Schein und Sein

Bisher hat keiner bewertet.

von Gefreite Mina von Nachtschatten (RUM)
Online seit 28. 11. 2007
PDF-Version

 Außerdem kommen vor: Septimus EbelAyure NamidaFrän FrommOphelia ZiegenbergerRomulus von GrauhaarKolumbiniAni Brandur

Täter und Opfer. Opfer und Täter. Doch was, wenn der eine sich nicht daran erinnern kann, dem anderen ein Leid zugefügt zu haben?

Dafür vergebene Note: 11

"Das ist jetzt schon der Vierte innerhalb von drei Wochen!"
Die metaphorische Gewitterwolke über Hauptmann Llanddcairfyns Kopf hatte eine pechschwarze Färbung angenommen, grollte unheilverkündend und entließ einen neuen Schwall an eiskaltem Regen. Der Abteilungsleiter von SEALS war von seinem Schreibtisch aufgesprungen und marschierte im Zimmer auf und ab.
"Und er hat wirklich überhaupt keine Ahnung?", fragte er in scharfem Tonfall, der jedoch ein gewisses Maß an Verzweiflung nicht ganz überspielen konnte.
Es sah schon etwas grotesk aus, wie der seinen Vorgesetzten um einiges an Körpergröße überragende Yogi Schulterbreit unter dem Ausbruch des Hauptmanns in sich zusammengesunken war, wohl um sprichwörtlich abzuwarten, bis das Gewitter vorbei war. Jetzt schüttelte er hastig den Kopf.
"Nein, entweder ist er wirklich ahnungslos oder ein sehr guter Schauspieler."
"So wie die anderen auch?!"
"Äh, das steht anzunehmen, Sir."
Der Abteilungsleiter ließ sich mit einem resignierenden Seufzen zurück in seinen Stuhl fallen und schloss die Augen.
"Wer ist es diesmal?", brummte er missgelaunt.
Der Obergefreite zog einen mehrfach gefalteten, schon recht ramponierten Zettel aus der Hosentasche und las laut vor: "Es handelt sich um Johann Mörser, 58 Jahre alt, Apotheker, verwitwet, wohnhaft in der Straße der geringen Götter 34."
"Und weiter?"
"Das ist alles, was wir bisher herausgefunden haben, Sir." Als der Obergefreite erneut den bohrenden Blick des Hauptmanns spürte, fügte er eilig hinzu: "Und er ist keiner Gilde angehörig."
Daemon Llanddcairfyn brummte eine unverständliche Antwort, schloss dann mit einem Knall die vor ihm liegende, noch recht neue Akte und schob sie dem Obergefreiten Schulterbreit entgegen.
"Also unlizensierter Diebstahl. Schließt die Befragung ab, schreibt einen Bericht und übergebt den Mann der Diebesgilde. Die Angelegenheit fällt in ihren Zuständigkeitsbereich."
Der Vektor zögerte einen Moment.
"Ähm, Sir, da wäre noch etwas anderes."
Doch der Hauptmann schien mit seinen Gedanken schon wieder in anderen Sphären zu weilen.
"Hmm, Apotheker ... seltsame Leute, diese Apotheker ... seltene Individuen ... traue niemals einem Apotheker ..."
"Warum nicht, Sir?" Yogi Schulterbreit schien sichtlich verwirrt.
Und auch der Abteilungsleiter schaute, aus seinen Gedanken gerissen, überrascht auf.
"Nichts weiter. Was wolltest du noch sagen?"
"Nun, wir können den Fall nicht einfach an die Diebesgilde weiterleiten." Der Obergefreite fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut.
"Und der Grund dafür ist welcher?"
"Es gibt eine Tote."



Im Raum herrschte Stille, sah man einmal von dem regelmäßigen Rascheln von Papier ab, welches durch ein andauerndes tap, tap, tap rhythmisch untermalt wurde. Ein Zustand, der seit gut einer Viertelstunde andauerte.
Romulus von Grauhaar trommelte ungeduldig mit seinem Stift auf die Tischplatte vor ihm und sah die ihm gegenüber sitzenden Mitarbeiter der Abteilung für Raub und unlizensierten Mord mit abwartenden Blicken an. Die Püschologin Frän Fromm war gerade dabei, ihre Notizen zum mindestens fünften Mal durchzusehen und eine Fortsetzung dieser Tätigkeit auf unbestimmte Zeit stand zu befürchten, als schließlich...
"Es tut mir leid, ich kann einfach nichts finden!" Der ungewohnt heftige Ausbruch der Gefreiten ließ sowohl ihn, als auch den ebenfalls anwesenden Korporal Kolumbini zusammenzucken. Die Vampirin ließ ihre Aufzeichnungen in einer kraftlos wirkenden Geste auf den Tisch des Abteilungsleiters fallen.
"Laut püschologischer Analyse ist der Mann völlig harmlos, ich konnte keinerlei Auffälligkeiten feststellen, von einer ausgeprägten Angst vor Mäusen einmal abgesehen. Er erinnert sich anscheinend weder daran, wie er in das Haus gekommen ist, noch was dort geschah. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, er hat es nicht getan."
"Dazu kommt, dass es keine Verbindung zwischen Täter und Opfer zu geben scheint", schaltete sich Kolumbini ein, "Die ermordete Emalia Sauerkraut war ledig, noch keine 30 Jahre alt und erst vor kurzem nach Ankh-Morpork gezogen. Sie war gerade erst im Begriff ein Geschäft für importierten Kohl aus der Sto-Ebene aufzubauen und hatte kaum Geld. Wohingegen ihr Mörder äußerst wohlhabend ist." Er schüttelte verständnislos den Kopf. "Zwei Menschen, die ohne voneinander zu wissen in dieser Stadt lebten. Und auch Mörsers Gehilfe bestätigte uns, er könne sich nicht daran erinnern, dass die junge Frau jemals Kundin in der Apotheke gewesen wäre."
"Aber es läuft doch kein Normalbürger draußen herum, raubt ohne jedes Motiv einen ihm unbekannten, ebenso normalen Bürger aus, bringt ihn um und weiß nachher nichts mehr davon!" Es war Frän deutlich anzumerken, wie sehr es sie wurmte, nichts Relevantes herausgefunden zu haben. Zumal sie sicher war, dass ihre Analyse stimmte.
Feldwebel von Grauhaar nickte bedächtig.
"Das mag ja alles sein", meinte er dann, "aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass der Apotheker am Tatort aufgefunden wurde, das erschlagene Fräulein Sauerkraut zu seinen Füßen. In der einen Hand hielt er einen Sack mit den wenigen persönlichen Wertgegenständen des Opfers und in der anderen einen massiven Kerzenständer, offensichtlich die Tatwaffe. Und wenn die Blutspuren daran mit dem Opfer übereinstimmen..."
"Aber er hatte kein Motiv!", beharrte die Püschologin, noch immer nicht bereit, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Das sie ihren Vorgesetzten gerade unterbrochen hatte, schien ihr nicht aufzufallen. "Und der Mann ist mit den Nerven vollkommen am Ende, seit ihm klar ist, was er da getan hat. Er reagiert nicht wie ein Täter reagieren sollte!"
"Vielleicht könnte ich mich noch einmal in seinem Umfeld umhören", meldete sich Inspäctor Kolumbini erneut zu Wort. Nachdenklich spielten seine Finger am Griff der längst erkalteten Pfeife. "Ich würde nur ungern einen Unschuldigen verurteilt sehen."
Der Abteilungsleiter betrachtete seine beiden Mitarbeiter eingehend und kam schließlich zu einer Entscheidung.
"Also gut, bis SUSI uns eindeutige Ergebnisse liefert, könnt ihr euch des Falls noch annehmen. Doch ihr solltet wohl besser ein paar Kollegen um Hilfe bitten, denn viel Zeit wird euch nicht bleiben."



