Natürlich."
"Bei mir hieß er immer Stahlmann. Er wollte, dass ich ihn so nenne. Ferdinand Stahlmann."
"Und wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?"
Sie überlegte kurz. "Anfang August."
"Und wie oft war er hier?"
"Er kam drei Wochen lang, mehrmals in der Woche, das war im Juli."
Also etwa in dem Zeitraum, in dem auch seine Frau fremd gegangen ist, dachte der Zauberer. "Hat er je irgendetwas über seine Frau erzählt?"
"Allerdings. Immer nach dem -"
"Aha, und was hat er so erzählt?", unterbrach er sie schnell.
Sie musterte wieder eingehend ihre Fingernägel.
"Komm schon, das war noch nicht genug", sagte Pyro, lächelte dabei aber freundlich.
Sie seufzte. "Na, dass sie mit einem anderen ins Bett gehopst ist. Was sonst?"
"Das kann mir jeder in der Stadt erzählen." Er zückte einen weiteren Schein und begann sich damit Luft zuzufächeln.
"Er hat ne Menge erzählt", sagte sie und zuckte leicht mit der Schulter, als ob sie das Geld nicht interessieren würde. "Er hat sogar mehr erzählt als ge -"
"Etwas genauer bitte."
Er hatte viel erzählt? Konnte es sein, dass Richard sich in der Wache nur als langsam und schwerfällig ausgab? Warum hatte er gerade diese Näherin an allem teilhaben lassen? Nun, Rosa sah wie eine hübschere und jüngere Version seiner Ehefrau aus, vielleicht lag seine Geschwätzigkeit in dieser Ähnlichkeit begründet. Vielleicht war Richard Morpork aber auch ein ganz anderer Mensch als der, den die Wache und die Öffentlichkeit kennen gelernt hatten. So viele Dinge passten einfach nicht.
"Das mit seiner Frau schien ihn ziemlich mitgenommen zu haben." Sie griff nach einer Kupferdose auf dem Nachttisch und holte eine schmale Zigarette hervor. "Er fühlte sich im Stich gelassen von aller Welt. Ganz im Ernst, der war nicht mehr richtig im Kopf." Mit einem Streichholz zündete Rosa sie an und nahm einen tiefen Zug. "Der hat davon geredet, wie sehr er seine Frau braucht. Und er hat mir in allen Einzelheiten geschildert, was er mit dem Kerl, mit dem seine Frau was hatte, anstellen würde. Wollte ihn richtig auseinandernehmen." Sie atmete den Rauch aus und fuhr fort: "Ihn unter die Erde bringen, verstehst du?"
Pyro nickte.
"Aber er hat nie was gemacht. Der hätte nie den Mumm für sowas. Der hat immer nur geredet. Von seiner Frau und diesem Typen."
"Auch von seinen Kindern?"
Rosa sah ihn an und griff nach dem Geldschein. Der Kontakter gab ihn ihr.
"Ja, auch über die Kinder", antwortete sie und das Zahlungsmittel bekam seinen Ort in ihrem Dekolleté zugewiesen. "Vor allem die letzten drei Male, an denen er hier war."
Rosa schwieg, starrte auf etwas im Raum, das nur sie sehen konnte und rauchte.
"Was hat er erzählt", fragte Pyro langsam.
"Er hat erzählt, dass er sie liebt. Aber es ihnen viel zu selten sagt. Dass er sie braucht. Und dass er sie nicht verlieren möchte. Das hat er beim vorvorletzten Mal gesagt, das weiß ich noch ganz genau. Ich hab ein Tagebuch, weißt du? Ich hab es in das Tagebuch geschrieben, weil ich das echt süß fand. Männer reden nicht oft über ihre Gefühle, weißt du?"
Er ging nicht auf ihre Bemerkung ein. "Und was hat er bei den zwei anderen Treffen gesagt?"
Die Glut leuchtete auf, als sie noch einen tiefen Zug nahm. "Das vorletzte Mal, war er ganz komisch. Er hat nur einen Satz gesagt. Einen einzigen. Dabei hat er sonst immer so viel geredet. Er hat gesagt", sie schluckte, Pyro drängte sie mit seinem Blick, weiter zu sprechen. "Er ist raus gegangen und stand in der Tür und hat gesagt: 'Jetzt kriegt die Kinder keiner.'"
Pyro schluckte. "Und was ist mit dem letzten Mal?"
"Er schien ein ganz anderer Mann zu sein. Das letzte Mal." Langsam drückte sie die Zigarette aus. "Er war in Höchstform könnte man meinen. Nach dem nähen hat er mir erzählt, dass die ganze Geschichte jetzt vorbei sei. Seine Laune wurde immer besser. Er sagte, er habe für Gerechtigkeit gesorgt. Und dann meinte er, er würde mich abgöttisch lieben. Und dass uns nichts mehr im Wege stehen würde. So ganz plötzlich, vorher hat er sowas nie gesagt. Und dann", sie sah ins Leere. Pyronekdan bemerkte, wie eine Träne ihr gepudertes Gesicht hinab rollte. "Dann hat er mir erzählt, dass er sie umgebracht hat. Er hat es mir nicht nur erzählt, er hat damit geprahlt."
"Und was hast du getan?"
"Ich hab ihn rausgeworfen. Ich dachte, er wäre jetzt vollkommen durchgedreht. Und ich hab ihm gesagt, dass er nicht wieder kommen soll, wenn ihm sein bestes Teil was wert ist."
Nachdenkliches Nicken. Er ließ ihr etwas Zeit, bevor er fragte: "Hat er dir erzählt, wie er es gemacht hat?"
"Nein", sie schüttelte den Kopf und ihre Locken schwangen mit. "Dazu ist er nicht mehr gekommen. Ich hab ihn vorher rausgeschmissen. So ein Irrer kommt mir nicht ins Haus."

