Der Hexer (Teil 3)

Bisher haben 2 bewertet.Du hast schon bewertet!

von Hauptfeldwebel Araghast Breguyar (FROG)
Online seit 04. 05. 2006
PDF-Version

Und hier spricht zum allerletzten Mal Eddie Wollas! Sie sind wirklich ein wahrhaft erstaunliches Publikum, das immer noch nicht genug von dem Grauen bekommen kann. Hier naht nun endlich der letzte Teil und ich kann Sie nur noch einmal warnen: Trauen Sie es sich wirklich zu, dem äonenalten Schrecken zu trotzen ohne den Verstand zu verlieren?

Dafür vergebene Note: 15

Fearless wretch, Insanity
He watches, lurking beneath the Sea
Great Old One, Forbidden Site
He searches
Hunter of the Shadows is rising...
(Metallica: The Thing that should not be)



Erwachen


Gern würde der Autor hier eine Beschreibung liefern wie das Licht des Mondes zähflüssig wie Sirup über die größte Metropole der Scheibenwelt kroch. Doch einige Wettergötter kamen ihm in die Quere und so beschränkte sich die Beschreibung des nächtlichen Ankh-Morpork auf dicke Bewölkung, zahllose Regentropfen, vereinzelt in den menschenleeren Straßen und Gassen flackernde Öllaternen, große Pfützen überall und einen Fluss der sich aufgrund des bereits Tage anhaltenden Dauerregens sogar damit rühmen durfte, zu fließen. Selbst die Gauner, Assassinen und übrigen nachtaktiven Bewohner der Stadt, deren Tätigkeiten an dieser Stelle eigentlich ausführlich beschrieben werden sollten, blieben in jener Nacht in ihren Unterschlüpfen. Eine seltsame, trügerische Ruhe ging von der Stadt aus als der Regen auf sie herniederprasselte. Eine Ruhe wie sie die Zwillingsstadt noch nie gekannt hatte.
Es war die Ruhe vor dem Sturm. [1]
Etwas braute sich zusammen, draußen auf dem Runden Meer, unbemerkt von den schlummernden Bewohnern der größten Stadt der Scheibenwelt. Eine Insel, lange verborgen unter den Wellen, war wie aus dem Nichts im Mittelpunkt der See erschienen. Dunkle, zerklüftete Türme krümmten sich in unmöglichen Winkeln gen Himmel. Blitze von einer ungesunden, grünlichen Farbe zuckten aus einer die absolute Schwärze verkörpernden Wolke herab, tasteten sich gleich grausig verkrümmten Klauen über die blasphemischen Bauwerke und zielten alle auf einen bestimmten Punkt in der Mitte dieser abscheulichen Stadt.
Eine sieben-plus-eins-eckige Platte aus schwarzem Granit war in den Boden eingelassen worden. Eingemeißelt in ihre Mitte waren ein dreigelapptes Auge und eine Zahl. Jene Zahl die ein Zauberer es niemals wagen sollte, laut auszusprechen.
888 - Die Nummer der Bestien
Auf diese Platte zielten die Blitze. Ein brennender Ring purer Energie umgab die Ränder des tonnenschweren Steins und mit jeder weiteren zuckenden Ladung nahm das Feuer an Intensität zu.
Und plötzlich bewegte sich das monströse steinerne Ungetüm langsam aufwärts...
Gleich einem einzigen gewaltigen Pulsschlag ließ eine Erschütterung die gesamte Insel die nicht sein durfte erbeben. Von dort aus pflanzte sich das Echo des Schlages in konzentrischen Ringen fort, über sturmzerfetzte Wellenkämme und zu Asche verbrannte Küstendörfer, bis es schließlich über das still im Regen daliegende Ankh-Morpork hinwegflutete.
Der mit Abstand größte Teil der Bürger blieb bis auf einige seltsame Traumbilder, die sich rasch wieder verflüchtigten, völlig unbeeindruckt. Doch in einem kleinen, unbeheizten Zimmer in der Kurzen Straße begann ein an Schlaflosigkeit leidender Künstler, beinahe verzweifelt mit Hammer und Meißel auf eine Steinplatte einzuschlagen und das Relief eines tintenfischartigen Ungeheuers mit Flügeln und neun-minus-eins Tentakeln vor dem Mund zu erschaffen. An einem anderen Ort fiel der Hohepriester des siebenhändigen Sek aus dem Bett und wälzte sich schreiend auf dem Boden als er glaubte, von zahllosen schleimigen Tentakeln gepackt zu werden. Im Tempel der Geringen Götter fielen mehrere Götzenbilder von der Wand und zersprangen in zahllose Stücke. Frau Willichnicht erwachte schlagartig und beschloss sofort, sich am nächsten Morgen bei der Wache über lautlose plötzliche nächtliche Ruhestörung zu beschweren. Die Insassen des Nussbaum-Sanatoriums für Geisteskranke begannen, scheinbar ohne erkennbaren Grund, in ihren Zellen zu toben und nicht einmal mit Schlafmittel getränkte Blasrohrpfeile konnten sie beruhigen.
"Ph'nglui mglw'nafh Cthulhupalhulhu Leshp wgah'nagl fhtagn!!!!!" kreischten sie und der Klang ihrer Stimmen ließ den Angestellten des Hauses das Blut in den Adern gefrieren.
Der ertrunkene Cthulhupalhulhu, Herr des Schreckens und der ewigen Verdammnis, war zurückgekehrt, bereit, die Scheibenwelt in Wahnsinn und Verzweiflung zu stürzen.

Godric Adana, Hexer von Ankh


Araghast konnte immer noch nicht anders, als den Mann, der dort mit dem Hut in den Händen lässig an das Zellengitter gelehnt dastand, einfach nur anzustarren. Seit Tagen hatten seine drei Verbündeten und er die Stadt durchsucht um ihn zu finden, und nun stand das gesuchte Subjekt hier in einer Arrestzelle im Wachhaus und tat, als sei dies die natürlichste Sache der Scheibenwelt. Die schneeweiße Strähne im Haar des Hexers schien im Zwielicht des Verließes von innen heraus zu glühen.
"Da brat mir einer einen tollwütigen Haifisch." brachte der Feldwebel schließlich hervor.
"Ich glaube nicht, daß so etwas besonders gut schmeckt." stellte Godric Adana trocken fest. "Ist Ihnen nicht gut?"
"Mir geht es so mies wie einer Ratte nach drei Wochen Ernährung mit Schnappers bestem Rattengift." Langsam aber sicher kehrte Araghasts Schlagfertigkeit zurück. Erschöpft ließ er sich gegen das Gitter der gegenüberliegenden leeren Zelle fallen. Er hatte geschafft, weshalb dieser Kraftlieb ihn in diese verdammte falsche Realität versetzt hatte. Bald würde dieser absurde Alptraum hoffentlich endlich vorbei sein.
Der Hexer hob eine Augenbraue.
"Das ist gar nicht gut." sagte er ruhig. "Ich brauche Sie noch, um hier herauszukommen. Außerdem interessiert es mich, was genau Sie in Ihrem Wutausbruch vorhin meinten."
"Also sind Sie bereit, uns zu helfen?" fragte Araghast.
Die scharf geschnittenen Gesichtszüge Godric Adanas verhärtete sich plötzlich und der Wächter meinte einen flüchtigen Moment, einen Anflug von Schmerz im Antlitz des Mannes entdeckt zu haben.
"Ob ich bereit bin?" Mit der Stimme des Hexers hätte man Stahl zerschneiden können und seine durchdringenden eisblauen Augen fixierte den Feldwebel. "Habe ich denn die Wahl?"
"Nein." Nur mit Mühe hielt Araghast dem stechenden Blick stand. "In dieser Sache haben wir vermutlich alle keine Wahl, weder Sie noch ich."
"Wie wahr." bekam er spöttisch zur Antwort. Während Araghast die Zellenschlüssel vom Haken an der Wand nahm tippte ihm ein winziger Teil seines Erinnerungsvermögens auf die metaphorische Schulter und schob ihm eine Botschaft zu. Schlagartig ihm wurde bewusst, daß er diesem Mann irgendwo schon einmal begegnet war. Und bei dem Ort dieser Begegnung hatte es sich nicht um ein Romanheft von Eddie Wollas gehandelt.
"Hören Sie zu, ich lasse Sie jetzt zusammen mit Ihrem Stockdegen, der hier irgendwo herumliegen muss, gehen." erklärte der Feldwebel, während er sein Gehirn nach einer bewussten Reminiszenz absuchte. "Aber vorher gibt es noch einen Haufen Sachen die ich wissen will."
"In Ordnung." Der Hexer von Ankh schien zu seiner ursprünglichen ruhigen, leicht überlegen wirkenden Lässigkeit zurückgefunden zu haben. "Was wollen Sie wissen?"
Araghast atmete tief durch und klappte seinen Notizblock auf, während er den Fakt der früheren Begegnung vorläufig in die hinteren Regionen seines Bewusstseins verbannte.
"Erstens." sagte er beinahe feierlich. "Wer ist Philipp Howards Kraftlieb?"
Für einen Bruchteil einer Sekunde glaubte er, einen Ausdruck des Erstaunens über das markante Gesicht des Hexers huschen zu sehen, bevor dieser sich wieder völlig unter Kontrolle hatte. Nachdenklich strich sich Godric Adana mit der freien Hand über den Bart.
"Philipp Howards Kraftlieb." wiederholte er langsam. "Es ist außerordentlich seltsam, daß Sie ihn erwähnen. Ich habe ihn seit mittlerweile gut zwanzig Jahren nicht mehr gesehen."
"Dann kennen Sie ihn?" hakte Araghast nach.
"Er war mein Mentor." sagte der Hexer. "Nachdem ich, gezeichnet von den Dingen die nicht sein durften und ohne jegliche Erinnerungen an mein früheres Leben, erwacht war, kümmerte er sich um mich. Er gab mir eine Identität und lehrte mich den Gebrauch meiner Magie und meiner Kräfte."
"Hat er Ihnen Bücher gezeigt die er geschrieben hat? Der Ruf des Cthulhupalhulhu vielleicht?"
"Der Name sagt mir leider gar nichts."
"Schade." Araghast seufzte. "Dann hatten Sie niemals Grund zur Annahme, daß Kraftlieb keine reale Person ist?" stellte er die Frage, die ihm am meisten unter den Nägeln brannte.
"Ich weiß nicht, wer er war, oder was er war, oder woher er das Wissen über die verbotenen Dinge und die Hexermagie hatte." kam die kühle, distanzierte Antwort. "Eines Morgens verschwand er einfach und seitdem bin ich ihm nie wieder begegnet. Nur in einem bin ich mir sicher. Wenn er nicht gewesen wäre würde ich schon lange nicht mehr leben."
Schwungvoll stülpte sich Godric Adana seinen Hut auf den Kopf und das Schimmern der schneeweißen Haarsträhne verschwand unter dem schwarzen Filz.
Verdammt, dachte Araghast, und machte sich eine entsprechende Notiz. Spurlos verschwunden vor zwanzig Jahren und seitdem keine Spur von Kraftlieb, bis er plötzlich anfing, Löcher in die Realität zu bohren und Personen durch selbstverfasste Bücher in andere Welten zu schubsen.
"Meine Freunde und ich glauben, daß Kraftlieb eine Art Geist ist." sagte er. "Einmal erschien er auf der Mauer der Unsichtbaren Universität in unserer Heimatwirklichkeit. Es regnete und er war nicht im geringsten nass. Dann ein zweites Mal tauchte er geradewegs aus dem Nichts im Arbeitszimmer einer Bekannten auf und verschwand auf die gleiche Weise wieder. Und behaupten Sie nicht, daß das normal ist!"
Der Hexer hob eine Augenbraue.
"Das ist ja wirklich sehr interessant." Leichter Spott schwang in seiner Stimme mit. "Mir selbst erschien er immer recht wirklich. Er aß, er trank, er schlief und er rauchte beinahe pausenlos abscheulich stinkende Zigarren. Und sein Händedruck hatte die Eigenschaft, ziemlich kräftig zu sein."
"Aber wenn er kein Geist ist, was ist er dann?" fragte Araghast patzig. Wehe Adana, wenn er ihn nicht ernst nahm... Der Zellenschlüssel befand sich immerhin in seinen Händen. "Ein normaler Mensch ist er jedenfalls auf keinen Fall."
"Spielt das jetzt eine Rolle?" Der Tonfall des Hexers wurde scharf. "Ich würde gern weiter mit Ihnen über meinen alten Lehrmeister plaudern, aber zur Zeit gibt es weitaus wichtigere Dinge um die ich mich kümmern muss. Der besessene Zombie den ich bekämpft habe war nur ein winziger Brocken des Ganzen. Und nach Edwards Hinrichtung bin ich völlig allein in meinem Kampf gegen die Dinge die nicht sein dürfen. Was auch immer der Schote im Körper Bernicio Cassawars angerichtet hat, es ist bereits geschehen und wir dürfen keine Zeit verlieren."
"Aber Kraftlieb ist verdammt noch mal wichtig!" protestierte Araghast. "Immerhin hat er es zu verantworten, daß sich vier Personen in der falschen Realität befinden! Er hat uns hierher geschickt um Sie zu finden!"
"Und dann?" fragte Godric Adana nur. "Wenn Sie mich sozusagen gefunden haben?"
Araghast schnaubte wütend. Ihm dämmerte, sehr zu seinem eigenen Missfallen, daß der Hexer recht hatte. Niemand wusste was sie tun sollten, wenn sie gefunden hatten, weswegen sie hierhergeschickt worden waren.
"Keine Ahnung." murmelte der Feldwebel und begann, sich nach der Flasche in der untersten Schublade seines Schreibtisches zu sehnen. Wieder einmal beschlich ihn das Gefühl, nur eine Figur in einem großen Spiel zu sein, dessen Regeln er nicht kannte. "Kraftlieb hat uns nicht gesagt, was er als nächstes plant."
"Soso." Wieder dieser leicht spöttische Tonfall, den Araghast langsam aber sicher zu hassen begann. "Nun, wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann können Sie mich ja erst einmal freilassen, bis mein alter Freund Philipp Ihnen den nächsten Hinweis gibt."
Araghast trat einen Schritt zurück, den Schlüsselbund provozierend lässig an seinem Zeigefinger hin- und herschwingen lassend. Wenn der Hexer von Ankh meinte, seine Spielchen mit ihm treiben zu müssen - es gab Mittel und Wege zu bekommen, was er wollte.
"Keine Angst, ich lasse Sie hier schon heraus, wenn Sie mir einen Gefallen tun." sagte er ruhig. "Ich muss Sie morgen wiedersehen und in Ruhe mit Ihnen reden. Versprechen Sie mir, daß wir beide uns morgen früh um Punkt halb zehn in der Chrononhotonthologosstraße vor dem Haus mit der Nummer zweiundsiebzig treffen. Dort ist eine Toreinfahrt in der sich auf der rechten Seite eine Haustür befindet."
"Woher kennen Sie diese Adresse?" schnappte der Hexer und beugte sich vor.
"Oh, Sie kennen sie auch?" gab Araghast zurück.
"Und wie ich sie kenne. Bis vor drei Tagen, als die Männer der Sondergruppe Ankertaugasse Edward auf Befehl des Patriziers zum Galgen schleiften, lebte und arbeitete er dort. Edward war der fähigste Okkultist dieser Stadt. Und ein guter Freund." fügte er ein wenig leiser hinzu.
"Ich weiß nicht wie es um Edward steht, aber eine Dame, die in meiner Realität dort lebt und auf den Namen Edwina hört, ist, zumindest heute Abend, noch sehr lebendig gewesen." bemerkte Araghast. "Und sie brennt auch geradezu darauf, mit Ihnen zu sprechen."
Godric Adana seufzte leise.
"Die Sache scheint doch komplizierter zu sein als es scheint." räumte er nach einer kurzen Pause ein. "Ich werde kommen, das verspreche ich Ihnen bei meiner Ehre als Hexer von Ankh. Jetzt würde ich nur noch gern Ihren Namen erfahren."
"Araghast Breguyar." stellte sich der Feldwebel vor und schob den Schlüssel ins Schloss der Zellentür.
Ein dumpfer, tiefer Ton an der untersten Schwelle des akustischen Wahrnehmungsbereiches hallte gleich einem Glockenschlag durch das Gebäude und ließ die Fundamente kaum merklich erzittern.
"Thuuuul" schien eine körperlose Stimme zu flüstern.
Verwundert hielt Araghast in seiner Betätigung inne.
"Was war das?" fragte er und blickte Godric Adana fragend an, während sich auf seinem Nacken völlig ungewollt eine Gänsehaut bildete.
Der Hexer schien völlig in sich selbst versunken zu sein. Seine knochigen Hände krallten sich um die Gitterstäbe der Zellentür als würden sie Halt suchen, und seine Augen waren geschlossen.
"Entschuldigung?" Araghast räusperte sich vernehmlich und drehte den Schlüssel zum letzten Mal im Schloss herum.
Scharf sog der Hexer die abgestandene Kerkerluft ein.
"Er ist erwacht!" zischte er und packte den Feldwebel durch das Gitter hindurch an der Schulter. "Das Portal zum Abgrund ist geöffnet worden! Er wird kommen!"
Obwohl Godric Adana es nicht erwähnt hatte konnte sich Araghast nur zu gut denken, bei wem es sich um Sie handeln musste. Und dieses Wissen gefiel ihm ganz und gar nicht.

Nachtmahr


Noch Sekunden zuvor waren Kamerun Quetschkorns Träume von dem Gesicht Britia Nachtwinds erfüllt gewesen. Die junge Barbarin hatte sich an ihn geschmiegt und ihm zärtliche Worte der Zuneigung ins Ohr geflüstert.
Doch schlagartig waren sowohl Britia als auch das sanft erleuchtete Schlafzimmer verschwunden und er stand in einem runden, gemauerten Zimmer. Festgekettet auf einen schlichten Steinblock lag ein junger Mann mit angespitzten Ohren. Er war nackt bis auf einen Lendenschurz und sein langes, dunkles Haar hing ihm wirr um das Gesicht. Neben ihm stand eine rothaarige Frau, ihr Blick seltsam entrückt. Ein juwelenbesetzter Dolch glitzerte in ihren Händen.
"Thuuuul!" wisperte eine Stimme und eine in schwarze Gewänder gekleidete Gestalt trat aus den Schatten. Ihr Gesicht war unter einer Kapuze verborgen.
"Nein! Meister! Das kannst du mir nicht antun!" kreischte der festgekettete spitzohrige Junge.
Kameruns Hand versuchte, nach dem Schwert zu greifen um dem Gefangenen zu Hilfe zu eilen, doch er konnte keinen Muskel rühren. Hilflos musste er mit ansehen, wie der Schwarzgewandete näher trat.
"Niemand wird dich retten." wisperte die Gestalt. "Du hast geschworen, mir zu dienen. Also sei still und erfülle dein Schicksal!"
Mit diesen Worten schob der Unbekannte die Kapuze von seinem Kopf.
Selbst in seinem Zustand der erzwungenen Starre erstarrte Kamerun noch einmal innerlich. Das Gesicht seines Bruders blickte ihm entgegen, die ernsten stahlgrauen Augen kalt und tot.
"Nein, Kleiner! Du weiß nicht, was du tust!" brüllte der Kämpfer mit aller Kraft. "Raistan! Komm zurück!"
"Warum sollte ich, Bruder?" Die Stimme des jungen Zauberers erklang mit einer Kraft, die sie im Leben nie besessen hatte. "Mein Leben gibt mir nichts außer Schmerzen, Schwäche und dem Mitleid anderer. Jetzt habe ich die Chance, nicht mehr bedauert, sondern endlich respektiert und gefürchtet zu werden, so wie es mir zusteht! Die Macht der URALTEN RIESEN steht hinter mir! Bald werde ich der mächtigste Mann der Scheibenwelt sein und selbst du wirst vor mir niederknien!"
"Du... Du bist nicht du selbst." stammelte Kamerun und so sehr er es auch versuchte, der Blick seines Bruders ließ ihn nicht entkommen.
"Ich bin was ich immer sein wollte." fauchte Raistan und nahm den Dolch aus den Händen der völlig teilnahmslos scheinenden Frau. "Der Meister über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Komm her und versuche doch, mich daran zu hindern." Die Klinge schien regelrecht zu gleißen als sie über dem Hals des sich immer noch verzweifelt wehrenden Opfers schwebte. "Glaube mir, wenn es sein muss, werde ich auch dich töten."
Und während er diese Worte sprach veränderten sich seine Augen. Die stahlgraue Iris verwandelte sich in funkelndes Gold und die Pupillen begannen, sich in der Mitte zusammenzuschnüren, bis sie schließlich die Form von Stundengläsern angenommen hatte. Kamerun kannte diese Augen. Sie waren das Zeichen dafür, daß die URALTEN RIESEN die Seele seines Bruders in Besitz genommen hatten. Unaufhörlich zog der pechschwarze Abgrund hinter diesen vom absoluten Bösen pervertierten Augen ihn an.
Plötzlich war der gesamte Spuk vorbei. Kamerun stand auf einer hohen, windumtosten Klippe und blickte auf ein aufgewühltes Meer hinaus. Er kannte diesen Ort. Erst vor wenigen Tagen war er schon einmal dort gewesen.
Vorsichtig sah er an sich herunter. Über seiner muskulösen Brust spannte sich das T-Shirt mit der Aufschrift Näharbeiten, Knieweich und Musik mit Steinen drin. Als er tief durchatmete nahm er einen üblen Gestank wahr, welcher von den Sturmböen herangetragen wurde.
Ph'nglui mglw'nafh Cthulhupalhulhu Leshp wgah'nagl fhtagn
Die Worte manifestierten sich in seinem Verstand ohne den Umweg über das Gehör genommen zu haben. Kamerun fühlte sich, als würde sein Knochenmark auf der Stelle zu Eis gefrieren. Die Stadt mit den unmöglichen Türmen die sich krallengleich gen Himmel reckten. Sie musste irgendwo dort draußen sein. Er konnte ihre Präsenz, den konzentrierten bewusstseinszerreißenden Wahnsinn den sie ausstrahlte, deutlich spüren. Dort lauerte etwas, das millionenmal schlimmer war als der Tod.
"Großer!"
Die Stimme seines Bruders wurde vom Sturm beinahe fortgeweht. Hektisch sah Kamerun sich um. Auf den grasbewachsenen Klippen war keine Spur von Raistan zu sehen.
"Ich bin hier, Großer!"
Dieses Mal war die leise, brüchige Stimme deutlicher zu hören und Kamerun stellte entsetzt fest, daß sie ihren Ursprung irgendwo dort draußen auf dem Meer haben musste.
"Kleiner!" brüllte er mit aller Kraft. "Wo bist du?"
"Hier draußen! Sie haben mich!"
Er kannte diesen krächzenden, flüsternden Tonfall. Er trat normalerweise auf wenn sein Bruder vor Schmerzen kaum sprechen konnte.
"Halt durch!" schrie Kamerun zurück. "Ich rette dich!"
"Du kannst mich nicht retten, Großer." Die Stimme klang unendlich traurig. "Niemand kann mich mehr retten. Ich bin verdammt und verloren für immer und ewig."
"Neiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiin!"
Der Schrei des jungen Kämpfers übertönte den Sturm mühelos als er sich von der Klippe in das aufgewühlte Meer stürzte um seinen geliebten kleinen Bruder zu retten.
Der Fall schien eine Ewigkeit zu dauern und die Umgebung verschwamm vor seinen Augen. Dann verfärbte sich alles um ihn herum schwarz.

Hart schlug Kamerun auf dem Boden auf und sein erster Reflex war es, sich abzurollen. Seine Hände griffen in dicken Teppichboden und seine Beine hatten sich hoffnungslos in etwas Weiches verheddert. Als er die Augen öffnete erblickte er die Beine des Sessels in dem er geschlafen hatte, sowie den geschwungenen Holzfuß von Edwina Walerius' Rauchertischchen und plötzlich fiel ihm wieder ein, wo er sich befand. Alles war nur ein Traum gewesen.
Keuchend setzte er sich auf und lauschte dem Pochen seines Herzens in seinen Ohren. Ein Rest des Grauens, das ihn während des Schlafes überwältigt hatte, verweilte immer noch tief in seinem Bewusstsein.
Du kannst mich nicht retten, Großer. Niemand kann mich mehr retten. Ich bin verdammt und verloren für immer und ewig.
Die Stimme hallte wie fernes Hohngelächter in seinem Kopf wieder. Mit einem leisen Schrei sprang Kamerun auf die Füße, griff nach seinem Schwert und stürmte aus dem Arbeitszimmer, über den Flur und in das kleine Gästezimmer.

Vor ihm erstreckte sich ein schmaler Gang mit gewölbter Decke. Eine einsame Fackel in einer Wandhalterung spendete flackerndes, trübes Licht und unheimlich anzusehende Schatten tanzten auf den gemauerten Wänden.
Verwirrt sah Raistan sich um. Der Ort an dem er sich befand wirkte seltsam vertraut. Doch wie war er plötzlich aus Edwina Walerius' Gästezimmer hier hergekommen? Träumte er?
Und dann bemerkte der junge Zauberer, daß ihm etwas ganz Entscheidendes fehlte. Seine Hände waren leer und nichts strich ihm um die Waden wenn er sich bewegte.
"Komm!" zischte eine Stimme aus den Schatten. "Was hast du?"
"Einen Moment." antwortete Raistan beinahe automatisch. "Ich muss mal eben kurz nachdenken."
Hier stand er, ohne seinen Zauberstab. Statt langen Gewändern trug er die schwarzen Kleider eines Assassinen und ein Degen baumelte von seinem Gürtel. Vorsichtig tastete er nach seinem Haar und war kaum noch überrascht, es glatt und streng nach hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden vorzufinden. Doch es fühlte sich noch etwas anderes nicht richtig an. Der Druck auf seiner Brust, das ständige Gefühl, durch einen Strohhalm zu atmen, war verschwunden.
Versuchshalber holte Raistan tief Luft und ließ sie langsam wieder durch die Zähne entweichen. Gleichzeitig ballte er seine Hand zur Faust und spürte eine ungewohnte Kraft in seinen Fingern. Was auch immer passiert war und wo er sich befand - er war zum ersten Mal in seinem Leben gesund.
Die flüsternde Stimme aus der Dunkelheit lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die Umgebung. Nun, da sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten konnte er die Umrisse einer Gestalt in dem Gang vor sich entdecken, die ihm hektisch winkte.
"Los, Hundefreund! Wir müssen uns beeilen!"
Raistan nickte und drückte sich an der Wand entlang bis er seinen Begleiter eingeholt hatte. Was auch immer hier geschah, er hielt es für das Klügste, vorerst mitzuspielen. Wer auch immer dahintersteckte schien irgend etwas zu bezwecken.
Das Licht der Fackel verschwand hinter einer Biegung des Ganges und tiefe Dunkelheit senkte sich über die beiden vorwärtshastenden Eindringlinge.
"Fiat lux" murmelte Raistan und schnippte mit den Fingern, doch zu seiner Überraschung geschah nichts. Enttäuscht stellte er fest, daß er mit seinem neuen Körper anscheinend auch seine magischen Fähigkeiten verloren hatte. Er begann sich zu fragen, ob es sich bei der ganzen Sache um eine Art Test handelte. Während er sich geräuschlos durch die Finsternis bewegte regte sich in ihm die Erinnerung an Kameruns Alpträume. Sein Bruder hatte das Grauen der URALTEN RIESEN in den letzten Tagen oft genug durchgemacht. Raistan begann zu befürchten, daß ihm etwas Ähnliches bevorstand.
Plötzlich gewahrte er vor sich einen schwachen grünlichen Lichtschimmer und ein leises, dissonantes Brummen klang in seinen Ohren. Ein Chor sang dort vorn, ein Orchester aus Stimmen, welches sämtliche Regeln der Harmonie ignorierte und eine grausige Parodie des Belcanto schuf. Ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken. Er hatte Recht gehabt. Es war einer dieser Alpträume.
Sein Begleiter schlich derweil unbeeindruckt vorwärts und Raistan konnte gar nicht anders, als ihm zu folgen. Überrascht bemerkte er, daß er trotz des zügigen Tempos noch nicht einmal merklich außer Atem gekommen war. Normalerweise würde er mittlerweile nach Luft ringend an der Wand lehnen.
Der ungesunde grünliche Lichtschimmer wurde heller und heller.
Vorsichtig spähte Raistan um die letzte Biegung des Ganges und wusste schlagartig, wo er sich befand.
Auf einem mannshohen Dreifuß, der in der Mitte einer gewaltigen Kaverne stand, brannte ein Feuer mit grüner Flamme. Sieben plus eins Gestalten in dunklen Kapuzenmänteln standen im Kreis auf den Zacken eines gewaltigen in den Boden eingelassenen Oktagramms und hoben und senkten in einem gleichmäßigen Rhythmus die Arme. In die ihm zugewandte Wand war das Bild eines dreigelappten Auges eingemeißelt worden. Drumherum prangte in riesigen Lettern ein Spruch.

Non mortuum est quid potest vivere eternam, et in tempore alieno etiam mortuum potest mori.