Das Leben war ungerecht. Zumindest manchmal. Nein, korrigierte sich die Obergefreite Namida in Gedanken, wohl doch eher meistens. Als ob ihr Schreibtisch nicht schon überladen genug wäre, war vor kurzem Korporal Kolumbini ins Büro geschneit gekommen und hatte noch einen Stapel Papier obenauf gelegt, mit der gebrummten Bitte auf den Lippen, das Ganze schnellstmöglich zu bearbeiten. Von schnell konnte allerdings keine Rede sein, handelte es sich doch nicht etwa um Formulare oder Berichte, sondern um ein Sammelsurium flüchtig gekrakelter Notizen, welche zunächst einmal einer Entzifferung bedurften, bevor man irgendetwas anderes mit ihnen anstellen konnte. Und selbst dann würde sie noch immer vor einer schwer zu überschauenden Menge an Daten, augenscheinlich Fakten und Ereignissen aus dem Leben einer ihr unbekannten Person, sitzen. Das alles in eine annehmbare Form zu bringen, würde wohl die ganze Nacht in Anspruch nehmen.
Ayure knirschte frustriert mit den Zähnen, einen Zettel nach dem anderen abarbeitend. Sie hatte sich auf einen ruhigen Feierabend gefreut, vielleicht mit einem guten Buch und einer Tasse Tee, aber nun erledigte sie den Papierkram für irgendeinen Fall, bei dem sie nicht einmal die geringste Ahnung hatte, um was es überhaupt ging. Allerdings konnte sie auch nicht den Auftrag eines Vorgesetzten einfach so ignorieren ...
Die junge Ermittlerin war derart verbissen auf ihre Arbeit konzentriert, dass sie ihren Kollegen erst bemerkte, als er vor ihr auf dem Tisch stand.
"Sag mal, hörst du mir überhaupt zu, wenn ich etwas zu dir sage?" Septimus Ebel kniff die Augen zusammen und bedachte Ayure mit einem anklagenden Blick.
"Hmm, ja, tut mir leid", murmelte diese geistesabwesend und notierte einen Kommentar neben zwei weitere Daten. Sie würde das am Ende alles noch einmal abschreiben müssen!
Sie zuckte zusammen, als der Gnom aufstampfte.
"Scheinbar doch nicht, sonst hätte ich schon eine Antwort auf meine Frage. Was machst du da eigentlich so unglaublich Wichtiges?" Er verdrehte den Kopf um Ayures Aufzeichnungen lesen zu können.
Diese seufzte resigniert.
"Ich werte das Leben eines Apothekers aus." Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, schlugen neue Wogen der Frustration über dem Kopf der RUM Ermittlerin zusammen. Schon allein der Wortlaut, sein schierer Klang, sprach von Langeweile! Entnervt warf sie ihren Stift auf den Schreibtisch. "Und ich weiß noch nicht einmal so wirklich, warum. Fest steht nur, dass dieser ... dieser Pillendreher eindeutig zu viele Daten in seinem Lebenslauf hat und mich damit noch zur Verzweifelung bringt."
Septimus warf ihr einen langen Blick zu.
"Wusstest du, dass der Pillendreher eigentlich ein seltener und sehr nützlicher achatischer Käfer ist, der vor allem pflanzliche und tierische Abfallstoffe beseitigt? Das sollte man vielleicht bedenken, bevor man diese Bezeichnung als Schimpfwort für eine menschliche Berufsgruppe missbraucht." Der Vorwurf in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Doch bevor der Gnom noch Luft geholt hatte, um zu einem längeren Vortrag zum Thema Insekten und deren Diskriminierung im Allgemeinen anzusetzen, klopfte es an der Tür und eine junge, blondhaarige Frau steckte den Kopf herein.
"Obergefreite Ayure Namida?", fragte sie zögerlich.
"Ja, was kann ich für dich tun?" Die Ermittlerin erhob sich und eilte ihr entgegen, heilfroh einen Grund gefunden zu haben, um der Belehrung ihres kleinen Kollegen im Bezug auf Kleinfauna zu entgehen.
Die Frau, deren GRUND-Uniform sie eindeutig als Rekrutin auswies, reichte Ayure eine Akte.
"Das hier hat mir gerade unten am Tresen ein Korporal Kolumbini in die Hand gedrückt und gemeint, ich solle es hier abgeben."
Ayure hatte ihr nur noch mit halbem Ohr zugehört, derweil die erste Seite überflogen und stöhnte nun gepeinigt auf. Als ob sie nicht schon genug zu tun hätte!



Nichts, nichts, nichts, rein gar nichts, nicht einmal eine winziger Ansatzpunkt, einfach nichts!!! Das war mehr oder weniger das beschämende Ergebnis von drei Tagen intensiver Ermittlungsarbeit der Abteilung RUM.
Romulus von Grauhaar lehrte in einem Zug eine Dose "Superbulle", warf sie in Richtung Papierkorb und fuhr dann damit fort, düster vor sich hin zu starren.
Zwar konnte man den Fall des Apothekers als so gut wie abgeschlossen betrachten, die Laboruntersuchung der Tatwaffe hatte ziemlich eindeutige Beweise geliefert. Doch nun waren noch drei weitere, erschreckend ähnliche Vorfälle auf den Plan getreten: Wilhelmius von Geizkraggen, ehemaliger Schriftführer der Gilde der Händler und Kaufleute, war von einem Nachbarn dabei beobachtet wurden, wie er einen Angehörigen der Musikergilde vor dessen Haustür erwürgte als der Mann ihm den Zutritt verwehrte; ein Thaddäus Grübelviel hatte seine Haushälterin in deren Wohnung erstochen und der Erbin eines Sonnenblumenkernölimperiums, Frau Hennritte H. Bratflink, wurde vorgeworfen, den Inhaber einer schlecht laufenden Bäckerei ausgeraubt und dann mit einem Brotschieber erschlagen zu haben. Allen Opfern gemein war, dass sie keine weiteren Verwandten in Ankh-Morpork hatten, allein lebten und nur über sehr wenig, wenn überhaupt, Geld verfügten. Wohingegen sämtliche Verdächtige sich nicht über einen Mangel an den nötigen finanziellen Mitteln beschweren konnten, aber mehr oder weniger auf frischer Tat ertappt worden waren. Und sich im Nachhinein nicht im Mindesten daran zu erinnern schienen, was sie eigentlich getan hatten.
Der Abteilungsleiter von RUM blätterte lustlos in einigen Berichten diverser Befragungen und Verhöre der letzten Tage. Tatsächlich keine Verbindungen zwischen Tätern und Opfern! Auch nicht zwischen den Tätern oder den Opfern an sich[1]. Keine Motive! Kurz und bündig: Nichts!
Beinahe sämtliche verfügbare Ermittler, normale als auch verdeckte, arbeiteten in Zweier-Teams an diesen Fällen, was zur Folge hatte, dass die Untersuchungen weiterer Sachverhalte auf der Strecke blieben. Mehr noch, selbst Kontakter und Anwerber waren auf den Straßen unterwegs, um jede nur mögliche Information zu erhaschen. Derweil arbeiteten die Püschologen im Akkord an Analysen zu den einzelnen Verdächtigen und wiederholten diese immer und immer wieder, alle nur denkbaren Abweichungen und Sonderfälle einkalkulierend.
RUM war blockiert. Und Feldwebel von Grauhaar hatte keine Ahnung, wie das über längere Zeit weitergehen sollte ohne den anderen Abteilungen Arbeit zuzuschieben, auf die sie eigentlich gar nicht spezialisiert waren. Andererseits war diese Angelegenheit mittlerweile zu einer prinzipiellen Frage avanciert, der RUM Abteilungsleiter nahm sie beinahe persönlich: Es konnte doch nicht angehen, dass auf den Straßen reihenweise unlizensierte Morde geschahen für die es augenscheinlich keinen Grund gab; man die mutmaßlichen Täter zwar gefasst hatte, ihnen aber nahezu hilflos gegenüber saß und es eine ganze Abteilung nicht schaffte, diese Vorkommnisse vollständig aufzuklären. Das grenzte schon fast an puren Hohn und wie sollte das erst nach außen hin wirken? Nein, es musste eine Lösung her, und wenn der Preis dafür ein neuer Rekord an Überstunden war!