*19*


"Tötet die Sau!"
"Sie war es nicht! Es war ihr Mann!"
"Die sollte man direkt erschießen!"
"Sie ist unschuldig!"
"Sie ist Abschaum! Nichts weiter!"
"Würstchen! Nur ein Dollar! Und damit treibe ich mich selbst in den Ruin!"
Mina von Nachtschatten beobachtete aus sicherer Entfernung den Mob, der sich vor dem Wachegebäude zusammengerottet hatte. Monikas Bericht hatte dem Fall eine ganz neue Wendung gegeben und spaltete nicht nur die Wächter, sondern auch die Öffentlichkeit in zwei einander heftig bekämpfende Lager. Inzwischen fand der Streit sowohl innerhalb, als auch außerhalb des Gebäudes statt. Zwei Gruppen von Bürgern - die eine für, die andere gegen Monika Morpork - hatten sich zu einer großen menschlichen Traube zusammengefunden, als ihnen aufgefallen war, dass es noch einen viel besseren Verantwortlichen gab: Die Wache. In Anbetracht des gemeinsamen Ziels beschlossen die Mitglieder der zwei Gruppen, die Äxte und Messer ruhen zu lassen und beschränkten sich auf verbale Attacken. In jeder Gruppe kam es zu leidenschaftlichen Reden über die bis ins Püschologische reichende Notwendigkeit, Richard oder Monika weiterhin zu verdächtigen, in dem mangelnden Vertrauen, dass die Wache in der Lage sein würde, die Suche nach der Wahrheit[9]bis zur letzten Konsequenz durchzuführen.
Die Annahme, dass nur einer der beiden Eltern als Täter in Betracht kam, vereinfachte die Ermittlungen nicht gerade. Die Wahl zwischen Vater oder Mutter verlieh jedem Beweis eine ergebnisorientierte Zwiespältigkeit.[10]Und da viele Indizien einer Interpretation bedürfen, ehe sie Grundlage von Schlussfolgerungen werden, wurde die Aufklärung des Mordfalles Morpork zu einer Frage des Glaubens, der Überzeugung, der Moral. Der jeweiligen Moral.
Schlussfolgerungen,dachte die Vampirin.Es gibt die objektiven und die subjektiven.
"Alles, bloß keine Reife!"
Mina schreckte auf. Ihr Zimmerkollege stand plötzlich neben ihr und schüttelte traurig den Kopf. Schon wieder hatte der Gnom es geschafft, sich anzuschleichen, ohne dass sie ihn bemerkt hatte.
Eine besonders schrille Frauenstimme erhob sich über die sich bekriegende Menge, welche nun begonnen hatte zu stoßen und zu drängeln als wären die Zeiten der Lynchjustiz wieder angebrochen: "Ihr Mann hat mehr als nur ein Motiv! Doch sie hat es gewagt aus ihrer Rolle auszubrechen und sich einen Liebhaber zu suchen und alleine deshalb verurteilt ihr sie!"
Von der anderen Seite grölte jemand: "Ein Hoch auf unser Rechtssystem! Hängt die Hure!"
Darauf hin schrie eine Frau, deren Frisur aufwendig zu einem großen Turm frisiert war, von der anderen Seite: "Ich hatte viel mit Frau Morpork zu tun! Was ihr hier macht, ist eine Hetzjagd! Und es geht euch nicht darum, ob sie ihre Kinder ermordet hat, sondern darum, dass sie ihren Mann betrogen hat! Keine Mutter könnte ihren Kindern so etwas antun. Aber das ist der Wache ja egal, die will ihre eigenen Fehler bloß unter den Teppich fallen lassen!"
Ein fernes Echo von Ideologien stellte sich in Minas Gedächtnis ein.
"Guten Morgen, Septimus", grüßte sie den Obergefreiten, der zornig das Getümmel beobachtete.
"Seit Tagen der gleiche Aufstand!", meckerte er weiter, ohne den Gruß mit mehr als einem Nicken zu erwidern.
"Ebel, krieg dich wieder ein!", rief ihm ein vorbeigehender Rekrut zu und stimmte in das Gelächter seiner Genossen ein.
"Macht mich nicht an", antwortete er ihnen gereizt. "Ein bisschen mehr Erziehung, ihr Armleuchter! Euch ist doch auch alles schon egal."
"Das ist die Gedankenlosigkeit der Jugend", versuchte Mina ihn zu beruhigen. Obwohl sie wusste, dass es dabei nur geringe Chancen auf Erfolg gab, wenn der Gnom sich einmal warm geredet hatte.
"Reg dich ab, Ebel!", rief der Rekrut erneut über seine Schulter hinweg.
"Ich reg mich auf, solange es mir passt, du Säugling! Geh doch nach Hause und nerv deine Eltern! Ich spreche mit dieser Dame hier und nicht mit dir!"
Mina sah ihn verwundert an, Septimus hatte sie noch nie 'Dame' genannt. Das war immer sehr angenehm gewesen.
Er sah ihren erstaunten Gesichtsausdruck und murmelte: "Verzeihung, manchmal geht es mit mir durch."
"Das war vollkommen angebracht", erwiderte sie ruhig. "Falls es dich interessiert, ich habe mir sein Gesicht genau gemerkt."
"Ach", sagte er, "Dieses Gestänker bin ich gewöhnt. Wenn es drauf ankommt, werden die Jungs alles tun, um bei B.A.U.M. [11] Mitglieder zu werden, aber die Sticheleien können sie nicht lassen. Das da", er deutete auf den Pöbel, "macht mir viel mehr zu schaffen. Sowas von unreif. Und die Presse stachelt sie nur noch mehr auf."
Mina beobachtete die Menschenmenge, sie schien zu wachsen. Es wurde jeden Morgen schwieriger sich als Wächter zum Eingang vorzukämpfen. Zunächst musste man die Barriere von Journalisten überwinden, welche momentan den äußersten Ring bildeten. Also hieß es entweder anhalten oder über die Leichen junger Männer und Frauen hinweg stampfen, die um die erste richtige Story ihres Lebens kämpften. Dabei lief man auch Gefahr, einen der alten, ausgelaugten Journalisten zu erwischen, die zu beweisen versuchten, dass sie diesen arroganten Grünschnäbeln immer noch etwas beibringen konnten. Brauste man nicht schnell genug über sie hinweg, griffen sie rücksichtslos an. Mit Fragen.
"Bist du Mitglied der Wache?"
"Was ist hier eigentlich passiert?"
"Warum dauert das so lange?"
"Stimmt es, dass Richard Morpork einen Herzinfarkt hatte?"
"Was hat die Wache bis jetzt heraus bekommen? Was verschweigt sie uns?!"
"Wer fand die geschmuggelten Drogen?"
"Ist Richard Morpork ein Psychopat?"
Die Theorien dieser geldgeilen Bande hätten Bände von kitschigen Romanen füllen können, hatten aber Minas Meinung nach nichts mit der wahrheitsgetreuen Nachrichtenversorgung der Bürger zu tun. Dankbar griffen die Medien jede Nachricht auf und warfen sie über die Stadt als würden sie Körner an ausgehungerte Tauben verteilen. Und die graue Tauben glaubten dem, der die dicksten Krümmel verstreute. So brachte die eine Zeitung ihre Leser dazu, Mitleid gegenüber Frau Morpork als totale Verschwendung anzusehen. Ein anderes Blatt propagierte, dass diese unscheinbare Frau aus gutem Hause niemals für eine solche Tat in Frage kam und stellte sie als grundlos verfolgte Unschuldige dar. Nun hatte Monika ihren Ehemann bezichtigt und damit einen besonderen Leckerbissen in den Pressesack geschmissen - die Arena war offen, die Spiele nahmen ihren Lauf, das Geld floss. Und in der Mitte des Schauplatzes wurde das Schicksal einer Familie auseinandergehackt, bis jeder ein Stück davon abbekam.
Septimus scharrte plötzlich verlegen mit dem Fuß im Dreck herum. "Sag mal ... Ich frage dich nicht gerne, aber..."
"Ja?", fragte die Gefreite neugierig.
"Na ja." Er drückte sich davor, es auszusprechen. "Nun, ich, ähm, werde vermutlich zerquetscht, wenn ich versuche dort hindurch zu gelangen. Deshalb, ähm ..."
Sie begriff. Es war ein positiver Schritt in ihrer Beziehung, dass der Gnom ihr nicht nur erlaubte sie zu tragen, sondern sie sogar darum bat. Außerdem nannte er sie 'Dame' ... und er sah irgendwie sauberer aus als sonst. Was war nur mit ihm los?
"Ich verstehe." Langsam ging sie in die Hocke und hielt ihm die Hand hin, auf die er widerwillig kletterte. Anschließend verstaute sie ihn vorsichtig in ihrer Tasche - bei seiner Spezialisierung war es besser, nicht von Fremden dabei beobachtet zu werden ins Wachegebäude zu gehen -, zog die Ärmel entschlossen hoch und schmiss sich in die Menge.

*20*


Nachdem Tim Teig sicher war, dass ihr Gespräch nicht belauscht wurde, stellte er sich Monika Morpork mit seiner wahren Identität vor. Tatsächlich war sein Name Theodor Osterkorn und er schrieb für den 'Kometen' [12].
"Meine Liebe", brachte er das Gespräch schmierig lächelnd in Gang, "In meiner Heimat werde ich oft gefragt, wie ein Mann wie ich, der über soviel gesellschaftlichen Einfluss, Geld und Prestige verfügt, dazu kommt, sich gerade hier in Ankh-Morpork nieder zu lassen, was - seien wir ehrlich - eine Stadt für den Billigtourismus ist. Aber ich habe diese Stadt schätzen gelernt. Ich habe zu schätzen gelernt, was sich hinter dieser chaotischen Stadt ohne Gerechtigkeit und voller Leichtsinn verbirgt. Willst du einen Kaffee trinken, Frau Morpork?"
"Ja, einen schwarzen Kaffee. Ohne Zucker. Danke."
"Bist du Asketin?", er lachte allein über seinen Scherz.
"Nein. Eine Freundin von mir war verrückt nach schwarzem Kaffee ohne Zucker. Aus Liebe und Solidarität übernahm ich diese Gewohnheit", erklärte sie warm lächelnd.
"Was ist aus dieser Freundin geworden?"
"Sie lebt in Gennua und schreibt Gedichte, in denen ich manchmal vorkomme. Und schwarzer Kaffee."
"Donnerwetter, was für ein interessantes Leben du führst!"
Osterkorn lächelte ausgiebig, während er sich ausgiebig eine Zigarette anzündete und ausgiebig den ganzen Raum mit maßlosem Qualm einnebelte, als wollte er die Zigarette in einem Zug aufrauchen.
"Ich weiß nicht, was du hier willst, Herr Osterkorn", sagte sie schließlich.
"Das wirst du gleich erfahren. Jetzt, wo du ein warmes Getränk hast, will ich dir mein Angebot darlegen. Sagen wir mal, dass es zu einem Gerichtsverfahren in deinem Fall kommt."
"Ich bin unschuldig!"
"Ja, ich weiß. Sagen wir, es kommt zu einem Verfahren. Dann brauchst du, auch wenn du unschuldig bist - so traurig das nun mal ist - so viel Hilfe, wie nur möglich. Das heißt, so viel Hilfe, wie du dir leisten kannst."
Er machte eine kunstvolle Pause.
"Ich kann mir keinen Anwalt leisten", sagte sie besorgt. "Ich habe kein Vermögen."
"Das weiß ich auch. Darum musst du dich gar nicht kümmern. Darum werde ich mich kümmern. Sagt dir der Name Herr Schräg etwas?"
Ihre blauen Augen wurden groß. "Ja, natürlich", hauchte sie.
"Herr Schräg wird dich vertreten."
"A-Aber warum?"
Osterkorn beugte sich verschwörerisch nach vorne. "Weil du eine Geschichte zu erzählen hast. Eine spektakuläre Geschichte. Und ich werde der Einzige sein, dem du sie erzählst."