Er befand sich in dem unterirdischen Tempel unter Herrn Hongs Imbiss, vor fünfundzwanzig Jahren, in der Nacht als die verrückten Kultisten eine Monstrosität aus den Kerkerdimensionen beschworen und allesamt den Tod gefunden hatten.
Langsam aber sicher schien das Ritual seinem Höhepunkt entgegenzustreben.
Die Armbewegungen der vermummten Männer wurden hektischer und die Lautstärke des Gesangs schwoll an, um schließlich in einer Kakophonie von dissonanten Klängen zu enden.
Für einen Moment herrschte absolute Stille in der Höhle.
Dann begann eine einzelne, schräg klingende Stimme zu sprechen.
"Shi'rak Azathoth Cthuga Shudde-Mell Niggurath Tsathoggua Schodagoi!" kreischte sie.
"Thuuuuul" antworteten die Übrigen im Chor und wandten sich der mit dem Auge verzierten Wand zu.
Aus dem Augenwinkel sah Raistan, wie sein Begleiter eine Pistolenarmbrust gezogen hatte und damit auf einen der Beschwörer zielte. Mit einem schnappenden Geräusch schoss der Bolzen von der Sehne und bohrte sich in den Rücken des Opfers, welches auf der Stelle in sich zusammensackte. Die übrigen Kultisten schienen nichts zu bemerken und fuhren mit ihrer unheiligen Anbetung fort.
"He, Hundefreund!" fauchte der unbekannte Assassine plötzlich, während er seine Waffe neu lud. "Tu gefälligst was! Der Auftrag gebührte uns beiden, also fang endlich an!"
Da Raistan nicht wusste was er sonst tun sollte, zog er den Degen aus der Scheide. Sein Wissen über lange Klingenwaffen beschränkte sich auf die Tatsache, daß man selbige am stumpfen Ende festhielt und mit der Spitze in irgendeiner Form versuchte, den Gegner zu verletzen.
Der korbbewehrte Griff der Fechtwaffe lag überraschend angenehm in seiner Hand. Doch während der junge Zauberer noch darüber nachgrübelte, wie man eine solche Waffe schwang ohne sich versehentlich selbst den Kopf abzuschlagen, und der zweite Beschwörer mit einem Bolzen im Rücken zusammenbrach, sah er es.
An der Wand, direkt vor dem Relief des Auges, erhob sich ein gewaltiger schwarzer Schatten, der mit einem auch nur entfernt humanoiden Wesen nicht das geringste gemein hatte. Unzählige mit weit aufgerissenen Mäulern bestückte Tentakel zuckten wild umher, während das Ding immer mehr an Substanz gewann.
Raistan biss sich auf die Lippen, unfähig seinen Blick von dem grausigen Geschehen abzuwenden. Sein gesamter Körper war wie erstarrt. Er hatte diesen Schatten schon einmal gesehen, damals an der Wand von Emanuel Kaboltzmanns Labor. Das Grauen überschwemmte ihn und verzerrte Stimmen begannen, in seinem Kopf zu flüstern.
Ph'nglui mglw'nafh Cthulhupalhulhu Leshp wgah'nagl fhtagn
"Nein!" schrie er und hob den Degen. "Das ist alles nur ein Traum! ich lasse mich von euch nicht an der Nase herumführen!"
Die peitschenden Tentakel hielten in ihrer Bewegung inne.
"Thuuuuul" sangen die verhüllten Gestalten.
Urplötzlich löste sich das schattige, tentakelbewehrte Wesen von der Wand und kam mit einer unbeschreiblichen Schnelligkeit direkt auf Raistan zu.
Dieser schwang unbeholfen seine Waffe und zerschnitt leere Luft. Das Ding war schnell. Selbst in diesem gesunden, kräftigen Körper würde er keine Chance haben, zu entkommen. Und seine Magie hatte ihn verlassen, ganz abgesehen davon, daß er damit gegen das Ungeheuer nichts ausrichten konnte. Doch wenn er kämpfte... Sein ganzes Leben lang hatte er einen aussichtslosen Kampf nach dem anderen gegen sich selbst geführt. Da konnte er zur Abwechslung auch einmal gegen einen Traum verlieren.
Während er sich noch verzweifelt daran zu erinnern versuchte, was sein Bruder ihm einmal über die richtige Kampfhaltung erzählt hatte, schoss ein einzelner Tentakelarm vor und traf ihn an der Stirn. Raistan verspürte einen stechenden Schmerz und warmes Blut lief ihm über das Gesicht und in die Augen. Während er auf die Knie sank nahm er schemenhaft eine Gestalt wahr, die an ihm vorbeisprang.
"Parqua Le'i al Dumak" brüllte eine dunkle Männerstimme.
Mit dem Handrücken wischte sich Raistan das Blut aus den Augen. Ihm bot sich ein schier unbeschreibliches Schauspiel dar. Mehrere der Kultisten lagen von Tentakeln zermalmt am Boden, während ein elegant gekleideter Mann die mäulerbewehrten Extremitäten mit einer schlanken Waffe im Schach hielt, deren Knauf in smaragdgrünem Licht erglühte. Eine einzelne schneeweiße, wie ein Blitz geformte Haarsträhne zierte den dunklen Schopf des Fremden. Wo der Degen des Mannes in das blasphemische Fleisch der Monstrosität schnitt, begann die Gliedmaße innerhalb von Sekunden zu verdorren.
Ein nervenzerreißender Schrei übertönte alle anderen Geräusche und urplötzlich bohrte sich etwas in Raistans Schulter.

Unsanft packte Kamerun die schmale Gestalt, von der nur eine lange Haarsträhne unter der Decke hervorschaute, an der Stelle wo er die Schulter vermutete und schüttelte sie kräftig.
"Sie werden dich nicht kriegen!" rief er. "Dafür sorge ich!"
Etwas regte sich in den Tiefen des Bettes. Eine zarte, knochige Hand kam unter der Decke hervorgeschossen und hieb mit der Kante auf seinen Arm ein.
Kamerun gefror das Blut in den Adern. Hektisch riss er die Decke weg, packte die Handgelenke seines sich immer noch wehrenden Bruders und hielt sie mit mühelos mit der Linken fest.
"Du kriegst ihn nicht, du Cthulhupalupludingsbums!" fauchte er dabei. "Erst kriegst du es mit mir zu tun! Ich mach Kleinholz aus dir wenn du ihm auch nur ein Haar krümmst!"
Raistans entsetzter Blick ließ ihn innehalten.
"Geht es dir gut?" schrie er beinahe und zog den zerbrechlichen Körper seines Bruders an sich.
"Wie soll es mir schon großartig gehen." murmelte Raistan schlaftrunken und lehnte seinen Kopf gegen die muskulöse Schulter des Nachwuchshelden. "Ich sollte eher fragen, ob es dir gut geht, wenn du mich mitten in der Nacht überfällst."
"Ich war wieder dort." sagte Kamerun tonlos. "Am Meer. Ich habe sie nicht gesehen, aber ich wusste, daß diese Insel mit den abartigen Türmen wieder da war. Und ich hab das Böse gefühlt. Es war schlimmer als das, was uns im Fischimbiss berührt hat. Tausendmal schlimmer. Und es hatte dich. Du sagtest, ich kann dich nicht mehr retten. Aber ich wollte es nicht glauben." Wie zur Bestätigung seiner Worte strich er seinem Bruder über das Haar.
"Sie wollen dich verrückt machen." sagte Raistan leise. "Seit wir in diesem verfluchten Imbiss gewesen sind, haben sie dich im Schlaf in ihren Klauen. Genau wie Ewein unter seinen Halluzinationen litt." Er musste husten. "Ich habe heute Nacht auch etwas Seltsames geträumt." fuhr er nach einer kurzen Pause fort, "Es war alles so seltsam real. Im Körper eines Assassinen war ich dort unten im Fischimbiss und bekam die Beschwörung des Ungeheuers das nicht sein darf hautnah mit, im wahrsten Sinne des Wortes." Unwillkürlich tastete er nach seiner Stirn. "Habe ich dort irgendwas, Großer?"
"Nein, warum?"
Raistan schloss die Augen.
"Das Ding hat mich im Traum verletzt." wisperte er müde. "Beziehungsweise den Assassinen. Vetinari oder Cassawar. Und wenig später starben sie beide und ich hätte wahrscheinlich auch noch meinen eigenen Tod geträumt wenn du mich nicht geweckt hättest."
"Sag nicht sowas!" Kamerun bekam es mit der Angst zu tun. "Vielleicht können die Biester mit Träumen töten!"
Doch sein Bruder schüttelte nur den Kopf.
"Ich glaube nicht, daß dieser Traum von den Dingen stammte. Es war vielmehr als wollte mir jemand etwas mitteilen. Und zwar, was wirklich geschah, damals vor fünfundzwanzig Jahren in dem Tempel des Thagon."
"Ich will es gar nicht wissen." erklärte Kamerun und bettete Raistan wieder in die Kissen. "Und du ruhst dich jetzt aus. Morgen..." Er verstummte. Sein Gefahreninstinkt ließ seine Nackenhaare zu Berge stehen.
"Morgen passiert etwas." sagte der Nachwuchsheld dumpf. "Und es ist nichts Gutes."
"Breguyar wird auf jeden Fall eine Menge Ärger bekommen nach dem was wir uns gestern Abend geleistet haben. Ich hoffe nur, daß sie ihn nicht sofort in den Kerker werfen."
Kamerun streckte sich neben seinem Bruder auf dem Bett aus.
"Das wollte ich dich schon heute Abend gefragt haben aber du warst zu müde. Was hältst du von dem Kerl?"
Raistan schwieg einen Augenblick und starrte an die Decke.
"Er ist komplett übergeschnappt und außerdem eine wandelnde Existenzkrise." flüsterte er schließlich. "Aber ich glaube, ich mag ihn. Wir verstehen uns, auf eine gewisse Weise."
Kamerun nickte wortlos. Dies war die Antwort die er sich insgeheim erhofft hatte. Sie konnten jeden Verbündeten brauchen. Und seinem Bruder ging es zumindest geistig gut.
"Kleiner?" fragte er vorsichtig.
"Ja?"
"Kann ich heute Nacht hier schlafen? Ich habe Angst, daß die schlimmen Träume wiederkommen und uns beide holen..."

E. D. W.


Araghast sah der schlanken Gestalt des Hexers nach die im Regen verschwand, und zum ersten Mal seit Tagen hatte er das Gefühl, daß es langsam bergauf ging. So ganz konnte der Feldwebel es immer noch nicht fassen, dem Helden unzähliger Heftromane, der ihm hunderte von langweiligen Bereitschaftsdiensten und langen Abenden versüsst hatte, höchstpersönlich begegnet zu sein. Doch es hatte alles gestimmt. Das Aussehen, die weiße Strähne, der Stockdegen und die Tatsache, daß er sich nicht an seine Vergangenheit erinnern konnte. Wieder beschlich Araghast das Gefühl, diesen Mann zu kennen, und das nicht nur aus seinen heißgeliebten Gruselheften. Dieser spöttische, leicht überlegene Tonfall in der Stimme des Hexers hatte sich bereits irgendwann im Laufe seines Lebens unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt. Und das war nur eines der vielen Dinge, über die er in Gesellschaft von Jimkin Bärdrückers Leckertropfen gründlich nachdenken musste.
Während er die Treppe hinauf und in sein Büro schlurfte, grübelte Araghast wieder einmal über das Phänomen Edwina Walerius nach. In dieser Realität wohnte ein Mann ähnlichen Vornamens in ihrer Wohnung, beziehungsweise hatte er dort gewohnt, bevor Farrux ihn den Hanf-Fandango hatte tanzen lassen.
Der Feldwebel sank in seinen Schreibtischstuhl und öffnete die unterste Schublade. Seine Müdigkeit war wie verflogen und sein Gehirn lechzte nach Aktivität.
Brennend rannen Bärdrückers Leckertropfen durch seine Kehle und weckten seine Lebensgeister. Mit einem dünnen Lächeln auf den Lippen stellte Araghast die Flasche vor sich auf die Schreibtischplatte und spähte in ihre bernsteinfarbenen Tiefen. Manchmal gewann die Welt ihre klaren Konturen zurück, wenn man sie durch den Inhalt einer Flasche betrachtete.
"Edward Walerius." murmelte der Feldwebel leise vor sich hin. "Verdammt. Dann gibt es auch den Kerl in dieser Welt wirklich."
In fast allen Abenteuern hatte der schüchterne Gelehrte namens Edward dem Hexer mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Er war derjenige, der während diverser gewagter Unternehmen mit der Fluchtkutsche vor dem Tor wartete, Adana bei der Durchführung verbotener Riten die Ritualgegenstände reichte, alle Aufgaben erledigte, die am Besten von einer völlig unauffälligen Person durchgeführt werden konnten, und im Zweifelsfall in die Rolle des harmlosen Leibdieners schlüpfte.
"E. D. Walerius. Okkulte Nachforschungen aller Art." rezitierte Araghast. Mittlerweile traute er der notorisch kriminellen Überwaldianerin so ziemlich alles zu. Wenn es notwendig war würde sie zweifellos auch in die Rolle eines Mannes schlüpfen, um ihrer Arbeit nachzugehen. Und scheinbar hatte sich die Geheimpolizei dieser Realität nicht von einem achtzehnfachen Freispruch mangels Beweisen beeindrucken lassen.
Ephraim Farrux, dieser verfluchte, fette Mistkerl. Wie er es wohl geschafft hatte, die Macht in Ankh-Morpork an sich zu reißen? Wütend ballte der Feldwebel die Fäuste. Der großmäulige Kaufmann hatte ihm bereits in seiner Heimatrealität genug Ärger beschert, angefangen von mehreren Versuchen, ihn und seine Braut auseinanderzubringen bis hin zu massiver Verleumdung. Wenn sie nur das Geld besitzen würde, hätte Lea Lord Witwenmacher längst einen diskreten Besuch abgestattet. Die schlichte Sparbüchse oben auf dem Schrank in der Küche sagte alles.
Der Feldwebel trank einen weiteren Schluck. Es war ein weit verbreiteter Irrglaube, daß sich das Böse lediglich in verrückten Beschwörern, Möchtegern-Weltbeherrschern und Monstrositäten aus den Kerkerdimensionen manifestierte. Sie waren nur der Gipfel des bodenlosen Sumpfes. Das Böse lauerte in allen denkenden Wesen, bei manchen stärker, bei anderen weniger stark ausgeprägt. Araghast wusste, daß das Böse auch in ihm selbst wucherte, und das nicht nur aufgrund seiner inneren Bestie. Er hatte früh gelernt, daß er die Wahl hatte. Entweder er führte eine ehrliche Existenz oder er lebte. Wer es als sein primäres Lebensziel ansah, gut zu sein, den konnte er nur bedauern. Solche Personen forderten es geradezu heraus, nach Strich und Faden betrogen und manipuliert zu werden. Auch in der Wache gab es immer wieder vereinzelte Individuen, die an das Gute und an eine allgemeine Gerechtigkeit glaubten. Die Gerechtigkeit entsprach immer der subjektiven Vorstellung des jeweiligen Herrschers. Wenn zum Beispiel Lord Vetinari beschloß, daß Pantomimen es verdient hatten, in der Skorpiongrube zu landen, dann galt sein Wort. Der Patrizier zog nur eine Augebraue hoch und wurde ironisch...
Verdammt. Araghast schlug mit der Faust so stark auf die Tischplatte, daß die Flasche einen kleinen Satz machte. Konnte es wirklich so einfach sein? Mit aller Kraft rief er sich das Bild des Hexers von Ankh zurück ins Gedächtnis. Dann ließ er mental die weiße Strähne verschwinden und tauschte den Anzug gegen eine lange, schwarze Robe aus. Zufrieden nickend stärkte er sich ein weiteres Mal am Inhalt der Flasche. Und wie es alles Sinn machte. Bernicio Cassawar und Havelock Vetinari, wie sie zusammen im Imbiss verschwanden. Ein Mann ohne Erinnerung. Philipp Howards Kraftlieb, der den Tod der Kultisten bei der Assassinengilde in Auftrag gab. Und Philipp Howards Kraftlieb, der sich hinterher des jungen Hexers angenommen hatte.
Was auch immer geschehen war: Immer schien Kraftlieb seine Finger im Spiel gehabt zu haben. Araghast hatte recht gehabt. Alles war eine einzige gigantische Verschwörung. Es fehlten zwar noch einige Puzzleteile, doch der Feldwebel würde sie finden, auch wenn er dazu sämtliche existierenden Realitäten umkrempeln musste. Und so bald wie möglich würde er sich in seiner Wirklichkeit mit Hilfe des Hexers um den besessenen Kaboltzmann kümmern.
Araghast konnte nicht anders. Er legte den Kopf in den Nacken und lachte. Skilla Amelia Winchester würde Augen machen, wenn er den gelösten Fall dem Kommandeur quasi auf dem Silbertablett servierte. Diese kleine Göre mit dem Blech in der Zunge, die meinte, alles besser zu wissen und zu allem Überfluss auch noch glaubte, seine Probleme mit seinem inneren Vampir nachvollziehen zu können. Skilla brauchte die Hälfte ihres Selbst nicht mit Alkohol ruhigzustellen. Und dennoch hatte sein vampirisches Alptraum-Ich recht gehabt. Ohne ihn hätte er es niemals zu dem gebracht was er war. Sie gehörten zusammen und konnten doch nicht miteinander auskommen. Der eine war der Jäger, der andere die Beute, und beide steckten sie im gleichen Körper fest.
Und während er noch seinen zynischen Gedanken nachhing und der Regen dumpf gegen die Scheibe des Fensters prasselte, verspürte er das dringende Bedürfnis, sich eine neue Bürotür zuzulegen. Sie sollte aus dunklem, durch jahrelangen Gebrauch mit Dellen übersätem Holz bestehen und in der oberen Hälfte ein Fenster aus Milchglas aufweisen, auf welchen in von drinnen aus verkehrt herum zu lesenden Buchstaben sein Name stehen würde. Eine solche Tür schien ihm einfach richtig zu sein.


Zwischenspiel


Der Alte Tom schlug ausdrücklich nicht Mittag und Kanndra sehnte sich nach einem heißen Kaffee. Mittlerweile schien ihr Araghasts Büro zu einer Art Katastrophenzentrale geworden zu sein. Nachdem sie bei der Erwähnung der Namen von Kolumbinis verschwundenen Zeugen beinahe in Ohnmacht gefallen war, hatte Hermione Vanderby zugegeben, daß ihr wirklicher Name Hermine Quetschkorn sei und daß es sich bei den beiden verschollenen Zeugen um ihre kleinen Brüder handelte. Es war eine Szene wie aus einem der Romane von Tania alias Barbara Kartenhand gewesen. Zudem schien nach Bregs jetzt auch noch Kolumbini wirklich davon überzeugt zu sein, daß Eddie Wollas und der Hexer von Ankh eine nicht unbeträchtliche Rolle in dem Fall Dreimal Glücklicher Fischimbiss spielten.
Und dann blieb noch das Buch. Kanndra kannte das Elaborat Philipp Howards Kraftliebs seit ihrer Rekrutenzeit. Araghast hatte es damals heimlich unter seinem Schreibtisch gelesen und einmal war es sogar von Irina Lanfear konfisziert worden. Nun lag der ledergebundene Band wieder aufgeschlagen vor ihr auf der Schreibtischplatte und die Späherin starrte auf die kryptischen Zeilen und die blutigen Fingerabdrücke, als würden diese ihr verraten können, was in den frühen Morgenstunden in eben diesem Büro geschehen war.
"Wo bist du, Bregs?" fragte sie beinahe unhörbar. "Was hast du jetzt schon wieder angestellt?"
Derweil war Kolumbini damit beschäftigt, die immer noch um ihre Fassung ringende Hermine Quetschkorn, pardon, Hermione Vanderby, auszufragen. Valdimier van Varwald stand am Fenster und starrte hinaus in den Regen.
"Hoffentlich macht er keine Dummheiten." sagte der Vampir plötzlich und in seinem Tonfall schwang ernsthafte Besorgnis mit.
Kanndra sah auf. Sie verstand nur zu gut, was ihr Freund und Kollege meinte. Die leere Rumflasche stand gleich einem Mahnmal neben ihrem linken Ellenbogen auf der Schreibtischplatte. Doch insgeheim konnte die Späherin nicht glauben, daß Bregs einfach davongelaufen war. Es passte nicht zu ihm. Araghast Breguyar war ein ehemaliger Seefahrer mit Leib und Seele, und diese hielten in der Regel bis zum Untergang und darüber hinaus treu zu ihrem Schiff und der Mannschaft.
Schwungvoll flog die Bürotür auf.
"Meine Güte, was ist denn hier los?" bemerkte eine dunkle Frauenstimme und Kanndra gewahrte Leonata Eule im Türrahmen, welche die Anwesenden durch ihre Brillengläser scharf musterte. "Störe ich gerade in einer Besprechung? Und wo ist Bregs?"
Kanndra seufzte.
"Weißt du, das wüssten wir alle auch gern." erklärte sie. "Und eigentlich haben wir gedacht, er sei irgendwo bei dir."
"Gestern Nacht ist er im Wachhaus geblieben, wahrscheinlich um sich zu betrinken." Lea trat ins Zimmer und eine Spur von Sorge erschien auf ihrem Gesicht. "Es ist ihm doch nichts passiert?" fragte sie argwöhnisch.
Stumm wies Kanndra auf die leere Flasche.
"Er muß im Laufe der Nacht zurückgekommen sein. Ein Rekrut hat ausgesagt, ihn gesehen zu haben wie er ein düsteres Lied singend die Treppe hochgestolpert ist. Aber seitdem ist er spurlos verschwunden."
"Ah, einen schönen guten Tag, Fräulein Eule." grüßte Kolumbini, der sich von dem Fräulein Vanderby abgewandt hatte.
Lea wandte sich um und brachte ein gequältes Lächeln zustande.
"Mimi!" rief sie aus, als sie die auf einem Stuhl sitzende Frau entdeckte, welche halb hinter dem kleinen Ermittler verborgen war. "Ist alles in Ordnung mit dir?"
Kanndra beobachtete, wie die rothaarige Frau kaum merklich den Kopf schüttelte. Ihre Schminke war vom Weinen verlaufen.
"Nichts ist in Ordnung." sagte Hermione Vanderby leise. "Ich... es gibt da eine Menge was ich dir erzählen muß."
"Was? Weißt du, was mit Bregs los ist?"
"Nein. Aber er ist verschwunden... Und zusammen mit meinen Brüdern..." Mimi schniefte.
Lea runzelte die Stirn.
"Also!" wandte sie sich an sämtliche Personen die sich im Zimmer befanden. "Kann mir, um es wie Bregs zu sagen, verdammt noch mal jemand erklären was hier eigentlich genau los ist?"
Resigniert beobachtete Kanndra die Braut ihres Freundes und Abteilungsleiters. Sie hatte Leonata Eule bereits genug kennen gelernt um zu wissen, daß sie nicht locker ließ wenn sie sich einmal an einer Sache festgebissen hatte. Wenn sie sie aus dem Büro herauskomplimentierte hatte es nur zur Folge, daß die Rechnerin selbst aktiv wurde. Außerdem schien sie eine gute Bekannte der Vanderby alias Quetschkorn zu sein. Vor dem geistigen Auge der Späherin erschien das Bild eines Punktes auf den diverse andere Punkte zustrebten. Gleichzeitig spürte sie, wie ihr Amulett sich leicht erwärmte. Ihr Schutzgeist Watwerbistdudenn belästigte sie nur selten ungefragt mit seiner Präsenz, und wenn er es tat, dann war es meistens dringend.
Du steckst mitten in einer äußerst gefährlichen Sache. erklang die vertraute Stimme in ihrem Kopf.
Danke für die Neuigkeit, gab Kanndra mental zurück. Das habe ich auch schon selbst geahnt.
Jetzt motz mich nicht so an. maulte der Schutzgeist. Es ist nun mal meine Aufgabe, dich zu beschützen und ich tue, was ich kann. Also hör mir gefälligst zu, ja?
Na gut. Was willst du mir sagen, außer daß ich gerade einen Haufen Ärger am Hals habe?
Das Buch. Hüte dich vor dem Buch. Es ist nicht, was es zu sein scheint.
Was meinst du damit, fragte Kanndra. Ich weiß, es handelt von genau den Sachen für die sich Bregs interessiert. Und er schmollt wie eine ganze Versammlung halbwüchsiger Schulmädchen, weil er sein Wissen wegen des Okkultismus-Postens nicht anwenden darf.
Es ist falsch. sagte Watwerbistdudenn nur. Seltsame Dinge sind geschehen, ob zum Guten oder zum Bösen kann ich nicht sagen. Aber sei auf der Hut. Hier sind Mächte am Werk vor denen selbst ich mich fürchte.
Was für Mächte? Meinst du diese Viecher aus den Kerkerdimensionen von denen gerade eines im Körper eines Zauberers durch die Stadt läuft, wollte Kanndra nachhaken, doch ihr Schutzgeist brach den Kontakt plötzlich ab. Die Späherin schüttelte den Rest ihrer Trance ab und hörte Kolumbini zu, welcher gerade dabei war, Leonata Eule die Grundzüge des Falles zu erklären.
"Raistan Adelmus Quetschkorn." sagte die Mathematikerin und rückte ihre Brille zurecht. "Das ist wirklich interessant. Er ist mir gestern Nacht in der Trommel über den Weg gelaufen. Also, wenn Sie mich fragen, er war völlig übergeschnappt. Erst fragte er mich nach dem Hexer von Ankh und dann faselte er irgendein Zeug von wegen ich sollte zusehen, daß ich mich selbst rette. Ich persönlich hätte ihn am liebsten ins Bett gesteckt in seinem Zustand. Na ja, Zauberer halt." Sie verdrehte die Augen. "Das kommt nun mal davon, wenn sie wieder mit Dingen herumspielen von denen sie besser die Finger lassen sollten."
"Woher kennen Sie Raistan Quetschkorn, Fräulein Eule?" hakte Kolumbini nach.
"Nur flüchtig." antwortete Lea. "Er war einer der Studenten meines verstorbenen Onkels. Armer Junge. Leidet unter einer Art chronischer Schwindsucht. Aber er hat einen guten Charakter, soweit ich es sagen kann. Und schönes Haar."
"Soso." bemerkte der Ermittler und blätterte eine Seite in seinem Notizblock um. "Und jetzt habe ich noch eine Frage an Sie. Hat Araghast in den letzten Tagen den Hexer von Ankh Ihnen gegenüber erwähnt?"
"Und wie." Ein flüchtiges Lächeln huschte über Leas Gesicht. "Ohne jetzt jemanden beleidigen zu wollen, aber ich habe eine Menge über eine gewisse Okkultismusexpertin zu hören bekommen die einfach nicht glauben will, daß es tatsächlich Beweise für die Existenz des Hexers von Ankh gibt. Und er war völlig frustriert, daß es schier unmöglich ist, Eddie Wollas aufzustöbern."
"Was glauben Sie, Leonata?" fragte Kanndra plötzlich. "Ich meine, was glauben Sie wirklich? Sie sind die Person die Bregs am Besten kennt."
Aus den Augenwinkeln beobachtete die Späherin, wie Valdimier sich vom Fenster abwandte und die Braut seines Freundes fixierte. Auch Kolumbini und die Vanderby starrten sie an.
Leonata Eule atmete tief durch und ihre behandschuhten Finger spielten mit dem Griff ihres Gehstocks.
"Was ich wirklich glaube..." sagte sie langsam. "Der Hexer von Ankh. Rein logisch gesehen ist diese Person eine Romanfigur, erfunden von einem gewissen Eddie Wollas. Und dann taucht der Stockdegen plötzlich in den Tiefen von Herrn Hongs Imbiss auf. Ich weiß, daß mein Bregs ein wahrer Verschwörungsfanatiker ist. Und reine Logik ist quasi mein Beruf. Aber dennoch... Ein Zauberer hat mich großgezogen und ich weiß, daß es mehr Dinge zwischen der Scheibe, den Elefanten und Groß A'Tuin gibt als die reine Logik es zu erklären vermag. Ich glaube Bregs. Er hat mich noch nie belogen. Selbst wenn der Hexer von Ankh nur eine Schundromanfigur ist - Wer sagt, daß er nicht irgendwo doch existieren kann? Wirklichkeiten können leicht verdreht werden, wenn man nur weiß, wo der metaphorische Hebel anzusetzen ist. Mit nur einer Tasse dreifach destillierten klatschianischen Kaffees, einem Algorithmus einer irrationalen Zahl und einigen Zauberformeln lässt sich theoretisch jede Realität generieren. Deshalb wage ich, ohne Beschränkung der Allgemeinheit zu sagen: Nichts ist unmöglich. Selbst die Existenz des Hexers von Ankh."
"Danke." sagte Kolumbini nur. "Dann bin ich wenigstens nicht der einzige der für verrückt gehalten wird, nur weil er wirklich daran glaubt was Araghast behauptet."
"Verrücktheit ist relativ." Leonata Eule zwinkerte dem kleinen Ermittler zu.
Dieser nickte grimmig.
"Die erste SEALS-Streife des Tages hat behauptet, von diversen Bürgern ausgelacht worden zu sein als sie vor einem besessenen Zauberer mit einem Ding aus den Kerkerdimensionen in seinem Kopf gewarnt haben. Nun, sie haben nicht miterleben müssen wie ein Zimmer aussieht nachdem das Gehirn des Bewohners darin zum Abendbrot gegessen wurde."
"Langsam frage ich mich, wessen Hirn das nächste sein wird." murmelte Kanndra und rieb sich die Schläfen. Sie brauchte dringend einen Kaffee.
"Komm her, Mimi." hörte sie Leonata Eules Stimme. "Wir beide gehen jetzt einen Tee trinken und reden dabei über einiges. Wir können hier jetzt eh nichts machen."
Ein Problem weniger, ging Kanndra durch den Kopf. Die Vanderby war nun auch versorgt. Ihr Blick wanderte wieder zu dem Buch und sie wurde das Gefühl nicht los, daß die blutigen Fingerabdrücke sie höhnisch angrinsten. Watwerbistdudenn hatte sie eindringlich vor dem Buch gewarnt, doch ihr eigenes magisches Gespür nahm keine Spuren von Zauberei wahr.
"Was sollen wir jetzt nur machen?" fragte sie leise die Welt im Allgemeinen und ließ den Blick über die Seite schweifen.
Träumend wartet der tote Cthulhupalhulhu in seinem Haus auf Leshp.
"Das weiß ich auch nicht." antwortete Valdimier und räusperte sich. Mit leisen Schritten trat er hinter Kanndra, um ebenfalls einen Blick auf das Buch zu erhaschen. "Letztendlich können wir nur hoffen, daß eine der Streifen irgendeinen Hinweis findet."
Es klopfte und auf Kanndras Bitte, einzutreten, drückte sich Nyvania vorsichtig ins Zimmer und salutierte.
"Mir ist noch etwas eingefallen, Ma'am." sagte sie und schaute ein wenig beschämt drein.
"Erzähl." forderte die Späherin sie mit dem letzten Rest an gespielter Munterkeit zu dem sie sich noch zusammenreißen konnte auf.
"Nun." Nyvania betrachtete mit Interesse den abgenutzten Holzboden. "Bevor mich der Zauberer und der Kämpfer nach Araghasts Büro gefragt haben ist schon mal jemand dagewesen. Es war eine Frau die nach Feldwebel Breguyars Büro gefragt hat."
"Und das fällt dir jetzt erst ein, Fräulein?" fragte Kolumbini sarkastisch.
"Es tut mir leid." sagte die Nachwuchspüschologin betreten. "Aber die ganze Aufregung um die beiden anderen, da habe ich mich gerade erst als ich mit Skilla geredet habe, wieder dran erinnert."
"Wie sah die Frau aus?" hakte Kanndra nach.
Sie hatte etwa kinnlanges rotes Haar und trug eine Brille und einen schwarzen Herrenhut. Im Großen und Ganzen war sie sehr elegant. Und sie sprach mit starkem überwaldianischem Akzent."
"Interessant." sagte Kolumbini nur und klopfte auf seinem Glasauge herum. "Ich nehme an, du hast dich nicht nach ihrem Namen erkundigt, Obergefreite?"
"Äh, nein. Hätte ich das tun sollen?"
"Es hätte uns allen jedenfalls die Arbeit sehr erleichtert." bemerkte der Ermittler sarkastisch.
"Es ist schon in Ordnung, Nyvania." versuchte Kanndra, die unter ihrer steingrauen Hautfarbe rot angelaufene Püschologin zu beruhigen. Kolumbini war mindestens genauso schlimm wie Bregs wenn es darum ging, bissige Bemerkungen auszuteilen, ging ihr durch den Kopf. Kein Wunder, daß sich die beiden so gut zu verstehen schienen.
Kolumbini räusperte sich.
"Und wetten, daß diese unbekannte Frau, nachdem sie dieses Büro betreten hatte, ebenfalls von niemandem mehr gesehen wurde?"