Klooooonnnnggggg!!! Es war ein schwerer Ton, eine andere Beschreibung hätte dem tiefen, hohlen Klang auch nicht annähernd gerecht werden können, der sich nun ausbreitete und die Luft vibrieren ließ. Er hatte durchaus etwas von Endgültigkeit, hallte lange durch das Gebäude und machte unmissverständlich klar, dass es nun kein Zurück mehr gab. Und dabei war es nur die Türglocke.
Zwei Wächter standen vor einem imposanten Portal aus Eichenholz in der Nachmittagssonne und fragten sich, ob überhaupt jemand ihr Läuten vernommen hatte oder ob die sich im Gebäude befindlichen Personen nicht vielmehr schon lange taub waren - eine nicht ganz von der Hand zu weisende Überlegung, wenn man bedachte, dass sie stets dem akustischen Äquivalent einer Abrissglocke ausgesetzt waren, wenn jemand Einlass begehrte.
Doch noch bevor sie den Gedanken zu Ende gedacht hatten, schwang die Pforte schwungvoll nach innen, ohne das geringste Geräusch zu verursachen und ein hagerer Mann mittleren Alters blinzelte ins Sonnenlicht. Er schien nicht allzu oft mit natürlicher Helligkeit in Berührung zu kommen, kreidebleich und die Nase so gerümpft, das seine überdurchschnittlich großen Schneidezähne unter den leicht geöffneten Lippen zum Vorschein kamen, erweckte er mehr den Eindruck eines Maulwurfs, der aus Versehen seine Nase aus einem seiner Hügel gesteckt hat und sich nun fragt, was er dort eigentlich macht.
"Ja, bitte?" Seine Stimme erinnerte an das Pfeifen eines Nagetiers.
"Guten Tag, Stadtwache Ankh-Morpork. Ich bin Gefreite Mina von Nachtschatten und das ist mein Kollege Gefreiter Ani Brandur." Zwei Dienstmarken reflektierten die Sonnenstrahlen und veranlassten den Mann an der Tür dazu, die Augen noch mehr zusammenzukneifen und geblendet einen Schritt in die Schatten des Gebäudes zurückzuweichen. "Wir haben einige Fragen an ..."
"Äh, ja, ich weiß, die ... die Taube mit der entsprechenden Information haben wir heute Morgen bekommen. Die Herrn Professoren warten schon, bitte hier entlang, hier entlang."
Kaum das die beiden Wächter eingetreten waren, fiel die Tür hinter ihnen lautlos ins Schloss und sie befanden sich in einer hohen düsteren Halle; nur hier und da malten Kerzen Lichtflecken in die Dunkelheit oder beleuchteten dramatisch einige Porträts an den Wänden.
Der Hagere führte sie eilig mehrere Treppen hinauf und andere wieder hinunter, durch holzvertäfelte Gänge, an verschlossenen Türen vorbei und durch geräumige Zimmer, deren Wände mit großformatigen Teppichen behangen waren. Überall herrschte die gleiche schummrige Beleuchtung, aber es stand dennoch außer Frage, dass das gesamte Gebäude mit viel Bedacht und einem vollen Geldbeutel in der Hinterhand eingerichtet worden war; in vielen Ecken ließ ein schwaches Glitzern Wertvolles erahnen und auch wenn nichts überflüssig oder gar überladen wirkte, strahlte die Einrichtung einen gewissen Prunk und Glanz aus.
Schließlich blieben sie vor einer doppelflügeligen Tür mit goldenen Klinken stehen und ihr Führer wandte sich um. Hier im Zwielicht wirkten seine Miene nicht mehr ganz so angespannt wie vorhin, aber dafür zeigte sich nun ein Anflug von Unbehagen und Ablehnung auf seinen Gesichtszügen.
"Entschuldigung, aber ich betrete den nächsten Raum nicht. Er ist mir zu ... unbehaglich." Erneut zeigte er sein Maulwurfsgesicht. "Aber nur hindurch, nur hindurch, die Herrn Professoren befinden sich hinter dieser Tür." Und damit war er auch schon wieder in den schier endlosen Gängen des Hauses verschwunden.
Ein seltsamer Kauz! Mina sah ihm kopfschüttelnd nach. Aber waren das nicht die meisten Bewohner dieser Stadt? Sie warf ihrem Kollegen einen fragenden Blick zu, doch Ani zuckte nur mit den Schulter und so ergriff jeder eine der Klinken und sie öffneten die Tür.
Es war ein Schock. All das Licht, dass im restlichen Gebäude zu fehlen schien, schwappte nun in einer einzigen geballten Ladung über sie hinweg, eine Wand aus Helligkeit, die in den Augen schmerzte und für einen kurzen Moment das Gefühl vermittelte, blind zu sein. Es vergingen mehrere Sekunden bevor Mina es wagte, die Augen wieder zu öffnen um sich zu vergewissern, dass sie nicht zu einem Haufen Asche zerfallen war. Neben ihr kam Ani langsam wieder auf die Füße, nachdem er überrascht von solch einem überwältigenden Lichtstrom zurückgetaumelt, an einer Teppichkante hängen geblieben war und so schmerzhafte Bekanntschaft mit dem Boden des Raumes gemacht hatte. Verlegen klopfte er sich den nicht vorhandenen Staub von der Uniform und schaute sich vorsichtig um, ob er bei seinem Sturz auch nichts mitgerissen hatte. Es war knapp gewesen - nur wenige Zentimeter entfernt befand sich ein kleiner Tisch mit einer sehr großen und seehhrr wertvoll anmutenden Vase.
In der Zwischenzeit hatte Mina einen vorsichtigen Blick in den angrenzenden Raum geworfen und dort bot sich ihr ein vollkommen unerwarteter Anblick: Die Tür führte auf eine Art kleinen Balkon hinaus der die Sicht auf eine nicht allzu große Halle ermöglichte. Hohe Fenster liefen unter der Decke entlang und Tageslicht fiel auf mehrere Reihen gut gefüllter Bücherregale, deren oberste Fächer man nur mit Hilfe einer Leiter erreichen konnte. Dazwischen befanden sich mehrere Tische und Stühle, überladen mit Papier in jedem Format und allen nur denkbaren Zuständen der Beschriftung. Es herrschte ein reges Treiben, Menschen eilten hin und her und neben dem Klang ihrer Füße war das vorrangige Geräusch das Kratzen von Stifte und Schreibfedern, vermischt mit einem vielfachen Rascheln, erzeugt vom Umblättern unzähliger Buchseiten.
Jeder hat wohl mehr oder weniger das gleiche Bild im Kopf, wenn er an einen Professor denkt, aber exakt diese Vorstellung in vielfacher Ausführung in der Realität zu sehen, ist mit einem dezent befremdlichen Gefühl verbunden. Es befanden sich nur Männer höheren Alters in diesem Saal, sie alle trugen eine Brille auf der mehr oder weniger hervorstehenden Nase und ihre Köpfe wurden nur noch von wenigen weißen Haaren an den Schläfen und Seiten gesäumt. Und ihnen allen gemein war ein Glühen in den Augen, ein Funkeln von solchem Enthusiasmus und Arbeitswut, dass man sich selbst unwillkürlich als absolut antriebslos und unmotiviert vorkam. Niemand achtete auf die beiden Wächter, die sich nun über eine geschwungene Treppe auf den Weg zum Boden der Halle machten.
An der Stirnseite des Raumes befand sich ein weitläufiges Podest und darauf mehrere Sitzgruppen aus grünen Sesseln und Sofas vor einer Wand, welche mit einer gewaltigen Tapisserie behangen war, die offenbar eine Bibliotheksszene darstellte. Auch dort saßen Professoren, offenbar in eine hitzige Diskussion vertieft, doch plötzlich sah einer auf und wurde der beiden uniformierten Besucher gewahr.
"Ah, die Stadtwache", rief er mit lauter Stimme, "Meine Herren, wir setzten unser Gespräch später fort."
Eilig kam er auf sie zu gewackelt, die Augen, hinter der dicken Brille unnatürlich vergrößert, leuchteten voller Tatendrang.
"Professor Doktor Beßer Wißer, sehr erfreut, willkommen bei P.U.N.K.T.", sprudelte es aus dem kleinen dünnen Mann hervor, während er scheinbar gar nicht aufhören wollte, ihre Hände zu schütteln.
"P.U.N.K.T.?", fragte Ani und versuchte gleichzeitig, die Schwingung seines Armes nicht auf den restlichen Körper übergreifen zu lassen.
Der Professor nickte eifrig: "Professur für ursprüngliche und neue Kommunikationstheorie, eine kleine aber wichtige Vereinigung von Gelehrten, die stolz von sich behaupten kann, nicht von einer Gilde abhängig zu sein. Aber was unterhalten wir uns hier, kommt nur, wir haben da oben noch ein paar Plätze frei."
Die eben noch geschüttelten Hände wurden nun überraschend fest ergriffen und ihren Besitzern blieb nichts anderes übrig als dem Zug daran zu folgen, der ihnen entschlossen den Weg in Richtung der grünen Sitzgruppe wies. Auf dem Podest angekommen griffen von mehreren Seiten noch ein paar Hände zu und nötigten die beiden Besucher regelrecht, in den viel zu weichen Polstern Platz zu nehmen - aus welchen es gar nicht so einfach war, sich in eine angemessene Sitzposition aufzurichten. Seltsamerweise gab es nun keine helfende Hand, die den beiden RUM Ermittlern dabei behilflich gewesen wäre.
"Also, wir sind hier wegen ...", begann Mina schließlich, wurde aber umgehend von Professor Beßer Wißer unterbrochen, der mahnend der Zeigefinger hob.
"Nicht so schnell. Es fehlt noch etwas."
"Tee, wir brauchen noch mehr Tee!", rief daraufhin einer seiner Kollegen mit lauter Stimme.
"Und Tassen!"
"Untertassen nicht vergessen!"
Eine streng dreinblickende Dame in einem grauen Kleid und mit einem gestärkten Häubchen auf dem Kopf tauchte wie aus dem Nichts auf, mit ruhiger Hand ein vollbeladenes Tablett balancierend, und begann, das Gewünschte auf einigen kleinen Tischchen unmittelbar vor und neben den Sesseln zu kredenzen.
Zufrieden betrachtete Professor Wißer die dampfenden Tassen und wandte sich dann wieder Ani und Mina zu: "Jetzt habe wir eine angemessene Gesprächsatmosphäre geschaffen. Wie können wir helfen?"
"Es geht um Herrn Grübelviel. Ihm wird vorgeworfen ..."
"Ach, der arme Thaddäus!", Wißers Miene trübte sich, "Ja, wir haben schon davon gehört, und gehofft, dass das alles nur ein Irrtum ist."
"Leider nicht, es liegen einige Beweise gegen ihn ...", begann diesmal Ani, doch auch er bekam keine Gelegenheit, den Satz zu beenden.
"Schlimme Geschichte!", mischte sich diesmal ein Herr mit einer vollständigen Glatze ein. "Niemand hätte ihm so etwas zugetraut."
Zustimmendes Gemurmel erhob sich von allen Seiten.
"Er ist stellvertretender Vorsitzender von P.U.N.K.T., war stets korrekt im Verhalten und sehr engagiert", fuhr Professor Wißer fort, "Sprache und Wörter sind schon immer sein Leben gewesen. Und das war ihm genug. Einer Frau oder Familie hat er nie bedurft."
Und genau aus diesem Grund sitzen wir jetzt hier!, seufzte Mina in Gedanken, Weil es in ganz Ankh-Morpork niemanden gibt zu dem er Kontakt hatte, außer einer Gruppe sprachversessener Professoren, die sich selbst gern sprechen hören und die anderen nicht ausreden lassen! Dennoch beschloss sie, einen weiteren Versuch in dieser Hinsicht zu wagen.
"Könnte es irgendeinen Grund geben, aus dem er ..." Es war ein hoffnungsloses Unterfangen!
"Nein, wie schon erwähnt, er war immer freundlich, eifrig bei der Arbeit und verbrachte die meiste Zeit des Tages hier", sprach Beßer Wißer und schüttelte traurig den Kopf, "Von seiner Pogonophobie einmal abgesehen verhielt er sich ganz normal."
"Äh, wie schreibt man das?" Ani blickte von seinem Notizbuch auf in welches er, aufgrund gescheiterter Kommunikationsversuche, begonnen hatte sich alles eifrig zu notieren.
"Ganz einfach, junger Freund, so wie man es spricht! Pogonophobie, die Angst vor Bärten." Ein weiterer Professor strich sich über sein eigenes, äußerst buschiges Exemplar. "Thaddäus hat sich mehrmals am Tag rasiert, ihm graute vor jedem Haar am Kinn."
"Er war deswegen in Behandlung, aber es wurde nicht viel besser. Immerhin lenkte ihn seine Arbeit hier etwas davon ab und wir haben ihn auch nie darauf angesprochen. Schließlich weiß man in unseren Kreisen, was es heißt, taktvoll zu sein!" Professor Wißer nickte bedeutungsschwer.
"Was er jetzt wohl durchmacht?", sein glatzköpfiger Kollege schauderte, "Ich schätze, in den Zellen des Wachhauses gibt es weder Rasiermesser noch Spiegel."
"Hoffentlich verliert er vor Angst nicht den Verstand. Es wäre schade um solch einen brillanten Kopf. Er ist eine wahre Koryphäe auf dem Gebiet der alten Sprachen."
"Er ist was?" Erneut blickte Ani hilflos von seinen Notizen auf.
Ein vierter Professor, mit einer besonders großen Hakennase, ergriff das Wort: "Koryphäe ist ein anderes Wort für Spezialist oder Experte", dozierte er, "Ein Homonym dafür, wenn man den Fachbegriff verwenden möchte."
Homonym. Wenn sie nicht gerade die entsprechende Erklärung dazu erhalten hätte, hätte Mina das wohl eher für eine sehr komplizierte, ansteckende Krankheit als einen harmlosen Fachausdruck gehalten. Und dem Gesichtsausdruck ihres Kollegen nach zu urteilen gingen dessen Gedanken offenbar in eine sehr ähnliche Richtung.
"Ja, die Jugend von heute!" Professor Wißer lächelte milde. "Sie interessiert sich nicht mehr für die wirklich interessanten Wörter. Es ist zu schade." Dann wandte er sich an den Herrn mit der eindrucksvollen Hakennase und hob erneut belehrend den Zeigefinger: "Aber ich muss dich leider korrigieren, Herr Professor Reth Orik, was du meinst, ist das Synonym. Die Bezeichnung Homonym benutzt man für Wörter, die die gleiche Schreibung oder den gleichen Klang aufweisen, aber verschiedene Bedeutungen haben. Zum Beispiel "lachen": Die "Wasserlachen" und die Tätigkeit, das "Lachen" haben nicht viel gemein, nicht wahr?"
Zu viele Fachausdrücke regen die Fantasie ungemein an und in den Köpfen zweier Wächter entstand unwillkürlich das Bild einer sehr schmutzigen, prustenden Pfütze auf einer der zahllosen nicht gerade sauberen Straßen Ankh-Morporks, die die in ihr vegetierenden Bakterien nach vorbeikommenden Passanten schleuderte. Schwefel stieg von ihr auf und verkrusteter Dreck schwamm auf ihrer Oberfläche wie Furunkel auf ...
"Oder, um ein vielleicht einen interessanteren Vergleich zu wählen", unterbrach Professor Orik die Entwicklung dieser gedanklichen Monstrosität und lächelte Mina zu. "Wie wäre es mit den "Blutlachen" und dem "irren Lachen eines verrückten Wissenschaftlers?" Ein schönes Beispiel, nicht?"
Zack! Die Pfütze war tiefrot! Und sie prustete nicht mehr, sondern kreischte hysterisch.
"Herzlichen Dank, jetzt geht es mir besser ...", murmelte die Vampirin. Ani war unterdessen kreidebleich geworden und hatte seinen Stift fallen gelassen.
Reth Orik lehnte sich in seinen Sessel zurück, zufrieden, seinen eben begangenen Fehler durch ein spektakuläreres Beispiel als das Wißers wettgemacht zu haben.
"Und das hat sogar etwas gemeinsam, oder Beßer?"
Der Angesprochene rümpfte die Nase: "Aber nur auf bildlicher Ebene. Nicht im Sinne des Wortes und somit ist es für unsere Betrachtung irrelevant."
"Das würde ich so nicht sehen, Herr Kollege, haben Bild und Wort nicht auch einen Zusammenhang?", mischte sich der Glatzkopf ein. Erneut erhob sich vielstimmiges Gemurmel.
"Es entspricht nicht unserer Philosophie, solche Überlegungen anzustellen!" Professor Wißer war aufgestanden und schaute strafend auf seinen Gegenüber hinab.
Orik seufzte: "Du bist zu altmodisch, Beßer, das habe ich immer schon gesagt."
Als wäre das ihr Stichwort gewesen, sprang die gesamte Professorengruppe wie ein Mann auf und begann aufeinander einzureden. Wörter wie "Hyponymie", "Meronymie" oder "Polysemie" flogen wie Speere durch den Raum, gefolgt von weiteren Ausdrücken, deren vornehmste Eigenschaften viele Buchstaben und die Endung "-nymie" zu sein schienen.
Mina und Ani erhoben sich von ihren Plätzen und bahnten sich vorsichtig ihren Weg durch die wachsende Menge aufgebrachter Sprachwissenschaftler, die ihnen keinerlei Beachtung mehr schenkten. Hier würde nichts mehr in Erfahrung zu bringen sein und das Klirren von zerschellendem Porzellan auf dem Boden war ein mehr als deutliches Zeichen, dass es höchste Zeit war, von P.U.N.K.T. Abschied zu nehmen.