*21*


Soko-Sitzung, Mitte September

Der Zorn war Romulus buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Es nahm eine gut durchblutete Farbe an, die seine Narbe noch stärker hervorstechen ließ. Trotzdem blieb seine Stimme ruhig, bedrohlich ruhig. Er konfrontierte die Mitglieder seiner Sonderkommision mit den Schlagzeilen der Presse: "Hat einer von euch heute schon die Zeitung gelesen? Eine Schweinerei ist das!"
Er warf das erste Tageblatt vor Septimus und Ophelia auf den Tisch. 'Soldaten-Hure beschuldigt ihren Ehemann!' stand auf der Titelseite.
"'Mutter Morpork erzählt die wahre Geschichte!'", las der Abteilungsleiter vor und legte die nächste Zeitung vor Lilli und Ayure auf den Tisch.
"'Er oder sie?'", zitierte er aufgebracht. Dieses Blatt landete vor Mina und Frän.
"Ach und: 'Frau Morpork, die Mörderin!'" Damit pfefferte er die letze Klatschspalte vor Mimosa und Pyros Nase.
"Die Schlagzeilen schocken mich nicht", hob er zu einem Vortrag an. "Mich erschreckt, wie viele Details über diesen Fall zur Presse durchgedrungen sind. Wenn ich irgendjemanden dabei erwische, wie er vertrauliche Informationen an das Journalisten-Pack weitergibt, dann rollen Köpfe! Egal, wer es ist! Damit werden die Ermittlungen extrem gefährdet und nicht gerade erleichtert! Der Kommandeur und der Patrizier liegen uns im Nacken, ganz zu schweigen von denen da", er deutete in Richtung des Wacheeingangs, wo der Mob immer noch tobte. "Ich möchte, dass ihr alle eure fünf Sinne auf das konzentriert, was eure Aufgabe ist. Ich will so schnell wie möglich Ergebnisse sehen. Nichts und niemand darf euch ablenken, keiner von euch übernimmt einen anderen Fall, bis das hier gelöst ist. Und wie viele Überstunden ihr dafür braucht, ist mir auch egal. Ich will alle achtundvierzig Stunden von jedem von euch einen Bericht haben und ich will Fortschritte!"
Schwer ließ er sich auf seinen Stuhl fallen. Betretenes Schweigen und eine Dose Superbulle ließen ihm die Zeit, die er brauchte, um sich zu beruhigen. "Also", er rieb sich wieder die müden Augen, "Legt los. Was meint ihr? Sollen wir Frau Morpork jetzt frei und Herr Morpork verhaften lassen?"
Einen kurzen Moment lang hielt die Anspannung im Raum still den Atem an, dann brach sie aus.
Normalerweis hätte sich Septimus niemals getraut, eine solch heiße Diskussion zu beginnen. Aber irgendwie beschäftigte ihn das Schicksal dieser Frau. Er war durch gewisse Ereignisse oder eher Personen, die seine Sichtweise in eine ganz andere Richtung als üblich lenkten, beeinflusst. Mit einem Seufzer begab er sich in die dialektische Arena. "Obwohl Monikas Geschichte ziemlich konstruiert wirkt", sagte er, "Denke ich, dass wir nicht vergessen sollten, in Richards Richtung zu ermitteln."
"Oh, bitte", Ayure rollte mit den Augen. "Die Geschichte ist doch total an den Haaren herbeigezogen."
"Und was ist mit den Erinnerungslücken und Bewusstseinstrübungen, die er letztes Jahr hatte? Es kann doch sein, dass er nicht mehr wusste, was er tat. Der permanente Alkoholkonsum hat sein Hirn zu Matsche verarbeitet. Im Protokoll des Verhörs steht, dass er solche Bläck-Auts bestritten hat. Erst später hat er gesagt: 'Wenn ich überhaupt etwas mit der Sache zu tun haben sollte, dann muss es wohl so gewesen sein.' Das ist doch schon fast ein Geständnis!"
"Oh toll", erwiderte Ayure, "Jetzt verurteilen wir Leute schon wegen eines Quasi-Geständnisses."
Die beiden Zimmerkollegen, die sich sonst sehr gut verstanden, hatten sich über diesen Fall bereits heftig gestritten und nutzen diese Situation als neues Schlachtfeld für die Diskussion. Angriffslustig sahen sie einander an.
Der Abteilungsleiter stoppte sie, indem er sagte: "Wir werden diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Frän, ich will, dass du ein psychologisches Gutachten von beiden Verdächtigen erstellst. Das müsste dann auch medizinisch gestützt werden." Er machte sich eine Notiz.
"Für mich", sagte Ayure, "Kommt nur Monika in Frage. Sie hat ein in der Kriminalgeschichte bekanntes Motiv. Schon die Gräfin von Freimünde hat ihre zwei Kinder umgebracht, um - von 'Altlasten' befreit - den Grafen von Jungberg zum Mann zu bekommen. Man sagt, sie muss diese Tat als spukende weiße Frau büßen, habe ich gelesen."
"Mittlerweile", sagte Ophelia, "Konnten wir auch Keith Protty verhören. Das Problem an diesem Motiv ist, dass die Töchter niemals - auch nicht zwischen Protty und Monika - als Hindernis angesprochen wurden. Seiner Aussage nach hätte er sie sogar mit nach Borograwien genommen. Er hat auch gesagt, er glaube nicht an Monikas Schuld, aber das ist schließlich nicht weiter verwunderlich. So wie sie von Verwandten und Bekannten beschrieben wird, hat sich Monika immer sehr gerne um ihre Töchter gekümmert, ohne sie als Last zu empfinden. Richard hätte genug Zeit für den Mord gehabt und ebenfalls ein Motiv."
"Außerdem", fügte Pyro hinzu, "ist er bereits als gewalttätig aufgefallen."
"Aber nie seinen Kindern gegenüber. Wenn er tatsächlich unter Alkoholeinfluss gewalttätig gegenüber seinen Kinder geworden ist an jenem Abend - warum dann die sanfte Tötungsart? Das passt nicht zusammen", bemerkte die Püschologin.
"Das könnte er absichtlich getan haben, um die Schuld auf seine Frau zu lenken", sagte Mina.
"Ihr nehmt ihn nur in Schutz, weil er ein Mann ist", behauptete der Gnom. "Ich glaube nicht an die Schuld von Frau Morpork. Männer kommen bei solchen Sachen immer besser weg als Frauen. Ihr Mann könnte genauso gut der Mörder sein. Aber nein, sie hat einen Geliebten, da ist sie gleich höchst verdächtig."
"Darum geht es doch gar nicht", rief Ayu empört.
"Ich denke schon, dass es darum geht", mischte sich Mina ein, "Immerhin entscheidet sich alles mit der Frage, wem die Tat eher zuzutrauen ist. Und ich bezweifle einfach, dass eine Mutter zu so einer Tat fähig ist."
"Das bedient ja wohl das Klischee total", sagte Frän. "Die Frau ist immer das Opfer und der Mann grundsätzlich der Täter. Ich sage euch, diese Frau macht sich diese Ansichten zu Nutze. Sie spekuliert darauf, dass sich alle denken 'Was nicht sein darf, kann nicht sein'. Sie versucht alle davon zu überzeugen, dass sie nichts Schlimmeres getan hat als aus ihrer klassischen Frauenrolle auszubrechen."
"Ihr vergesst", meldete sich Kolumbinis ruhige Stimme aus der hinteren Ecke des Raumes, "ein wichtiges Detail, das Monikas Geschichte unglaubwürdig macht."
Alle Anwesenden drehten sich gespannt zu ihm um.
"Die Mädchen", fuhr er fort, während er seine Pfeife stopfte, "sind in ihren Tageskleidern und sorgfältig frisiert gefunden worden. Wenn sie tatsächlich abends nach neun Uhr getötet worden sind - wer hat sie wann umgezogen?"
In diesem Moment fragte sich der ein oder andere im Raum: Verdammt, warum ist mir das nicht aufgefallen?
"Es hängt alles davon ab", übersetzte Horatius für Lilli, "wann die beiden Kinder gestorben sind. Es muss doch eine Möglichkeit geben das festzustellen."
Nachdenkliches Schweigen trat ein.
"Natürlich!" Mimosa deutete an, sich mit der flachen Hand vor die Stirn zu schlagen. "Einer der Gerichtsmediziner müsste den Mageninhalt der Leichen prüfen. Wenn sich Frühstücksreste dort finden, müssen sie am Morgen noch gelebt haben und Monikas Aussage kann nicht stimmen."
"Rein theoretisch", entgegnete Mina, "Wäre das kein hundertprozentiger Beweis. Man kann schließlich alles zu jeder Tageszeit essen."
"Trotzdem", entschied Romulus, "Will ich, dass du Pismire das mitteilst, Mimosa, und ihn in meinem Namen bittest, die Mägen zu untersuchen."
Mimosa salutierte und verließ den Raum.
"Lilli hat Recht", sagte der Abteilungsleiter, "Es hängt alles davon ab, wann die Mädchen gestorben sind. Hat die Tat in der Nacht stattgefunden, dann muss - oder kann - Richard der Täter sein, sind die Morde aber am Vormittag begangen worden, kommt nur Monika Morpork in Frage. Ich will, dass ihr nach Zeugen sucht, die die Mädchen an dem Tag oder an dem Abend das letzte Mal gesehen haben."
"Sör?"
"Ja, Ebel?"
"Falls die Mädchen mit Tageskleidung in ihren Betten lagen, müssten Fasern auf den Laken zu finden sein. So wie in der Kutsche."
"Richtig", sagte Romulus, "Jemand müsste bei Lady Rattenklein nachfra - "
"Das mach ich!" Plötzlich sahen alle Anwesenden etwas Kleines blitzschnell zur Tür hasten, kurz salutieren und hinausstürmen.