Zehn Minuten später befand sich Kolumbini zum wiederholten Mal an diesem Tag auf dem Weg zur Unsichtbaren Universität und seine Laune pendelte sich langsam aber sicher knapp unter dem Gefrierpunkt ein. Die Anzahl der spurlos in Araghasts Büro verschwundenen Personen schien immer weiter zuzunehmen und niemand konnte mit einer vernünftigen Erklärung dienen. Wenn er Pech hatte, würden sich bei seiner Rückkehr auch noch Chief-Korporal Mambosamba und die halbe FROG-Belegschaft auf mysteriöse Weise in Luft aufgelöst haben. Ein leutefressendes Büro gab sicher einen neuen Höhepunkt des ganz alltäglichen Irrsinns in den Annalen der Stadtwache von Ankh-Morpork ab. Dieser ganze okkulte Blödsinn begann, Kolumbini gehörig auf die Nerven zu gehen. Seine Aufgabe war es, einen Mörder dingfest zu machen und nicht, mit dem Gefüge der Realität herumzuspielen.
Doch der Hauptgrund für die schlechte Laune des Ermittlers marschierte einen halben Meter neben ihm an seiner linken Seite und redete wie ein Wasserfall auf ihn ein.
"...und deshalb beschäftigt sich der heimliche unheilige Kult des goldenen Sonnenaufgangs mit Ritualen, die das genaue Gegenteil der Anbetungszeremonien für den Blinden Io darstellen." erklärte Skilla, aus deren Stimme mühelos eine gewisse Erregtheit herauszuhören war. "Die Kultisten verehren dabei das absolute Böse, den gefallenen Zwillingsbruder des höchsten Gottes. Sie verhöhnen die klassische Religion und umarmen die pervertierte Finsternis der Hölle."
"Das gefällt Ihnen wohl, Fräulein Winchester." konnte sich Kolumbini nicht verkneifen, zu bemerken. Warum hatte ihn seine Abteilungsleiterin nur damit bestraft, mit dieser in romantischer Weise für das Böse schwärmenden Göre zusammenarbeiten zu müssen?
Doch Skilla schien gegen jegliche Ironie immun zu sein wenn sie sich erst einmal in Fahrt geredet hatte.
"Ich finde es sehr faszinierend, diese Verehrung des Bösen." fuhr sie fort. "Da ich selbst zur Hälfte ein Kind der Nacht bin fühle ich mich in gewisser Weise verwandt, auch wenn ich solche Riten natürlich nie selbst praktizieren würde."
Der Ermittler seufzte tief und enthielt sich eines Kommentars. Seine Meinung über das Böse deckte sich mit der Araghasts. Das Wahre Absolute Böse offenbarte sich in den seltensten Fällen in Form von schwarzgewandeten Kultisten die choralartige Gesänge in tiefen Kerkern mit hübsch gemusterten Fußböden ausführten. Ein Teil des Wahren Absoluten Bösen wanderte genau in diesem Moment irgendwo in der Stadt herum. Es tötete wahllos Bürger auf bestialische Weise und aß deren Gehirn zum zweiten Abendessen. Doch dies in den romantisch verklärten Verstand dieses Mädchens, welches sich Blech durch die Zunge rammte um modern zu sein, zu bekommen war vergleichbar mit der Aufgabe, den Ankh zu reinigen.
Und dabei gibt es einen Spinner, der selbst das als seine Lebensaufgabe ansieht, ging Kolumbini durch den Kopf. Manchmal vermutete er, daß die Ausdünstungen des Flusses auf die Dauer etwas mit den Köpfen der Bewohner Ankh-Morporks anstellte, und dieser Effekt der geistigen Gesundheit nicht gerade förderlich war.
Womit hatte er bloß diesen Fall verdient? Und weit und breit war kein Araghast in Sicht...

Carisa von Schloss Escrow mochte die Dächer der Unsichtbaren Universität. Von hier oben aus hatte man einen wunderbaren Blick auf die Stadt und an Artgenossen mangelte es auch nicht. Zwar hielten sich Diese aufgrund ihrer Sitzplätze teilweise für etwas Besseres, doch die meisten von ihnen erwiesen sich nach einigem Geplänkel als sehr gesprächig, wenn man ihnen nur die richtigen Fragen stellte.
Dazu kam, daß das Wetter zur Zeit die optimalen Voraussetzungen für ein erfülltes Wasserspeierdasein bot. Am liebsten hätte Carisa sich auf einem gemütlichen Alkoven niedergelassen und stundenlang einfach nur einen Wasserstrahl auf den Hof gespuckt. Sie würde wohl nie verstehen, weshalb ihre nichtsteinernen Kollegen eine derartige Abneigung gegen Dauerregen hegten. In dem kleinen Rucksack auf ihrem Rücken trug die Wasserspeierin ihre gesammelten Notizen zu dem Einsturz des halben Labortraktes mit sich herum. Die Berichte mehrerer Augenzeugen ließen einen ziemlich seltsamen Tathergang vermuten. Kurz nach dem Einsturz war ein magerer Zauberer in Richtung Studenteneingang geflohen und nur mit der Hilfe einer zweiten Person die auf der Mauer gesessen und geraucht hatte, war es dem scheinbar völlig entkräfteten jungen Mann gelungen, das Hindernis zu überwinden. Daraufhin hatte sich der Mauersitzer scheinbar in Luft aufgelöst. Wenig später hatte sich ein weiterer, älterer Zauberer aus den Trümmern des Labortraktes gewühlt und war ebenfalls über den Studenteneingang verschwunden.
Carisa hatte den Trümmerhaufen auf dem Hof ausgiebig besichtigt und war zu dem Schluss gekommen, daß man einen solch schweren Steinschlag nur mit Hilfe einer Chance von Eins zu einer Million überleben konnte. Oder wenn man von einem
Ding aus den Kerkerdimensionen besessen war, wie der gesuchte Emanuel Kaboltzmann. Und eben dieser musste es laut Kolumbini gewesen sein, der den jungen Magier namens Raistan Quetschkorn verfolgt hatte um ihn zu töten. Verführerisch prasselte der Regen auf Carisas Kopf und die verdeckte Ermittlerin konnte der Versuchung, sich für eine Wasserspeierminute niederzulassen, nicht widerstehen. Während sie die Nährstoffe aus dem Regenwasser filterte, beobachtete sie konzentriert den kleinen Innenhof. Einen großen Teil des ihrem Sitzplatz gegenüberliegenden Gebäudes schienen Unterrichtsräume auszumachen. Pickelige vierzehnjährige Erstsemester in Roben die ihnen mindestens eine Nummer zu groß waren hingen förmlich an den Lippen eines rundlichen Mittzwanzigers, der diverse unentzifferbare Symbole an eine Wandtafel schrieb.
Ein Fenster im Erdgeschoss war vergittert und die Wasserspeierin glaubte, eine Bewegung im Inneren des Raumes zu erkennen. Während der Wasserstrahl aus ihrem Mund sechs Stockwerke unter ihr auf ein Blumenbeet prasselte strengte Carisa ihre Augen an. Sie hatte nicht gewusst, daß die Unsichtbare Universität ein eigenes Gefängnis besaß.
Plötzlich wurde das Fenster aufgezogen und ein blasses, von blanker Panik verzerrtes Gesicht spähte durch die Gitterstäbe nach draußen. Die Wasserspeierin beugte sich vor. Plante dort etwa jemand einen Ausbruchsversuch? Es hatte ganz den Anschein, denn mit hastigen Bewegungen band der Gefangene einen Gürtel an das Gitter. Einen Augenblick überlegte Carisa, ob sie eingreifen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Vermutlich handelte es sich um Universitätspolitik und sie wollte keinen Ärger dafür bekommen, sich in interne Verfahren eingemischt zu haben. Doch dann stockte ihr Wasserstrahl. Innerhalb weniger Menschensekunden hatte sich der Gefangene die mit Hilfe der Schnalle gebildete Schlaufe des Gürtels um den Hals gelegt und war offenbar von etwas heruntergesprungen das sich unterhalb des Fensters befand.
Die Wasserspeierin spie den letzten Wasserschwall aus und machte sich daran, so schnell wie möglich die glatte Wand hinunterzuklettern. Ein Selbstmörder. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Nur schwer fanden ihre Finger in den Ritzen der regennassen Wand halt. Innerlich beschwor sie sich selbst, schneller zu klettern. Es ging um das Leben einer Person.



Jenseits des Verstandes


Die Nacht war kaum dem diffusen Licht der Dämmerung gewichen, als ein schier unmenschlich klingender Schrei Araghast abrupt aus dem Schlaf riss.
Während sich sein wild klopfendes Herz wieder beruhigte rieb sich der Feldwebel sein Auge. Was auch immer dort draußen herumgekreischt hatte, schien nicht den Eindruck von geistiger Gesundheit zu erwecken. Araghasts Blick fiel auf die Flasche auf seinem Schreibtisch. Vermutlich würde jeden Moment jemand erscheinen um ihn, den Püschologen, zu holen. Schnell ließ er Beweisstück Nummer eins in der angestammten Schublade verschwinden und klemmte sich eine widerspenstige Haarsträhne hinter das Ohr, als auch schon wild an seine Bürotür gehämmert wurde.
"Aufwachen, Sör! Schnell! Das ist ein Notfall!" schrie eine weibliche Stimme. "Ein Püschologe, sofort!"
"Ich komme ja schon." gab Araghast zurück und erhob sich. Vorsichtig betastete er seinen verbundenen Arm, der so gut wie gar nicht mehr schmerzte. Auf Rogis Behandlungskünste war immer Verlass, egal in welcher Wirklichkeit. Der Feldwebel griff seinen Mantel von der Stuhllehne und warf ihn sich über, bevor er sein Büro verließ. Fragen über einen blutigen, löchrigen Hemdsärmel waren das Letzte was er nun gebrauchen konnte.
Vor der Bürotür erwartete ihn eine aufgeregte Will Passdochauf.
"Ein paar Fischer haben einen Mann hergebracht." begann die Hauptgefreite sogleich, die Sachlage zu erklären. "Er scheint überhaupt nicht mehr bei Sinnen zu sein und schreit herum, daß es einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Worte, die keiner von uns versteht. Pflululupulbuwargh oder was auch immer. Irgendwie ist er mir unheimlich, Sör. Om beschütze uns..."
Abrupt blieb Araghast stehen und packte die erschrockene Kommunikationsexpertin grob an der Schulter.
"Ph'nglui mglw'nafh Cthulhupalhulhu Leshp wgah'nagl fhtagn?" zischte er und sein Auge verengte sich.
Will nickte zaghaft, die Miene schreckverzerrt.
"Die dreimal verdammte Seeschlange von Gorunna soll mich beißen!" fluchte der Feldwebel und stürmte los.
Während er zwei Treppenstufen auf einmal nahm, fuhren seine Gedanken munter auf einem metaphorischen Karussell. Was hatte das nun schon wieder zu bedeuten? Ein neues Opfer des besessenen Kaboltzmann? Dunkel erinnerte er sich an die Worte des Hexers. Das Portal zum Abgrund ist geöffnet worden. Sie werden kommen. Der Tanz des Grauens hatte begonnen.
Unten in der Eingangshalle war die Hölle los. Zwei kräftige FROGs waren vollauf damit beschäftigt, eine sich heftig windende, vor Nässe triefende Gestalt auf den Boden zu drücken, die unartikulierte gurgelnde Laute ausstieß. Währenddessen versuchte der Tresenrekrut, sich gegen drei in Leder gekleidete, wettergegerbte Männer zu behaupten, welche alle gleichzeitig auf ihn einredeten.
Araghast holte noch einmal tief Luft und stürzte sich in das Getümmel.
Als erfahrener Püschologe brauchte er nur einen Blick um zu erkennen, daß sich der am Boden liegende Mann jenseits von Gut und Böse befand. Seine blutunterlaufenen Augen rollten unkontrolliert in den Höhlen umher und ein dünner Speichelfaden troff ihm aus dem Mund.
"Hat jemand einen Sanitäter geholt?" erkundigte sich Araghast bei seinen Kollegen.
"Muss unterwegs sein, ich glaube der Rekrut wollte einen holen." kam die gemurmelte Antwort und innerlich verdrehte der Püschologe die Augen.
"Der Rekrut wird gerade von drei Fischern in Beschlag gelegt." schnauzte er. "Also, was ist..."
Urplötzlich bäumte sich der Patient auf und stöhnte tief.
"Das Böse!" wisperte er und für einen Augenblick schien er eine gewisse Kontrolle über Körper und Geist zurückgewonnen zu haben. "Das äonenalte Böse! Die Insel ist zurück!" Erschöpft sank er in sich zusammen, nur um gleich darauf ein markerschütterndes Kreischen von sich zu geben.
"Leshp!" brüllte er in einer Lautstärke die sämtliche Anwesen dazu veranlasste, sich die Ohren zuzuhalten. "Leshp! Cthulhupalhulhu Leshp!"
Und ehe die beiden FROGs es sich versahen hatte der Wahnsinnige ein Messer aus dem Gürtel des ihm näher Stehenden gezogen und es sich in die Kehle gerammt.
"Ph'nglui... mglw..." entfuhr es noch röchelnd und begleitet von einem Strom hellroten Blutes seinem Mund und sein Körper sackte in sich zusammen.
Während der Fremde vor seinem Auge verstarb, ohne daß er etwas dagegen unternehmen konnte, biss sich Araghast auf die Lippen. Vermutlich war der Tod immer noch das Beste gewesen, das dem Wahnsinnigen passieren konnte. Sein Verstand war unrettbar verloren gewesen.
"Bringt die Leiche zu SUSI und wischt das Blut hier vom Boden auf." befahl der Feldwebel seinen Kollegen knapp. "Ich kümmere mich um die Angelegenheit." Mit diesen Worten wandte er sich den Fischern und dem mittlerweile völlig verunsicherten Rekruten zu.
"Also, meine Herren." begann er mit seiner besten Püschositzungs-Stimme. "Was ist hier eigentlich nun genau passiert?"
"Wir haben ihn heute Nacht draußen vor der Ankhmündung aufgefischt." begann der älteste der drei, ein weißbärtiger Seebär mit kahlem Kopf. "Junge Junge, war das ein Sturm. Sowas hab ich in meinem ganzen Leben auf See noch nicht erlebt." Nachdenklich kratzte er sich hinter dem Ohr. "Das war noch viel schlimmer als der große Orkan damals im Jahr der Inkontinenten Ziege, als mir eine einzige Bö das Focksegel in Fetzen gerissen hat. Ich sach dir, das war nicht natürlich gestern Nacht. Der Fliegende Brindisianer und seine verfluchte Mannschaft stecken dahinter, ganz sicher."
Wenn es nur der legendäre Fliegende Brindisianer und sein Schiff voller Verdammter wären, dachte Araghast bissig. Was dort draußen liegt, ist noch millionenmal schlimmer.
"Ich glaube Ihnen, daß Ihre Erinnerung an vergangene Stürme ausgezeichnet ist." versuchte er, das Gespräch wieder auf den Punkt zu bringen. "Aber was mich interessiert ist, was heute Nacht passierte."
"Sein Kahn war fast nur noch ein Trümmerhaufen." beeilte sich der zweite im Bunde zu sagen. "Und mittendrin lag er, schlug wie wild um sich und brüllte unverständliches Zeug." Araghast beobachtete wie sich der dickliche Mann schüttelte. "Uns war allen überhaupt nicht wohl bei der Fahrt."
"Ich sagte doch, der Brindisianer hat das Meer verhext!" ging der Kahlköpfige dazwischen. "Kein einziger Fisch in sechs Stunden ist uns ins Netz gegangen! Und die Blitze waren grün! Libertinas Zorn hat das gesamte Meer aufgewühlt!"
"Also kurz gesagt, Sie fanden einen hilflosen Irren in einem Boot auf dem Meer treibend und brachten ihn hierher." fasste Araghast das bisher Gehörte zusammen.
"Nun, äh, wir wussten sonst nicht, wohin mit ihm." Der jüngste der drei Fischer hatte bisher geschwiegen, und es war ihm deutlich anzusehen, daß er sich ganz und gar nicht wohl fühlte.
Araghast nickte.
"Sie haben alle drei völlig richtig gehandelt." spulte er den in solchen Fällen angebrachten Standardsatz herunter. "Die Wache wird sich um den Fall kümmern. Haben Sie dem Rekruten schon Ihre Personalien gegeben, falls noch Fragen auftauchen?"
Die Drei nickten beinahe synchron und hatten es nach einem kurzen Abschiedsgruß sehr eilig, das Wachhaus zu verlassen und, wie Araghast vermutete, geradewegs in die nächste Kneipe zu eilen. Er konnte es ihnen nicht verdenken. Selbst ein kurzer Kontakt mit dem bewusstseinszerfetzenden Wahnsinn der URALTEN RIESEN reichte aus, um einem gestandenen Mann die Knie weich werden zu lassen.
Nachdenklich musterte der Feldwebel die Blutlache auf dem Boden. Der arme Fischer würde nicht das letzte Opfer der Dinge sein, darauf verwettete er einen Jahressold. Wahrscheinlich hatte der Zufall es gewollt, daß er sich gerade mitten auf dem Meer befunden hatte, als die abscheuliche Insel aus dem Meer emporgestiegen war. Leshp. Alles geschah genau wie in Philipp Howards Kraftliebs Roman. Dann war dies also das Ereignis gewesen, das den Hexer dermaßen erschüttert hatte, daß ihm für einen kurzen Augenblick seine natürliche Arroganz abhanden gekommen war. Der ertrunkene Cthulhupalhulhu, der Herr des Schreckens und ewiger Verdammnis, war erwacht, und es würde nur noch eine Frage der Zeit sein, bis er seine Fühler bis nach Ankh-Morpork ausstreckte. Und es gab immer noch keinen Ausweg aus dieser mittlerweile im wahrsten Sinne des Wortes verdammten falschen Wirklichkeit.
Doch der nächste Härtetest den Araghast überstehen musste lag nur noch eine gute Stunde entfernt. Irgendwie musste er es fertigbringen, das Büro Johann Zupfguts als freier Mann zu verlassen.

Nichts zu verlieren


Wie sie sich auch drehte und wendete, es half nichts. Die gesamte Nacht über hatte sie kaum schlafen können, da irgendein unbeugsamer Strohhalm es immer schaffte, sich durch den dicken Wollstoff ihres Mantels hindurchzubohren und sie an einer unangenehmen Stelle zu stechen. Doch die hinterste Ecke des Strohlagers von Hobsons Mietstall war der einzige Ort gewesen, der Kanndra Mambosamba auf die Schnelle als provisorisches Nachtlager eingefallen war. Gähnend setzte sich die junge Voodoo-Hexe auf und machte sich daran, die zahlreichen Strohhalme von ihrer Kleidung zu entfernen.
Ihre derzeitige Situation hätte kaum schlimmer sein können. Von ihrer Kellerwohnung mochte kaum mehr aus eine verrußte Höhle übrig geblieben sein und diverse Bürger der Stadt waren darauf aus, sie am Galgen vor dem Hide Park aufzuknüpfen, oder noch traditioneller, auf den Scheiterhaufen zu werfen. Alles was sie besaß waren die Kleider an ihrem Leib, ein Päckchen mit Kräutern und dreieinhalb Ankh-Morpork-Dollar - Nicht gerade eine geeignete Basis um irgendwo in der Fremde ein neues Leben anzufangen.
Nachdem sie den letzten Strohhalm zurück auf den Haufen geworfen hatte stellte sich Kanndra auf die Zehenspitzen und spähte aus dem verdreckten Fenster. Draußen fiel der Regen in gleichmäßigen nassen Fäden vom Himmel.
"Auch das noch." murmelte die Voodoo-Hexe und konzentrierte sich. Ihre Gestalt begann zu verschwimmen.
Kurze Zeit später verließ ein unauffällig gekleideter Pferdebursche mit tief ins Gesicht gezogener Mütze Hobsons Mietstall und verschwand in Richtung Götterinsel.

In Sanguis Est Eternitas


Auch Edwina Dorothea Walerius hatte in der vergangenen Nacht schlecht geschlafen. Selbst ein doppelter Skrinn Freinn, sonst ihr übliches Mittel gegen nächtliches Wachliegen, war wirkungslos geblieben, als sie plötzlich mitten in der Nacht abrupt aus dem Schlaf hochgefahren war. Es hatte sich angefühlt als hätte ihr jemand das mentale Äquivalent eines Peitschenhiebes versetzt.
Nun saß Edwina vor dem Spiegel ihrer Frisierkommode und betrachtete im trüben Morgenlicht ihr Abbild, während ihre linke Hand wie abwesend einen weiteren doppelten zwergischen Whiskey im Glas herumschwenkte.
Das Gesicht im Spiegel war nach gängigen Maßstäben nicht schön zu nennen. Es war breit und wurde von einer aufgrund eines alten Bruches leicht schiefen Nase dominiert. Krähenfüße hatten sich in die Winkel der harten, grünblauen Augen eingegraben und zwei strenge Falten liefen von den Nasenflügeln bis zu den Mundwinkeln hinab.
Edwina verzog das Gesicht und trank. Anita war immer die Schöne der beiden Walerius-Schwestern gewesen. Nach ihr hatte sich jeder umgedreht. Wie oft hatte Edwina sie um ihre grazile Figur und ihre anmutige Haltung beneidet. Ihr eigener Körperbau war stämmig und als Mädchen hatte sie oft plump und unbeholfen gewirkt. Anita hatte den Männern die Köpfe verdreht, während Edwina ihnen mit ihrem Schwert selbige eingeschlagen hatte. Der Blick der Überwaldianerin wanderte zu dem Bild auf dem Nachttisch, auf dem das junge Mädchen elegant in die Ikonographenlinse lächelte. Der plötzliche Tod ihrer Schwester hatte ein Loch in ihrem Leben hinterlassen das nichts und niemand je wieder hatte füllen können.
"Na Strrovje." sagte Edwina leise und stürzte den Rest ihres Getränks hinunter. Mochte Anita auch die gesamte Schönheit geerbt haben, sie selbst besaß andere Qualitäten. Wenn man kräftig genug sein wollte, um ein Schwert oder eine Armbrust mit genug Durchschlagkraft zu handhaben, durfte man kein zartes Pflänzchen sein. Und Schönheit war bei weitem nicht alles. Es kam auf das richtige Auftreten an. Wirke geheimnisvoll. Zeige Stil. Trage den Kopf hoch. Tu so als wäre für dich alles eine Selbstverständlichkeit. Sei dreist. Und deute an, daß du im Notfall auch gefährlich werden kannst.
Leise lachend erhob Edwina sich und ließ den Morgenmantel von ihren Schultern fallen, um den Blick auf Unterrock und Korsett freizugeben. Gefährlich, ja, das war sie. Dies hatten schon gut zwei Dutzend dieser verfluchten Blutsauger erschreckt feststellen müssen, deren Aschereste wohlverkorkt in den kleinen Fläschchen neben dem Kamin standen. Oft genug war sie nur um Haaresbreite dem Biss entronnen und nur ihre mühsam geschulten Reflexe hatten ihr das Leben gerettet. Andere ihrer Zunft waren nicht so glücklich gewesen. Beziehungsweise nicht so gut.
"Rregel Nummerr eins." sagte Edwina zu ihrem Spiegelbild. "Unterrschätze niemals deinen Gegnerr."
Nach ihrer ersten erfolgreichen Beseitigung eines Blutsaugers schienen viele Vampirjäger diesen Grundsatz zu vergessen. Die Jagd war kein Spiel. Der Gegner mit dem man es zu tun hatte besaß eine ganz eigene Macht, den Menschen haushoch überlegene körperliche Eigenschaften und hin und wieder auch geringe magische Fähigkeiten. Doch es war nicht unmöglich, ihn zu besiegen. Es gab eine Reihe von Mitteln die eine im wahrsten Sinne des Wortes todsichere Wirkung erzielten.
Im Gegensatz zu einem Ding aus den Kerkerdimensionen...
Edwina ballte ihre Hände zu Fäusten. Wenn sie eines hasste, dann war es der Verlust jeglicher Kontrolle über eine Situation. Und Monstrositäten die nicht sein durften stellten das personifizierte Chaos dar. Gegen dieses Grauen aus uralter Zeit halfen keine weihwassergetränkten Pflöcke, Knoblauchzehen oder Zitronenscheiben am Ort an dem die Sonne nicht schien. [2] Die einzige Waffe die ihr einfiel, war der Stockdegen des Hexers von Ankh, der dummerweise in einer anderen Realität in einem Wächterbüro herumlag.
Und dann gab es da noch das Problem Araghast Breguyar. Früher oder später musste sie sich entscheiden, ob sie ihm die Wahrheit über das Ableben seines Vaters sagte oder nicht.

Dunkle Wolken hatten sich über den Bergen gesammelt und gelegentlich tauchte ein vom Himmel herabzuckender Blitz die Szenerie für Bruchteile von Sekunden in gleißendes Licht. Die Wetterbedingungen waren perfekt. Edwina Walerius nickte grimmig als sich der Wurfhaken an der Schlossmauer verfing. Prüfend zerrte sie an dem dicken Hanfseil. Die Gelegenheit war günstig. Erst am späten Nachmittag war einer Kutsche, die sich auf dem Weg nach Duschen-Duschen befand, die Hinterachse gebrochen, und die ahnungslosen Insassen hatten sich gleich Schafen auf dem Weg zur Schlachtbank in die vermeintliche Sicherheit der Burg begeben. Ein letztes Mal überprüfte Edwina den Sitz ihrer Armbrust auf dem Rücken und schwang sich über den Burggraben. Gekonnt federte sie den unvermeidlichen Zusammenstoß mit der Burgmauer mit den Beinen ab und begann, zu klettern.
"In sanguis est eterrnitas." knurrte sie mit zusammengebissenen Zähnen, während sie ihre Beine über die Mauerkrone schwang und sich in den Schatten der Zinnen duckte. "Das werrden wirr ja sehen, du achtmal verrfluchte Ausgeburrt des Pandämoniums!"
Wie zur Bestätigung grollte Donner in der Ferne.
Mit einem leisen Scharren glitt Edwinas Schwert aus der Scheide. Kein Lichtstrahl wurde von der mit Knoblauchsaft und Ruß geschwärzten Klinge reflektiert. Edwina war hier, um eine Existenz zu beenden. Und dieses Mal ging es um ihre ganz persönliche Rache.