"Gut, Ergebnisse, bitte!"
Romulus, die Hände auf die Tischplatte schlagend, warf einen auffordernden Blick in die Runde und beugte sich leicht nach vorn, wie ein Raubtier, dass zum Sprung ansetzt. Auf der Jagd. Der Jagd nach Informationen. Doch alles, was er damit erreichte, war, dass ihm verlegenes Schweigen entgegenwallte, durchaus vergleichbar dem Rauch aus Kolumbinis Pfeife: einen Moment in der Luft verharrend, eindeutig und leicht zu durchschauen. Acht Ermittler blickten in grundverschiedene Richtungen, wohl in der Hoffnung, nicht direkt angesprochen zu werden.
Schließlich räusperte sich Septimus Ebel und sortierte umständlich seine Notizen. Er hatte gemeinsam mit seiner Kollegin Lilli Baum den Auftrag erhalten, sich noch einmal genauer mit den Opfern der jüngsten drei Morde zu befassen.
"Nun, da ich davon ausgehe, dass nur fallrelevante Ergebnisse eine Rolle spielen ..." Der Gnom sah auf und direkt in das angespannte Gesicht des Abteilungsleiters, dessen ungeduldiges Nicken ihn dazu veranlasste, sein Berichtstempo zu beschleunigen: "... können wir leider mit keinerlei neuen Erkenntnissen aufwarten. In einem Wort: Nichts!" Lilli nickte zustimmend mit dem Kopf und sah recht entmutigt drein.
Feldwebel von Grauhaar knirschte mit den Zähnen. Er konnte das Wort mit dem "N" am Anfang in diesem Zusammenhang langsam nicht mehr hören! Entsprechend barsch wandte er sich an die restlichen versammelten Wächter.
"Und ihr? Sagt mir, dass ihr etwas herausgefunden habt!" Es war keine Bitte mehr und schon gar kein Flehen - das war ein eindeutiger Befehl, verbunden mit einem bedrohlichen Wehe-wenn-nicht Tonfall.
Lance-Korporal Ophelia Ziegenberger setzte sich noch etwas aufrechter, als sie es ohnehin stets tat und begann in sachlichem Tonfall ihren Bericht: "Korporal Kolumbini und ich hatten uns zum Anwesen der Frau Hennritte H. Bratflink im Parkweg direkt gegenüber des Hide Park begeben, um eventuelle Angehörige der Verdächtigen zu befragen. Wie sich herausstellte, ist Frau Bratflink seit gut fünf Monaten verwitwet und es war nur das Hauspersonal, bestehend aus einem Dienstboten, zwei Zimmermädchen, einer Köchin und deren Gehilfin, sowie einem Hausdiener anzutreffen. Diese allerdings konnten uns bestätigen, dass Frau Bratflink vor dem Mord nie auch nur einen Fuß in eine Bäckerei oder sonstiges öffentliches Geschäft gesetzt hatte, noch dass irgendeine Lieferung fertiger Nahrungsmittel erfolgt wäre - alle Speisen werden von der Köchin persönlich aus größtenteils selbst angebauten und gezüchteten Zutaten zubereitet. Die Hausherrin ist chronisch hypochondrisch und immer bemüht gewesen, den Kontakt mit der Aussenwelt weitestgehend einzuschränken ..."
An dieser Stelle wurde sie von einem Wimmern aus der rechten Ecke des Zimmers unterbrochen. Ani Brandur starrte sie aus entsetzt aufgerissenen Augen an und flüsterte beinahe panisch:
"Bitte! Keine Fremdwörter! Keine Fachausdrücke! Tut mir das nicht an!"
"Was hat er denn?", fragte Ayure Namida besorgt.
"Wir hatten ... Sprachprofessoren. Zu viele Akademiker an einem Ort", schaltete sich Mina seufzend ein, "Aber das ist eine längere Geschichte."
"Wie schon erwähnt", setzte Kolumbini Ophelias begonnene Berichterstattung fort, "litt Frau Bratflink an allen möglichen eingebildeten Krankheiten und nahm eine schwer zu schätzende Anzahl an Medikamenten zu sich, für deren Bereitstellung der Hausdiener verantwortlich war. Vielleicht haben einige Mittel in Kombination eine berauschende Wirkung, die dafür verantwortlich ist, dass die Verdächtige sich nicht daran erinnern kann, den Bäcker erschlagen zu haben. Wir haben Proben der Arzneien an SUSI weitergeleitet."
"Erinnere mich nicht an Medizin!", stöhnte Mimosa auf. Sie fingerte an einer ihrer Taschen herum und förderte einen kleinen Lederbeutel zu Tage. "Die Ehefrau von Wilhelmius von Geizkraggen hat uns das hier geradezu aufgenötigt. Sie hat ein furchtbares Spektakel veranstaltet da es ihr Mann aufgrund der Festnahme schon mehrfach versäumt hat, seine Tabletten zu sich zu nehmen. Eine richtige Schreckschraube, da würde ich auch krank werden, wenn ich die jeden Tag am Hals hätte."
"Ich frage mich immer noch, was Tabletten gegen eine Angst vor der Zeit bewirken sollen", sinnierte Ayure und blätterte in ihrem Notizbuch, "Einer so genannten Chronophobie."
"Wirklich seltsam, vor welchen Dingen die Leute so Angst haben", meinte Kolumbini, ignorierte Anis gequältes Jammern[2] und kratzte sich mit dem Pfeifenstiel am Kopf, "Frau Bratflink fürchtet unter anderem ... was war es noch gleich?" Er warf Ophelia einen fragenden Blick zu, die sofort reagierte und pflichtbewusst aus ihren Aufzeichnungen ablas:
"Angst vor Flöten, Meinungen und Essenseinladungen oder Tischgesprächen[3]. Ungewöhnlich, aber wahr!"
"Der ermordete Bäcker spielte Flöte! Leidenschaftlich gern sogar, aber laut seinem Lehrling hatte er nie genug Geld um der Musikergilde beizutreten", warf Septimus vorsichtig ein.
"Da wollte die gute Frau Bratflink ihm wohl einmal gehörig die Flötentöne beibringen", murmelte Romulus geistesabwesend, "Aber ob das als Motiv reicht, ich weiß nicht ..."
Er blätterte in der Akte vor ihm. "Unser erster Verdächtiger, dieser Apotheker ... ich erinnere mich daran, dass die Gefreite Fromm gleich zu Beginn der Ermittlungen eine Angst vor Mäusen bei ihm festgestellt hat. Bei allen Göttern, diese Leute brechen bei Nagetieren, Flöten, Zeit, Kaffeekränzchen und was sonst noch alles in Panik aus, was sind denn das für Mörder?"
"Und Thaddäus Grübelviel hat Angst vor Bärten", bemerkte Mina, "Er war deswegen in Behandlung."
"Genau wie Geizkraggen!" Ayure reichte dem RUM Abteilungsleiter ein kleines Pappkärtchen. "Und zwar bei diesem Arzt. Die Karte gab uns Geizkraggens Frau", sie verdrehte die Augen, "für den Fall, dass ihm die Tabletten ausgehen."
Romulus von Grauhaar las schweigend und ließ anschließend den Blick durch den Raum schweifen - von dem Haufen leerer Dosen "Superbulle", welche aus seinem Papierkorb quollen, über die anwesenden Ermittler und wieder zurück zu der Karte vor seiner Nase.
"Vielleicht ist das ein Anhaltspunkt ..."