*22*


Da Barbara Bäcker mit den Morporks in einem Haus wohnte, hatte Mimosa beschlossen, sie zu den Ereignissen in jener Nacht noch einmal genau zu befragen. Als sie im Haus der Morporks ankam, tummelten sich dort bereits zwei Tatortwächter. Olga-Maria war damit beschäftigt der Belagerung der Journalisten so gut es ging Einhalt zu gebieten. Schon seit Wochen hatten sie sich in der Gegend eingenistet, um in intimen Berichten menschliche Gefühle zu verkaufen und vermeitliche Fakten in packende Schlagzeilen zu kneten. Hier fingen sie eine Meinung ein, dort eine gewisse Stimmung. Es wurden Nachbarn zum Essen eingeladen und befragt; zwischen dem Hauptgang und dem Nachtisch gab es so Einiges zu vermuten. Der 'Komet' hatte einem von ihnen eine Ikonographie von Richard Morpork abgeknüpft, die auf einer Gartenparty im vorigen Jahr entstanden war. Auf dem Bild sah man den Mann bei einem Freudensprung. Das Blatt druckte die Abbildung mit dem Untertitel: "Richard Morpork feiert die Festnahme seiner Verflossenen." Um die Sache wurde ein riesiger Hehl gemacht. Mimosa hatte gehört, dass das 'Theater der mittelmäßigen Künste' den Mord sogar in einem Stück darstellen wollte.
Arme Olga-Maria, dachte Mimosa, eine einzelne Wächterin ist viel zu wenig, wenn man diesem hartnäckigen Spürsinn der Schreiberlinge entgegentreten will. Beim Fundort der Leichen und dem Zuhause der Weimars machten sie ganz unbefangen ihre Ikonographien. Dass sie die Beweisaufnahme dabei störten, interessierte sie einen feuchten Dreck. Allein konnte die S.U.S.I.- Gefreite unmöglich eine lückenlose Absicherung ermöglichen. Die Wache hatte momentan schlichtweg zu wenige Kräfte zur Verfügung. Bei diesen Zuständen wunderte es Mimosa nicht, dass so viele Einzelheiten des Falles an die Öffentlichkeit gedrungen waren. Sie glaubte nicht, dass einer ihrer Kollegen Informationen weiter gegeben hatte. Die Pressefuzzies drangen einfach durch jede Nische, verrieten alles, was sie aufschnappen konnten: Man wusste von den blauen Flecken, die Richard über Jahre hinweg seiner Frau beigebracht hatte, man wusste von der Kleidung, die sie am Mordtag trug, ja man wusste sogar über die Sauberkeit von Kristins und Miriams Unterhosen bescheid. Die Geduld mit der die Berichterstatter auf ihre Titel warteten lohnte sich: Selten waren so viele Zeitungen gekauft worden. Das Leben der Morporks wurde gemolken wie eine übergewichtige Skandalkuh, deren Euter nie leer wurde. Da gab es das Alltagsleiden einer kaputten Ehe zwischen einem psychopatischen Gewalttäter und einer zügellosen sittenverfallenen Ehefrau. War dieses Thema ausgequetscht, gab es da noch die süßen kleinen Mädchen mit Zöpfen, Röcken und Sandkastenschaufeln. Und schließlich war da diese grauenvolle Tat, die nur von einem der Elternteile begangen worden sein konnte. Und dieses Vergehen wurde zu einem Vergehen gegen die Familie, gegen jede Familie, die plötzlich als etwas Heiliges erhoben wurde. Es gibt tausende von Eltern, die ihren Kindern Furchtbares antun, dachte sie traurig und fuhr mit einer Hand in ihre Tasche, um Schleicher sanft zu streichelt. Die Ratte quikte ein wenig, dann schlummerte sie weiter. Und über diese Rabeneltern verliert keiner ein Wort. Jetzt wird so getan, als wäre so ein Familienleben etwas ganz Abnormales, als wären alle anderen Eltern Heilige. Pah!
Im Inneren war ein anderer Tatortwächter, den Mimosa nicht kannte, dabei die Laken der Betten in große Beutel zu packen. Gastfreundlich lud Frau Bäcker Mimosa auf einen Tee mit Plätzchen ein und erzählte ihr bereitwillig alles, nach dem die Ermittlerin fragte.
Barbara wusste von Monikas Eskapaden und hatte sich öfter um die Kinder gekümmert, während die Eltern sich gestritten hatten. Um drei Uhr nachts hatte sie Kristin weinen gehört, war ins Kinderzimmer gegangen und hatte der Kleinen die nasse Unterwäsche gewechselt.
Das heißt, dachte Mimosa, dass beide Kinder um drei Uhr nachts vom Oktotag auf den Montag noch gelebt haben. Nach Monikas Aussage aber, war sie um 3:20 Uhr wieder zu Hause. Also wären Richard nur knappe zwanzig Minuten für den Doppelmord geblieben. Man braucht fünf bis zehn Minuten, um jemanden zu ersticken, hat Pismire gesagt.
Auf die Frage, ob Richard wusste, wie man die Mädchen schick ankleidete und vor allem wie man Haare flocht, antwortete die Frau: "Sicherlich nicht. Sowas war immer Monikas Sache."
Dass der sonst so ruhige Mann innerhalb von zwanzig Minuten so aufdrehen konnte, dass er einen Mord beging, erschien Mimosa sehr unwahrscheinlich. Ein Affektmord war bei seiner Persönlichkeit ihrer Meinung nach eher auszuschließen. Nach dem Mord hätte er dann die beiden noch umziehen und frisieren müssen.
Mimosa bat darum, sich das Zimmer der Mädchen genauer und alleine anschauen zu dürfen. Barbara war einverstanden und gewährte ihr auch die Bitte, sich den Weckdämon auszuleihen. Die verdeckte Ermittlerin befahl dem Dämon einen Zeitraum von zwanzig Minuten abzumessen. Dann versuchte sie sich an etwas, das sie Zeit ihres Lebens noch nie getan hatte: Sie rekonstruierte den Mord pantomimisch.
Dabei machte sie mehrere Durchgänge. Jedes Mal unterbrach sie der Dämon bevor sie fertig war. So wäre die Tat kaum zu bewerkstelligen gewesen.

*23*


Lilli Baum wusste nicht genau, warum niemand anderes auf die Idee gekommen war, den Großeltern von Miriam und Kristin einen Besuch abzustatten. Sie hatte das Ehepaar und ihren Wohnort in einer vergessenen Spalte des Lebenslaufes entdeckt und war sofort, ohne daran zu denken jemanden darüber zu informieren, zu dem Haus aufgebrochen. Die Sonne strahlte, die verdeckte Ermittlerin genoss den Spaziergang und machte sich ihre ganz eigenen Gedanken zu dem Fall. Ihrer Meinung nach steckten die Morporks unter einer Decke. Sie hatten die Kinder gemeinsam fortgeschafft, weil die Kleinen irgendwas gewusst hatten, was sie nicht wissen durften. Die Erwachsenen wollten das Unangenehme verdrängen, schafften es aber nicht - die Kinder mussten weg. Sie beschlossen, die beiden umzubringen. Und warum beschuldigte Monika dann ihren Mann? Ganz klar! Weil sie erst zusammen gearbeitet hatten, dann gemerkt haben, dass das nicht klappte und jetzt versuchten sie sich gegenseitig in die Pfanne zu hauen. Vollkommen logisch!
Als die verdeckte Ermittlerin an die große grüne Holztür klopfte, dauerte es eine ganze Weile, bis das Geräusch von schlurfenden Schritte erklang. "Ja?", war eine dünne Stimme aus dem Inneren zu vernehmen.
Lilli klopfte noch einmal. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit. Lilli lächelte so freundlich wie es einem Baum möglich gewesen wäre.
"Tach!", sagte Horatius für sie. "Stadtwache. Das hat aber ganz schön lange gedauert."
Die Tür öffnete sich ganz und eine Frau in den späten Sechzigern kam zum Vorschein - schlank, trotz des gewölbten, vorspringenden Bauches mit schütterem Haar zwischen rötlich und braun, die Schläfen etwas angegraut als trage sie auf dem Kopf eine unentschlossene ästhetische Kombination, die sich über ihre eigene Farbe nicht ganz klar war. Ihr Gesicht war das einer gealterten Puppe mit einem sanft-trüben Blick.
Sie sah Lilli erstaunt an. Noch erstaunter sah sie Horatius an. "Ja?", piepste sie. "Was ist denn?"
"Stadtwache!", wiederholte Horatius so laut als sei die Dame taub. "Wir haben ein paar Fraaagen, Frau Bääääcker!"
Die Alte führte die Hand zum Kopf, wie um nachzuprüfen, ob er noch an seinem Platz war. Dann bat sie Lilli mit einer Handgeste ins Haus. Dort roch es nach abgestandener Luft und altem säuerlichen Brot. Stickige, mit viel Kohlenstoffdioxid gefüllte Räume waren für Lilli eigentlich eine erfreuliche Sache, doch dieser Ort trumpfte mit einigen Gerüchen auf, die für sie ganz und gar nicht angenehm waren. Unter anderem konnte sie das beunruhigende Gefühl nicht loswerden, dass dort irgendwo in einem Kamin unschuldige Holzscheite verbrannt wurden. Ihr schauderte. Frau Bäcker wies ihr einen Platz auf dem zerschlissenen Sofa zu und bot ihr etwas zu Trinken an.
"Wasser!", kommandierte Horatius ohne Lilli zu fragen, er wusste ohnehin, was sie geantwortet hätte. Die Gastgeberin kam nach einer Ewigkeit aus der Küche in das Wohnzimmer und stellte der verdeckten Ermittlerin ein Glas mit einer trüben Flüssigkeit hin in der mehrere skurrile Objekte schwammen. Unbeschwert steckte Lilli einen Finger - eine Wurzel - hinein und begann das Gespräch, indem sie dem Sprechdämon diktierte. Dieser übersetzte, wie gewöhnlich, sehr frei: "Wir müssen wissen, wann du die Bälger-"
Lilli unterbrach ihn mit einem warnenden Blick.
"Ähm...deine lieben kleinen Enkelkinder das letzte Mal gesehen hast. Und zwar so genau wie möglich."
"Oh", sagte sie langsam, "Das ist aber schon lange her ..."
Lilli ermutigte sie lächelnd. Mehrere Minuten starrte die Frau ins Leere, als wäre sie geistig vollkommen abwesend.
"Ja!"
Der plötzliche Ausruf ließ Lilli zusammenzucken.
"Es ist mir wieder eingefallen!" Sie war offensichtlich sehr erfreut über ihre Gedächtnisleistung. Ein Lächeln ließ ihr falsches Gebiss aufblitzen, dessen Weiß mit dem Gelb ihrer Augäpfel kontrastierte. "Ich habe sie am Vormittag gesehen, an dem Tag an dem sie verschwunden sind."
"Aha!", machte Horatius triumphierend. Lillis Augen funkelten bedrohlich in seine Richtung. "Ähm...ja", machte er, "Wann genau?"
"Die beiden haben mir Briefmarken gebracht, weil ich doch Briefe geschrieben hab, die Monika zum Postamt bringen wollte. Ich hab beide umarmt, ja genau, und dann sind sie in die Kutsche gestiegen."
"Aha!", rief Horatius siegessicher aus. "Jetzt haben wir sie! Sie ist schuldig! Schuldig jawo-!"
Lilli durchsiebte den Dämon mit einem vernichtenden Blick. Dann sah sie die Großmutter entschuldigend an.
"Wie behandelst du mich eigentlich?", beschwerte er sich. "Du weißt wohl immer noch nicht, wie viel ich wert bin. ICH bin ein ausgebildeter Sprechdämon, aber das würdigst du ja nicht. Ich finde es übrigens sehr stümperhaft alles von einer Frage abhängig zu machen! Dass die Kinder am Vormittag noch gelebt haben, hätte ich euch gleich sagen können. Aber mich fragt ja keiner."
"W-Was?", stammelte die Alte und sah beunruhigt erst Lilli, dann Horatius an. "W-Wie bitte? Ich versteh das nicht ganz ... schuldig? Weil ... ach so."
Offenbar verstand die alte Frau erst jetzt die Bedeutung ihrer Aussage, was Lilli ihrer schon betagten Naivität zuschrieb.
"Nein, nein. So war das gar nicht. Ich hab mich falsch erinnert." Sie lachte verlegen. "Ich bin ja so vergesslich. Das alles war überhaupt nicht am Montag. Das war einen Tag davor. Ja, genau!"
"An einem Oktotag? Das glaubst du doch selbst nicht!"
"Doch doch, ich weiß das ganz genau!", beharrte die Alte. Sicherlich wollte sie mit diesem schlagartigen Sinneswandel ihre Tochter schützen.