Letztendlich war es gar nicht so schwer gewesen, den Baron zu überrumpeln. Breguyar hatte streng an Traditionen geglaubt. Während Igor von der wütenden Meute am Tor abgelenkt worden war, war die Asche ihres Opfers in einen Lederbeutel an Edwinas Gürtel gewandert. Anschließend hatte sie in aller Ruhe die Vorhänge des großen Saales angezündet und sich im allgemeinen Durcheinander des plündernden Mobs aus dem Staub gemacht.
Ein böses Lächeln stahl sich auf Edwinas Lippen als sie an die lichterloh in den Himmel schlagenden Flammen dachte, während sich im Hintergrund das Gewitter austobte. Sie hatte ihre Rache gehabt und zumindest einen zeitweiligen Waffenstillstand mit ihrem eigenen persönlichen Dämon geschlossen. Doch war sie die widerliche Stimme in ihrem Kopf niemals losgeworden, die sie bezichtigte, Anitas Tod durch Vernachlässigung ihrer Pflichten als Beschützerin der Familie verschuldet zu haben.
Weitaus energischer als nötig knöpfte die Überwaldianerin ihre dunkelrote Bluse zu. Warum wurde sie nur schon wieder sentimental? Zur Zeit waren die Probleme der Gegenwart wichtiger als die Gespenster der Vergangenheit. Dort draußen lief etwas herum, das erlegt werden musste. Und Edwina Walerius würde tun was sie immer getan hatte. Sie suchte sich die richtige Ausrüstung zusammen und blies dem betreffenden Subjekt das Lebens- beziehungsweise Unlebenslicht aus.

Da du selbst ein Verbrecher bist...


"Also gut! Hast du irgend etwas zu deiner Verteidigung vorzubringen, Feldwebel?"
Araghast lehnte sich so lässig wie möglich auf dem unbequemen Verhörstuhl zurück und starrte ungeirrt auf Hauptmann Zupfguts Nase, während sich seine Gedanken um völlig andere Dinge drehten. Ob der Hexer schon hinter die Sache mit Leshp gekommen war? Adana alias Havelock Vetinari musste in der Lage sein, etwas dagegen zu unternehmen. So lief es in den Eddie Wollas-Heften grundsätzlich ab - Am Ende triumphierte immer der Hexer von Ankh.
"He, Saufnase! Ich rede mit dir!" schnauzte ihn Zupfgut über den Schreibtisch hinweg an.
"Ich weiß." gab Araghast zurück.
"Jetzt werd mir hier nicht frech! Die Anschuldigungen gegen dich reichen mittlerweile, um deinen versoffenen Schädel rollen zu lassen!" Der Hauptmann sprang auf und baute sich drohend hinter seinem Schreibtisch auf. "Erstens wäre da wiederholte Trunkenheit im Dienst, was dir schon mal eine Degradierung einbringt. Aber die letzte Nacht hat uns allen dein wahres Gesicht gezeigt. Darum werden der Anklage noch der tätliche Angriff auf einen Kollegen, Unerlaubter Verkehr mit Zauberern und Hochverrat hinzugefügt. Wenn ich du wäre, dann würde ich mir wirklich Sorgen um meinen Hals machen! Und glaube ja nicht, daß ich dich in irgendeiner Form herausrede."
"Warum sollte ich das glauben? Du bist schließlich der Ankläger."
Johann Zupfgut schnaubte verächtlich.
"Ich frage dich zum letzten Mal. Hast du zu deiner Verteidigung irgend etwas zu sagen?"
Araghast zuckte nur mit den Schultern. Er konnte seinem Gegenüber erzählen was er wollte, dieser würde kein Wort für bare Münze nehmen. Darum beschloss er zur Abwechslung, einmal nicht zu lügen. Zupfguts Reaktion würde zumindest spaßig werden und Araghast konnte ein wenig Unterhaltung dringend gebrauchen.
"Du würdest mir die Wahrheit eh nicht glauben, Hauptmann." sagte er kalt. "Ein äonenalter Schrecken droht, die Scheibenwelt mit Wahnsinn und Chaos zu überziehen und ich tue dagegen, was ich kann. Ich bin nicht der Araghast Breguyar den du vielleicht kennst. Du hast mir nichts zu sagen, weil das hier verdammt noch mal nicht meine Wirklichkeit ist! Und falls du fragst, ja, ich bin mal wieder betrunken. Ich bin betrunken weil das die einzige Möglichkeit ist, diese ganze beschissene Geschichte noch auszuhalten! Außerdem habe ich hier eine Aufgabe zu erledigen und du bist der Letzte der mich dran hindern wird! Also, hast du mir noch etwas zu sagen, Zupfgut?"
"Ja, das habe ich." Hektische Flecken auf den Wangen des Hauptmanns zeugten von nur mühsam unterdrückter blanker Wut. "Und ich sage dir, daß ich dich hiermit wegen Hochverrats verhafte!"
Mit einer geschmeidigen Bewegung erhob sich Araghast ebenfalls.
"Und was willst du tun, wenn ich nicht vorhabe, mich verhaften zu lassen?"
"Du kannst nicht entkommen, Breguyar!" zischte Zupfgut. "Das gesamte Wachhaus ist voll mit Wächtern, die dich auf einen einzigen Befehl von mir überwältigen und in die nächste Zelle werfen. Also sie vernünftig und zeig deine Hände her!"
Handschellen klirrten leise, als sie von der Schreibtischplatte genommen wurden.
Araghast atmete tief durch. Die Erinnerung an den beinahe in einem Desaster geendeten Ausflug in die Assassinengilde drängelte sich mit aller Macht in seinem Bewusstsein nach vorn. Er saß in der Klemme, genau wie dort. Und dieses Mal gab es niemanden in der Nähe, der das Problem mit einem Schlafzauber oder einem gezielten Schlag aus dem Hinterhalt aus dem Weg schaffen konnte. Er musste schnell handeln. Und er war unverfroren genug, für seine Freiheit beinahe alles zu tun.
"Na gut." verkündete er dramatisch. "Ich habe gespielt und verloren. In dem Moment in dem mein Kopf rollt werde ich dich, Farrux und diese ganze verdammte Stadt tausendmal verfluchen." Mit diesen Worten streckte er seine Hände nach vorn.
"Man merkt, daß du mal wieder reichlich gesoffen hast." kommentierte Zupfgut ungerührt, als er den Schreibtisch umrundete. "Um dich ist es jedenfalls nicht schade, Saufnase. Wieder ein mieser kleiner Verräter weniger in dieser Stadt."
Mit angehaltenem Atem wartete Araghast, bis der Hauptmann nahe genug an ihn herangekommen war. Das Metall der Handschellen fühlte sich kalt auf seiner Hand an, als die Fesseln um seine Handgelenke gelegt wurden. Dann riss er plötzlich die zu Fäusten geballten Hände nach oben und schmetterte sie Zupfgut mit aller Kraft unter das Kinn.
Der Hauptmann taumelte mit blutender Lippe rückwärts. Mit einer schwungvollen Bewegung schüttelte Araghast die offenen Handschellen von seinen Armen und stürzte sich auf Zupfgut. Er musste ihn zum Schweigen bringen bevor dieser um Hilfe schreien konnte.
Schwinger von rechts. Knie zwischen die Beine. Das typische Tavernenschläger-Manöver lief beinahe automatisch ab. Araghasts Gegner stöhnte hingebungsvoll und krümmte sich zusammen. Mit einem wohlgezielten Schwung schmetterte der Feldwebel beide Fäuste von oben auf Johann Zupfguts Kopf.
"Du verhaftest mich nicht, du verdammter Schmierlappen!" knurrte er. "Ich habe gleich eine äußerst wichtige Verabredung und du hinderst mich nicht daran, hinzugehen!"
Er versetzte dem reglos am Boden Liegenden einen letzten Tritt zwischen die Rippen und zog einen Dolch aus dem Schaft seines rechten Stiefels. Wie musste man es noch einmal tun? Zwischen fünfter und sechster Rippe?
Erschrocken hielt Araghast inne und starrte auf die schimmernde Klinge. Was war er dort gerade im Begriff zu tun? Ohne auch nur nachzudenken hätte er Zupfgut beinahe eiskalt getötet.
"Komm schon, tu es!" schien ihn eine Stimme in seinem Inneren zu beschwören. "Er hat es mehr als verdient, das weißt du selbst."
Der Feldwebel biss die Zähne zusammen. Johann Zupfgut hatte den Tod tatsächlich verdient. Wenn er ihn jetzt tötete, würde er eine Menge Wächter vermutlich sehr glücklich machen. Die leise Stimme die aufschrie, daß es ehrlos war, eine wehrlose, am Boden liegende Person zu töten, wurde gnadenlos in die Ecke gedrückt. Was bedeutete schon Ehre in einer Stadt wie Ankh-Morpork? Und heiligte der Zweck nicht die Mittel? Dieser Mann stand zwischen ihm und dem Treffen mit dem Hexer von Ankh, welches vielleicht eine Lösung für seine gesamte vertrackte Lage mit sich brachte. Araghast spürte, wie die Bestie in ihm sich zum Sprung bereit machte.
Ich bin du. Und du bist ich. Ohne mich bist du gar nichts.
"Fahr ins Pandämonium!" zischte Araghast und biss die Zähne zusammen. Nein, versuchte er, sich selbst zu überzeugen. Doch es war nur eine einzige Handbewegung und schon würde sich die Klinge des Dolches rot färben von der köstlichen warmen Flüssigkeit...
Klirrend fiel die Waffe des Feldwebels zu Boden, als dieser geradezu panisch nach seinem Flachmann tastete und nicht wenig von dessen Inhalt in wenigen Schlucken herunterstürzte. Araghast spürte das scharfe Brennen in Kehle und Magen kaum. Er stand auf der Kante des Abgrundes und hielt mühsam das Gleichgewicht. Aus der schier unendlichen Finsternis drang das hämische Gelächter des Vampirs zu ihm hinauf.
"Verschwinde!" keuchte der Püschologe. "Lass mich in Ruhe! Du kriegst mich nicht! Jedenfalls nicht heute, verdammt noch mal!"
Mit gefletschten Zähnen holte er aus und verpasste Johann Zupfgut einen weiteren Faustschlag auf den Kopf.
Ich habe kein Problem, jemanden zu töten, sagte Araghast zu sich selbst, als er eine der Gardinen von der Stange riss und sich daran machte, den bewusstlosen IA-Agenten fachgerecht zu verschnüren. Aber ich habe ein Problem damit, wenn jemand anderes versucht, es mir zu befehlen, besonders wenn es sich dabei um einen Teil von mir selbst handelt.
Nachdem er sein Werk beendet hatte, lauschte Araghast an der Tür. Nichts als Stille und das Klappen einer weit entfernten Tür drangen an sein Ohr. Er nickte zufrieden und wandte sich dem großen Aktenschrank in der Ecke zu.
Warum sollte ich auch Skrupel haben, fragte sich der Feldwebel, als er die Türen des Schrankes aufschob. Das wäre nicht das erste Mal, daß ich einen Mord unter den Tisch kehre. Als meine Kusine Ny von Canis Maior Alpha der Marquise Beatrice L' Etranger die Kehle durchbiss habe ich die Akte verschwinden lassen. Und als der Patrizier ein gewisses Interesse am Ab-Unleben von unserem lieben Bernicio Cassawar hatte, habe ich ebenfalls dafür gesorgt, daß es dazu kam. Ich habe die gesamte Wache über meine Lebensgeschichte belogen. Ich habe zehn Jahre meines Lebens geplündert, Schiffe geentert, gebrandschatzt und zugesehen wie Handelskoggen mit Mann und Maus versenkt wurden.
Aber er hatte im Laufe seiner Existenz noch niemals jemandem aus kalter Berechnung das Leben genommen. Während er die Akten aus dem Schrank in die oberen Regale räumte, wanderten Araghasts Gedanken zu Edwina Walerius. Auch sie war strenggenommen eine Mörderin. Nein, eine Assassinin, verbesserte er sich. Die Vampirjägerin mordete nicht für den persönlichen Vorteil. Sie hatte gegen Bezahlung getötet. Aber auch einige Wächter konnten bereits einige Kandidaten für einen Besuch des Sensenmanns auf ihrer Liste verbuchen. Allen voran Sidney, der nach Araghasts Meinung auf alles schoss was sich auch nur verdächtig bewegte. Oder Valdimier. Nur zu gut erinnerte sich der Feldwebel an das Gemetzel, mit dem der verdeckte Einsatz seines Freundes als Aushilfsverkäufer bei einem zwergischen Waffenhändler geendet hatte...
So leise wie nur möglich zog Araghast die Regalbretter des Schrankes aus ihren Halterungen und stapelte sie auf dem Schrankboden. Er wusste, daß er überall deutliche Fingerabdrücke hinterließ, doch das kümmerte ihn nicht im Geringsten. Er hatte weder die Zeit noch die Lust, das perfekte Verbrechen zu begehen. Alles was er brauchte war ein wenig Zeit. Und wenn er erst aus dieser Realität verschwunden war, konnten die Wächter seinetwegen so lange nach ihm fahnden bis sie schwarz wurden.
Es kostete den Feldwebel einige Mühe, Zupfguts verschnürten und geknebelten Körper in den Schrank zu zwängen, doch schließlich hatte er es geschafft, die Türen zu schließen. Sorgfältig untersuchte er den Raum nach Spuren des Kampfes und zog den im Eifer des Gefechtes verrutschten Teppich gerade. Dann wandte er sich dem Schreibtisch zu. Es überraschte ihn nicht, eine dicke Akte mit dem Namen 'Breguyar' vor dem Sitzplatz des Hauptmanns zu finden. Nur mühsam unterdrückte Araghast seine Neugierde und griff nach Papier und einer Schreibfeder. Ein von Zupfgut geschriebener Bericht diente als Vorlage und innerhalb weniger Minuten hatte der Feldwebel in einer seiner Meinung nach recht annehmbaren Fälschung der Schrift des Agenten eine Nachricht geschrieben.
Bin in ein paar Stunden wieder da - wichtige Aufgabe, gez. Hptm. Zupfgut
Araghast hoffte, daß diese Notiz eventuelle Besucher zumindest für einige Zeit hinhielt. Den sensiblen Geruchssinn eines Werwolfs brauchte er zumindest in dieser Realität nicht zu fürchten.
Jetzt musste er nur noch einen überzeugenden Abgang aus dem Büro hinlegen...
"Ja, Sör!" sagte er laut und ging zur Tür, während er das Gesicht zu einer Mischung aus Wut und Enttäuschung verzog. Weitaus kräftiger als nötig betätigte er die Klinke und schlurfte leise vor sich hinfluchend aus dem Büro des IA - Agenten, nur um eine Korridorecke weiter Dennis Schmied über den Weg zu laufen.
"Erstaunlich, daß er dich überhaupt noch hat gehen lassen, Verräter." bemerkte der Verkehrsexperte.
"Er hat mich nicht in dem Sinne gehen lassen." log Araghast. "Ich bin degradiert worden und darf das Wachhaus bis auf weiteres nicht verlassen. Der Fall geht an den Patrizierpalast. Aber merk dir eins, Schmied. Wenn mein Kopf rollen sollte, dann werde ich nach meinem Tode als Geist dafür sorgen, daß du höchstpersönlich ins Pandämonium wanderst!" Mit diesen Worten bleckte der Feldwebel seine Zähne.
Erschrocken wich Dennis Schmied zurück.
"Du..." brachte er hervor.
"Wer weiß." antwortete Araghast und marschierte an dem verblüfften Verkehrsexperten vorbei. Das hatte einfach sein müssen.
In seinem Büro angekommen schloss er die Tür hinter sich ab und genehmigte sich erst einmal einen kräftigen Schluck aus seiner Flasche. Wenn er schon angefangen hatte konnte er auch gleich dafür sorgen, daß er richtig betrunken wurde. Es dauerte mittlerweile nicht mehr lange, bis die Realität vor seinem geistigen Auge verschwamm und der Welt der Glastür mit den spiegelverkehrten Buchstaben Platz machte.
Der Mann war tot. Mausetot. Breguyar blies über den Lauf der offiziell verbotenen Federarmbrustpistole und schob die Waffe zurück in seinen Kolumbini-Gedächtnis-Mantel. Es war nötig gewesen, den Kerl zu töten. Entweder er oder ich, lautete das Gesetz der Straße, ein Gesetz mit dem der Schnüffler nur allzu vertraut war. Dieses Gesetz hatte bereits seinen Partner das Leben gekostet, und Breguyar hatte nicht vor, wie dieser zu enden. Wenn die Wache kam würde sie keine Spuren finden die auf ihn als Täter schließen ließen. Henderson war bekannt dafür gewesen, sich die halbe Unterwelt der Stadt zum Feind gemacht zu haben. Jedes verärgerte Verbrecheroberhaupt könnte sein Ableben angeordnet haben. Entschlossen zog sich Breguyar seinen Hut tiefer in die Stirn und trat aus dem Torweg in den Regen hinaus, während ein humorloses, grimmiges Lächeln seine hageren Gesichtszüge verzerrte. Der Tod des kleinen Schmierlappens war für den bodenlosen Sumpf des Verbrechens mühelos zu verschmerzen. Ein privater Ermittler kämpfte tagtäglich einen Kampf den er niemals gewinnen konnte. Wanderte ein Krimineller ins Verließ, rückten gleich zwei auf seinen Platz nach. Und selbst diejenigen deren eigentliche Aufgabe es war, für Recht und Ordnung zu sorgen, steckten bis zum Hals im Sumpf. Es gab keine Rechtschaffenheit in dieser Stadt. Jedem bedeutete seine Ehre nur so lange etwas, bis die Summe des Bestechungsgeldes hoch genug war, um sie in den Schmutz zu treten.
"Und dann fragen sich die Leute immer, warum ich trinke." murmelte Breguyar, als er durch die nasse Dunkelheit davonstapfte.

Ein Glockenschlag weckte den Feldwebel aus seinem Tagtraum. Immer noch halb in Trance zählte er die Schläge mit. Neun Uhr. Nur noch eine halbe Stunde, und er würde sich mit Godric Adana vor Edwina Walerius' Haus treffen. Es blieb ihm nicht mehr viel Zeit, das Wachhaus ungesehen zu verlassen und es bis zum Treffpunkt zu schaffen, ohne einer Streife zu begegnen.
Regen peitschte ihm entgegen, als Araghast das Fenster seines Büros aufstemmte und sich auf das Dach hangelte. Die Dolchwunde protestierte schmerzend, als der Feldwebel seinen linken Arm belastete, um sich an der Regenrinne festzuklammern. Unter ihm lag gut fünf Meter tiefer das harte Pflaster des Pseudopolisplatzes.
"Trinkt aus, Piraten, Yo-Ho!" sang Araghast leise, als er sich nach mehreren Minuten waghalsiger Kletterei auf dem vom Regen rutschigen Dach auf dem First aufrichtete. Das leichte Kribbeln eines Anfalls von Nostalgie regte sich in seiner Magengrube.
"Alle Mann in die Wanten! Refft die Segel und hart Backbord!" befahl er der Scheibenwelt im Allgemeinen und machte sich auf den langwierigen und gefährlichen Weg über die Dächer Ankh-Morporks.

Ehrenwerte Herrschaften


"Wunderbar. Geradezu perfekt."
Der ehrenwerte Alfons Messerkuss verneigte sich auf das Lob des Gildenoberhauptes hin leicht.
"Es war doch nur eine Fingerübung, Herr Doktor. Der Mann war so bekannt wie ein bunter Hund."
Doktor Kreuz gestattete es sich, dünn zu lächeln.
"Araghast Breguyar wird es noch bereuen, in unser Gildenhaus spaziert zu sein, eine Akte gestohlen und dazu noch einen unserer Schüler schwer verletzt zu haben. Nicht, daß der junge Kalmach mich kümmert. Wäre er ein besserer Assassine gewesen, hätte er diesen Wächter und seinen Zauberer zur Strecke gebracht. Aber hier geht es ums Prinzip, mein Lieber."
"Und wie ich Sie einschätze wird er nicht mehr lange Zeit dafür haben, zu bereuen, Herr Doktor." antwortete Messerkuss aalglatt.
"Da schätzt du mich absolut richtig ein, werter Kollege. Und es wird deine ganz persönliche Aufgabe sein, Araghast Breguyar und seinen Zauberer zu inhumieren. Sieh es als eine Art Gildenjustiz an."
Der Nachwuchsassassine nickte diensteifrig.
"Und," fuhr das Gildenoberhaupt fort, "Ich würde gern noch die Identität des Zauberers vernehmen. Er ist zwar nur ein Handlanger, aber es muss sein, für die Akten."
Messerkuss biss sich auf die Lippen. Insgeheim hatte er gehofft, um diesen Punkt des Gespräches herumzukommen.
"Da gibt es ein kleines Problem, Herr Doktor." begann er.
"Ja?" Interessiert beugte sich Doktor Kreuz über seinen Schreibtisch und funkelte sein Gegenüber durch seine kleinen runden Brillengläser an. Der junge Assassine schluckte. Wenn sein Vorgesetzter derartiges Interesse zeigte, sollte er sich besser überlegen was er sagte.
"Sein Name ist Raistan Adelmus Quetschkorn, frisch an der Unsichtbaren Universität graduierter Zauberer. Nur starb er seltsamerweise bereits vor einigen Tagen, als diese geistig zurückgebliebenen Magier in die Überreste von Herrn Hongs Imbiss einstiegen. Ich habe es nachgeprüft: Die Leiche wurde ordnungsgemäß identifiziert und auf dem Friedhof der Geringen Götter bestattet."
Doktor Kreuz hob eine Augenbraue.
"Das ist wirklich interessant." bemerkte er. "Nun, wie du vermutlich weißt, bedeutet der Tod nicht immer automatisch das Ende der Existenz in dieser schönen Stadt."
"Nein, Herr Doktor." beeilte sich Messerkuss, seine verbale Scharte auszuwetzen. "Ich werde mich der betreffenden Person annehmen, ganz gleich welchen Vitalitätsstatus sie derzeit besitzt." Er gab sich Mühe, seriös dreinzublicken. "Ich versichere Ihnen, bis zum morgigen Tag werden die beiden Übeltäter endgültig Geschichte sein."
"Das hoffe ich, mein lieber Messerkuss." Zufrieden lehnte sich das Oberhaupt der Assassinengilde in seinem Schreibtischsessel zurück. "Das hoffe ich doch sehr."

Der letzte Strohhalm


Mittlerweile schien es ihr, als habe sie auch der letzte Funken Glück verlassen. Bereits seit über einer Stunde wartete sie vor dem Wachhaus und immer war noch keine Spur von Araghast zu sehen. Kanndra gähnte verstohlen. Lange würde sie die Illusion des harmlosen Stallburschen nicht mehr aufrechterhalten können. Doch sie musste ausharren. Bregs war ihre letzte Hoffnung, auf der Heimreise nach Gennua nicht zu verhungern.
Der Regen lief ihr über das Gesicht und tropfte von ihrem Kinn auf den Umhang. Ihre Füße fühlten sich an als seien sie zu Eisklumpen erstarrt.
"Bitte, Bregs." flehte die Voodoo-Hexe lautlos. "Komm raus! Tu irgendwas!"
Eine Bewegung an der Front des Wachhauses erweckte ihre Aufmerksamkeit. Jemand stieß ein Bürofenster im ersten Stock auf. Kanndra hielt den Atem an, als eine schlanke Gestalt auf die Fensterbank stieg und sich in einem schier halsbrecherischen Manöver auf das Dach hangelte. Der zerschlissene graue Mantel und der lange schwarze Zopf ließen keine Zweifel bei der Frage zu, um wen es sich handelte.
An liebsten hätte die Gennuanerin ihren Freund angeschrien, er solle sein Leben nicht auf diese Weise riskieren, doch stattdessen presste sie die Lippen fest zusammen. Anscheinend hatte irgendein Gott auf ihre Bitten gehört. Doch wenn Araghast sein Büro auf diese Weise verließ, musste etwas Schlimmes passiert sein. Bestimmt steckte dieser Zupfgut dahinter. Hatte Bregs bei ihrem letzten Treffen nicht von einer Verhandlung gesprochen?
Auf dem Dachfirst angelangt richtete der Püschologe sich auf und schien irgend etwas zu rufen. Kanndra schloss daraus, daß ihr Freund wieder einmal genug getrunken hatte, um die Hälfte seiner Kollegen unter den Tisch zu befördern. Eines musste man Araghast lassen, dachte sie, als sie zusah, wie sich dieser mit sicheren Schritten zum Ende des Daches lief und den Abstand zwischen dem Wachhaus und dem Nachbargebäude mit einem gewagten Sprung überwand. Egal wieviel er intus hatte, man merkte es ihm fast nie an.
Geduckt folgte Kanndra der Route ihres Freundes, immer im Schatten einer Hauswand und betend, daß der Wächter keinen Fehltritt tat und abstürzte. Sie konzentrierte sich kurz und ließ die Illusion fahren. Bei diesem schlechten Wetter achtete niemand auf eine in einen dunklen Kapuzenmantel gehüllte Passantin.
Doch ehe sie es sich versah, hatte sie Araghast aus den Augen verloren. Von einer Sekunde auf die andere war er einfach verschwunden. Ihr inneres Auge zeigte ihr grauenvolle Bilder, auf denen ihr einziger Freund mit zerschmetterten Knochen auf einem regennassen Hinterhof lag und sich eine Blutlache langsam unter seinem Körper ausbreitete, während sein smaragdgrünes Auge reglos gen Himmel starrte. Kanndra konnte nicht anders. Sie lief los, auf das Haus zu, auf dessen Dach sie Araghast zum letzten Mal erblickt hatte. Nach ihrer Schätzung befanden sie sich kurz vor der Pons-Brücke. Hatte der Feldwebel vorgehabt, sich bei ihr zu verstecken? Wenn es sein Plan gewesen war, dann hätte er eine äußerst unangenehme Überraschung erlebt.
"Bregs?" rief die Voodoo-Hexe leise. "Bist du hier irgendwo?"
Nur das Prasseln des unabläßlich fallenden Regens auf den Pflastersteinen antwortete ihr.
"Araghast Breguyar!" ihre Stimme zitterte leicht. "Wo steckst du?"
Eine Hand packte sie mit eisernem Griff und zerrte sie in den Schatten eines Hinterhofzugangs.
"Pssst!" zischte jemand dicht neben ihrem Ohr. "Nicht schreien, Kanny!"
Erleichtert atmete Kanndra aus während ihr das Herz bis zum Hals schlug.
"Bregs." seufzte sie und fiel ihrem Freund um den Hals. "Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, daß ich dich endlich erwischt habe." Wieder Willen traten ihr die Tränen in die Augen. "Sie haben alles verbrannt. Ich habe nichts mehr!"
"Wie, was, wer?" Araghast klopfte ihr beruhigend auf den Rücken.
"Die Sondergruppe Ankertaugasse." schniefte sie. "Und die Menge hätte mich gelyncht wenn sie mich in die Finger gekriegt hätten! Es waren die Menschen, denen ich jahrelang Heilmittel verkauft habe..."
"Das Gesetz des Mobs." antwortete der Feldwebel mit zusammengebissenen Zähnen. "Dann haben wir ja jetzt eins gemeinsam. Wir stehen beide bei diversen bewaffneten Truppen der Stadt auf der Abschussliste. Nur daß bei mir noch die verdammten Assassinen dazukommen."
Er befreite sich aus ihrer Umarmung und zog ein flaches Metallfläschchen aus seiner Manteltasche, welches er aufschraubte und ihr reichte.
"Trink einen Schluck. Es ist scharf, aber es wirkt."
Kanndra tat wie ihr geheißen und hätte beinahe einen Hustenanfall erlitten. Die beißende Schärfe des Getränks schien sich geradewegs durch ihre Kehle in den Magen zu fressen.
Behutsam nahm Araghast ihr die Flasche ab und bediente sich selbst am Inhalt.
"Assassinen?" keuchte die Gennuanerin. "Was hast du nun schon wieder angestellt?"
"Sagen wir es so. Ich hatte gestern einen kleinen Zusammenstoß mit ihnen in ihrem eigenen Gildenhaus. Und anschließend habe ich noch einen Kollegen niedergeschlagen, der meinen Begleiter verhaften wollte. Zupfgut war gelinde gesagt nicht besonders begeistert von meinen Eskapaden, wie sich vorhin herausgestellt hat."
Während ihr Freund sprach spürte Kanndra, wie das Brennen in ihrem Magen nachließ und einer wohligen Wärme platzmachte.
"Unser allseits beliebter Agent liegt gerade zu einem handlichen Bündel verschnürt in seinem eigenen Büroschrank." setzte Araghast seine Erzählung fort. "Daraufhin habe ich zugesehen, daß ich wegkam. Ich bin einer großen Sache auf der Spur, Kanny. Du erinnerst dich an den Mann der vor ein paar Tagen bei dir war und versucht hat, dich zu hypnotisieren?"
Die Voodoo-Frau zuckte zusammen.
"Erinnere mich nicht an den." murmelte sie. "Es war schrecklich. Diese Augen..."
"Dieser Mann ist gerade mitten darin, die Apokralypse heraufzubeschwören." sagte Araghast ernst. "Wenn es ihm nicht schon gelungen ist. Komm mit. Ich bin gerade unterwegs um mich mit der einzigen Person zu treffen die vielleicht in der Lage ist, das ganze Elend hier zu beenden."
"Schlimmer kann es wirklich nicht mehr kommen, oder?" fragte Kanndra resigniert. "Aber was solls. Ich habe eh nichts mehr zu verlieren."