"Dr. hüpp. Igor I. Igorowitsch, Facharzt für ungewöhnliche Leiden, Heilung wie im Schlaf"
Das Messingschild an der weißen Hauswand war ungewöhnlich groß und derart auf Hochglanz poliert, dass eine längere Betrachtung nicht möglich schien, ohne das man geblendet die Augen abwenden musste.
Daher besah sich Ophelia Ziegenberger auch lieber eingehend die reich verzierte Fassade, deren Vordach von zwei stilisierten Säulen getragen wurde. Reliefe von Weinlaub und Füllhörnern schmückten beinahe jeden Zentimeter und über dem Eingang prangte der aus Marmor gearbeiteter Kopf eines pausbäckigen Gottes. Es war immer wieder erstaunlich, was für Kleinodien man in Ankh-Morpork finden konnte, wenn man sich nur die Zeit nahm, genau hinzusehen. Denn dies hier war nicht etwa die kleinere Variante des Landhauses eines Adeligen, sondern ein sich mitten in der Stadt befindliches Gebäude, derart liebevoll restauriert, dass es irgendwie fehl am Platz wirkte.
Ophelia strich sich ein letztes Mal über die Falten ihres dunkelblauen Kleides, rückte den federgeschmückten Hut zurecht und erstieg die wenigen Stufen zur Haustür. Es war keineswegs sicher, dass sie hier Erfolg haben würde. Vielleicht bestand gar kein Zusammenhang zwischen diesem Arzt und all den Verdächtigen. Aber es war momentan die einzige konkrete Spur, der nachgegangen werden konnte und ein Versuch schadete ja nicht. Die verdeckte Ermittlerin zog an der Klingelschnur worauf ein wohltönendes Läuten erklang und noch bevor das Geräusch wieder verklungen war, hatte sich ein Türflügel geöffnet und sie sah sich einer jungen Frau mit kurzem braunen Haar gegenüber, welche ihr ein freundliches Lächeln schenkte.
"Guten Tag, was kann ich für Sie tun?"
Ophelia kam nicht umhin, anerkennend mit dem Kopf zu nicken: Eine äußerst höfliche Art der Anrede, ganz anders als sonst in der Stadt üblich. Und somit offensichtlich ein Zeichen von Seriosität.
"Guten Tag, ich bin Gräfin Mariella Ignazia von Vielgeld-Krössuss vom Ankh", stellte sich Ophelia vor und konnte sich im letzten Moment von einem höflichen Knicks abhalten. Der hätte wohl etwas fehl am Platz gewirkt, schließlich war sie diejenige mit dem Anliegen und der gut gefüllten Geldbörse - vorübergehend zumindest und von außen betrachtet. "Ich hörte von Dr. Igorowitsch und wünsche dringend mit ihm zu sprechen."
Die junge Frau an der Tür nickte und ließ Ophelia "Mariella" eintreten um sie durch eine ansehnliche Halle direkt in ein weitläufiges Büro zu führen, welches ganz von einem wuchtigen schwarzen Schreibtisch und den dahinter befindliche Regalen beherrscht wurde.
"Bitte nehmen Sie doch Platz, ich gebe dem Doktor Bescheid, dass Sie auf ihn warten." Sie bot Ophelia einen gemütlich aussehenden Sessel an und verschwand dann schnell und leise aus dem Raum.
Die verdeckte Ermittlerin sah sich aufmerksam um. Im Vergleich zu dem, was sie zuvor von dem Haus gesehen hatte, wirkte dieses Zimmer eher schlicht: dezent beige Wände, wenige Möbel in schwarz und braun und weiße Vorhänge boten dem Auge nicht viel, woran es sich besonders freuen könnte. Die einzige Ausnahme bildete der Inhalt der Regale hinter dem Schreibtisch. Fein säuberlich waren dort hinter Glas die verschiedensten kostbar anmutenden Schmuck- und Edelsteine zu sehen, manche noch roh, als wären sie gerade erst aus dem Berg gehauen worden, andere so fein geschliffen, dass sich schon wenig Licht tausendfach in ihnen brach und sie beinahe selbst zu kleinen Leuchten machte. Auf dem Schreibtisch selbst befanden sich einige besonders große Exemplare, ihr am nächsten ein leicht transparent wirkender, hellblauer Stein in dessen Inneres sich viele kleine Luftblasen verirrt zu haben schienen ...
"Fehr hübsch, nicht wahr?"
Ophelia zog erschrocken die Hand zurück, welche sich schon, wie magisch angezogen, auf halbem Weg zu dem Stein befunden hatte und wandte sich um.
Vollkommen lautlos hatte ein Igor das Zimmer betreten, auch wenn dieser Vertreter einen für seine Spezies äußerst ungewöhnlichen Anblick bot: Nur wenige, sehr feine Nähte liefen über seine Wangen, ein Buckel fehlte ganz und von weitem hätte man ihn durchaus für einen Menschen halten können. Seine Augen funkelten freundlich unter den buschigen Brauen hervor, als er auf Ophelia zukam und ihr die Hand reichte. Sie war schlohweiß.
"Dr. Igor I. Igorowitsch, willkommen in meinem Hauf." Dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem Stein zu und er hob ihn mit der anderen Hand[4] vom Tisch auf.
"Man nennt ihn "Regentrinker", wegen der vielen Einschlüffe die an Waffertropfen erinnern", meinte er mit verträumter Stimme, "Je mehr Tropfen fu erkennen find, umfo wertvoller ift er. Ich fammle Fteine von überall her, ich finde daf äfthetischer alf Organe fu ftapeln. Aber reden wir nicht von mir."
Er eilte um den Tisch herum und ließ sich in einen Schreibtischstuhl mit ungewöhnlicher hoher Rückenlehne sinken.
"Waf gibt ef für ein Problem?"
Und Ophelia erzählte. Erzählte lange und verzweifelt von diesem "höchst ärgerlichen Umstand", dass sie in Gesellschaften einfach nicht den Mund aufbekomme und "aus furchtbarer Angst, etwas Dummes zu sagen, wie gelähmt" sei. Nichts hätte ihr bisher helfen können und nun wäre er ihre letzte Hoffnung und Geld spiele keine Rolle. Diese Praxis sei ihr von mehreren Bekannten empfohlen worden, Herr Grübelviel, Frau Bratflink und Herr von Geizkraggen wären hier sehr zufrieden.
Der Arzt nickte worauf sich Ophelias Herzschlag für eine kurzen Moment beschleunigte. Ein Volltreffer!
"Ja, die drei kommen oft fu mir. Ich bin immer froh, helfen fu können." Er ergriff eine kleine Glocke und läutete, worauf die junge Frau, welche Ophelia eingelassen hatte, erschien.
"Meine Affiftentin, Julijenka Acerola, fie trifft die Vorbereitungen." Julijenka kam heran und ließ sich vom dem Doktor etwas ins Ohr flüstern, bevor sie einige der Steine aus dem Regal griff und im Hintergrund an etwas zu werkeln begann.
"Ja, die Fteine find nicht nur ein Hobby fondern auch effentiell für meine Arbeit", erklärte Igorowitsch auf Ophelias verwunderten Blick hin, "Ich wende bei meinen Patienten eine Methode an, die ich "Hüppnofe" genannt habe, eine befonderf fanfte Form der Bewufftfeinfbeeinfluffung. Man schaut fich ein paar bunte, fich bewegende Fteine an, welche von hinten beleuchtet werden, schläft ein und hinterher müffte eine Befferung eingetreten fein. Allerdingf find mehrere Behandlungen notwendig, bif die Angft komplett überwunden ift."
Seine Assistentin reichte ihm nun ein seltsam anmutendes Gerät, eine an einem Stiel befestigte Scheibe in der nun die verschiedenfarbigen Steine steckten und die mit einer Kurbel und einer bereits brennenden Kerze auf der Rückseite versehen war. Ophelia wurde beim Anblick dieses Apparates doch etwas mulmig zumute und sie begann in Zweifel zu ziehen, ob diese verdeckte Ermittlung eine so gute Idee gewesen war. Aber ein Rückzug kam jetzt nicht mehr in Frage.
"Find Fie bereit? Entfpannen Fie fich einfach, ef tut nicht weh", brummte der Igor beruhigend und begann an der Kurbel zu drehen.
Lichter bewegten sich, hinauf, hinab, immer im Kreis, nach oben und unten, schienen mal kleiner, mal größer, füllten bald Ophelias gesamtes Bewusstsein aus, bis es nichts mehr gab als Farbe, Bewegung und Licht, Licht, Licht.