*24*


Endlich war es soweit! Er würde sie wieder sehen! Septimus strich sich sorgsam die Haare glatt und entfernte letzte Fuseln von seiner Kutte. Sein Herz schlug höher bei dem Gedanken, sie schon bald vor Augen zu haben. Er warf einen letzten Blick auf seinen Taschenspiegel, schürzte die Lippen, hob die Augenbraue, packte ihn wieder weg. Zufrieden mit seinem Aussehen verließ er das Büro. Nein! Verdammt! Fast hätte er die Blumen vergessen. So. Jetzt konnte er sich auf den Weg machen. Endlich ...
Drei Themen beherrschte die momentane Gedankenwelt des Gnoms. Zum einen die artenfeindliche Speisekarte der Kantine. Zum anderen Lady Rattenklein, hach, Lady Rattenklein. Und schließlich der Fall Morpork. Konnte sich das Schicksal eines Menschen tatsächlich daran entscheiden, ob ihm oder ihr eine Tat zuzutrauen war oder nicht? Durfte das sein? Letztendlich war das Bild, das man von jemand hatte, doch so manipulierbar, dass es nicht als Grundlage für ein Todesurteil gelten durfte.
Und wem war es eher zuzutrauen? Die meisten Leute, auch Wächter, sahen in Monika die Schuldige. Diese Annahme, diese gefühlte Annahme, entwickelte einen unglaublichen Sog, der die Interpretationen von vermeidlich objektiven Beweisen formte. Außerdem, das war dem Gnom aufgefallen, beeinflusste sie auch das Vorgehen der Ermittlungen, obwohl sich Romulus, wie dem Gnom ebenfalls aufgefallen war, um Neutralität bemühte.
Da war zum Beispiel die Geschichte mit den Fasern. Eigentlich hätten alle Kleidungsstücke sowohl von Herrn als auch von Frau Morpork beschlagnahmt werden müssen und man hätte Bekannte oder Verwandte danach fragen müssen, was die Eltern an jenem Tag trugen. Dazu war es aber nicht gekommen. Alle Zeugen waren nur danach gefragt worden, was Monika zur Tatzeit getragen hatte, nicht aber Richard. Irgendwie war diese Frage untergegangen. Nun gut, man hatte ihn selbst nach seiner Kleidung gefragt und er hatte geantwortet. Und diese Kleidungsstücke waren auch einkassiert worden, aber eben nur diese. Es war auch möglich, dass er gelogen hatte. Von der Frau hingegen, war die ganze Garderobe beschlagnahmt worden.
Im Labor, so stand es im Zwischenbericht, konnten an den Leichen und deren Kleidung nur Teile von Monikas Kleidung gefunden werden. Dabei war das doch unmöglich! Richard war schließlich der Vater der Mädchen gewesen. Er musste Kontakt mit ihnen gehabt haben.
Aber sollte er die Laborantin tatsächlich darauf aufmerksam machen? Damit würde er sicherlich jede Chance auf eine nicht mit Abscheu angereicherte Beziehung zu ihr im Keime ersticken. Niemand wurde gerne auf eigene Fehler hingewiesen. Vor allem nicht von jemand fremden, noch dazu bei einem fachlichen Irrtum. Aber es war ja auch gar nicht ihre Schuld. Nein. Lady Rattenklein war schlichtweg nicht genug Vergleichsmaterial zur Verfügung gestellt worden.
Der Gnom beschloss, es dabei zu belassen. Vermutlich konnte er ohnehin nichts an der Entscheidung des Richters ändern. Er hatte ja noch nicht einmal seine Kollegen von seinen Ansichten überzeugen können. Erst recht nicht das Kantinenpersonal.
Als Septimus das Labor betrat, fiel es seiner Angebeteten nicht einmal auf. Sie war ganz und gar in ihre Arbeit versunken. Tiefe Denkfalten zeichneten sich auf ihrer Stirn ab, während sie konzentriert den Inhalt eines Reagenzglases beobachtet.
Der Raum kam Septimus plötzlich sehr eng vor. Das grelle Licht hier hatte etwas Unwirkliches. Und immer wieder erinnerte dieser Ort ihn an das Tragisch. Immer wieder das Tragische.
Erst als der Obergefreite sich räusperte, erwachte Lady Rattenklein aus ihrer Starre.
"Oh, der verdeckte Ermittler. Gut, dass du da bist. Ich brauche eine Testperson."
Sie erinnert sich an dich! Das ist ein gutes Zeichen!
Sie sprang vom Labortisch und kam auf ihn zu. Seine Hände waren feucht von Schweiß. Er war unfähig etwas zu sagen. Aber er schaffte es, ihr die Blumen entgegen zu strecken und schwächlich zu lächeln.
"Oh!", machte Lady Rattenklein und sah verwundert auf die winzigen gläsernen Blüten, die von bizarren grünlosen Stängeln getragen wurden. Die Pflanzen wuchsen auf einem Boden, der aus Pilzen in grellen Farben bestand und von einem Keramiktopf umfasst wurde.
Der Gnom hielt dies offenbar für einen wunderschönen Strauß Blumen oder eine anschauliche Zimmerpflanze, aber es sah für die Lady weder nach dem einen noch nach dem anderen aus. Er deutete ihren irritierten Blick richtig, verstand ihn fälschlicherweise als eine Aufforderung und legte begeistert mit seinem Vortrag los: "Sie gehört zu der Familie der Burmanniaceae aus der Ordnung der Yamswurzelartigen. Diese Familie wurde vor hundertsiebzig Jahren von Curtius Blume das erste Mal beschrieben. Alle ihre Arten sind ohne Blattgrün, sie ernähren sich nicht von Licht, sondern mykoheterotroph als Parasiten von Pilzen. Das heißt, sie brauchen kein Licht, um zu wachsen, sondern können in Bereichen existieren, die andere Pflanzen nie erreichen können. Sie sind sehr schwer zu züchten, aber ich hab's geschafft. Sie sind sehr selten. Ihr Name ist 'Schlummernde Schönheit'."
"Oh", wiederholte die Gnomin geistreich, während sie nach dem passenden Ausdruck suchte. "Das ist sehr ... aufmerksam."
Septimus grinste glücklich. Lady Rattenklein nahm den Blumentopf vorsichtig entgegen und brachte ihn in einer Zimmerecke unter. Da sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte, kam sie direkt zur Sache.
"Ich bin mit den Untersuchungen soweit fertig. Von Kristins Oberteil habe ich acht Fasern auf dem Bettlaken und sechs auf dem Bettbezug gefunden."
"Das heißt, Monikas Geschichte stimmt?", fragte der Gnom hoffnungsvoll.
"Nein, das heißt es nicht", antwortete sie. "Komm!"
Sie verließen das Labor. In raschem Tempo führte sie ihn über den Flur in das untere Stockwerk bis vor den Schlafsaal. Diesmal schaute er sie verdutzt an und sagte zögerlich: "Also ... Ich will mich nicht beschweren, sicherlich nicht. Aber normalerweise ziehe ich es vor, mich erst einige Male mit einer Gnomin bei einem Glas gutem Wein zu treffen bevor - "
"Das meine ich überhaupt nicht!", stellte sie sofort klar. "Rein da!"
Er gehorchte.
"Jetzt leg dich ins Bett!"
Er zögerte. "Ähm...Mäm-"
"Rein da!"
Er tat, was sie wollte.
"Gut so. Jetzt wieder raus."
Er kletterte wieder aus dem Bett. Daraufhin observierte sie sorgsam die Stelle, auf der er gelegen hatte und nickte nachdenklich. "Interessant."
"Was ist denn?"
"Du hast auf dem Bettlaken etwa vierzehn und auf dem Bettbezug etwa vierzig Faser hinterlassen." Sie sprang wieder vom Bett und ordnete an: "Geh noch mal rein. Aber diesmal drehst du dich hin und her. Niemand liegt steif in seinem Bett herum, wir müssen die Reibung imitieren."
Septimus gehorchte wieder. Als er fertig war, kontrollierte sie die Stelle erneut und zählte leise. Diesmal dauerte es länger. Schließlich hob sie den Kopf und verkündete: "Es sind etwa zweihundert."
Sie sprang wieder herunter und verließ den Raum. "Die Fasern auf Kristins Bett sind einfach zu wenige. Ich bezweifle stark, dass sie tatsächlich mit den angegebenen Klamotten in ihrem Bett geschlafen hat."
Septimus folgte ihr. Verzweifelt suchte er nach einer Möglichkeit Monika zu entlasten. "Aber ... aber ... aber die Bettwäsche wurde erst viele Tage nach dem Mord beschlagnahmt. In dieser Zeit ist der Raum sicher oft gelüftet worden, es war schließlich sehr heißes Wetter, viele Fasern können verloren gegangen sein."
"Das ist wahr", pflichtete die Laborantin ihm bei. Zusammen begaben sie sich wieder in den ersten Stock. "Ich werde das in meinem Bericht vermerken. Aber ich kann schließlich nur mit dem Material arbeiten, was mir zur Verfügung gestellt wird. Und das ist häufig unter aller Sau. Ich weiß ja nicht, was die Tatortwächter in ihrer Ausbildung lernen, aber ordentliche Spurensicherung kann es nicht sein. So wie in diesem Fall.
Bettlaken, Bettbezug und Kopfkissen wurden einfach in einen Beutel gesteckt! Ohne Isolierungsmaterial zwischen den Stoffen. Es könnte also auch hier Faserübertragungen gegeben haben. Das war schlampige Arbeit. Na ja, ich will nicht über alle Tatortwächter meckern, einige sind sehr brauchbar. Aber die Textilfaserkunde wird von fast allen immer noch unterschätzt. Das ist keine Klugscheißerei, sondern von erheblicher Bedeutung. Sie hat sich zu einer entscheidenden Disziplin entwickelt, die schon oft zu der Lösung von Fällen beigetragen hat - wenn man sie denn lässt und sie korrekt und sorgfältig durchführt."
Sie schwafelt, dachte Septimus begeistert. Sie schwafelt genau wie ich!
"Ach übrigens, wo wir gerade bei der Textilfaserkunde sind. Ich habe Miriams Kleidung untersucht. Wenn Monika sie ermordet und in die Büsche geschmissen hat, dass musste sie sie tragen. Aber ich habe an Miriams Kleidung keine Fasern von Monikas Bluse gefunden. Das ist ungewöhnlich, sie hätten eigentlich Kontakt haben müssen."
Septimus blieb stehen. "Das heißt, es gibt doch noch eine Chance, dass Monika unschuldig ist?"
Sie blieb ebenfalls stehen und sah ihn an mit Augen voller Mitgefühl. "Das würde ich so schnell nicht sagen. Ich habe den Sprung im Fenster der Kutsche noch einmal untersucht und - "
"Und?"
"Sie hat gelogen. Er ist nicht von außen entstanden. Jemand muss mit einem Arm oder einem Fuß dagegen gestoßen sein."