Der Kreis schließt sich


Die große Standuhr in der Zimmerecke schlug halb zehn und weckte Raistan aus dem Halbschlaf, in den er hinter dem Schreibtisch sitzend gefallen war. Müde rieb er sich die Augen und blinzelte die letzten Fetzen des Schlafes fort. Wenigstens hatte er dieses Mal nichts geträumt. Die Realitätsnähe des vergangenen Traumes saß ihm immer noch in den Knochen und sobald er die Augen schloss und sich konzentrierte, sah er die achteckige Kaverne und das tentakelbewehrte Ding wieder deutlich vor sich. Er war sich sicher, daß es sich um eine Botschaft handelte. Jemand schien zu wollen, daß er verstand. Doch dann hatte sein Bruder ihn geweckt, bevor er den Traum bis zum Ende erlebt hatte.
Furchtloser armer Tor, der Wahnsinn, er wartet, lauernd unter der See, URALTER RIESE, verbotener Ort, er sucht, der Jäger aus den Schatten erhebt sich...
Raistan konnte nicht sagen, weshalb ihm diese Worte in den Sinn kamen, aber sie erschienen ihm der Situation angemessen. Kamerun ahnte, daß im Laufe des Tages etwas Schreckliches passieren würde. Und die Ahnungen seines Bruders hatten sich immer als richtig erwiesen.
Auch Edwina Walerius schien angespannt zu sein. Den ganzen Morgen über hatte sie entweder ein Whiskyglas in der Hand gehalten oder ihre Waffen poliert. Jetzt lag die Spezialarmbrust mit glänzend polierten Metallteilen auf dem Rauchertischchen, daneben ein Köcher mit Pflöcken. Raistan ertappte sich bei dem Gedanken, froh darüber zu sein, daß er nicht der vampirischen Spezies angehörte. Unwillkürlich wanderte sein Blick zu dem Regal welches die Jagdtrophäen enthielt. Ob Araghast Breguyar wohl jemals per Zufall die ganz bestimmte Phiole in die Hand nehmen würde? Der junge Zauberer versuchte sich vorzustellen wie ihm zumute sein würde, wenn ihm jemand die Asche seines eigenen Vaters in einem Fläschchen präsentieren würde und stellte zu seinem eigenen Entsetzen fest, daß sich sein Bedauern sehr in Grenzen hielt. Holger Quetschkorn hatte für seinen achten Sohn größtenteils aus kräftigen Schlägen mit der Eselspeitsche, missbilligenden Blicken und den Vorwürfen, im Grunde völlig nutzlos zu sein bestanden, und Raistan hatte es ihm nie verziehen. Wäre er am Tag des großen Lehrstellenmarktes nicht davongelaufen, hätte sein Vater ihn vermutlich totgeschlagen, weil niemand ihn hatte haben wollen. Nein, wenn ihm jemand die Asche seines Vaters auf einem Silbertablett servieren würde wäre er nicht im geringsten traurig. Und er konnte sich vorstellen, daß es Breguyar ähnlich erging. Schließlich hatte dessen Vater dem Wächter den verhassten Vampirismus vererbt, an dem selbiger nun langsam aber sicher zu Grunde ging. Raistan konnte sich kaum vorstellen, eine derartige Gier nach etwas zu entwickeln, daß es ihn langsam aber sicher in den Wahnsinn trieb. Doch genau das schien mit Breguyar der Fall zu sein. Er war weder ein Mensch noch ein Vampir, und beide Seiten einer einzelnen Person bekämpften sich gegenseitig, solange sie nicht mit Alkohol ruhiggestellt wurden. Eine Sucht wurde durch eine andere ersetzt.
Was ihn immer noch verwunderte war die Tatsache, daß der Feldwebel ausgerechnet ihm, einem kaum einundzwanzigjährigen Landei mit wenig Lebenserfahrung und noch weniger Gesundheit, sein Herz ausgeschüttet hatte, obwohl er ihn so gut wie gar nicht kannte. Doch Araghast Breguyar und er, Raistan Quetschkorn, hatten einiges gemeinsam. Beide schienen sie schon vor ihrer Geburt verflucht worden zu sein, an einer unheilbaren Krankheit zu leiden. Beide waren sie auf ihre Väter nicht gut zu sprechen. Und beide steckten sie in dieser falschen Wirklichkeit fest.
"Der Mann steht immer noch da drüben und hat sich nicht bewegt." weckte ihn Kameruns Stimme aus seinen Gedanken. "Langsam kommt es mir wirklich komisch vor."
Edwina Walerius legte den Wetzstein auf den Tisch und blickte prüfend an der Schneide ihres Schwertes entlang.
"Solange es nurr eine Perrson ist, werrden wirr mit ihm schon ferrtig werrden." bemerkte sie ruhig. "Was mirr eigentlich viel mehrr Sorrgen macht ist die Frrage, wo Brreguyarr bleibt. Hoffentlich steckt err nicht in Schwierrigkeiten."
"Ihr habt ihn am vorigen Abend nicht erlebt." konnte Raistan sich nicht verkneifen zu bemerken. "Ich glaube, daß man eher die Frage stellen sollte, wem er gerade Schwierigkeiten macht."
"Da könntest du Rrecht haben." kam eine trockene Antwort zurück. "Verrmutlich neige ich zurr Zeit einfach nurr dazu, wirrklich alles schwarrz zu sehen. Err ist immerrhin derr Anführrerr derr Frreiwilligen Rretterr ohne Gnade."
Das klingt für mich ganz nach dem offiziellen Selbstmordkommando der Wache. dachte Raistan still für sich. Doch letztendlich passte dieser Posten perfekt zu seiner Vorstellung des Feldwebels Araghast Breguyar. Es handelte sich um einen Mann der kein Risiko scheute, um sein Ziel zu erreichen. Mit einer Mischung aus natürlicher Dreistigkeit und kalter Berechnung machte sich der Wächter zum Herren beinahe jeder Situation und schreckte auch vor blanken Lügen nicht zurück.
"Der Kerl beobachtet uns auf jeden Fall." ließ sich Kamerun vernehmen. "Eben hat er genau zu uns rübergeguckt."
"Wie sieht err aus?" fragte Edwina und legte das Schwert neben die Armbrust.
"Groß und schlank. Er hat einen Regenschirm und einen Spazierstock dabei. Dunkler Mantel, ein Hut wie du und scheinbar Interesse genug an uns, um da mitten im Regen zu stehen ohne sich irgendwo unterzustellen." Der Nachwuchsheld lächelte seinen Bruder an. "Komm mal her, Kleiner. Hast du den Heini schon mal gesehen?"
Raistan erhob sich, schlüpfte zwischen seinem Bruder und der Zimmerwand hindurch und schob vorsichtig die Gardinen einen Fingerbreit auseinander. Draußen prasselte der Regen gleichmäßig auf die Straße und verwandelte die Fahrbahn in eine Miniaturausgabe des Ankhs. Der Kadaver eines Hundes trieb vorbei, gefolgt von mehreren verfaulten Kohlköpfen und einem halben Wagenrad. Wenn man nur lange genug wartete, konnte man vermutlich genug Treibgut zusammensammeln um in den Schatten einen Gemischtwarenladen zu eröffnen. Der junge Zauberer legte den Kopf schief, um die Person neben dem Tor des Zentralfriedhofs besser erkennen zu können. Sie war, ganz wie Kamerun es beschrieben hatte, in einen dunklen Mantel gehüllt, wie ihn normalerweise Kutscher bei kaltem Wetter trugen, und auf ihrem Kopf saß ein Herrenhut, welcher ein Zwilling desjenigen auf Edwina Walerius' Hutablage sein könnte. Ein Spazierstock klemmte lässig unter dem linken Arm, während die rechte Hand einen aufgespannten Regenschirm hielt. Während Raistan sich noch Mühe gab, Einzelheiten des Gesichtes auszumachen, kam plötzlich Bewegung in die Szenerie. Mit eiligen Schritten überquerte der Fremde die Straße und verschwand im toten Winkel des Fensters.
"Er ist fort." teilte der junge Zauberer den anderen beiden mit. "Eben hat er auf unsere Straßenseite gewechselt."
Ein leises Scharren teilte ihm mit, daß Kamerun sein Schwert aus der Scheide gezogen hatte.
"Haltet euch berreit." befahl Edwina und griff nach ihrer Armbrust. "Wirr wissen nicht, mit wem oderr was wirr es hierr zu tun haben."
Raistan beobachtete, wie die Überwaldianerin einen Pflock ergriff und ihn mit geübten Handbewegungen in den Abschussmechanismus ihrer Waffe einsetzte. Mit schnellen Schritten eilte er zu seinem an der Wand lehnenden Stab und umfasste das dunkle Holz mit beiden Händen. Die gespeicherte Magie prickelte sanft unter seinen Fingern. Nur allzu deutlich erschien das Bild des besessenen Emanuel Kaboltzmann vor seinem inneren Auge. Die goldenen Augen mit den Stundenglaspupillen und der aus zahllosen peitschenden Tentakeln bestehende Schatten... Was auch immer nun geschehen mochte, er war bereit, ihm entgegenzutreten.
Eine scheinbare Ewigkeit verging, bis die Türglocke unnatürlich laut schrillte.
Mit angehaltenem Atem lauschten die Drei Rogis schlurfenden Schritten.
"Die Herrfaften wünfen?" erklang die Stimme der Igorina kurz nach dem charakteristischen Knarren der sich öffnenden Eingangstür.
"Ich möchte das Fräulein Edwina Walerius sprechen, Rogi. Sag ihr, daß ich zwei Gäste mitgebracht habe, die uns bei unserer Sache behilflich sein werden."
Raistan entspannte sich und lockerte seinen Griff um den Stab. Es war Breguyar. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie Edwina die Armbrust senkte.
"Brring ihn gleich herrein." befahl sie. "Aberr zuerrst mag derr Feldwebel mirr errklärren, um wen es sich bei den Gästen handelt und warrum err das Rrisiko eingegangen ist, jemanden hierrherrzubrringen."
"Es musste sein, zu unserer eigenen Rettung." antwortete Araghast anstatt der Igorina durch die Tür. "Kanndra Mambosamba ist eine gute Freundin von mir und eine sehr fähige Voodoo-Zauberin. Die Geheimpolizei will ihren Kopf, genau wie vermutlich mittlerweile meinen eigenen."
"Warum habe ich nur das Gefühl, daß wir hier nicht besonders willkommen sind?" bemerkte eine kalte, leicht spöttisch klingende Männerstimme.
"Das ist ganz gesundes Misstrauen." antwortete Araghast kaum hörbar. "Wenn Sie in unserer Situation wären, würden Sie auch keinem Fremden trauen."
Mittlerweile können wir nicht einmal mehr denen trauen die wir zu kennen glauben, ging Raistan durch den Kopf als sich die Tür öffnete und der Feldwebel in Begleitung einer exotisch gekleideten Frau eintrat. Ihr hübsches Gesicht war bleich unter der kaffeebraunen Hautfarbe und ihre dunklen Augen vom Weinen verquollen. Doch ein trotziger Zug hatte sich um ihre Mundwinkel eingegraben, als habe sie bereits den Entschluss gefasst, daß jemand für das Unrecht bezahlen musste, was ihr angetan worden war.
"Fräulein Walerius." sagte sie höflich und ließ sich die Überraschung über die offensichtliche Verteidigungsbereitschaft der Anwesenden nicht anmerken. "Es ist wirklich sehr nett von Ihnen, daß sie bereit sind, mich zu empfangen."
"Alle Feinde derr Rregierrung Farrux und derr Dinge aus den Kerrkerrdimensionen sind meine Frreunde." antwortete die Überwaldianerin galant und wies mit einer einladenden Handbewegung auf den nicht mit Waffenpflegematerialien belegten Sessel.
Währenddessen überlegte Raistan, wieviel Breguyar der Frau wohl von ihrer gegenwärtigen Lage erzählt haben mochte. Wusste diese Kanndra Mambosamba, daß diese Ausgabe ihres Freundes nicht aus ihrer Wirklichkeit stammte? Ein seltsamer Glanz schimmerte in ihren geröteten Augen und der junge Zauberer erinnerte dunkel sich an eine Vorlesung über exotische Magie, die er zu Anfang seiner Studienzeit einmal gehört hatte. Die Voodoo-Zauberei entstand aus rein intuitiver Anwendung der Gabe, und bisher hatte es noch niemand fertig gebracht, diese Art der Magie in Formeln und Gesten zu bannen, wie es sich für anständige Zauberei gehörte. Schwarze Hähne, seltsame Puppen, Stecknadeln und eine Menge schlimmer Dinge die man damit anstellen konnte fielen Raistan dazu auf der Stelle ein. Lautlos trat er einen Schritt zurück, senkte den Blick und konzentrierte sich darauf, nicht aufzufallen. Er traute dieser Frau nicht recht über den Weg. Es hieß, Hexen hegten eine ziemliche Abneigung gegenüber Zauberern und er wollte nicht zur Zielscheibe eines in blinder Wut geschleuderten Fluches werden.
Plötzlich gewahrte er, daß sämtliche Geräusche im Zimmer verstummt waren. Vorsichtig sah er auf und klemmte sich eine Haarsträhne hinter das Ohr.
Der hochgewachsene, schlanke Mann lehnte lässig am Türrahmen, und hielt einen schwarzen Gehstock mit kristallenem Knauf in den behandschuhten Händen. Sein edler Anzug war schwarz, ebenso sein sorgfältig zurechtrasierter Bart und das Haar. Ein paar durchdringender, eisblauer Augen unter elegant geschwungenen Brauen musterte das Zimmer gründlich. Doch all dies war es nicht, das Raistan kurz vor einen Anfall von Atemnot brachte. Es war die wie ein Blitz geformte schneeweiße Strähne, die von der linken Seite der Stirn aus über den Kopf des Fremden führte.
Dies war der Mann den Kaboltzmann ihn angefleht hatte zu finden. Während der junge Zauberer durch ruhiges Ein- und Ausatmen versuchte, seine verkrampfte Luftröhre zu entspannen, spürte er, wie der Blick des Hexers von Ankh ihn kurz streifte. Trotzig erwiederte er den Blick, doch das Interesse des Mannes mit der weißen Haarsträhne hatte sich bereits einer anderen Person zugewandt.
"Edward?" fragte er schließlich und ein Anflug von Verwunderung schwang in seiner Stimme mit.
"Edwina." berichtigte ihn die Überwaldianerin mit einem leichten Lächeln auf den rotgeschminkten Lippen. "Edwina Dorrothea Walerrius ist mein Name, Godrric Adana. Und wunderrn Sie sich nicht, daß ich ihrren Namen kenne. In derr Wirrklichkeit aus derr ich stamme habe ich mich eingehend mit Ihrrerr Geschichte beschäftigt. Auch wenn Sie dorrt längst Verrgangenheit sind."
Sie legte ihre Armbrust auf den Rauchertisch und trat auf ihn zu.
"Und nun habe ich Sie also wirrklich vorr mirr, Hexerr von Ankh. Lange habe ich mirr gewünscht, Sie endlich einmal perrsönlich zu trreffen. Und jetzt muss es unterr derrmaßen krritischen Umständen geschehen. Aberr derr Mob steht schon vorr dem Schlossporrtal, wie es in Mütterrchen Überrwald so schön heißt. Setzen Sie sich doch alle. Ich fürrchte, uns allen hierr stehen eine lange Geschichte und viele Errklärrungen bevorr."

Schäffsache


"Das schlägt aber wirklich dem Fass den Boden aus!" donnerte Kommandeur Rince.
Die vier übrigen Abteilungsleiter gaben sich die größte Mühe, möglichst unbeteiligt dreinzuschauen. Humph MeckDwarf schien seine Stiefelspitzen plötzlich hochinteressant zu finden, während Larius de Garde die Aussicht jenseits des Fensters bewunderte. Dragor Nemod von RUM blickte starr auf die gegenüberliegende Wand und Fähnrich Daemon spielte mit seinem Webel herum, den er trotz seiner kürzlichen Beförderung auf Gedeih und Verderb nicht hatte herausrücken wollen.
Der Kommandeur seufzte tief und dachte mit Bedauern an die sechs Wurstbrote die in der obersten Schublade seines Schreibtisches auf ihn warteten. Warum hatte er es auch mit einem derartigen Sauhaufen von Wächtern zu tun? Nicht genug, daß Johann Zupfgut ihm ein ständiger Dorn im Auge war, nein, diese gesamte hoffnungslose Versammlung von Inkompetenz machte ihn schlicht und einfach wütend. In den letzten Tagen waren Akten verschwunden, Wächter hatten sich gegenseitig überfallen und nun war auch noch eine komische Insel aus dem Meer aufgestiegen, die scheinbar die Bürger der Stadt verrückt machte, wenn man Frau Willichnichts Beschwerde vom Morgen Glauben schenken konnte. Zähneknirschend hatte Rince eine Eilnachricht an den Patrizierpalast geschickt, nur um eine Viertelstunde später die Einladung zu einer Notstandssitzung der wichtigsten Würdenträger der Stadt zu erhalten. Tief in seinen Eingeweiden spürte der Kommandeur, daß sich etwas Großes zusammenbraute. Und dieses Gefühl behagte ihm ganz und gar nicht.
"Also, hat irgendwer mir noch etwas zu sagen?" schnauzte er die versammelten Abteilungsleiter an. "Die Menge der Fälle, die niemand auch nur ansatzweise zu lösen in der Lage ist, hat sich innerhalb der letzten Woche verdoppelt! Womit verbringt ihr eigentlich alle eure Zeit? Mit Leg-Herrn-Zwiebel-Rein und Saufrunden im Eimer? Und MeckDwarf, was hat Breguyar nun eigentlich verbrochen, daß Zupfgut seinen Kopf rollen sehen will?"
Humph räusperte sich.
"Nun, Sör." begann er. "Erst einmal wurde er wieder einmal völlig betrunken in seinem Büro gefunden. Dann behauptete er auf einmal völlig wirres Zeug von einem vampirischen Kommandeur und beschuldigte mich, daß diese Welt nur ein Scherz sei."
"Das kann ich bestätigen." mischte sich Larius ein. "Am Morgen vor zwei Tagen stolperte er in mein Büro und benahm sich ziemlich komisch." Der Fähnrich zuckte mit den Schultern. "Vielleicht war er auch einfach nur mal wieder stockbesoffen."
"Anschließend versuchte er, zu erklären, daß er sich den Kopf gestoßen hat." nahm Humph den Faden wieder auf. "Später am gleichen Tag bedrohte er den Ermittler Inspäctor Kolumbini. Dann blieb es recht ruhig um ihn, bis zum gestrigen Abend." Der Oberleutnant senkte seine Stimme. "Er schlug einen Kollegen nieder um einen Zauberer zu beschützen."
"Wie bitte?" Rince wollte seinen Ohren nicht trauen. Trotz dessen notorischer Affinität zu diversen starken alkoholischen Getränken hatte er Feldwebel Breguyar bisher immer für einen seiner fähigeren Leute gehalten.
"Es heißt, er steht mit der Widerstandsbewegung im Bunde." warf Leutnant Nemod ein. "Erst die Beziehung mit dieser Verschwörerin, dann die Treffen mit der Voodoo-Frau aus dem Fischbeinweg. Er führt etwas im Schilde, wenn du mich fragst, Sör."
"Hmmm..." Rince kratzte sich nachdenklich am Kinn und verlagerte sein Gewicht, was den an die Grenzen seiner Belastbarkeit gebrachten Bürostuhl gefährlich ächzen ließ. "Und wo bei allen Göttern steckt Breguyar jetzt?" fragte er plötzlich.
"Ich bin mir nicht sicher." ließ sich Humph nach einer kurzen Pause vernehmen. "Aber ich glaube, er wurde heute Morgen von Hauptmann Zupfgut zum Verhör zitiert."
"Bring ihn her." befahl der Kommandeur. "Ich habe einige Fragen an ihn."
Während der Oberleutnant den Raum verließ und sich unangenehmes Schweigen im Kommandeursbüro ausbreitete, grübelte Rince noch einmal genau über die Aussagen der Abteilungsleiter nach. War Araghast Breguyar wirklich von einem Tag auf den anderen völlig durchgedreht? Und er war es laut Bericht gewesen, der kurz vor dessen Selbstmord mit dem Fischer gesprochen hatte. Zudem las er komische Bücher. In dem Kommandeur regte sich der Verdacht, daß Breguyar vielleicht derjenige war, der ihm mehr über diese plötzlich aufgetauchte Insel, die komischen Schleimspuren auf dem Friedhof und überhaupt die ganzen verrückten Geschehnisse der letzten Tage erzählen konnte.
"Sag mal, Sör," unterbrach Daemon seine Gedanken, "Wieso darf ich meinen mir sauer verdienten Webel eigentlich nicht behalten?" Zärtlich streichelte er den besagten Gegenstand.
"Das haben wir schon mittlerweile hundertmal diskutiert, Fähnrich." knurrte Rince missmutig. "Ein Webel ist ein Zeichen des Ranges, und den Rang in dem du dieses Zeichen trägst hast du nun überschritten. Aber wenn dir so viel an diesem Ding liegt, kannst du dich gerne wieder von Zupfgut degradieren lassen."
Wieder füllte unangenehmes Schweigen den Raum. Rince sah aus dem Fenster. Schon seit mehreren Tagen regnete es ohne Pause und ihm war, als würde es bis zur Apokralypse nicht mehr aufhören.
Nach wenigen Minuten, die dem Kommandeur wie eine Ewigkeit vorkamen, kehrte Humph MeckDwarf zurück und schüttelte, kaum daß er das Zimmer betreten hatte, auch schon mit dem Kopf.
"Zupfguts Büro ist leer, Sör." erstattete er Bericht. "Und das Büro von Breguyar auch. Allerdings steht dort das Fenster offen."
"Verdammt!" Rince schlug mit der Faust auf den Tisch. "Lasst ihn suchen!" befahl er. "Und wenn ihr ihn findet, bringt ihn sofort zu mir! Ich will ihn vor den verfluchten Geheimpolizisten von der Sondergruppe Ankertaugasse und vor Zupfgut haben, die ihm beide vermutlich schon auf den Fersen sind!"

Der Herrscher


Mit einem schmatzenden Geräusch verschwand das letzte Bein des kandierten Seesterns zwischen den fleischigen Lippen des amtierenden Patriziers von Ankh-Morpork. Genüsslich leckte sich Ephraim Farrux die teigigen Finger ab und ließ sich in die weichen Kissen des Diwans sinken.
"Das sind wirklich sehr erfreuliche Nachrichte, meine Teuerste." verkündete er schließlich und schenkte seiner in einem prachtvollen Sessel sitzenden und stickenden Gattin ein wohlwollendes Lächeln.
Lady Elisabeth Farrux, geborene Bolzano, sah auf.
"Was denn, Schnuckiputzi?" fragte sie lauernd.
Mit einem seidenen Taschentuch tupfte sich Lord Farrux die winzigen Schweissperlen von der Glatze. Eigentlich mochte er seine Frau. Sie war hübsch, stammte aus gutem Hause, widersprach ihm nie und war nicht allzu hell im Oberstübchen. Doch wenn sie es wagte, ihn einmal vor anderen Personen mit seinem Kosenamen anzureden, würde er sie köpfen lassen.
"Gute Neuigkeiten." sagte er und begann, sich die Seesternkrümel vom Kinn zu wischen. "Du erinnerst dich doch an deine missratene Kusine?" fragte er nach einer kleinen Kunstpause.
Wie nicht anders erwartet sprang seine Gattin auf den Köder sofort an.
"Natürlich." antwortete sie in jenem gehässigen, tausendfach kaffeeklatscherprobten Tonfall, welcher beinahe allen Frauen scheinbar in die Wiege gelegt wurde. "Wie könnte ich dieses verräterische Miststück je vergessen? Es war zu erwarten, daß sie versucht hat, etwas gegen dich zu unternehmen. Wie der Vater, so die Tochter. Der Apfel fällt nun mal nicht weit vom Stamm."
"Nun." Farrux rülpste zufrieden. "Erinnerst du dich auch an ihren Geliebten? Den Stadtwächter?"
"Dieser ungehobelte Prolet." kam es postwendend zurück. "Der Bastard einer verarmten, bedeutungslosen Adelsfamilie. Sein Onkel hat neun Menschen getötet!"
Der Patrizier nickte. Seine Frau war so berechenbar. Immer bereit, alles und jeden niederzumachen, der auch nur eine leicht andere Auffassung vom Leben besaß als sie selbst. Immer öfter schien sie zu vergessen, daß sie selbst lediglich aus einer bürgerlichen Familie stammte. Wermut und Begonia Bolzano waren reich und angesehen, aber dennoch so adelig wie ein Straßenköter.
"Was ist denn nun, Schnuckiputzi?" drängelte Elisabeth ungeduldig.
Ephraim Farrux holte tief Luft und setzte sich auf, um seiner Aussage die nötige Bedeutung zuzumessen.
"Araghast Breguyar ist ebenso zum Verräter an Stadt und Regierung geworden wie deine Base Leonata. In der vergangenen Nacht drang er gemeinsam mit einem Zauberer gewaltsam in die Assassinengilde ein und schlug anschließend einen rechtschaffenen Wächter nieder. Die Assassinengilde hat zwar beschlossen, den Fall auf ihre Weise zu regeln, aber ich habe einige meiner besten Geheimwächter und Zupfgut ebenfalls auf Breguyar angesetzt. Wir werden ja sehen, wer das Rennen um seinen Kopf gewinnt."
"Ein Rennen. Wie nett." Lady Farrux lächelte. "Das wird wirklich dein Triumphtag, wenn es so weitergeht. Wie laufen die Vorbereitungen für die Orgie?" wechselte sie abrupt das Thema. "Wurden die eingelegten Nachtigallenzungen schon geliefert?"
"Nun, meine Teuerste, ich habe für den heutigen Abend etwas ganz Besonderes geplant. Glaub mir, es wird die schönste Orgie werden die wir je gefeiert haben." antwortete Farrux schnell, um sich einen endlosen Vortrag über die Zubereitung diverser Delikatessen zu ersparen. Lange Reden schwang er am liebsten selbst und am Essen interessierte ihn lediglich der Vorgang an sich. "Schließlich gibt es ja auch etwas ganz Besonderes zu feiern. Die aus dem Meer emporgestiegene Insel Leshp wird heute Nachmittag offiziell als Territorium Ankh-Morporks deklariert. Und wehe, diese schafsaugenfressenden Handtuchköpfe wagen es, auch nur einen Fuß auf morporkianischen Boden zu setzen!"
"Dann sorg dafür, daß sie es nicht tun werden, Schnuckiputzi."
Ein boshaftes Grinsen verzerrte das teigige Gesicht des Patriziers.
"Das werde ich, meine Teuerste. Ich habe bereits drei Regimenter angefordert und die werde ich auch bekommen, wenn ich es fertig bringe, Rust, Selachii und Venturii um den kleinen Finger zu wickeln."
Während er seine speckigen Massen zurück in eine liegende Position brachte, überdachte Lord Farrux den Plan für die einberufene Ratssitzung. Er würde die Teilnehmer ganz einfach mit scheinbar sinnlosem Geschwafel so lange langweilen, bis sie ihm so ziemlich alles versprachen, nur um endlich seinem Gerede entfliehen zu können. Niemand konnte langweiligere endlose Reden halten als Ephraim Farrux. Und diese Gabe nutzte er gezielt, um zu bekommen was er wollte.
Während der Regen gegen die mit einem ländlichen Motiv geschmückte Buntglasscheibe des Salons prasselte nickte der Patrizier auf seinem Lager ein, während seine Gattin sich wieder ihrer Stickarbeit widmete. Er hatte an diesem Tag noch viel vor...