"... und so hat sich nichts anderes ergeben als diese horrende Rechnung und ein leichtes Schwindelgefühl, dass ich immer noch nicht wieder los geworden bin."
Ophelia, immer noch in ihrer Kostümierung als Gräfin Mariella Ignazia, lächelte ihrem Abteilungsleiter entschuldigend zu, was dieser mit einem mürrischen Knurren quittierte.
Das RUM Abteilungsleiterbüro. Erneut ein Treffpunkt um sich über fruchtlose Lösungsversuche und vergebliche Ermittlungen auszutauschen. Es schien beinahe wie ein Fluch! Vielleicht sollte man darüber nachdenken, den Raum zu wechseln.
Die gesamte RUM Belegschaft hatte sich hier eingefunden und zog nun lange Gesichter. Wieder kein Erfolg. Zumindest kein direkter. Es war zwar schön und gut, dass offenbar alle Verdächtigen dieses verflixten Falls ein und denselben Arzt aufgesucht hatten, aber das konnte auch ein Zufall sein. Wenn auch einer der seltenen Sorte.
Korporal Pyronekdan klopfte sich bekümmert auf den Bauch, in dem gerade eine kleine Zwischenmahlzeit verschwunden war.
"Dann werden wie sie doch alle den Assassinen übergeben müssen", seufzte er.
"Jaaa, ohne auch nur die geringste Ahnung über das Warum der Taten ...", murrte sein Kollege Thask Verschoor leise.
"Das ist unfair!"
"Erniedrigend!"
"Frustrierend!"
"Desillusionierend!"
"RUHE!" Romulus von Grauhaar donnerte mit der Faust auf seinen Tisch. "Bleiben wir bei der Sache, für Selbstmitleid ist hier kein Platz! Und wem das nicht passt, der wartet draußen!"
Sämtliche Stimmen verstummten abrupt, Münder schlossen sich und Augen richteten sich zaghaft auf den Abteilungsleiter, dessen ausnehmend hoher Grad der Gereiztheit eigentlich nur noch auf einen massiven Mangel an Koffein zurückgeführt werden konnte. Aber natürlich war niemand so blauäugig, eine Frage in dieser Richtung zu stellen.
"Und was machen wir jetzt?", wagte Frän Fromm vorsichtig die Besprechung fortzusetzen.
"Ich bin gleich wieder da", sagte Ophelia und verließ leise den Raum.
Romulus ging nicht weiter darauf ein sondern sah die Püschologin lange an.
"Um das zu entscheiden, sind wir hier, Gefreite."
Eine Weile herrschte wieder Schweigen, bevor ein Räuspern aus Richtung des Fensters ertönte.
"Also, das hat wahrscheinlich nichts mit unserer Sache hier zu tun", begann Amok Laufen, der die ganze Zeit über an der Fensterbank gelehnt und gelegentlich einen Blick nach draußen geworfen hatte, "aber warum überquert Lance-Korporal Ziegenberger gerade den Pseudopolisplatz, wenn sie doch gleich wieder da sein wollte?"
Das nächste Geräusch, welches er von sich geben konnte, war ein gekeuchtes "Uff", als die halbe Abteilung wie ein Mann zum Fenster stürzte und ihm durch ihren Schwung nicht nur eine schmerzhafte Bekanntschaft mit der Wand ermöglichte, sondern dabei auch sämtliche Luft aus seinen Lungen quetschte.
Bevor Romulus von Grauhaar auch nur ein Wort sagen konnte, war die andere Hälfte schon zur Tür hinaus und polterte das Treppenhaus hinunter. Kopfschüttelnd wandte er sich den Wächtern am Fenster zu und warf ebenfalls einen Blick nach draußen: Von hier aus war gerade noch zu erkennen, wie seine restlichen Mitarbeiter ihre Kollegin Ophelia beinahe eingeholt hatten, bevor das Opernhaus die Gruppe allen Blicken entzog. Und als sie wieder zum Vorschein kamen, traute der Feldwebel seinen Augen nicht: Ophelia Ziegenberger, für ihre ruhige und höfliche Art bekannt, musste von ihren Kollegen geradezu auf das Wachhaus zu geschleppt werden, während sie wie wild um sich schlug und wohl auch den einen oder anderen Kinnhaken verteilte. Wortlos stürmte von Grauhaar aus seinem Büro, dicht gefolgt von den verbleibenden RUM Mitarbeitern.
Im Eingangsbereich des Wachhauses Pseudopolisplatz war die Hölle los. Geschrei und ab und zu ein wüster Fluch hallten durch das gesamte Gebäude, während Ophelia wie von Sinnen um sich trat und versuchte, Mimosa und Ani, welche es zu diesem Zeitpunkt geschafft hatten je einen Arm zu ergreifen, abzuschütteln.
"Lance-Korporal, reiß dich auf der Stelle zusammen und hör auf dich derart aufzuführen!", brüllte Romulus, aber der Befehl verhallte unbeachtet, Ophelia drehte lediglich den Kopf in Richtung des Abteilungsleiters, doch spiegelte sich in ihren Augen weder erkennen noch verstehen wider. Ihr Blick war leer. Glasige, blicklose Pupillen, beinahe unbeweglich. Und vollkommen willenlos.
"Kolumbini, Verschoor, Brandur, von Nachtschatten und Fromm, ihr bringt sie irgendwohin, wo sie weder sich noch andere verletzten kann. Und wenn es eine der Zellen ist!"
Ein Knäul aus Wächtern und Geschrei bewegte sich auf die Kellertreppen zu und veranlasste einen gerade aus der Waffenkammer nach oben kommenden und schwer beladenen Michael Machwas alles fallen zu lassen und sich erschrocken an die Wand zu drücken.
Derweil wandte sich Feldwebel von Grauhaar den zurückgebliebenen Wächtern zu.
"Die Besprechung ist beendet", schnaufte er, "Und ein paar von euch werden sich jetzt beeilen auf die Straße zu kommen! Schafft mir diesen Igor her!"