*25*


SoKo-Sitzung, Ende September, wieder einmal fast spät nachts

"Sie hat gelogen!"
"Aus Scham", vermutete Ophelia.
"Das könnte sein", sagte Frän. "Mir gegenüber hat sie erklärt, der Sprung im Glas wäre zustande gekommen als sie mit Keith in der Kutsche Geschlechtsverkehr hatte. Weil ihr das unangenehm gewesen wäre, hätte sie zuvor die andere Geschichte erzählt. Sie sei in Ekstase mit dem Fuß gegen die Scheibe gestoßen. Aber als ich sie zur Kutsche geführt habe und sie gebeten habe, die Stellung vorzuführen, konnte sie das nicht. Diese Version kann also auch nicht stimmen."
"Wahrscheinlich hat sich eines der Mädchen im Todeskampf gewehrt", meinte Ayure.
"Wie sieht es mit deinen Gutachten aus, Frän?", fragte der Abteilungsleiter und öffnete dabei eine Dose Superbulle. Aus Horatius' Kasten kam ein leises Schnarchen, das langsam begann auch den Werwolf einzulullen. "Wem von den beiden würdest du - aus püschologischer Sicht - die Morde eher zutrauen?"
"Nun, zuerst einmal kann ich sagen, dass Gedächtnislücken in Richards Fall eher unwahrscheinlich sind." Sie warf einen kurzen Blick auf Septimus, der mit den Augen rollte, und fuhr fort: "Er wirkt schwerfällig und dumpf, kann selten Fragen zusammenhängend beantworten und sich nur schwer artikulieren. Sein geistiger Zustand verschlechtert sich zunehmend, das macht es schwierig wirklich zu ihm durchzudringen. Monika hingegen wirkt eloquent, ist nicht scheu und versteht es bestens, sich als liebende Mutter in Szene zu setzen."
"Ja", sagte der Werwolf ungeduldig, "Aber wer hat die beiden umgebracht?"
Lilli Baum hob langsam die Hand, um sich zu Wort zu melden.
"Dich hab ich nicht gefragt, Lilli", sagte Romulus, der ihre Bewegung aus dem Augenwinkel gesehen hatte, erschöpft. Lilli ließ den Finger wieder sinken. Seufzend griff sie nach einem Stift und zog ein Stück Papier hervor.
"Frän? Bitte."
"Nun", Frän drückte sich ein wenig vor der Antwort, "Dass Monika ihre Töchter umgebracht hat, weil sie Keith sexuell hörig war, kann ich eigentlich ausschließen. Obwohl ihr viel an der Beziehung zu Protty liegt, ist sie durchaus in der Lage eigene Entscheidungen zu treffen. Was Richard angeht muss ich zugeben, dass er tatsächlich psychisch labil ist. Immerhin ist er über einen längeren Zeitraum hinweg von seiner Frau gedemütigt worden. Sie wollte die Kinder an sich binden und mit nach Borograwien nehmen, ihm sein festes Gefüge aus Gewohnheiten rauben, außerdem hat sie ihn öffentlich mit ihrer Affäre zurück gewiesen. Ansonsten möchte ich mich aber nicht festlegen, welchem der beiden Eheleute diese Tat eher zuzutrauen wäre, darüber kann und will ich nach einer so kurzen Beobachtungszeit kein Urteil wagen."
Romulus sah alles andere als zufrieden aus. Frän zuckte entschuldigend mit den Schultern. Die Runde schwieg und einen kurzen Moment lang war das Einzige, was man hören konnte, Lillis kratzender Stift auf dem Papier und Horarius' Schnarchen.
"Kommen wir zu der Frage nach dem Todeszeitpunkt", ordnete er an. "Was habt ihr herausgefunden?"
"Ich habe Zeugen gefunden", sagte Ayure, "Die beide Mädchen am Vormittag um elf Uhr auf dem Spielplatz gesehen haben. Miriam auf der Schaukel und Kristin im Sandkasten mit der roten Schaufel. Es handelt sich um Rita Mimpf und Rufus Anders, zwei Nachbarn der Morporks."
Lilli stand auf und streckte ihre Hand in die Höhe. Sie hielt Zeige- und Mittelfinger ihrer Rechten hoch und deutete mit der linken Hand eindringlich auf diese Geste.
Ayure sah sie kurz an. "Nicht um zwei Uhr, Lilli", versuchte sie sie zu korrigieren, "Um elf Uhr, nicht um zwei."
Die Diskussion ging weiter als hätte es Lillis Meldung gar nicht gegeben.
"Ich bezweifle, dass wir diese Aussagen als objektiv betrachten können", bemerkte Pyro. "Ich habe mich über diese beiden Zeugen informiert und es heißt, dass sie seit mehreren Jahren mit den Morporks verfeindet sind. Außerdem hat mir ein zuverlässiger Kontakt mitgeteilt, dass sie von einem Journalisten bezahlt worden sind, dafür, dass sie die Frau belasten."
"Sonst keine Zeugen?", fragte der Werwolf. "Nein?"
Pyro räusperte sich. "Es gibt da noch eine wichtige Aussage, Sör."
"Ja?"
"Die Näherin. Sie hat ausgesagt, dass Richard ihr gegenüber den Mord gestanden hat. Er soll sogar damit angegeben haben."
"Sör", Ayure wandte sich zu Romulus. "Seine Zeugin ist eine Frau, die für ihre Aussage Geld bekommen hat. Wenn sie berücksichtigt wird, können wir auch die Aussage von Mimpf und Anders mitberücksichtigen."
Der Abteilungsleiter sah Ayure lange an, was sie ein wenig nervös machte. Mittlerweile war er soweit, dass er alle Zeugen - und da ging es vielen Kollegen genauso - gerne in die Wüste geschickt hätte.
"Es handelt sich hier um einen zuverlässigen Kontakt", erwiderte der Zauberer selbstbewusst. "Mimpf und Anders müssen gelogen haben."
"Und warum das?", fragte Ayure.
"Wegen dem Sand", antwortete der Kontakter.
"Dem Sand?", wiederholte Romulus. "Was für ein Sand?"
"Eben", sagte Korporal Pyronekdan und zögerte seine Antwort ein wenig heraus, weil auch er von diesem Gedanken, der ihm kurzzeitig aus dem Unterbewussten einen Besuch abstattete, erstaunt war. "Da war kein Sand. Auf den Füßen und an den Sandalen der Kinder war kein Sand, oder Pismire?"
Pismire schüttelte den Kopf.
"Also", schlussfolgerte er. "Können sie nicht am Vormittag draußen auf dem Spielplatz gespielt haben. Es war heiß an diesem Tag, sie hätten geschwitzt und zwischen den Zehen hätte sich Sand finden müssen - zumal Kristin angeblich im Sandkasten gesehen wurde."