Das Gesetz der Geschichte


Dies war also die gesammelte Wahrheit.
Araghast stürzte den Rest seines Whiskys hinunter und stand von der Sessellehne auf.
"Dann kann man es also so zusammenfassen." stellte er bitter fest. "Wir sitzen hier bis auf weiteres in dieser Wirklichkeit fest, die kurz davor ist, einer Invasion aus den Kerkerdimensionen zum Opfer zu fallen und die einzige Rettung besteht darin, dieses Leshp aufzusuchen und dem Herrn Cthulhupalhulhu den Stockdegen zwischen die Tentakel zu rammen. Wenn es wirklich das ist, was Philipp Howards Kraftlieb von uns will, dann mal Gute Nacht Scheibenwelt."
Frustriert ließ er sich wieder auf seinen Platz sinken. Sie waren an einem toten Punkt angelangt.
"Es tut mir leid." ließ sich der Hexer von Ankh vernehmen.
Mir auch, sagte Araghast zu sich selbst und schenkte sich eine neue Portion des zwergischen Lebenswassers ein. Wenn das Ende schon nahte, dann wollte er so betrunken sein, daß er davon so wenig wie nur möglich mitbekam.
Aberr es muss doch irrgendein Rritual geben, mit dem man das Geschehene rrückgängig machen kann." warf Edwina ein. "Das verrlangen doch eigentlich die Gesetze derr Gruselgeschichte. Rregel Nummerr Eins: Wenn du flüchten musst, rrenne niemals eine Trreppe hinauf. Rregel Nummerr Zwei: Trrennt euch, wenn es sich verrmeiden lässt, niemals. Rregel Nummerr Drrei: Derr Bösewicht errzählt, wenn err den Helden in seinen Klauen hat, immerr errst ausgiebig seinen Plan. Rregel Nummerr Vierr: Auch aus derr scheinbarr unfehlbarren Todesfalle gibt es immerr noch einen Ausweg oderr eine Rrettung in letzterr Sekunde. Rregel Nummerr Fünf: Wenn du zwei derr Bösewichte besiegt hast kommt derr Drritte immerr unerrwarrtet von hinten. Rregel Nummerr Sechs: Geh wederr an Türr, Fensterr noch prrivaten Semaphorrenturrm wenn du überrleben willst. Und Rregel Nummerr Sieben: Immerr wenn die Handlung auf derr Stelle tritt passierrt irrgenein unglaublicherr Zufall derr die Geschichte wiederr in Schwung brringt."
Für eine kurze Weile bildeten das Prasseln das Kaminfeuers und das leise Plätschern des Regens die einzige Geräuschkulisse.
"Ich weiß, es klingt verrückt." sagte Raistan schließlich. "Aber es könnte tatsächlich klappen."
"Wie meinst du das, Kleiner?" Die Erregung in Kameruns Stimme war nicht zu überhören.
Der junge Zauberer nippte an seinem Wasserglas und schloss die Lider. Dunkle Ringe lagen wie Schatten unter seinen Augen und Araghast beobachtete ihn besorgt. Waren die Strapazen des vergangenen Tages doch zu viel für seine schwache Gesundheit gewesen? Doch er selbst und die anderen sah vermutlich auch nicht viel besser aus. Sie alle hatten zu wenig Schlaf bekommen, und zu viel Ärger am Hals um sich auch nur eine Minute entspannen zu können.
"Wir Zauberer haben vor einigen Jahren bei unseren Forschungen ein Element entdeckt, das den Namen Narrativium trägt." begann Raistan. "Es ist für die Existenz der Scheibenwelt von immenser Bedeutung und sorgt in einer Weise, die wir bisher nicht ganz verstehen, dafür, daß die Geschichte immer in bestimmten Bahnen verläuft. Es steht in starker Wechselwirkung mit dem persuasiven Feld der Scheibenwelt und führt an den Häufungspunkten des narrativen Netzwerks zu spontanen Ausbrüchen festgefügter kausaler Zusammenhänge. Dieses Gesetz fungiert allgemein auch unter dem Namen Groschenheftchens Narratives Axiom oder das Gesetz der narrativen Kausalität. Natürlich vorausgesetzt, daß eine hinreichend große Menge an..."
"Ich verstehe dein Magier-Fachachatenisch zwar nicht, aber meinst du, daß zum Beispiel immer das Stubenmädchen den Prinzen heiratet?" warf Kanndra ein. "Oder Küchenjungen in gewissen Gesellschaften immer als König und Retter der Welt enden? Ich kann auch ohne dein ganzes schlaues Gerede sagen, was dahintersteckt. Hexen wissen um die Macht von Geschichten. Und wenn nur genügend viele Personen daran glauben, daß eine Geschichte auf eine gewisse Weise ablaufen muss, dann passiert es auch genauso. Glaub mir, ich weiß wovon ich rede. Meine Heimat Gennua hat lange genug unter einer Herrscherin gelitten die genau dieses Prinzip in der gesamten Stadt durchsetzen wollte."
Araghast bemerkte Raistans giftigen Blick in Richtung der Voodoo-Hexe und räusperte sich schnell.
"Also, wenn wir fest genug daran glauben, daß gleich was passiert, dann tut es das vielleicht auch." beeilte er sich zu sagen. "Außerdem hat Edwina recht. Bei Eddie Wollas geschieht auch immer genau dann etwas, wenn niemand mehr weiterweiß."
"Nun dann." kam es spöttisch von Godric Adana. "Wenn es angeblich so sein soll, warum versuchen wir es nicht einfach?"
Sie warteten.
Sie warteten noch etwas länger.
Und anschließend warteten sie noch ein wenig.
Woraufhin sie fünf weitere Minuten warteten.
Schließlich räusperte sich der Hexer laut und vernehmlich.
"Irgendwo muss es einen kleinen Denkfehler in Ihrer Logik geben, Herr Breguyar." kommentierte er ungerührt. "Es ist immer noch keine Brieftaube mit einer Nachricht von meinem alten Mentor höchstpersönlich eingetroffen, in welcher genau geschrieben steht was wir nun tun sollen."
"Na und?" gab Araghast zurück. "Es war zumindest ein Versuch. Und das ist immer noch mehr als ein völlig haltloser Vorschlag, mal eben nach Leshp zu segeln und einen der Herrscher der URALTEN RIESEN höchstpersönlich zu erledigen. Da können wir genausogut gleich bei Schwallsack Farrux anklopfen und um Inhaftierung bitten, abgesehen davon, daß wir nach spätestens einer Sekunde in Sichtweite dieser Insel völlig wahnsinnig wären! Ich habe heute einen Mann erlebt, der das unbeschreibliche Grauen mit eigenen Augen erblickt hat! Sein einziger Wunsch war es, zu sterben, damit sein gequälter Geist endlich Ruhe findet! Außerdem haben wir eine Wirklichkeit zu retten, und das tun wir garantiert nicht, indem wir in dieser hier Selbstmord begehen, Hexer!"
Wütend funkelte der Feldwebel sein Gegenüber an, das lässig neben dem Kamin an der Wand lehnte. Herablassende Kommentare waren alles, was er von diesem Mann bisher bekommen hatte. Aber was sollte er von Havelock Vetinari auch anderes erwarten? Egal ob er über Ankh-Morpork herrschte oder sein Leben dem Kampf gegen die Dinge aus den Kerkerdimensionen gewidmet hatte: Die Persönlichkeit hatte sich kaum geändert. Es gab nur einen einzigen Punkt in dem der Feldwebel mehr wusste als Godric Adana. Er hatte die Vergangenheit des Hexers von Ankh in der Hand.
In diesem Moment stand Edwina auf und trat zwischen die beiden Streithähne.
"Arraghast, das Frräulein Mambosamba und derr Kleine haben in gewisserr Weise rrecht." erklärte sie streng. "Als ehemalige Vampirrjägerrin weiß ich überr die Gesetze derr Geschichte bestens Bescheid. Blitz, Donnerr, durrchsichtige Nachthemden, heilige Symbole und derr wütende Mob zurr rrichtigen Zeit. Es funktionierrt, glaubt mirr. Und es ist einfach sinnlos wenn wirr jetzt anfangen, uns zu strreiten."
"Eben." Auch Raistan verließ seinen Sessel und kam auf seinen Stab gestützt um den Schreibtisch herum. "Heute wird etwas passieren. Mein Bruder weiß es, und seine Vorahnungen treffen eigentlich immer zu. Aber wer sagt, daß es ausgerechnet hier und jetzt geschehen wird? Vielleicht hat es sich sogar schon zugetragen. Deshalb sollten wir erst einmal vor allem die Augen und Ohren offen halten und uns vor allem nicht gegenseitig zerfleischen!" Araghast fiel auf, daß der junge Zauberer es bei diesen Worten vermied, Kanndra anzusehen. "Wenn wir die Zeit damit verschwenden, uns die Köpfe einzuschlagen, dann hat der besessene Kaboltzmann schon gewonnen. Streit und Wahnsinn ist es, was die URALTEN RIESEN wollen. Und sie haben es schon versucht, indem sie dem Großen weismachen wollten, ich würde ihn verraten und ihm seinen Körper stehlen. Und Araghast hat recht. Wir können nicht einfach so nach Leshp fahren und mal eben eine Monstrosität aus dem Anbeginn von Raum und Zeit vernichten. Und solange Philipp Howards Kraftlieb und nicht kontaktiert, bleibt uns gar nichts anderes übrig, als abzuwarten und zu beobachten. Wie ich ihn einschätze wird er sich uns erst dann wieder zeigen wenn wir einen wirklich großen Fehler machen und uns in die richtige Richtung schubsen. Bisher hat er immer dann eingegriffen wenn er sein Ziel, was auch immer es sein mag, akut gefährdet sah. Und er ist schwach. Er braucht uns, um sein Ziel zu erreichen. Aber nun wieder zurück zum Thema. Eine neue Insel ist aufgetaucht. Das wird den Patrizier auf den Plan bringen. Ich verstehe nicht viel von Politik, aber ich kann mir vorstellen, daß er irgend etwas unternehmen wird um einen Herrschaftsanspruch auf dieses neue Land zu sichern, ohne zu wissen, daß er damit eine halbe Armee in den rettungslosen Wahnsinn schickt."
Erschöpft von der langen Rede und von seinem chronischen Husten gepeinigt sank Raistan auf die Schreibtischkante.
"Das kann ich mir bei Farrux nur allzugut vorstellen." nahm Araghast den Faden auf und in seinem Geiste erschien ein Bild des dicken glatzköpfigen Mannes der sich vergnügt die teigigen Hände rieb. Es gab kein Wort um zu beschreiben wie sehr er diesen Mann hasste. Beim Anblick eines URALTEN RIESEN wahnsinnig zu werden war immer noch zu gut für ihn.
Plötzlich kam dem Feldwebel eine Idee und er fragte sich, weshalb er nicht eher darauf gekommen war. Die Lösung des Problems befand sich geradezu direkt vor seiner Nase.
"Die Wache." sagte er. "Wenn etwas Ungewöhnliches passiert wird normalerweise zuallererst die Wache gerufen." Er wandte sich zu Kanndra um. "Schaffst du es, die Gestalt irgendeines unauffälligen Rekruten anzunehmen und dich ins Wachhaus zu schummeln? Du bräuchtest nur in der Kantine herumzusitzen und die Gespräche der übrigen Wächter zu belauschen. Die Kaffeemaschine ist die Informationstauschbörse der Wache schlechthin."
Die Voodoo-Frau nickte.
"Wenn es hilft, der Regierung eins auszuwischen, bin ich bereit, so ziemlich alles zu tun." erklärte sie. "Die werden es noch bereuen, mich lynchen lassen zu wollen!"
Mit einem triumphierenden Lächeln auf den Lippen wandte sich Araghast an den Hexer.
"Sehen Sie, es geht irgendwie immer weiter. Das ist die narrative Kausadingsbums."


Zwischenspiel


Patrick Nichts, seines Zeichens Husky im Dienst der Abteilung DOG, fühlte sich ganz und gar nicht wohl. Zum wohl hundertsten Mal konnte er gerade noch das Gleichgewicht halten, als er über den Saum der langen, mit Sternen verzierten Robe stolperte, und verfluchte die frühe Morgenstunde in der ihn Robin Picardo zu sich zitiert hatte, um ihn zu einem dringenden Einsatz in die Unsichtbare Universität zu schicken. Der Husky rülpste leise. Wenigstens das Frühstück im Großen Saal hatte sich mehr als gelohnt. Doch an die typische Magierbekleidung würde er sich vermutlich nie gewöhnen. Sie war einfach nur peinlich und Patrick hoffte, in seinem Aufzug von niemandem gesehen zu werden den er persönlich kannte. Warum trugen gestandene Männer freiwillig etwas, das aus dem Kleiderschrank eines unter Drogen stehenden weiblichen Chamäleons stammen könnte? Von kühler Bekleidung wie langen schwarzen Ledermänteln hatten Zauberer offensichtlich noch nie etwas gehört.
Dazu kam der Auftrag. Er sollte sich unter den Studenten und Graduierten umhören, ob sie etwas über den Verbleib eines offensichtlich von einem Ungeheuer aus den Kerkerdimensionen besessenen Professors namens Emanuel Kaboltzmann wussten. Alles was er bisher in Erfahrung hatte bringen können, war der Selbstmord eines durchgedrehten technischen Assistenten namens Jonathan Gernerauch, der sich in der Arrestzelle selbst erhängt hatte. Die Kollegen von RUM beschäftigte sich angeblich gerade mit dem Fall. Im Schatten einer Säule ging Patrick die Liste der Namen durch, nach denen er sich erkundigen sollte. Der Fall Ewein Krawunkel war gestrichen worden, nachdem der persönliche Assistent Kaboltzmanns bewiesenermaßen als unschuldig an der Ermordung einer Näherin und dem Verbrennen mehrerer Bürger in ihren Betten befunden wurde. Blieb nur noch Adrian Rübensaat, nachdem Raistan Quetschkorn als im Büro des Feldwebels Araghast Breguyar spurlos verschwunden galt.
Doch bevor er Rübensaat befragte würde er den Räumlichkeiten Kaboltzmanns einen Besuch abstatten. Wenn er dort eine alles entscheidende Spur fand war es vielleicht möglich, daß man ihn direkt zum Lance-Korporal beförderte. Dann hätte er endlich einmal etwas zu sagen.
Während er die endlosen Gänge in Richtung der Wohngemächer der höherrangigen Zauberer entlangstolperte und mit einer Hand die verhasste Robe raffte, malte er sich in Gedanken aus, was er tun würde, wenn er endlich einen Unteroffiziersrang bekleidete. Zuerst einmal würde ihm hoffentlich niemand mehr befehlen, in einem Einsatz abgrundtief hässliche Beinahe-Frauenkleider zu tragen. Außerdem könnte er Goldie befehlen, Crunkers aus seinem Zimmer fernzuhalten. Kaum etwas regte ihn mehr auf als die Tatsache, beinahe jedes Mal wenn er sein Büro betrat das Maskottchen der DOG auf seinem Bett vorzufinden. Warum begriff der Köter nicht endlich, daß er ihn nicht sonderlich leiden konnte?
"Stadtwache, Lance-Korporal Patrick Nichts." sagte der Wächter verträumt vor sich hin, als er die Namensschilder an den Türen studierte. "Gefreiter Khai el Sali, bring mir eine Tasse Kaffee! Und Hauptgefreite Dlei, du magst zwar stellvertretende Abteilungsleiterin sein, aber mehr zu sagen habe nun offiziell ich!"
Vielleicht würde er sich auch, wenn er es geschafft hatte den Aufnäher zu erlangen der ihn als Experte für verdeckte Ermittlungen auswies, auch als Moloss bewerben. Insgeheim sah er sich schon mit seinen beiden schussbereiten Pistolenarmbrüsten in der Hand, den schwarzen Ledermantel dramatisch im Wind flatternd und die Sonnenbrille auf der Nase, während sich Muffiosi und fremde Geheimagenten zitternd ergaben und er wieder einmal Ankh-Morpork vor der schleichenden Bedrohung aus dem Ausland rettete.
Prof. Dr. rer. nat. thaum. Emanuel Kaboltzmann, Lehrstuhl für angewandte Legendenforschung lautete das Namensschild an der Tür und die Träume des Hauptgefreiten platzten wie eine Seifenblase. Die Überreste eines Siegels der Abteilung SUSI zierten die Tür.
Patrick zog eine seiner Pistolenarmbrüste aus den Tiefen seiner Verkleidung und lud sie. Wenn sich jemand nach der gründlichen Untersuchung der Räume durch die Spurensicherung an der Tür zu schaffen gemacht hatte, konnte es gar nichts Gutes bedeuten. Vorsichtig betätigte der Husky die Klinke. Geräuschlos schwang die Tür in gut geölten Angeln auf und gab den Blick in ein tadellos aufgeräumtes Zimmer frei. Der Husky zögerte nicht lange. Mit einem eleganten Hechtsprung warf er sich ins Zimmer, verhedderte sich in seiner verhassten Magierrobe und legte einen äußerst uneleganten Bauchklatscher direkte neben dem reglosen Körper hin, welcher halb unter dem Himmelbett verborgen lag. Ein Paar weißer Augen, aus denen sowohl Iris als auch Pupille verschwunden waren, starrten Patrick an. Und plötzlich wünschte sich der Hauptgefreite aus ganzem Herzen, diesen Raum niemals betreten zu haben.

Dieser Körper war einfach perfekt. Genüsslich tastete das
Ding nach den Nervenfasern seines neuen Wirtes. Endlich war es diesen verrückten Zauberer los, dessen Verstand eine einzige Ansammlung von Blödsinn gewesen war. Emanuel Kaboltzmanns Körper war nützlich gewesen, keine Frage. Doch dank dieses kleinen, kranken Wurms von einem Zauberer wusste mittlerweile vermutlich die halbe Stadt, daß es Besitz von der Seele des Professors ergriffen hatte. Darum war es höchste Zeit gewesen, den Verstand Kaboltzmanns in winzige Fetzen zu zerreißen und den Wirt zu wechseln. Wie ahnungslos diese Person doch war, daß das gestaltgewordene, nervenzerfetzende Grauen der URALTEN RIESEN sich in ihr eingenistet hatte. Es hatte dafür gesorgt, daß sich sein neuester Sklave an nichts erinnerte was in der Kammer des Magiers vorgefallen war.
Jetzt brauchte das
Ding aus den Kerkerdimensionen nur noch zu warten, bis die Bibliothek der Unsichtbaren Universität für die Öffentlichkeit schloss...

Langsam fragte sich Leonata, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, Mimi auf einen kleinen Schluck in die
Trommel zu verfrachten. Das Ausmaß der Vorfälle nahm langsam aber beunruhigende Formen an und die junge Rechnerin begann erst allmählich, die Zusammenhänge zu sehen. Vor vielen Jahren hatte Hermione Vanderby ihr heimatliches Kohlkaff verlassen weil ihr Vater sie aufgrund eines unehelichen Kindes hinausgeworfen hatte. Und nun war sie erneut schwanger und urplötzlich geradezu besessen von der Idee, vor der Geburt des Kindes zu heiraten. Des weiteren schien es sich bei dem jungen Quetschkorn und dessen Zwilling um ihre Brüder zu handeln.
Schulterzuckend genehmigte sich Lea einen Schluck ihres Überwaldianischen Kaffees. Was für ein Zufall, ging ihr durch den Kopf. Andererseits führten viele Wege von Ankh-Morpork fort und es kam immer wieder vor, daß jemand in den Straßen der Metropole plötzlich seinem ehemaligen Nachbarn aus Endederwelt, Borograwien begegnete.
Leonata warf einen verstohlenen Blick über die Schulter in Richtung Tresen, wo Mimi Vanderby den armen Herrn Dunhelm an einer Art verbalen Leine hielt, indem sie ununterbrochen auf ihn einredete und den Wirt selbst kaum zu Wort kommen ließ. Die wenigen übrigen Nachmittagsgäste beobachteten die Vorstellung mit mal mehr, mal weniger unauffälligen Blicken.
Warum machten sich die übrigen Wächter bloß derartige Sorgen um Araghast, fragte sich Lea, während sie sich wieder ihrem Getränk widmete. Sie würde jede Wette darauf eingehen, daß ihr Verlobter spätestens am Abend wohlbehalten, mit dem Hexer von Ankh höchstpersönlich an einer Leine und dem Kopf irgendeines Schuldigen unter dem Arm wieder im Wachhaus auf der Matte stand. Araghast war bereits mit den absurdesten Fällen fertig geworden und wenn es jemanden gab der verrückt genug war um tatsächlich eine literarische Figur zu beschaffen, damit sie ein Ungeheuer tötete, dann er.
Was glauben Sie, Leonata?
Sie konnte den kleinen Ermittler im viel zu großen Mantel deutlich vor sich sehen und ihr kam der Gedanke, daß es sich bei Inspäctor Kolumbini um den wohl einzigen wirklichen Verbündeten Araghasts im Wachhaus handelte. Zu verschlossen waren die Mienen der anderen gewesen, zu bedrückt und misstrauisch. Seit er mit seinem B-Wort-Entzug begonnen hatte, war er die Ahnung nicht losgeworden, von seinen Freunden bespitzelt und für nicht ganz zurechnungsfähig gehalten zu werden. Eine Lunte schwelte bereits seit langem im Wachhaus am Pseudopolisplatz. Und Lea befürchtete, daß das metaphorische Pulverfass schon sehr bald explodierte.



Das erste Zeichen


Kommandeur Rince langweilte sich.
Das Gerede des Patriziers zog sich bereits über eine halbe Stunde hin und der Kommandeur fragte sich immer wieder insgeheim, wie ein einzelner Mensch bloß in der Lage war, so viel zu reden, ohne daß ihm die Zunge abfiel. Und zudem innerhalb von zehn Minuten so weit vom ursprünglichen Thema seiner Rede abzukommen wie nur irgend möglich. Gegenwärtig ließ er sich über die jährliche Kohl-Exportrate der zahlreichen Sto-Königreiche aus und Rince bedauerte bereits aus tiefstem Herzen, sich überhaupt zu der Ratsversammlung begeben zu haben. Wohl schon zum zehnten Mal musterte er die große Karte des Runden Meeres und der angrenzenden Länder, die ausgebreitet auf dem Tisch der Rattenkammer lag, und deren Inhalt der ursprüngliche Grund gewesen war, weshalb Lord Farrux die Würdenträger der Stadt zu sich zitiert hatte.
Beziehungsweise ging es um das Stück Land, welches die Karte nicht enthielt.
Die Insel, die während der Nacht plötzlich in der Mitte des Runden Meeres aufgestiegen war, und deren Erscheinen bei allen, die davon gehört hatten, ein ungutes Gefühl in der Magengrube verursachte.
Rince erinnerte sich noch lebhaft an den hastig geschriebenen Bericht Feldwebel Breguyars über den völlig wahnsinnigen Fischer, der in den frühen Morgenstunden ins Wachhaus eingeliefert worden war und etwas über eben diese Insel gestammelt hatte, bevor er sich, überwältigt von einem schier unbeschreiblichen Grauen, an Ort und Stelle das Leben nahm. Es schien, als würde die gesamte Stadt langsam aber sicher verrückt spielen. Fälle plötzlich auftretenden püschopathischen Wahnsinns hatten sich während der Mittagsstunden am Tresen gehäuft. Ein bisher völlig unbescholtener Schlachtermeister war mit seinem Beil wild um sich schlagend durch die Straßen gelaufen und hatte elf Bürger getötet, bevor ein beherzter Mann ihn mit einem Armbrustschuss zur Strecke brachte. Ganz zu schweigen von den beiden Frauen, die sich auf dem Hier-gibts-alles-Platz aufgestellt hatten und lautstark verkündeten, das Ende der Welt sei nahe. Und der einzige Mann, der die derzeit dringend gebrauchte püschologische Ausbildung besaß, war erstens ein hoffnungsloser Trunkenbold, zweitens angeklagt bei Hinternkriecher Zupfgut wegen Saufen im Dienst, stand drittens unter akutem Verdacht des Hochverrats und hatte sich viertens aus dem Staub gemacht.
"Und deshalb müssen wir uns wohl gezwungen sehen, dem Kohlexport Sto Lats unsere besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden, was vor allem die Kohlsorten 'Fröhlicher Riese', 'Roter Sto' und den seltenen 'Schweinfurzer Kaiser' betrifft, wobei zweiter für die Wirtschaft des kleinen, bettelarmen Herzogtums Sto Barrat eine besonders große Rolle spielt..."
Rince stellte sein Gehör auf Durchzug. Wen interessierte schon Kohl... Kohl war meistens grün, wuchs in Reihen auf den Feldern außerhalb Ankh-Morporks, rührte sich seine ganze Existenz über nicht von der Stelle [3], wurde schließlich geerntet und schmeckte noch nicht einmal besonders aufregend. Wobei Rince hingegen eine plötzlich aus dem Meer aufgetauchte Insel, deren alleinige Erwähnung bereits genügte um ein merkwürdiges, beklemmendes Gefühl auszulösen, schon als ein wichtiges Thema ansah.
Doch zum Bedauern des Kommandeurs schien Lord Farrux die Sache anders zu sehen und wer es wagte, den Patrizier in einem seiner endlosen Monologe zu unterbrechen, mußte sehr bald feststellen, daß der Rest seines Lebens um einiges interessanter, als auch um einiges kürzer verlaufen würde als geplant. Es existierten lediglich Gerüchte über die Auswahl erlesenster Folterinstrumente, die in den Gewölben des Palastes frisch geschmiert auf neue Klienten warteten und bei deren Verwendung der Lord, wenn es ihn danach gelüstete, schon einmal selbst mit Hand anlegte. Der schwafelnde Lord Farrux wurde er hinter vorgehaltener Hand genannt, auch wenn Rince stark vermutete, daß das gesamte Verhalten des Patriziers aus eiskalter Berechnung bestand. Man langweile seine Zuhörer dermaßen zu Tode, daß sie schließlich gar nicht mehr merkten, welchem Wahnsinn sie nun schon wieder zustimmten. Und dann der sogenannte Stadtrat. Wohin Rince auch blickte, er sah in die blasierten Mienen einflußreicher Adliger und reicher Kaufleute, die die Geschicke der Stadt einen feuchten Kehricht interessierte, solange sie nur genug Geld in ihre eigenen Taschen schaufeln konnten.
"Rhabarber... Rhabarber... Rhabarber..." Das monotone Gerede des Patriziers begann, den Kommandeur sanft einzulullen. Mochte der dicke, in mehrere Lagen bunten Samtes gehüllte Mann mit der Glatze und der lächerlichen Pelzmütze reden was er wollte- Rince beschloß, die Gelegenheit für ein Nickerchen zu nutzen und verlagerte sein Gewicht in eine bequemere Sitzposition. Dann schloß er die Augen und ließ seine Gedanken schweifen.
Mittlerweile war Lord Farrux bei einem längeren Vortrag zum Thema 'Weshalb man ein Ei niemals an der spitzen Seite aufschlagen sollte' angelangt.
Angewidert dachte Rince an die Einladung, die er vor wenigen Tagen erhalten hatte. Von einer kleinen Orgie unter Freunden war dort die Rede gewesen. Der Kommandeur wußte nur zu gut, was diese Worte bedeuteten: Dekadenz in ihrer Höchstform. Man fraß sich den Bauch voll, kitzelte sich anschließend mit einer Gänsefeder am Hals und übergab sich - Nur um kurz darauf weiterzuschlemmen, während neben einem ein Pärchen hemmungslos Dinge trieb, die Rince mit seiner Frau niemals anstellen würde, und ein Haufen Musikanten schwülstige Musik spielten. Nein - Er würde wieder einmal eine Krankheit vortäuschen, nur um sich dieses 'Fest' zu ersparen.
"Und um einen kleinen rhetorischen Bogen zu schlagen möchte ich hiermit noch einmal betonen, daß gekochte Eier auch wunderbar zu Kohl schmecken, besonders wenn es draußen richtig schön heiß ist, oder meinen Sie nicht, Herr Kommandeur?"
Rince schreckte hoch.
"Äh...ja." brachte sein Lebenserhaltungstrieb hervor. "Sehr... lecker."
Lord Farrux nickte zufrieden und knetete seine mit kostbaren Ringen geschmückten, teigigen Finger.
"Na dann sind wir beide wieder einmal einer Meinung, Herr Kommandeur." säuselte er. "Eier mit Kohl... Das ist wirklich eine wahr Frühstücksdelikatesse. Man serviere dazu noch ein paar Wachtelbrüstchen und kandierte Nachtigallenzungen und schon hat man ein richtig nettes, kleines Frühstück."
Rince brummte etwas unbestimmtes.
Doch den Patrizier schien es zufriedenzustellen. Ruckartig wandte er sich um und sein fetter Zeigefinger bohrte sich in die Mitte der papiernen Darstellung des runden Meeres.
"Widerspricht mir einer der Anwesenden in dem Anliegen, daß wir schleunigst eine Streitmacht nach Leshp aussenden müssen, damit diese Insel nicht den verfluchten Handtuchköpfen in die schmierigen Hände fällt?"
Der plötzliche peitschende Tonfall seiner Stimme ließ die übrigen Stadträte aus ihrem Halbschlaf hochschrecken. Verstörtes Gemurmel erfüllte die Rattenkammer.
"Ich fragte, ob mir jemand widerspricht, wenn ich es für nötig erachte, eine Streitmacht nach Leshp zu schicken, um das Territorium Ankh-Morporks vor ausländischen Invasoren zu schützen!"
Mit der Menge des Eises in der Stimme Lord Farrux' hätte man ohne Mühe das Zukunftsschweinefleischlager eine Woche lang betreiben können. Rince seufzte leise und sehnte sich nach der kalten Schweinshaxe, die in einem überdimensionalen Henkelmann in seinem Kommandeursbüro wartete. Wieder einmal hatte der Patrizier die Stadträte dort wo er sie haben wollte. Und der Kommandeur zweifelte nicht daran, daß sich auch einige seiner FROG-Wächter zu den bemitleidenswerten Kreaturen zählen durften, denen in Kürze eine unangenehme Seereise bevorstand. Wieder einmal ärgerte sich Rince über das Verschwinden Breguyars. Etwas war mehr als nur faul an der ganzen Leshp-Geschichte und die Antworten liefen gerade sonstwo in der Stadt herum und verkrochen sich vor Zupfgut.
Während der Kommandeur halbherzig seine Hand hob um seine Zustimmung zu Farrux' Invasionsplänen zu demonstrieren, knirschte er beinahe unhörbar mit den Zähnen. Nicht nur Leshp bereitete ihm derzeit Magengrimmen. Es war das gesamte Regierungssystem dieser Stadt, angefangen von einem sadistischen Herrscher wie Lord Ephraim Farrux über die Geheimpolizisten der Sondergruppe Ankertaugasse bis hin zu Charakterschweinen wie Zupfgut in hohen Positionen. Der Patrizier höchstpersönlich hatte den IA-Agenten eingesetzt, um der Wache ein wenig auf die Finger zu schauen, wie er sich ausgedrückt hatte. Und es war kein Wunder, daß jemand wie Farrux an Zupfgut Gefallen fand. Wäre es nach Rince gegangen hätte sich der Hauptmann längst zum Rekruten degradiert beim Schrubben der Aborte wiedergefunden. Doch wenn er Zupfguts Autorität einschränkte, machte er sich unweigerlich selbst zur Zielscheibe der Geheimpolizei. Ein altes Sprichwort kam ihm in den Sinn. Die Lichter am Ende des schmalen Hohlwegs sind die Laternen der heranrasenden Kutsche.
"Rust." befahl Farrux in diesem Moment, während er wie wild mit dem Finger auf der Karte herumhämmerte. "Ich will deine beiden Regimenter morgen Mittag bereit zum Einschiffen an den Docks haben. Und dazu drei von den Belagerungsarmbrüsten!"
"Ich kann auch noch zwei anbieten!" warf Lord Venturii hastig ein, während im Hintergrund die Glocke der Lehrergilde eine Minute zu früh begann, fünfzehn Uhr zu schlagen.
Wenn er so weitermacht hat die Karte bald ein Loch, ging Rince durch den Kopf, als er desinteressiert die einer Endlosschleife gleichende Geste des Patriziers betrachtete. Da gibt es doch gar nichts auf was man...
Der Kommandeur sog scharf die abgestandene Luft ein und blinzelte. War er schon so gelangweilt, daß er zu halluzinieren begann? Dort wo sich noch eben lediglich gemalte Wellen befunden hatten waren wie aus dem Nichts die Umrisse eines Eilandes erschienen. Ein schwacher, eitergrüner Schimmer ging von den Linien aus. Verwirrt musterte Rince die übrigen Anwesenden, doch keiner der Stadträte schien etwas bemerkt zu haben. Gleichzeitig war dem Kommandeur, als sei die Temperatur im Raum plötzlich um mehrere Grad gesunken und der eisige Dorn der Angst bohrte sich in sein Rückenmark.
Das widerliche, grüne Leuchten nahm an Intensität zu. Die debattierenden Stimmen des Stadtrates klangen dumpf in Rinces Ohren, während ein sich gerade an der Grenze des Wahrnehmbaren befindliches Summen in seinem Kopf ausbreitete und seine Gedanken in zähen Kleister verwandelte. Kalte, spinnenartige Finger tasteten nach seinem Bewusstsein und begannen, kleine Stücke herauszurupfen.
"Verschwindet!" schrie der Kommandeur und presste sich die Finger auf die Ohren, gänzlich vergessend wo er sich befand. Alles was er wollte, war das Entkommen vor diesem schleichenden Grauen, das sich seiner zu bemächtigen drohte.
"Kommandeur Rince!" nahm er die Stimme des Patriziers wie durch eine dicke Schicht Watte wahr. "Ich hätte gern eine Erklärung für Ihr ungebührliches Verhalten!"
Doch Rince beachtete ihn nicht. Er kniff die Augen fest zusammen und sank von seinem Stuhl.
Diese Insel ist unser Verderben schoss ihm als letzter klarer Gedanke durch den Kopf, als ein sengender Lichtblitz ihn selbst durch die geschlossenen Lider hindurch blendete.
Es folgte ein Moment der Totenstille.
Dann erhob sich eine einzelne Stimme, tausendmal schrecklicher anzuhören als das Kratzen von Fingernägeln auf einer Tafel.
"Ph'nglui mglw'nafh Cthulhupalhulhu Leshp wgah'nagl fhtagn!!!!!"