Laufen, laufen, laufen, erst rechts, dann zweimal links, scharf um die Ecke, stolpernd, möglichst allen Hindernissen ausweichend, nur weiter, weiter, weiter. Niemand hatte ahnen können, das es so enden würde.

"Verschon mich mit deinen Ausflüchten und rede endlich Klartext! Wir haben genug gegen dich in der Hand!"
Er konnte einem fast leid tun, allein im Verhörraum und der Wut des Feldwebels ausgesetzt, der mit riesigen Schritten Runde um Runde um den Tisch drehte und mit einer Lautstärke das Verhör führte, die wohl im ganzen Haus zu vernehmen war.
"Ich weif wirklich nicht, waf du von mir willft!" Die Stimme Igorowitschs, zu Anfang nur erstaunt, hatte mittlerweile einen tief verzweifelten Tonfall angenommen, er drehte sich auf seinem Stuhl von einer Seite zur anderen um Romulus im Blick zu behalten. Dieser beugte sich nun zu ihm hinunter, bis ihre Gesichter nur noch Zentimeter voneinander entfernt waren.
"Hör mir gut zu", grollte der Werwolf, "Eine meiner Mitarbeiterinnen sitzt seit einer geschlagenen Stunde und nach einem unerklärlichen Anfall von Raserei vollkommen reglos nebenan in einer Zelle und starrt die Wand an und du tätest besser daran mir zu verraten, wie man diesen Zustand beheben kann!"
Das Gesicht des Igors war ein einzigen Fragezeichen[5] und er hob mehrmals zu sprechen an, doch was schließlich dabei herauskam und die letzten Geduldsfäden des Feldwebels beinahe zum Zerreißen brachte, war: "Ich verftehe immer noch nicht ..."
Romulus von Grauhaar zerrte eine Blatt Papier hervor und knallte es dem Arzt vor die Nase. Es war die Rechnung, die Ophelia mitgebracht hatte.
"Grübelviel, Bratflink, Geizkraggen, diese Namen sagen dir nichts? Und dann ist da noch meine Ermittlerin, die erst heute in deiner Praxis war, das hier mitbrachte und nun nicht mehr sie selbst ist, ebenso, wie auch die anderen ein unleugbar mörderisches Verhalten an den Tag legten! Und sie waren alle, alle vorher bei dir! Das ist zu viel des Zufalls und wenn du weiterhin versuchst zu behaupten, dass das alles nichts mit dieser Hüppnose-Geschichte zu tun hat, die du durchgeführt hast ..."
"Aber, wie follte ich daf denn?"


Das verbleibende Stück Weg schien sich endlos in die Länge zu ziehen und es gab keine Garantie, dass sie noch rechtzeitig ankommen würden. Warum hatte man in solch einer Situation nur immer das Gefühl, man käme keinen Meter voran? Und wieso, bei allen Göttern, war man nicht einmal auf die Idee gekommen, sich den Eselkarren der Wache zu leihen? Doch zur Einsicht war es nun zu spät, es blieb nur der krampfhafte Versuch, das Stechen in der Lunge und das Taubheitsgefühl in den Beinen zu ignorieren und weiter zu sprinten.

"... ift daf verboten, die Methode der Hüppnofe ift schon fehr alt und darf traditionell nur von Igorf aufgeführt werden. Die korrekte Anordnung der Fteine ift eine wahre Kunft, von der ich leider nicht allfu viel Ahnung habe." Igor I. Igorowitsch machte eine lange Pause und starrte auf die Tischplatte vor sich. Man sah ihm den inneren Kampf regelrecht an, der in ihm tobte, die Gewissensbisse, die durch jede Pore nach draußen drangen. Doch jede Loyalität hat Grenzen. "Aber fie ift eine wahre Expertin auf diefem Gebiet und alf fie einef Tagef den Vorschlag machte, daff ich den Arft fpielen folle, während fie alf Affiftentin im Hintergrund unauffällig die entscheidende Arbeit verrichtete, habe ich natürlich nicht abgelehnt. Ich habe ef immer alf eine fehr schöne Art gefehen, Leuten fu helfen. Daf meine Herrin folche Abfichten hegte wuffte ich nicht und hätte ef auch nie von ihr gedacht. Nie hat fie mir etwaf befohlen, ftetf nur gebeten. Allerdingf hat fie die Grenfen, die felbft die Hüppnofe hat, nie wirklich akfeptieren können ..."