Der Schamane nickte zustimmend.
Romulus machte eine Geste, die die Diskussion wieder beruhigen sollte. "Nun gut, dann machen wir mit dir weiter, Pismire. Was haben die Untersuchungen des Mageninhalts ergeben?"
Der Schamane seufzte schwer und schlug langsam eine dicke Akte auf. "So wie es aussieht kann ich bestätigen, dass die Mädchen am Vormittag noch gelebt haben. Kristins Magen war reichlich gefüllt. Dort habe ich Milch und halbverdaute Reste von weizenhaltigen Backwaren gefunden. Es könnte sich um Brötchen handeln, falls sie gefrühstückt haben. Es könnte sich aber auch um Kekse handeln, falls sie sich selbst verpflegt haben. Die Befunde decken also die erste Aussage der Frau, nach der sie den Kindern noch ein Frühstück vorgesetzt hat."
"Und was ist mit Miriams Mageninhalt?", erkundigte sich Mina.
Pismire sah sie an und antwortete nicht gleich. "Nun, den konnten wir leider nicht mehr untersuchen. Wir haben versehentlich den gesamten Mageninhalt von ihr für Gift-Untersuchungen verwendet."
"Versehentlich", wiederholte der Gnom skeptisch.
"Du", erwiderte der Oberleutnant souverän, "hast sicher auch schon einige Fehler bei deinen Ermittlungen gemacht. Du solltest dich mit Spott über deine Kollegen mehr zurückhalten."
Septimus wurde rot und verschränkte die Arme vor der Brust. "Als würden die sich zurückhalten", grummelte er.
"Wie bitte?", Pismire hob warnend eine Augenbraue.
"Nichts. Nichts."
"Gut, dann können wir ja weiter machen. Es wird nämlich noch interessanter." Der Gerichtsmediziner machte eine obligatorische Pause, auf die der Gnom mit einem genauso obligatorischen wutschreienden Schweigen reagierte. "Das, was Kristin gegessen hat, hätte innerhalb von einer halben Stunde den Magen passiert haben müssen. Was wiederum heißt, dass Kristin ihr letztes Frühstück maximal um eine Stunde überlebt hat."
Schweigen trat ein, in dem sich die Bedeutung von Pismires Aussage voll entfalten konnte. In manchen Gehirnen machte es etwas schneller 'klick' als in anderen. Schließlich sprach Septimus die logische Schlussfolgerung aus: "Aber ... Aber das stellt unseren Zeitplan total auf den Kopf!" Er nahm seine Hand zur Hilfe, um die Uhrzeiten demonstrativ abzuzählen. "Um zehn Uhr Frühstück, dann wurden die beiden angeblich um elf Uhr von den Nachbarn gesehen, eine halbe Stunde darauf kehrt Monika unbemerkt zum Haus zurück, steckt die Kinder in die Kutsche und bringt sie gegen Viertel vor zwölf auf dem Rastplatz um. Das klappt doch hinten und vorne nicht! Ihr Pferd müsste geflogen sein, um die 15 Kilometer in einer Viertelstunde zurückzulegen. Außerdem müsste Kristin nach Pismires Aussage spätestens um elf Uhr tot gewesen sein."
"Das stimmt", pflichtete ihm Kolumbini bei. "Wir wissen, dass Monika Morpork um kurz vor elf Uhr in der Bank und anschließend in der Post war, weil Pyronekdan die jeweiligen Angestellten befragt hat, die sie dort gesehen haben. Andererseits beteuert der Zeuge, den Mina und Frän ausfindig gemacht haben, die Kutsche der Morporks zwischen elf Uhr und elf Uhr zwanzig am Rastplatz gesehen zu haben. Und um Viertel nach zwölf war Monika unstreitig wieder in ihrem Haus, wo sie Barbara und Richard bei der Suche unterstützte. Das passt ganz und gar nicht zusammen."
"Das heißt", gab Ayure zu, "Mimpf und Anders können die Kinder gar nicht um elf Uhr gesehen haben."
"Und das heißt", ergänzte Mina, "Dass wir keine Zeugen haben, die die Kinder am Vormittag lebend gesehen haben."
"Im Grunde genommen, wissen wir fast gar nichts über den Verlauf des Vormittags", schloss der Abteilungsleiter mit ruhiger Resignation.
Die Wächter diskutierten noch lange an diesem Abend. Während die meisten Mitglieder der Gruppe noch stundenlang mit Spekulationen jonglierten, schrieb Lilli Baum langsam und konzentriert einen Satz.
Irgendwann wurde es wieder still im Raum. Es gab nichts mehr zu sagen. Keine weiteren Antworten. Romulus blickte sein Team an und glaubte, eine tiefe Erschöpfung unter den Mitgliedern festzustellen, so als fühlten sie sich erdrückt von der Last der Irrationalität.
Lilli schrieb immer noch als alle bis auf Romulus den Raum verlassen hatten. Sie beendete das dritte Wort und brachte damit ihren Satz voller Stolz zur Vollendung. Aber niemand war mehr da, dem sie es hätte zeigen können. Sie streckte dem Abteilungsleiter den Zettel entgegen, aber ihm waren die Augen zugefallen und er atmete gleichmäßig. Lilli betrachtete noch einmal ihr Werk.

Es waren beide.

Sie wollte Romulus nicht wecken, daher legte sie ihre Nachricht, ohne zu unterschreiben, auf den Noch-Zu-Erledigen-Stapel, wo er ihrer Meinung nach hin gehörte. Leise löschte sie die letzten brennenden Kerzenstummel, schlich sich aus dem Zimmer und schloss die Tür.

**26**


Wir sind nicht alle Sieger. Und viele haben aufgegeben, bevor der Kampf begann. Und viele, viele schlafen noch, weil sie denken, der Kampf wäre längst zu Ende. Sie bleiben hängen in einem Bild von ihrem Leben ohne zu sehen, dass es dort keine Bewegung gibt, keinen Wandel. Nostalgisch konsumieren sie veralterte Normen und bleiben so Sklaven ihrer eigenen Stagnation. Sie nehmen zu viele mit auf ihre geradlinige Straße, der einzigen, auf der sie je gewesen sind. Eine Frau hat soundso zu sein, ein Mann hat soundso zu sein, eine Pflanze ist dies und ein Tier das. Anders kann es nicht sein. Könnten sie sich ändern? Einfach so? Von einen Tag auf den anderen, wenn sie es wollten?