Als Rince wieder zu sich kam, verspürte er stechende Kopfschmerzen und grünliche Punkte tanzten vor seinen Augen. Stöhnend wälzte er sich auf die Seite. Er fühlte sich wie ein zu stark ausgewrungener Putzlappen, den jemand benutzt hatte um damit sämtliche Fußböden der Alchimistengilde zu reinigen.
Die Erinnerung kehrte zurück wie ein metaphorischer viericksianischer Bumerang, der ihn schmerzhaft am Hinterkopf traf. Die Karte. Das Leuchten. Das Grauen. Und die unbeschreibliche Stimme, welche Wörter in einer Sprache formuliert hatte, die der Kommandeur noch nie vernommen hatte und auch ganz gewiss nie wieder hören wollte.
Als seine Sicht langsam klarer wurde, stemmte sich Rince auf die Ellenbogen hoch und blickte sich um. Durch die zerborstenen Fensterscheiben wehten Regenböen in den Saal. Der Vertreter der Kaufmannsgilde lag mit weit aufgerissenen, starren Augen unter dem Tisch. Sein Gesicht war bläulich angelaufen. Es war leicht zu erkennen, daß dieser Mann so tot war wie ein Sargnagel. Mehrere andere Stadträte waren gerade dabei, sich ebenfalls aufzurappeln.
Mühsam hievte der Kommandeur seinen massigen Körper zurück in seinen Sessel und schnaufte erst einmal ausgiebig, während er den Rest der Rattenkammer einer genauen Musterung unterzog. An der gegenüberliegenden Wand lehnte mit käseweißem Antlitz der Patrizier. Seine Pelzmütze hing ihm von einem Ohr und gab einen Blick auf die schweißbedeckte Glatze frei. Leise wimmernd hielt Lord Farrux seine rechte Hand umklammert.
Vier Tote auf den ersten Blick, notierte Rince geistig. Dazu zwei, die scheinbar den Verstand verloren haben. Er atmete tief durch. Einen Ort dieses Raumes hatte er noch nicht in Augenschein genommen. Widerstrebend senkte Rince seinen Blick auf die Karte des Runden Meeres.
Genau an der Stelle, an der sich die Insel Leshp befand, stierte ein rabenschwarzes dreigelapptes Auge in der exakten Mitte der im Papier eingebrannten Insel den erschrockenen Kommandeur an.

Im Schatten des Vampirs


Die Macht des Hexers von Ankh ist in keiner Weise mit der üblichen Gabe, welche den Hexen und Zauberern eigen ist, zu vergleichen. Wo die klassische Magie den blasphemischen Monstrositäten jenseits von Raum und Zeit als Nahrung dient, ist die Macht über die der Hexer verfügt in der Lage, diesen Wesenheiten Schaden zuzufügen. Es heißt, diese Kräfte stammten aus dem NECROTELICOMNICON, von dessen Seiten aus der verstorbene Nekromant Achmed Al-Alhazred höchstpersönlich aus dem Schatten des Grabes entstieg, um den ersten Hexer von Ankh in das verbotene Wissen einzuweihen. Wissen, welches den unvorbereiteten Geist binnen Sekunden in den Wahnsinn zu treiben vermag.

Warum konnte in diesen Kraftlieb-Büchern neben Geschichten, Andeutungen und der Legende des Turisas Linistar nicht einmal etwas zum Thema 'Wie verhalte ich mich, wenn ich in einer falschen Realität feststecke die kurz davor ist von einer Armee URALTER RIESEN aus einer Dimension jenseits von Raum und Zeit überrannt zu werden' stehen?
Raistan lehnte sich im Schreibtischsessel zurück und lauschte dem Ticken der Standuhr. Das Feuer im Kamin war beinahe heruntergebrannt und bildete zusammen mit der Öllampe auf dem Schreibtisch die einzige Lichtquelle im Raum. Als einziger weiterer Anwesender saß Araghast Breguyar am Rauchertischchen und starrte trübsinnig in ein Glas zwergischen Whiskys.
"Nichts." versuchte Raistan, ein Gespräch zu beginnen. "Vom makroskopischen Tunneleffekt und seiner Auslösung ist in dem ganzen Werk nicht in einer einzigen Zeile die Rede."
"Was?" Der Feldwebel sah auf.
"Oder um es mit anderen Worten auszudrücken: Kraftlieb hat nichts darüber geschrieben wie wir vielleicht zurückkommen könnten."
"Na wunderbar." Versonnen hielt Araghast das Glas ins Licht und schwenkte die darin enthaltene bernsteinfarbene Flüssigkeit im Kreis. "Dann kann ich ja beruhigt weitertrinken."
Raistan biss sich auf die Lippen. Es würde niemandem nützen wenn sich Breguyar die Zeit damit vertrieb, bis zum Umfallen zu saufen, was derzeit ganz oben auf der Zu-Erledigen-Liste des Wächters zu stehen schien. Irgendwer musste etwas unternehmen.
Doch beinahe sofort erkannte der junge Zauberer den Haken in seinen Gedankengängen. Diese Voodoohexe befand sich im Wachhaus und Kamerun in der Geflickten Trommel. Edwina Walerius hatte sich in Begleitung Rogi Feinstichs zur Überwaldianischen Botschaft begeben und Godric Adana ruhte sich im Gästezimmer aus. Damit blieb als der Irgendjemand, der Breguyar zur Vernunft bringen sollte, nur er selbst übrig.
Mist fluchte Raistan innerlich und stand auf. Breguyar die Flasche wegzunehmen kam vermutlich dem Versuch gleich, einen ausgehungerten Löwen von einem Stück Fleisch zu trennen. Doch irgendwer musste es tun, bevor der Feldwebel zu nichts mehr zu gebrauchen war. Mit beinahe lautlosen Schritten näherte sich Raistan dem Rauchertischchen und nahm die gläserne Karaffe, die das zwergische Lebenswasser enthielt, an sich.
"Ich glaube, du hast erst einmal genug." sagte er leise und trat vorsorglich ein Stück zurück.
"He!" beschwerte sich der Feldwebel. "Das kannst du nicht machen!"
"Und ob ich das kann." gab Raistan wispernd zurück. "Wir alle brauchen dich noch. Und zwar in vergleichsweise nüchternem Zustand." Seine Hände schlossen sich fester um die Karaffe.
Ein lauter Knall ließ ihn zusammenschrecken. Breguyar hatte sein Glas mit Schwung auf die Tischplatte geschlagen.
"Und ich brauche den Inhalt dieser Flasche!" Die Stimme des Wächters nahm einen bedrohlichen Tonfall an. Langsam, mit einer katzenhaften Geschmeidigkeit, erhob sich Breguyar aus seinem Sessel. "Das ist der einzige Weg, ihn im Schach zu halten!" Sein Gesicht wurde hart. "Ich bin ihm begegnet, in der vergangenen Nacht. Sein Schatten hängt über mir und ich kann nichts dagegen tun. Und der Alkohol ist die einzige verdammte Waffe mit der ich ihn zumindest zeitweilig bekämpfen kann! Er hat mich in der Hand, ob ich es will oder nicht. Warum kann er nicht einfach ins Pandämonium fahren zu meinem Vater?"
"Weil du und er eine Person sind." gab Raistan die einzige ihm vernünftig erscheinende Antwort.
"Ich will mit dem gesamten verfluchten Vampirismus nichts mehr zu tun haben!" schrie Araghast und sackte in sich zusammen. "Vater, warum hast du mir das angetan? Derjenige der dich endlich erledigt hat, hat wirklich einen Orden verdient!"
Raistan warf einen kurzen Blick auf den Setzkasten neben dem Kamin. Ob er dem Feldwebel die Wahrheit sagen sollte? Vielleicht würde es ihm helfen, zu wissen, daß die Asche seines Vaters in alle Winde verstreut war. Der junge Zauberer stellte die Flasche auf den Boden.
"Ich weiß, wer..." begann er, wurde jedoch jäh unterbrochen.
"Du bist wirklich ein schlaues Kerlchen, Kleiner." Araghast Breguyars Schultern strafften sich und ein kaltes Licht brannte in seinem Auge. "Er kann nichts gegen mich ausrichten. Je stärker er gegen mich ankämpft, desto mehr verfällt er mir. Lange habe ich schlafen müssen, bis er endlich das erste Blut seines Lebens trank. Und seitdem ist er mein."
Ein bösartiges Lächeln verzerrte die Lippen des Wächters zu einer schauderhaften Grimasse und legte ein Paar langer, spitzer Eckzähne frei.
"Du bist nicht du selbst!" fauchte Raistan den so grausam verwandelten Feldwebel an und wich in Richtung Tür zurück. Die püschisch Labilen werrden zuerrst dem schleichenden Wahnsinn verrfallen. Dies waren Edwinas Worte gewesen, kurz bevor sie das Haus verlassen hatte. Das beengende Gefühl in seiner Brust nahm zu und schmerzhafte Stiche begannen ihn zu peinigen. Für einen Moment fühlte er sich zurückversetzt an den Moment in dem der besessene Emanuel Kaboltzmann auf ihn zugekommen war. Doch Araghast Breguyars Auge blieb kalt und smaragdgrün. Dieses Mal hatte er es nicht mit einem Ding aus den Kerkerdimensionen zu tun. Diese Erkenntnis beruhigte den jungen Zauberer jedoch keineswegs. Noch nie in seinem Leben hatte er einem hungrigen Vampir gegenübergestanden, einem Wesen, das es zumindest in seiner Vorstellung an Gefährlichkeit beinahe mit einem der URALTEN RIESEN aufnehmen konnte.
Der Wächter lachte leise, ein Lachen das sich gleich ätzender Säure in Raistans Gehörgänge fraß.
"Einen schönen Hals hast du, Kleiner. So schlank und zart und bleich. Das Leben darin ist schwach und gering. Doch dein Blut ist warm und köstlich und wird ein wahrer Genuss für mich sein. Zu lange hat dieser menschelnde Wurm versucht, es von mir fernzuhalten." Und während er sich die Lippen leckte, trat Araghast Breguyar einen weiteren Schritt auf Raistan zu.
Dieser wich zurück bis er mit dem Rücken gegen die Wand stieß und biss die Zähne zusammen. Entschlossen richtete er seinen Zeigefinger auf den Wächter.
"Bleib wo du bist oder du endest als verkohltes Etwas auf dem Boden!" befahl er so laut wie es seine kranken Lungen erlaubten.
Der Feldwebel, beziehungsweise seine vampirische Seite, hielt inne und legte den Kopf schief.
"Das würdest du doch nicht wirklich tun, oder?" fragte er überheblich. "Dem Körper der Person die dich vor der Wache gerettet hat, etwas antun?"
"Doch, das würde ich." gab Raistan zurück. "Immerhin habe ich es fertiggebracht, Emanuel Kaboltzmanns Körper ein halbes Gebäude auf den Kopf zu werfen. Auch wenn es nicht besonders schön sein mag, ich hänge an meinem Leben. Apportus!"
Auf den gemurmelten Befehl hin kam sein Stab quer durch das Zimmer auf ihn zugeflogen. Dankbar schlossen sich seine knochigen Finger um das Holz.
"Das glaube ich nicht." Ein Licht das von Nirgendwo kam ließ die Eckzähne Breguyars funkeln. "Du hast einen guten Charakter. Und schönes Haar. Du könntest nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun."
Raistan umklammerte seinen Stab mit beiden Händen.
"Falsch." fauchte er. "Als Kind vom Land habe ich schon einigen Suppenhühnern den Hals umgedreht. Eben weil ich so schwach bin haben mich schon viele unterschätzt. Pass nur auf, du Blutsauger, bevor du dich mit einem Zauberer anlegst!"
"Ich bin sowohl älter als auch stärker als du." antwortete der Vampir und kam einen weiteren Schritt näher. Nur noch wenige Meter trennten ihn von Raistan. "Meinesgleichen gab es schon seit dem Anbeginn der Zeit, als die Zauberer noch dabei waren zu begreifen, daß sie überhaupt etwas beherrschten was längst nicht jeder Mensch besaß. In sanguis est eternitas, wie das Motto meiner Familie so schön heißt. Im Blut ist die Ewigkeit."
Die Magie prickelte in Raistans Fingerspitzen. Er hasste, was er jetzt tun musste.
"Pugnavi invisibilam manus." befahl er und schlug mit der Handkante durch die Luft.
Araghast Breguyar taumelte zurück als hätte ihm eine unsichtbare Faust einen kräftigen Kinnhaken verpasst. Sein Auge weitete sich und etwas schien die Kontrolle über seinen Körper zu verlieren.
"Verschwinde!" kreischte der Feldwebel panisch und stürzte sich auf die Kristallkaraffe am Boden. Er riss den Stopfen aus dem Hals und setzte das Gefäß an seine Lippen. Ein dünnes bernsteinfarbenes Rinnsal lief ihm über Kinn und Hals als er hastig mehrere tiefe Schlucke des zwergischen Whiskys hinunterstürzte.
Erschöpft lehnte sich Raistan auf seinen Stab. Breguyar schien wieder er selbst zu sein. Insgeheim schalt er sich bitter für die Idee, dem Feldwebel den Alkohol wegnehmen zu wollen. Er hatte den Ernst der Lage verkannt und bewiesen, daß er wirklich keinerlei Ahnung von Vampiren und der Stärke ihrer Begierde nach menschlichem Blut hatte. Unwillkürlich musste er an seine Worte vom vergangenen Abend denken. Wie hatte er nur versuchen können, sein eigenes Schicksal mit dem des Feldwebels zu vergleichen? Seine Krankheit war sein ganz persönlicher Fluch. Doch brachte sie ihn nicht dazu, urplötzlich die Kontrolle über sein Selbst zu verlieren und sie an ein Wesen abzugeben, dessen vorrangiges Ziel es war, der nächstbesten schmackhaft aussehenden Person die Kehle durchzubeißen. Ein schwacher Körper war eine Sache. Das Wissen, jederzeit den Verstand verlieren zu können um einem Verlangen nachzugeben, das man nicht haben wollte, aber dennoch tief in sich trug, eine ganz andere...
Ruckartig setzte Breguyar die Flasche ab und sah Raistan an. Erleichtert stellte der junge Zauberer fest, daß das kalte Feuer im Auge des Feldwebels verschwunden war.
"Das war er, nicht wahr? Mein zweites Ich."
Raistan nickte nur.
"Ich hoffe, nun verstehst du, weshalb ich trinken muss. Der bodenlose Abgrund kommt immer näher und ich bin kurz davor, zu fallen. Er sagt, ich könnte ohne ihn nicht leben. Ich kann es aber auch nicht mit ihm. Und es wird immer schlimmer. Noch nie hat er es geschafft, Besitz von mir zu ergreifen. Wenn ich versucht habe, dir etwas zu tun, dann tut es mir leid. Deshalb versuch nie wieder, mich von meinem Alkohol zu trennen! Der Schatten des Vampirs hat mich fest in seinen Klauen. Seinetwegen hätte ich heute schon beinahe einen Mord begangen. Ich brauche den Schnaps. Er hält meine vampirische Seite zumindest teilweise im Schach."
"Ich weiß, wem du einen Orden verleihen kannst für den Tod deines Vaters." sagte Raistan leise.
"Wer?" schnappte Araghast und bewegte sich zurück in Richtung Sessel.
"Edwina Dorothea Walerius. Sie hat ihn erlegt."
Der Feldwebel ließ sich in die weichen Polster sinken. Dann begann er, langsam zu klatschen.
"Irgendwie habe ich so etwas in der Art erwartet." sagte er schließlich. "Sie kannte meinen Namen schon bei unserer ersten Begegnung vor Herr Hongs Imbiss. Dann diese kalten, feindseligen Blicke die sie mir immer wieder zugeworfen hat. Sie hasst alles Vampirische."
Was ich ihr nicht im geringsten verübeln kann. dachte Raistan und räusperte sich.
"Ich glaube nicht, daß dein innerer Vampir stärker wird." erklärte er, während er sich einige Haarsträhnen hinter die Ohren schob. "Es ist vielmehr die allgemeine geistige Gesundheit, die der gesamten Stadt langsam aber sicher abhanden kommt, seitdem Leshp an der Meeresoberfläche erschienen ist. Edwina sagte es schon. Scheinbar völlig normale und unbescholtene Bürger drehen plötzlich durch."
"Ja, ich weiß, und ich bin durch meinen Spezieskonflikt ganz besonders gefährdet." sagte Araghast müde und stand auf. "Nochmal, es tut mir wirklich wahnsinnig leid, daß ich dir die Kehle durchbeißen wollte, Kleiner. Und wenn Edwina zurück ist, dann wird ein dickes Dankeschön dafür fällig, daß sie den alten Mistkerl erledigt hat."
Mit einem leisen Klicken sprang der große Zeiger der Standuhr auf die Zwölf und drei Glockenschläge hallten durch das Zimmer.

Unter Beobachtung


Trübsinnig starrte Kanndra in den bereits vierten Kaffee den sie trank. Jeder übrige Wächter in der Kantine nahm sie als männlichen Rekruten mit mausbraunem Haar und einem absolut durchschnittlichen Gesicht wahr, der während des Tresendienstes eine kurze Pause einlegte. Selbst einen Namen hatte sie sich ausgedacht. Paul Keiner. Scheinbar interessiert blätterte sie in einem von der Walerius geliehenen Buch über Rechte und Gesetze, während sie in Wirklichkeit mit gespitzten Ohren den Pausengesprächen der Wächter lauschte. Diese klangen demotivierend genug in ihren Ohren. Die vorherrschenden Themen schienen die Bedrohung einer um sich greifenden Anarchie auf den Straßen, verrückte Amokläufer und das anhaltende schlechte Wetter zu sein. Auch wurden einige flüsternde Bemerkungen über Araghast Breguyars Verschwinden und die aufgetauchte Insel ausgetauscht. Eine eindeutige Spannung lag in der Luft, als ob das Wachhaus kurz vor einem Gewitter stand. Und dieses Gewitter würde kommen, dem war sich Kanndra nach alldem was sie im Laufe des Vormittags erfahren hatte sicher.
Gedankenverloren sah sie einem die Kantine verlassenden FROG-Wächter nach. Ganz konnte sie es immer noch nicht fassen, daß der Araghast der letzten Tage aus einer parallelen Wirklichkeit stammen sollte. Die Voodoo-Hexe seufzte leise. Vermutlich würde sie es niemals lassen können, ihn heimlich anzuhimmeln. Als sie ihn kennengelernt hatte, war er ein lebenslustiger junger Mann gewesen, der ihr Herz im Sturm erobert hatte. Doch dann war diese Revolutionärin gekommen und ihre Hinrichtung hatte ihn zu jenem alkoholabhängigen püschischen Wrack gemacht das sie das vergangene Jahr über gekannt hatte. Und nun stand sie urplötzlich einem dritten Bregs gegenüber, nicht ganz so betrunken wie der zweite und voll grimmiger Wut.
Verstohlen sah Kanndra sich um. Niemand sonst befand sich in der Kantine. Schnell verließ sie ebenfalls den Raum, suchte einen der Aborte auf und schloss sich dort ein. Ein kurzer Moment der Konzentration und sie trug wieder ihre eigene Gestalt zur Schau. Sie ließ sich auf den geschlossenen Abortdeckel sinken und stützte das Kinn auf die gefalteten Hände.
"Da hast du dir ja ganz schön was eingebrockt, Kanndra Mambosamba." sagte sie leise zu sich selbst. "Die halbe Stadt will dich vermutlich mittlerweile lynchen, dein bester Freund stammt nicht aus dieser Welt und du sitzt gerade mitten in der Höhle des Löwen um Informationen zu sammeln."
Doch hatte sie letztendlich nicht genau das gewollt? Eine Hexe vertrieb man nicht, es sei denn, man wollte einen angemessenen Denkzettel geradezu herausfordern. Kanndras Stolz verbat ihr, sich einfach so geschlagen zu geben. Diejenigen die für den Brand in ihrer Wohnung verantwortlich waren würden dafür bezahlen, und der geschickteste Weg, ihnen zu trotzen war es derzeit, Araghast und seinen Freunden bei ihren Plänen zu helfen. Warum mussten bloß alle ihre Puppen und Nadeln in Flammen aufgegangen sein? Ansonsten hätte sie sich nur irgendein Kleidungsstück das einmal dem Patrizier gehört hatte besorgen müssen und Farrux wäre es schlecht ergangen...
Während sie sich von ihrer Verwandlung ausruhte und insgeheim weitere Rachephantasien auslebte, ergriff eine plötzliche Unruhe das Wachhaus. Türen klappten und aufgeregte Stimmen hallten durch die Gänge.
Kanndra sah auf. Etwas wichtiges musste passiert sein. Sie konzentrierte sich kurz und wenig später verließ eine unauffällige weibliche Gefreite der SEALS den Abort, das Gesicht hinter glattem aschblondem Haar halb verborgen.

Wäre die Situation die sich ihr in der Eingangshalle darbot nicht so bitterernst gewesen hätte sie laut gelacht. Auf der Treppe stand ein schwarzgekleideter Mann mit vor Wut verzerrtem Gesicht. Ein schwärzlicher Bluterguss zierte sein Kinn und seine Hände, mit denen er wild gestikulierte, wiesen die Spuren fest angezogener Fesseln auf. Doch es waren seine Worte, die der Voodoo-Hexe einen kalten Schauer über den Rücken jagten.
"Was soll das heißen, Breguyar ist verduftet?" schrie der Wächter, bei dem es sich um niemand anderen als den gefürchteten Hauptmann Zupfgut handeln konnte, eine sichtlich eingeschüchterte Hauptgefreite der FROG an.
"Nun, Sir, er..." stammelte die junge Frau. "Er ist durch sein Bürofenster geflohen. Seitdem haben wir keine Spur mehr von ihm gefunden, Herr Hauptmann."
"Seid ihr denn alle vollkommen unfähig?" herrschte der IA-Agent sie an. "Dieser Mann ist ein Hochverräter und Schwerverbrecher! Ich will seinen Kopf, und wenn der Rest seines Körpers nicht mehr dranhängt dann ist es mir auch egal!" Unvermittelt beugte er sich vor. "Wie heißt du?" schnauzte er.
"Hauptgefreite Min... Mindorah Giandorrrh, Sir, Kommunikationsexpertin, Sir!" stotterte die Wächterin und salutierte hastig.
Hauptmann Zupfgut verzog missbilligend den Mund.
"Vielleicht sollte ich eher Kommunikationsstümperin sagen." bemerkte er eisig. "Aber was auch immer, Saufnase Breguyar wird doppelt und dreifach für seinen Verrat bezahlen. Genau wie es seine Braut schon getan hat."
Kanndra biss sich auf die Lippen. Araghast warnen, daß Zupfgut irgendwie wieder freigekommen ist und sich rächen will, teilte sie ihrem geistigen Notizblock mit. Innerlich seufzte sie. So viel Hass und Wut. Und draußen auf dem Runden Meer, unbemerkt von allen, braute sich noch ein viel größerer Schrecken zusammen.
Krachend schlug die Wachhaustür gegen die Wand und die Voodoo-Hexe wich so tief in die Schatten des Durchgangs zur Kantine zurück wie es ihr nur möglich war. Die massige Silhouette Kommandeur Rinces zeichnete sich dunkel vor dem verregneten Hintergrund ab.
"SUSI!" brüllte Rince, ohne seine Umgebung auch nur mit einem Blick zu würdigen. "Sofort zwei Spurensicherungstrupps zum Patrizierpalast! Und alle Abteilungsleiter in mein Büro, auf der Stelle!"
Aha, dachte Kanndra und verspürte ein seltsames Ziehen in der Magengrube, als sie das kreidebleiche Gesicht des Kommandeurs musterte. Dermaßen erschüttert hatte sie den Dicken während ihrer gesamten GRUND-Zeit noch nie erlebt.
"Sör!" versuchte Zupfgut, auf sich aufmerksam zu machen. Es war schier erstaunlich, mit ansehen zu müssen, wie der Hauptmann von einer Sekunde auf die andere von hinterhältig-überheblichem Verhalten zu korrekter Demut wechselte. "Ich habe ein schweres Verbrechen zu melden! Feldwebel Araghast Breguyar hat..."
"Später, Zupfgut. Ab in mein Büro!" unterbrach ihn der Kommandeur ungehalten. "Es gibt Wichtigeres. Jemand hat allem Anschein nach einen Mordanschlag auf den Patrizier versucht!"
Kanndra drückte sich an die Wand und hielt den Atem an, als der Kommandeur an ihr vorbeimarschierte, gefolgt von Zupfgut. Widerwillig musste sie zugeben, daß der dürre Bücherwurm mit seinem wissenschaftlichen Geschwafel doch recht gehabt hatte mit seiner Annahme, daß bald irgend etwas passieren würde. Und hatte sie nicht auch selbst ganz entscheidend zu den Überlegungen betreffend das Gesetz der Geschichte beigetragen? Aber er hatte die Idee zuerst gehabt und das ärgerte sie ein wenig. Warum musste der Kerl nur so verflucht schlau sein? Lieber wäre ihr eine weitere Bestätigung ihres Vorurteils, daß Zauberer dicke, träge Faulpelze waren, gewesen. Ein RUM-Wächter mit ribbondekorierter Brust hastete an ihr vorbei und Kanndra folgte ihm unauffällig, als ob sie dazugehören würde. Die Illusion der SEALS-Uniform an ihrem Körper musste als Berechtigung genügen, sich hier aufzuhalten. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie der Mann in einem Büro verschwand, und nickte zufrieden. Dort befand sich also das Büro des Kommandeurs.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis vier weitere mutmaßliche Abteilungsleiter Rinces Arbeitszimmer aufgesucht hatten. Verstohlen blickte Kanndra sich um. Als sie sicher war, daß sich niemand weiteres im Gang befand, wechselte sie die Seite und lehnte sich mit grimmigem Gesichtsausdruck neben der Tür des Kommandeursbüros an die Wand.
"...ist wirklich ernst." klang die Stimme Kommandeur Rinces gedämpft durch das Holz. "Die Explosion hat insgesamt vier Mitglieder des Stadtrates getötet. Und, ganz unter uns gesagt, ich bin mir sicher, daß da in irgendeiner Form Zauberei im Spiel gewesen ist."
"Natürlich, Sir." Das war Zupfgut. "Ihnen ist doch bekannt, daß Breguyar Umgang mit Hexen und Zauberern pflegte. Wahrscheinlich sogar mit illegalen Untoten. Wie gerissen von ihm, und die ganze Zeit über den Trunkenbold vorzuspielen, während er in Wirklichkeit plante, das Werk seiner Geliebten fortzuführen. Ich verwette einen Monatssold darauf, daß er bei dem Anschlag seine Finger im Spiel hatte."
"Äh, Sir, Verzeihung, daß ich etwas einzuwenden habe, aber das ist soweit ich ihn kenne nicht seine Art." warf eine Stimme die Kanndra nicht deuten konnte unsicher ein. "Ich kenne ihn schon lange. Araghast würde nie einfach jemanden in die Luft sprengen wollen. Er ist Püschologe. Seine Methoden sind da subtiler."
"Heute Morgen waren seine Methoden nicht besonders subtil, MeckDwarf." hielt der Hauptmann dagegen. "Der Kerl ist zu allem fähig. Ein Wunder, daß er mich nicht eiskalt ermordet hat. Und ein sehr großer Fehler von ihm."
"Vielleicht." antwortete Rince abwesend. "Aber Sie alle waren nicht dort als es geschah. Sie haben diese Worte nicht gehört die Ihnen das Bewusstsein zu Eis erstarren ließen." Er pausierte kurz. "Pfunui maf Ktulupalulu Leshp wannaglftan." sagte er so leise, daß Kanndra es kaum hören konnte. "Ich weiß nicht was es bedeutet, aber es hört sich abgrundtief böse an."
"Natürlich. Ein netter Fluch in irgendeinem klatschianischen Hinterwäldlerdialekt." Wieder Zupfgut. "Genau das war vermutlich die Absicht der Gegner des Patriziers. Sie versuchen, mit Hilfe von Drogen den Wahnsinn über die ganze Stadt zu verstreuen, so daß der Mob schließlich gegen Seine Exzellenz Lord Farrux aufbegehrt und den Palast in Brand steckt. Ich schlage vor, sofort sämtliche Brunnen der Stadt auf bewusstseinsverändernde alchimistische Mittel untersuchen zu lassen."
Nur mit Mühe konnte Kanndra sich vom Stürmen des Büros zurückhalten. Sie wusste nicht, wen sie mehr hassen sollte, Johann Zupfgut oder den Patrizier. Die Art und Weise auf die der IA-Agent Kommandeur Rince die Worte im Mund herumdrehte ließ sie beinahe ihre guten Vorsätze vergessen, hier niemandem etwas zu Leide zu tun. Dieses Schwein. Die Voodoo-Hexe atmete tief durch. Ruhig bleiben und weiter zuhören...
Doch kaum daß sie erlauscht hatte, wie ein weiterer unbekannter Wächter Araghasts Schuld an den Geschehnissen im Patrizierpalast mit dem unerlaubten Freilassen eines magisch begabten Zombietöters begründete, hörte sie Schritte auf dem Gang. GRUND dachte sie konzentriert und ihre illusorische Gestalt flackerte kurz auf.
Kurz darauf blieb auch schon ein blonder Hüne vor ihr stehen.
"Was hast du hier zu suchen, Rekrutin?" fragte er barsch.
Kanndra salutierte zackig.
"Sir! Der Kommandeur hat mich beauftragt, dieses Büro zu bewachen, Sir! Er wünscht ausdrücklich, nicht gestört zu werden, Sir!"
"Soso." Der unbekannte Feldwebel runzelte die Stirn. "Dein Name, Rekrutin?"
"Paula Keiner, Sir, stets zu Diensten!" Kanndra salutierte ein weiteres Mal.
"Verschwinde hier, Rekrutin." wurde sie angeherrscht. "Ab jetzt übernehme ich."
"Aber Sir, ich wurde beauftragt..."
"Keine Widerrede, Rekrutin! Das war ein Befehl, und wenn du keine Anzeige bei Intörnal Affärs haben willst dann empfehle ich dir, zu gehorchen!"
"Ja, Sir." antwortete Kanndra mit nur mühsam unterdrückter Wut und zog sich langsam zurück. Verdammter Mist, fluchte sie lautlos. Warum musste ihr ausgerechnet als es interessant wurde dieses eingebildete Riesenross in die Quere kommen? Immerhin hatte sie einen Teil des Gespräches mithören können.
Haarfarbe dunkelbraun und SEALS-Uniform, Gefreite dachte Kanndra als sie in die Eingangshalle trat. Sie nickte den hinter dem Tresen sitzenden Rekruten kurz zu, zog sich die Kapuze ihres Umhangs über den Kopf und marschierte hinaus in den Regen wie ein Wächter, der sich auf seine Streife begab.