Endlich tauchte die weiße Fassade vor ihnen auf, unschuldig leuchtend im Licht der bereits sinkenden Sonne. Nun galt es also nur noch die wenigen Stufen empor zu hasten und zu hoffen, dass ...
Die Tür stand sperrangelweit offen und gestattete den Blick in einen Halle, die alle Anzeichen eines übereilten Aufbruchs zeigte: Einige kleine Taschen standen kreuz und quer im Raum verteilt, hier und da lagen die verschiedensten Objekte verstreut: Kleidungsstücke, Gebrauchsgegenstände, einige nicht näher definierbare Gerätschaften ... Auffällig war auch, dass man anscheinend großen Wert darauf gelegt hatte, keinen einzigen Wertgegenstand zurückzulassen, hastig geöffnete und zum Teil abgebrochene Schlösser von Schränken und Vitrinen und zerschlagene Glastüren von mit Samt ausgelegten Schaukästen sprachen eine eindeutige Sprache.
"Sucht ihr jemanden?" Aus dem Fenster eines der benachbarten Häuser äugte neugierig ein älterer Herr und lehnte sich besorgniserregend weit nach draußen. "Vielleicht eine kleine, braunhaarige Frau, die mit einer großen Tasche gerade eben aus dem Haus kam und eilig davon lief?" Er wies in Richtung Ankh.
Ein kollektives Seufzen entrang sich mehrerer Kehlen. Schon wieder rennen! Die RUM Wächter setzten sich erneut in Bewegung und vernahmen nur noch beiläufig den Ruf des Mannes am Fenster: "Ich helfe immer gern! Und oft! Wie wäre es mal mit einer Belohnung?"
Belohnung ... eine wahre Belohnung wäre die Erlösung von dieser wahnsinnigen Jagd, ein weicher Sessel, etwas zu trinken und den schmerzenden Füßen etwas Ruhe zu gönnen.
Erneut ging es im Eiltempo die Straße hinunter, doch schon nach einigen Metern bot sich ein Anblick, der dazu motivierte auch noch die letzten Kraftreserven zu mobilisieren: Nicht weit voraus war eine offensichtlich schwer bepackte Gestalt aufgetaucht, die mehr oder weniger schwankend gerade im Begriff war, die Sentimentale Brücke zu überqueren. Und die genau in diesem Moment einen raschen Blick zurück warf, für Sekunden erstarrte und unter dem Gewicht ihres Gepäcks zu stolpern begann. Sie taumelte gegen das Brückengeländer und musste wohl oder übel die schwere Tasche fallen lassen um nicht von ihr mit nach unten gerissen zu werden. Mit einem dumpfen Aufschlag landete diese auf dem Ankh. Die Gestalt, inzwischen eindeutig als junge Frau zu identifizieren, ließ ihren Blick zwischen dem Fluss und der nahenden Wächterschar hektisch hin und her flattern und gerade als der ihr erster Verfolger einen Fuß auf die Brücke setzte, entschied sie sich, den Weg ihres Gepäcks zu nehmen und sprang hinterher. Nur hatte die Dreckkruste des Flusses gerade an dieser Stelle der Wucht zweier Aufpralle hintereinander nicht viel entgegen zu setzten, knirschend brach der trockene Schlamm und ließ die Flüchtende bis zur Hüfte einsinken. Dennoch unternahm sie mehrere vergebliche Versuche freizukommen und richtete erst dann den Blick nach oben, als eine noch immer schwer keuchende Stimme sie direkt ansprach: "Julijenka Acerola, du bist verhaftet!"



Es war eine unschöne Angelegenheit gewesen, die "Assistentin" von Igor I. Igorowitsch aus dem Ankh zu ziehen und ins Wachhaus zu bringen. Die junge Frau schimpfte und fauchte, versuchte um sich zu schlagen und zeigte alles in allem nicht gerade das Verhalten, welches man von einer reumütigen Täterin erwartete.
"Es war perfekt!", zeterte sie, "Und so einfach! All die reichen Schnösel! Und außerdem wären sie sogar gesund geworden. Irgendwann, wenn ich es gewollt hätte!"
Ein vollständiges Geständnis zu bekommen erwies sich als überaus einfach: Julijenka Acerola erzählte geradezu stolz von ihren Fähigkeiten, auf den Gedanken, dass sie sich damit selbst schwer belastete schien sie gar nicht erst zu kommen: Es war ein Leichtes gewesen die Patienten so zu manipulieren, dass sie zusätzlich zu den ohnehin hohen Rechnungen regelmäßig kleine Vermögen an Acerola überschrieben und ihr immer wieder wertvolle Gegenstände zum Geschenk machten, ohne dies später in Frage zu stellen. Doch irgendwann hatten die immer wieder unter dem Einfluss von Hüppnose stehenden Personen begonnen, nicht mehr die eigenen, sondern fremde Besitztümer bei Julijenka abzuliefern [6]. Im Grunde hatte die junge Frau auch dagegen nichts einzuwenden gehabt: Unaufhaltsam durch absolute Willenlosigkeit hatten die Patienten auch immer gute Beute gemacht und selbst wenn sie einmal erwischt wurden und in irgendeiner Zelle zu sich kamen, hatten sie keinerlei Erinnerungen an das Vorgefallene. Aber mit dem Fall des Apothekers war die Sache dann endgültig aus dem Ruder gelaufen, die absolute Unaufhaltsamkeit ihrer Diebe wider Willen ließ sie vor keinem Hindernis Halt machen. Und sei es ein lebendes Wesen. Um zu retten, was zu retten war, versuchte sie schließlich, ihre Patienten nicht mehr willkürlich rauben zu lassen, sondern nur noch für Personen zu sensibilisieren, die ohnehin allein standen und die somit im Ernstfall niemand vermissen würde.
An dieser Stelle fing Julijenka an zu weinen und zu schreien, sie sei das Opfer, man hätte ihr die Kunst der Bewusstseinsbeeinflussung nicht ordentlich beigebracht, ja, beibringen wollen, sie hätte die Angelegenheit zum Ende nicht mehr kontrollieren können, nicht mehr gewusst, was sie eigentlich tat. Die Grenzen der Hüppnose ... letztendlich schien sie über all den Manipulationen selbst den Verstand verloren zu haben.
Romulus von Grauhaar setzte mit gemischten Gefühlen seine Unterschrift unter das letzte Schriftstück, welches vor ihm lag. Zwar war die wahre Täterin nun gefasst und man hatte die anderen drei Verdächtigen frei lassen können. Ophelia Ziegenberger war nur kurze Zeit nach Acerolas Verhaftung schlagartig wieder zu sich gekommen, ohne die geringste Ahnung, was eigentlich passiert war und wieso sie in einer Zelle saß. Die Morde waren lückenlos geklärt und die Abteilung konnte wieder eine mehr oder weniger geregelte Tätigkeit aufnehmen.
Aber für den Apotheker Johann Mörser, 58 Jahre, verwitwet, wohnhaft in der Straße der geringen Götter 34, war das alles zu spät gekommen - die Beweislast war schlicht zu erdrückend gewesen, man hatte die Assassinengilde nicht mehr hinhalten können und ihn am vorherigen Tag übergeben müssen. Einen, wie man nunmehr wusste, Unschuldigen. Doch nicht nur dieses Schicksal beschäftigte die Gedanken Feldwebel von Grauhaars: Wer wusste schon, wie viele andere Ahnungslose noch auf Julijenka Acerola vertraut hatten und für Straftaten verurteilt worden waren, für die sie nicht die geringste Schuld trugen?

ENDE
[1] Eine im Rückblick betrachtet reichlich absurde Variante, aber was sollte man in solch einer Lage anderes tun, als nach jedem Strohhalm zu greifen, der sich bot?

[2] "Fachbegriffe!"

[3] Aulophobie, Allodoxaphobie und Deipnophobie

[4] Diese war kaffeebraun.

[5] Sofern neben der langsam überhand nehmenden Angst noch Platz für ein solches bleib.

[6] "Wohl eine Nebenwirkung, wenn man die Behandlungfmethode fu oft anwendet. Daf kann man dann auch nicht mehr ändern", hatte Igorowitsch auf die Fragen der Wache hin betrübt gemeint.




Für die Inhalte dieses Textes ist/sind alleine der/die Autor/en verantwortlich. Webmaster und Co-Webmaster behalten sich das Recht vor, inhaltlich fragwürdige Texte ersatzlos von der Homepage zu entfernen.

Feedback:

Von Ophelia Ziegenberger

01.01.2008 15:25

</b><br><br>Eine sehr gut durchdachte und wirklich schön geschriebene (Pokal-) Single. Es hat mir sowohl Spaß gemacht, ihre Entstehung mitzubekommen, als auch das Resultat zu lesen. Die grundlegende Idee des eher psychologisch begabten Igors hat mir sogar ganz ausgezeichnet gefallen, erst recht im Zusammenhang mit dieser weiblichen Variante des durchgeknallten Meisters. Einziges Manko meinem persönlichen Empfinden nach war die etwas zu sehr in die Länge gezogene Szene bei den Gelehrten. Ich freue mich schon auf deine nächste Wachegeschichte, dieses Mal dann ohne Wortbegrenzung. ;)

Von Daemon Llanddcairfyn

01.01.2008 21:26

Die Story war etwas durchsichtig (Macht aber wahrscheinlich auch das jahrelange Wachedasein ;o), der Stil hat das aber super wett gemacht: Flüssig (vor-) zu lesen und gut zusammengesetzt machte es einfach Spaß, die Geschichte zu lesen.

Die Stadtwache von Ankh-Morpork ist eine nicht-kommerzielle Fan-Aktivität. Technische Realisierung: Stadtwache.net 1999-2024 Impressum | Nutzungsbedingugnen | Datenschutzerklärung