**27**


Am nächsten Morgen schwirrten Septimus immer noch Gesprächsfetzen der Sitzung durch den Kopf. Gespräche, die in seinem schmerzenden und übermüdeten Gehirn ein Puzzle von Unsicherheit und Hoffnungen hinterließen. Er setzte sich frustriert auf ein Kissen, das er auf der Fensterbank platziert hatte, um die ersten Sonnenstrahlen des Tages direkt begrüßen zu können.
Immer wieder blätterte er in seinen Notizen. Aber es brachte keine Fortschritte. Zu viele Teile fehlten. Zu viel passte nicht zusammen. Zu viel war reiner Verdacht. Zu viel war zur Einstellungssache geworden. Jedes Mal, wenn er überzeugt war, einen roten Faden entdeckt zu haben, kam auch schon der nächste mit gleichrangigem Recht auf Geltung. Sie verknoteten sich zwangsläufig. Je öfter er die Zeilen las, desto mehr Fäden - feuerrote, kaminrote, zinnoberrote, orangerote, tomatenrote, kadmiumrote und blutrote - tauchten auf und verdichteten sich zu einem widerspenstigen Knäul aus Vermutungen.
Erste Sonnenstrahlen schienen auf Septimus' Gesicht und färbten den Himmel über Ankh-Morpork in ein leuchtendes Rosa. Die Erde hatte ihre eigene Stimme. Manchmal glaubte er, sie singen zu hören in seinem eigenen Schweigen. Er konnte sich in ihrer Melodie verlieren. Sie war hell, stark, liebend und immer sehnsuchtsvoll. Wenn er ihr lange genug zuhörte, schenkte sie ihm einen neuen Herzschlag, eine neue Stimme und eine treibende Leichtigkeit.
Er genoss die Wärme auf seinen Wangen, sah auf die Stadt und schüttelte wieder einmal den Kopf über dieses aufgebrachte, rücksichtslose, selbstzerstörerische Ungeheuer. Es verlangte nach einem Schuldigen. Oder einer Schuldigen. Und es sollte schnell gehen. Dabei gab es noch viel zu viel, was die Wächter nicht wussten. Es gab zu viel Spekulation und zu wenig Eindeutigkeit. Aber die Stadt war in gefräßiger Laune und sie zeigte sich nicht bereit auf die Gerechtigkeit zu warten.
Septimus empfand Mitleid für den Richter, der über diesen Fall entscheiden musste.
Immerhin hatte Mutter Morpork eine kleine Chance. Sie hatte Herr Schräg. DEN Herr Schräg. Er war der Beste. Sicherlich würde er einen Präzedenzfall ausfindig machen und der Anklagepartei die Aussage der Näherin um die Ohren hauen.
Der Obergefreite ertappte sich dabei, wie sehr er selbst an dieser Hoffnung zweifelte. Trotzdem hielt er sie fest. Dann erinnerte er sich daran, dass er als Wächter eigentlich unparteiisch sein sollte. Das war nie seine Stärke gewesen.
Eigentlich waren alle beiden Meinungslager der Stadt so groß, laut und politisch durchsetzungsfähig, dass sie sich die Waage hielten. Das Urteil des Gerichts voraus zu sehen war unmöglich.
So langsam als wäre er um Jahre gealtert stand er auf und griff nach seiner Gießkanne. Behutsam versorgte er die nächste Generation von 'Schlummernden Schönheiten' für Lady Rattenklein. Er freute sich schon auf ihr verwirrtes Lächeln.
Das ist der Schluss, schoss es ihm durch den Kopf. Das Ende.
R.U.M. musste einen unfertigen, unter Zeitdruck entstandenen, Bericht übereilig abgeben. Es näherte sich der Zeitpunkt, an dem sie keinen Einfluss mehr auf das Urteil ausüben konnten. Septimus zweifelte daran, dass es jemals auf ihre Ermittlungen angekommen war. Er vermutete das Spiel größerer kollektiver Kräfte hinter der Fatalität dieses Falls. Das Gefühl nicht viel ausrichten zu können lastete schwer auf dem Gnom. Seinen Kollegen ging es genauso. Niemand war wirklich zufrieden mit den Ergebnissen.
Er kletterte über ein Gebirge von Aktenhaufen von der Fensterbank hinunter. Das war das Ende. Der Schluss. Die Stadt entschied selbst, wer ihren Hunger stillen sollte, jeder einzelne Bürger entschied selbst darüber. Und er? Würde er kämpfen bis zum Ende?
Nein, es war Zeit für ihn diese Sache abzuschließen.
Aber das bedeutete nicht, dass alle Kämpfe beendet und die Waffen niedergestreckt wurden! Nein, es galt noch so Einiges auszutragen. Der Umweltschützer krempelte entschlossen die Ärmel hoch, packte sich einen Stift und begann seinen Brief an die Kantinenleitung.

*

*ENDE*



[1] Zugegeben einer sehr langen wahre Geschichte

[2]  Dabei hätte er ihr sehr interessante Fakten erzählt. Er hätte ihr erzählt, dass Brennnesseln oft von Kletten als Wirtspflanze benutzt wurden. Er hätte ihr erzählt, dass die meisten Brennnesseln im Umkreis der Stadt nicht größer als einen halben Meter wuchsen. Miriam war ein Meter und dreißig. Auf ihrer Leiche hatten sich überall Kletten befunden. Diese Information hätte in Kombination mit Ophelias Gehirn vermutlich einen entscheidenden Gedankengang auslösen können. Hatte das Mädchen etwa in Brennnesseln gespielt? Bei einem Wurf mit viel Schwung von der Straße auf das Gestrüpp konnten nicht derart viele Kletten abgetragen worden sein. Vielleicht waren die Mädchen vor ihrem Mord in einem anderen Gebüsch umgezogen worden. Unglücklicherweise wurden dieser Gedankengang nie ausgesprochen und so verschwand er in den wirren Windungen eines gnomischen Unterbewusstseins

[3] Das war etwas definitiv Modernes an diesem Laden. In der Regel erwartete die Mehrzahl der Gäste in Ankh-Morpork an dieser Stelle einen dicken Wirt in einer schmutzigen Schürze, der in einen Lappen spuckt, um grimmig die Theke abzuwischen.

[4] Eigentlich wussten die Musiker das selbst nicht. Aber das spielte auch keine Rolle. Es machte einfach Spaß.

[5] Ein seltsamer Irrglaube von einigen Exemplaren der Spezies Frau besagt: Schenke deinem Geliebten Dinge, die eigentlich du geschenkt bekommen willst. Auch wenn sie ihm nicht gefallen, er wird schon irgendwann dahinter kommen.

[6] In seinem Fall bestand der Stein meistens aus der unbarmherzigen Ignoranz seiner Feinde.

[7] Vorwiegend eingesteckt.

[7a] Allerdings unterlag Pyronekdan hier einem Irrtum, als er die abgebildete Szene erotisch auslegte. Sie zeigte den Helden Spannakus, der von einer Nymphe in einen Hirsch verwandelt wurde, weil er mit seiner Jagdmeute ihr Bad gestört hatte. Sie war sehr erzürnt darüber gewesen, dass ein Sterblicher sie nackt gesehen hatte und verlieh durch den Zauber ihren Zorn Ausdruck. Der Legende nach wird Spannakus nach seiner Verwandlung von seinen eigenen Jagdhunden gefressen. Was die dicken kleinen Engel in dem Bild zu suchen haben, hat bis heute niemand herausgefunden.

[9] Also nach dem Sündenbock.

[10] Übersetzt: Was gegen ihn angeführt werden konnte, entlastete sie, was ihre Schuld bewies, sprach ihn frei.

[11] Bringt-Alle-Umweltsünder-uM

[12] Ein bekanntes Boulevard-Magazin, das sich als intellektuell tarnte.

Zählt als Patch-Mission.



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Feedback:

Von Ophelia Ziegenberger

13.03.2008 17:57

Also erst einmal hat es mich sehr gefreut, eine Septi-Geschichte zu lesen. Und zum Anderen ist es Dir sehr gut gelungen, sogar mit nicht zu vielen Wortwiederholungen, eine unangenehme, künstlich verstärkte Atmosphäre darzustellen, in der zwar offensichtlich nach "der Wahrheit" gegraben, diese aber längst nebensächlich geworden ist. Ich fand es bezeichnend, dass die beiden Opfer bis auf ihre faktischen Lebensdaten völlig anonym blieben. Es gab zwar die Tante, die die beiden zeitweise zu sich nahm. Aber selbst diese wurde nicht in dem Sinne von Trauer überwältigt, dass sie mehr über deren Gefühle preisgegeben hätte. Die Kinder blieben gesichtslos, unbedeutend in all dem Aufruhr ihres Todes. Was mich als Leser - sicherlich auch beabsichtigt - verwirrte waren die vielen Lücken in den gesammelten Informationen, die sich zwar teilweise verspätet schlossen, das Gesamtbild dadurch aber nicht übersichtlicher machten. All die verschiedenen Bereiche, in denen aufgrund mangelnder Ermittler nicht gründlich genug oder aufgrund von Fehlern bei der Vorgehensweise gar nicht hinterfragt wurde, das wieder einmal in einer Single thematisierte, fortdauernde Bemühen, die Kommunikation und Zusammenarbeit der Abteilung zu verbessern... Mich gruselt es bei der Vorstellung, dass derart viel Verbesserungspotential gegeben ist. ;) Alles in allem hätte die Geschichte etwas kürzer ausfallen dürfen bei den behandelten Ereignissen, war aber auch so noch im Rahmen.

Von Araghast Breguyar

13.03.2008 18:07

Im großen und Ganzen eine gut geschriebene Geschichte, doch zwei Sachen sind mir aufgefallen. Erstens fehlte mir einfach das Scheibenwelt-Flair. Damit meine ich nicht den Humor, im Gegenteil, eine Geschichte kann auch Scheibenwelt-Flair besitzen ohne lustig zu sein, aber manche Passagen, wie die mit der Disco, muteten mir einfach für meinen Geschmack zu modern und zu wenig verscheibenweltlicht an. Zudem hat mir ein richtiger Schluss gefehlt. Es hätte mich doch schon sehr interessiert, ob an Lillis Vermutung, dass beide Elternteile in die Morde verwickelt sind, etwas dran war, und was das eigentliche Mordmotiv gewesen ist. So erweckte es bei mir ein wenig den Eindruck, als wüsstest du selbst nicht so ganz, wie du die Geschichte am Ende auflösen solltest.

Von Laiza Harmonie

13.03.2008 18:29

Das Ende war in diesem Fall für mich ganz stimmig. Ist es nicht häufig so, dass Geschenisse stark behandelt werden und plötzlich verschwinden sie aus den Berichten der Medien, als hättes sie nie gegeben?

An manchen Stellen hat sich die Single arg gezogen und der Erzählstil plätscherte so vor sich an, aber dann hast du das ganze in anderen Szenen wieder "retten" können.

Das die Single mit einem Brief an die Kantinenleitung endete, fand ich irgendwie passend. ^^

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