Auf der Mauer auf der Lauer...


Desinteressiert betrachtete Alfons Messerkuss die Streifenwächterin, die das Wachhaus verließ und einen Weg in Richtung Schnitt und Königsstraße einschlug. Schon seit Stunden observierte er das Wachhaus am Pseudopolisplatz und immer noch hatte er nicht die geringste Spur von Araghast Breguyar entdeckt. Mit einem weichen Lappen wischte der Assassine die Regentropfen von der Linse seines Leonardo-Fernrohrs. Vielleicht war es an der Zeit, etwas aktivere Nachforschungen zu betreiben. Er schob das optische Instrument zusammen, verstaute es in den Tiefen seines Regenumhangs und zog ein Stethoskop hervor. Auf das Dach des Wachhauses zu gelangen würde eine leichte Übung sein. Und dann brauchte er nur noch seine Ohren anzustrengen...

Die Stunde des lebenden Toten


Schwungvoll stieß Kamerun Quetschkorn die Tür der Geflickten Trommel auf und atmete die ihm entgegenströmende Luft tief ein. Sie roch nach altem Bier, obskuren Tabaksorten, ungewaschenen Körpern, Knieweich und feuchtem Stroh, vermischt mit einer Dosis Ankh und einem leichten Hauch billigen Parfums. Hinter der Theke stand Hibiskus Dunhelm und putzte das obligatorische Glas, während einige suspekt anmutende Individuen mit mürrischen Gesichtern über ihren Getränken saßen.
Kamerun schlug die Kapuze seines regennassen Umhangs zurück und trat ein. Wenn es in Ankh-Morpork einen Ort gab an dem er sich wirklich zu Hause fühlte, dann war es diese für ihre Verrufenheit geradezu schon berühmte Taverne. Er sah nach oben. Selbst die von Ruß und Rauch schwärzlich gefärbten massiven Deckenbalken schienen in jeder Wirklichkeit gleich zu sein. Mit einem zuversichtlichen Lächeln auf den Lippen durchquerte er den Schankraum. Wenn es in der Stadt jemanden gab, der ihm etwas über derzeitige besondere Vorkommnisse erzählen konnte, dann war es der alte Dunhelm. Vermutlich würde er einige unangenehme Fragen über sein Verschwinden in den letzten Tagen zu hören bekommen, doch das war Nebensache. Immerhin war dies ja nicht die Wirklichkeit in der er tatsächlich für den Wirt der Trommel arbeitete.
"Hallo Dunhelm! Ein Bier bitte!" Lässig lehnte er sich an die Theke und zog sich mit dem Fuß einen der Barhocker heran.
Hibiskus Dunhelm sah auf und seine Augen weiteten sich. Mit einem Klirren zerschellte das Glas, das aus seinen Händen gefallen war, auf dem Steinboden.
"Du!" brachte der Wirt hervor.
Kamerun schluckte. Mit einer solchen Reaktion hatte er nicht gerechnet.
"Stimmt etwas nicht mit mir?" fragte er vorsichtig. "Hab ich plötzlich Elefantenohren?"
"Du... Du kannst gar nicht hier sein!" rief Dunhelm stotternd. "Du bist tot!"
Schulterzuckend ließ sich der Nachwuchsheld auf den herangeholten Hocker sinken.
"Ich weiß nicht." sagte er. "Ich fühle mich jedenfalls recht lebendig."
"Es stand in der Zeitung!" Der Wirt warf das Handtuch auf die Theke und schob unauffällig seine Hände unter die mächtigen hölzernen Bohlen.
"Achso, du meinst den Einsturz von Herrn Hongs Imbiss. Es war alles ein Irrtum. Es hat mich nicht erwischt."
Metall klirrte auf Metall. Wie aus dem Nichts tauchte eine nagelgespickte Keule in den Händen Hibiskus Dunhelms auf.
"Verschwinde von hier, Zombie!" kreischte der Wirt. "Oder ich hole die Wache!"
Leise seufzend rutschte Kamerun von seinem Sitzplatz und legte sicherheitshalber die Hand auf den Griff seines Schwertes. Die ganze Informationsbeschaffungsaktion, die er ursprünglich für eine pfiffige Idee gehalten hatte, war gerade dabei, entsetzlich schiefzugehen.
"Aber guck mich doch an!" startete er einen letzten Versuch, den Inhaber der Trommel umzustimmen. "Ich atme. Meine Hände sind warm. Ich habe rote Wangen. Also kann ich nicht tot sein!"
Aus den Augenwinkeln beobachtete er die übrigen Gäste. Diese betrachteten das Geschehen interessiert und der junge Held erkannte offene Feindseligkeit in ihren Mienen. Schon griffen die ersten hinter oder neben sich und als erfahrener Tavernenkämpfer war ihm nur allzu klar, was dies bedeutete. In jeder Sekunde konnte der erste Bierkrug fliegen...
"Alles Tarnung." erwiderte Dunhelm und trat um die Theke herum. "Jeder weiß, daß Zombies und andere Untote sich nicht ohne Genehmigung in der Stadt aufhalten dürfen."
Scharrende Geräusche verkündeten, daß mehrere Stühle zurückgezogen wurden. Kamerun wich langsam in Richtung Tür zurück und betete zu Brassica, daß der Türsteher nicht inzwischen seinen Dienst angetreten hatte. Es war eine Sache, ein Held zu sein. Doch wenn die Chancen zehn zu eins oder schlechter gegen ihn standen, galt ein taktischer Rückzug als die verlockendere Alternative. Raistan hatte ihm einmal erklärt, nachdem man ihn bei einem Kampf ziemlich übel zugerichtet hatte, daß es einen großen Unterschied zwischen Heldenmut und akuten Selbstmordgelüsten gab.
"Na gut." sagte er mit gepresster Stimme. "Ich werde gehen."
"Verdammte Leiche!" brüllte jemand links von ihm. "Dich mach ich fertig!"
Kamerun duckte sich gerade noch rechtzeitig. Der Bierkrug flog über ihn hinweg und zerbarst an der gegenüberliegenden Wand.
"Mist." fluchte der junge Held leise und stürmte zur Tür, einen spontanen waffenschwingenden Mob von mindestens zehn Personen hart auf den Fersen.

Drei Minuten später war die wütende Menge auf gut hundert Personen angewachsen. Das scharfe Metall von Küchenmessern, Schlachterbeilen, Fleischklopfern, Rührbesen, Bratpfannen und Mistgabeln [4] schimmerte unheilvoll im Licht der zischenden Fackeln, während Kamerun Quetschkorn verzweifelt um sein Leben rannte, den Mob dicht auf den Fersen.
"Steckt den Zombie an! Steckt den Zombie an!" gellte das Johlen der aufgestachelten Menschenmasse in seinen Ohren.
Eine zielgenau geworfene Fackel traf ihn am Rücken und insgeheim dankte Kamerun zum ersten Mal seit Tagen der heiligen Brassica für den anhaltenden Regen, der seinen Umhang durchweicht hatte. Lieber war er ein wenig nass als in Flammen zu stehen.
"Brandpfeile!" brüllte jemand. "Holt Brandpfeile!"
"Verdammt." keuchte der junge Held und strich sich seine triefende Haarmähne aus dem Gesicht. Wenn sie anfingen auf ihn zu schießen, war er bald wirklich eine Leiche. Kopflos rannte er weiter, immer tiefer in die Stadt hinein, und war heilfroh über seine Kondition. Gröhlend folgte ihm die Menge. Wahrscheinlich warteten sie nur auf den Moment, in dem ihm eines seiner Beine abfiel. Doch diesen Gefallen würde er ihnen nicht tun. Noch lebte er.
Jetzt oder nie dachte er, als er durch den strömenden Regen eine Lücke zwischen zwei Häusern gewahrte. Gleich einem hakenschlagenden Kaninchen änderte er abrupt die Richtung, geriet auf den nassen Straßenpflaster ins Rutschen und taumelte stolpernd in die kleine Seitengasse. Ohne sich groß umzusehen floh er weiter und stellte nach einigen Schritten fest, daß er einen schweren Fehler gemacht hatte. Natürlich. Er hätte es ahnen müssen. Raistan hatte recht damit, daß er manchmal einfach so dumm wie ein Ochse war.
Wütend starrte Kamerun die graue Ziegelmauer an die ihm in einem Abstand von zwanzig Metern den Fluchtweg abschnitt. Am Eingang der Gasse tobte der Mob.
"Brennen! Brennen! Brennen!" schallte der Chor zu ihm herein. Schon drängelten sich die ersten in den schmalen Weg, ihre improvisierten Waffen gleich Hellebarden vorgestreckt.
Der junge Held duckte sich in den Schatten einer Treppe und lockerte sein Schwert in der Scheide. Warum konnte sein kleiner Bruder nicht an seiner Seite stehen und diesen verrückten Fanatikern da draußen ein paar Zaubersprüche um die Ohren schlagen? Eine dieser Illusionen von einem feuerspeienden Riesensumpfdrachen und die Leute hätten sich beim Versuch zu fliehen gegenseitig totgetrampelt. Doch keine kalte, knochige Hand griff nach seinem Arm und niemand wisperte ihm leise 'Jetzt' ins Ohr. Er war auf sich allein gestellt.
Und da kamen sie auch schon die Gasse entlangmarschiert, wohl wissend, daß es keine Fluchtmöglichkeit für ihn gab. Kamerun biss die Zähne zusammen. Seine Chancen standen höchstwahrscheinlich deutlich schlechter als die berühmte eins zu einer Million. Doch wenn er schon sterben musste... Er war ein Held und würde so viele von ihnen mitnehmen wie er nur konnte.
Mit einem leisen Scharren glitt Hildegard aus der Scheide.
"Jetzt." sagte Kamerun leise zu sich selbst und wollte gerade aufspringen, doch ein zischendes Geräusch ließ ihn innehalten. Es stammte aus einem Kellereingang wenige Meter neben ihm.
"Psst Psst!" zischte eine durchdringende Stimme. "Hier rein, Kollege!"
Kamerun zögerte nicht. Er warf einen letzten Blick auf die tobende Meute die sich nur noch fünfzig Meter von ihm entfernt befand und hastete geduckt der Rettung entgegen.
Unten im Keller empfingen ihn eine beinahe undurchdringliche Finsternis und ein schier überwältigender Kaffeegeruch. Mit einem leisen Knirschen schloss sich die Tür und der junge Held hörte, wie ein Schlüssel mehrmals herumgedreht wurde. Kurze Zeit später flammte ein Streichholz auf und wurde von behandschuhten Fingern an den Docht einer Kerze gehalten.
Im schwachen Licht der Flamme erkannte Kamerun, daß er in einer Art Lager gelandet war. Säcke und Kisten stapelten sich bis beinahe unter die Decke. Doch bevor er es geschafft hatte, die Aufschriften zu entziffern, lenkte das Geräusch der tobenden Menge ihn ab.
"Sie werden die halbe Gasse auseinandernehmen und trotzdem nichts finden." erklärte sein Retter ruhig. "Du scheinst noch nicht lange untot zu sein." bemerkte er. "Du siehst ja noch richtig frisch aus."
Der junge Held steckte sein Schwert weg und musterte den anderen gründlich.
Er war groß und breitschultrig, doch damit erschöpften sich seine ansehnlichen Komponenten auch schon. Das Gesicht des Fremden besaß die Farbe eines starken Sonnenbrandes und sein Überbiss konnte nur als rekordverdächtig bezeichnet werden. Das kurze schwarze Haar erweckte den Eindruck, als sei im Laufe der Nacht das Kopfkissen des Trägers explodiert. Hinzu kamen eine rechteckige Hornbrille und ein ausgebeultes kariertes Sakko, dessen Schnitt niemals modern gewesen war und vermutlich auch innerhalb der nächsten Äonen nie sein würde.
"Wie du siehst, habe ich ganze Arbeit geleistet, Kollege." Beinahe stolz klopfte sich sein Retter auf die Brust. "Uncooler geht es wohl wirklich kaum. Kein Schwein würde hinter dieser Aufmachung einen Vampir vermuten."
"Was? Sie sind ein..." Kamerun mochte es kaum glauben.
Der Fremde nickte würdevoll.
"Gestatten, Valdimier van Varwald ist mein Name. Aber in der Welt da draußen ziehe ich Waldo Varwald, Verkäufer in Ebrausos Kaffeegeschäft vor. Aber sei mal still. Hörst du, wie enttäuscht sie sind, Kollege?"
Kamerun spitzte die Ohren. Der Chor, der eben noch einstimmig seine Verbrennung gefordert hatte, war zu einem wüsten kollektiven Wutgeheul auseinandergebrochen. Den scheppernden Geräuschen nach zu urteilen wurde eifrig mit massiven Gegenständen geworfen.
"Sie sind wie Bluthunde, Kollege." sagte der Vampir und schritt mit eleganten, fließenden Bewegungen durch den Keller. "Komm hoch und trockne dich ein wenig in unserem Hinterzimmer, sonst fängst du noch an zu schimmeln, was bei einem noch so schön frischen Körper wie deinem wirklich schade wäre. Nachher kannst du vorn durch den Laden verschwinden."
Der junge Held nickte nur und folgte seinem Retter. Wie brachte er ihm nur schonend bei, daß er überhaupt kein Zombie, sondern noch am Leben und bei bester Gesundheit war?

Das geheime Leben des Eddie Wollas


Die Überwaldianische Botschaft, ha...
Im Schatten ihrer Hutkrempe lächelte Edwina Dorothea Walerius. Man musste nur eine augenscheinlich vernünftige Erklärung liefern und schon glaubten einem die lieben Mitmenschen so ziemlich alles.
"Wohin nun, Meifterin?" fragte Rogi.
"Schannon." antwortete Edwina und schüttelte ihren Regenschirm aus.
Seitdem der Hexer von Ankh tatsächlich höchstpersönlich und in Fleisch und Blut in ihrem Arbeitszimmer gestanden hatte war ihr keine ruhige Minute mehr geblieben. Mit der fadenscheinigen Ausrede, einige Informationen aus der Überwaldianischen Botschaft holen zu müssen, hatte sie sich in Begleitung der Igorina auf den Weg gemacht, um gewisse Dinge klarzustellen.
Es hatte einfach alles zu perfekt gepasst. Ein düstereres, offiziell nur von Menschen bevölkertes Ankh-Morpork, regiert von einem sadistischen Despoten, und eine überall herumschnüffelnde Geheimpolizei. Dazu kamen eine hoffnungslos überforderte Stadtwache mit einem Charakterschwein erster Klasse in einem hohen Rang, ein illegales Gildensystem und der Eindruck, daß jegliche Art von Magie alles andere als gern gesehen war. Es gab Godric Adana. Es hatte Edward gegeben. Und es gab, wie Edwina im Laufe der vergangenen beiden Stunden festgestellt hatte, auch den größenwahnsinnigen Verbrecher Doktor Viviarty, den rätselhaften unbekannten Vampir der von allen nur die Spinne der Schatten genannt wurde, Samuel Marloff den überwaldianischen Privatdetektiv, und das verrufene Antiquariat der Vianna Zornbrecht. Die Version der Scheibenwelt, auf der die Hexer-Romane des Eddie Wollas spielten, lebte.
Zischend stieß Edwina den Atem zwischen ihren Zähnen aus. Raistan Quetschkorn hatte mit seiner Hosen der Zeit-Hypothese nur beinahe recht gehabt. Die volle Wahrheit behagte ihr jedoch noch viel weniger. Dies war das Ankh-Morpork wie es in Wollas' Phantasie existierte. Doch die Personen die in den Romanen nie einen Namen bekommen hatten, wie zum Beispiel der Patrizier oder der hinterhältige Wachevize, hatten die Identitäten einiger Gegner Araghast Breguyars angenommen.
Mit Rogi im Schlepptau wanderte sie am Rande des Hide Parks entlang und bog schließlich in die wie ausgestorben erscheinende Düstergutstraße ein. Irgendwo aus einem Torweg erklang das trostlose Klappen einer Tür.
Die dritte Straße links. Dann wieder die zweite rechts. Immer wieder sah sich Edwina unauffällig nach Verfolgern um. Ihre Hand schloss sich um den Schwertgriff. Schannon tötete gnadenlos jeden, der einen ungebetenen Gast zu seinem Versteck führte. Er war ein Mann bar jeglicher Moral, der um die gesamte Scheibenwelt gereist war um die Inhumierungsmethoden zahlloser Kulturen zu studieren. Nach einem unglücklichen Zwischenfall hatte er die Assassinengilde verlassen und führte sein tödliches Handwerk auf eigene Faust aus. Es hieß, er stünde in den Diensten des mächtigen Totenbeschwörers Manu Pandämonio, doch Edwina wusste, daß auch die Beseitigung des neugierigen Professors und seiner Tochter in Band 15 nicht mehr als ein einfacher Auftrag für Schannon gewesen war. Bei dieser Gelegenheit hatten sich seine Wege mit denen Godric Adanas gekreuzt, mit dem Ergebnis, daß er seitdem hin und wieder dem Hexer von Ankh einen Gefallen tat. Niemand konnte sagen, auf welcher Seite Schannon letztendlich stand.
Mit dem Rücken an die Stadtmauer gelehnt musterte Edwina das schlichte, baufällig wirkende Reihenhaus. Die vor Nässe glänzenden Steine wirkten im wolkenverhangenen Zwielicht beinahe schwarz. Durch die Ritzen der schweren, verwitterten Fensterläden schimmerte kein Licht.
"A'Shanon Gorryn Thalion Iskarriot Majerre." sagte Edwina leise zu sich selbst. Nie in seinem gesamten Leben hatte Schannon jemandem seinen wahren Namen verraten. Außer der Person die ihm seine literarische Existenz geschenkt hatte und ihren Lesern.
Edwina nickte Rogi zu.
"Du warrtest hierr und suchst dirr ein trrockenes Plätzchen." befahl sie ihrer Dienerin. "Es wirrd nicht lange dauerrn. Ich will lediglich einen alten Gefallen einforrderrn."
Mit schnellen Schritten überquerte sie die Straße und duckte sich in den verwitterten Türsturz. Nachdem sie ihren Regenschirm zusammengefaltet hatte ließ sie ihre behandschuhten Finger über die uralten Eichenbohlen gleiten, bis sie eine Vertiefung spürte. Das Astloch befand sich genau an der erwarteten Stelle.
"Ich weiß, daß du dirr insgeheim die Hände rreibst, Philipp Howarrds Krraftlieb." murmelte Edwina beinahe unhörbar. "Es warr alles irrgendein abgekarrtetes Spiel, nicht wahrr? Warrum haben sonst ausgerrechnet Brreguyarr und ich deine Bücherr bekommen? Du brrauchtest mich und die Rromane des Hexerrs von Ankh. Du brrauchtest den Glauben derr Leserr, um diese Rrealität aufrrechtzuerrhalten. Und aus irrgendeinem Grrund brrauchtest du auch Brreguyarr. Warrum weiß ich noch nicht, aberr das werrde ich auch noch herrausfinden. Derr Feldwebel hatte rrecht. Es ist alles eine Verrschwörrung. Aberr es rreicht. Bald wirrd dein Spiel aus sein, Krraftlieb!"
Die Überwaldianerin straffte ihre Schultern. Sie mochte es absolut nicht, von einem vielleicht existierenden Gespenst oder einer überdimensionalen Existenz oder was auch immer als Spielball benutzt zu werden. In dieser Hinsicht stimmte sie mit Breguyar völlig überein. Jemand würde sich am Ende dieser Geschichte wünschen, niemals geboren worden zu sein.
Entschlossen schob sie ihren Zeigefinger in das Astloch und drückte den sich darin befindenden Metallstift nach innen.
Geräuschlos schwang die Tür auf und gab den Blick auf undurchdringliche Schwärze frei. Edwina trat drei Schritte vor.
"Derr schwarrze Lotus blüht, doch sein Herrz ist finsterr und voll Tücke." sagte sie mit dunkler Stimme.
"Euer Name?" kam ein Flüstern aus der Finsternis.
"Edwarrd Damien Wollas." antwortete Edwina. "Und falls Sie frragen wollen, Schannon, die Gerrüchte betrreffend mein Ableben sind samt und sonderrs fürrchterrlich überrtrrieben."
Schweigen antwortete ihr.
Dann flammte urplötzlich eine Fackel auf.
"Eddie." Die Stimme klang genauso wie sie sich Edwina immer ausgemalt hatte. Samtweich und ohne die leiseste Spur irgendeiner Emotion. Mit einem eisigen Lächeln auf den Lippen trat die dazugehörige Person aus den Schatten.
Der Assassine war eine Idee kleiner als die Überwaldianerin und von athletischer Statur. Sein kahlgeschorener Schädel glänzte im Fackelschein und Edwina konnte die feuerrote Narbe, die sich gleich einer Schlange von Schannons rechtem Ohr bis zur Stirn zog, deutlich erkennen. Ein Paar kohlschwarzer Augen musterte sie gründlich.
"Warum trägst du Frauenkleider, Eddie?"
Edwina gestattete sich ein triumphierendes Lächeln.
"Ganz einfach. Weil ich eine Frrau bin."
Zufrieden registrierte sie, wie die Gesichtszüge des eiskalten Auftragsmörders für den Bruchteil einer Sekunde entgleisten. Wenn niemand Verdacht geschöpft hatte, musste ihr anderes Ich ja wirklich einen guten Mann abgegeben haben. Genau wie der Edward der Romane. Immer wieder hatte sich Edwina in den einschlägigen Diskussionsrunden über die neuesten Gerüchte zum Fortgang der Hexer-Serie umgehört, doch trotz der hin und wieder dezent eingestreuten Hinweise war die Spekulation, daß Adanas treuer Gefährte in Wirklichkeit eine verkleidete Frau war, nie aufgekommen.
"Dann hast du wirklich alles und jeden getäuscht, Eddie." sagte Schannon. "Aber ich werde dich doch weiter mit Eddie anreden dürfen, meine Dame?" Geschmeidig deutete er eine spöttische Verbeugung an.
"Tun Sie, was Sie nicht lassen können, Schannon." Edwina lächelte. "Derr gute Eddie ist mirr sozusagen zurr zweiten Naturr geworrden."
"Dann was verschafft mir die Ehre deines Besuches?"
Die Bewegungen des Assassinen waren so schnell, daß Edwina ihnen kaum folgen konnte. Innerhalb eines Augenblicks stand er neben ihr und schob seinen Arm unter ihre Hand.
"Du weißt, wo es langgeht, Lady Wollas." sagte er und führte sie auf die Hinterwand des Raumes zu. Ein Druck auf den richtigen Stein und ein Teil der Mauer drehte sich um neunzig Grad. Steile Stufen führten abwärts in die Dunkelheit. Während sie hinabstiegen zählte Edwina mit. Achtzehn Stufen. Und unter jeder verborgen befand sich ein Teil des zerstörten Meisterportals, welches einst einem machtgierigen Magier den Weg zur Ebene des feurigen Abgrundes geöffnet hatte.
Mit einem Ruck zog Schannon die schwarzen Samtvorhänge am unteren Ende der Treppe beiseite und geleitete Edwina in den edel eingerichteten Kellerraum. Galant nahm er ihr Mantel, Hut und Schirm ab und die Überwaldianerin stellte erstaunt fest, daß sie sich diese ritterliche Behandlung gern gefallen ließ.
Ganz einfach, Edwina. meldete sich ihre innere Stimme. So etwas erlaubst du nur Männern die dir ebenbürtig oder sogar überlegen sind. Wahrscheinlich würde es dir auch gefallen, wenn Godric Adana es täte.
Die Überwaldianerin biss sich auf die Lippen und hoffte inständig, nicht zu erröten wie ein dämliches Mädchen im Backfischalter. Dieser Mann war der Hexer, verdammt, und es gab zur Zeit wirklich wichtigere Dinge als der gestaltgewordenen Ausgeburt ihrer Phantasie hinterherzuschmachten. Aber wie er sie angesehen hatte mit seinen eisigen blauen Augen... Edwina gab sich einen innerlichen Ruck. Hallo, hier spricht Eddie Wollas, teilte sie ihrem Verstand mit. Und du hältst mal für die nächste Stunde die Klappe, bitte, für geheime Schmachtorgien ist später immer noch genug Zeit.
Nachdem sie sich wieder im Hier und Jetzt befand, betrachtete sie die an den Wänden aufgehängten Waffen, und war wieder einmal fasziniert vom Einfallsreichtum der verschiedenen Völker der Scheibenwelt wenn es darum ging, das Leben einer anderen Person zu beenden.
"Nun?" fragte Schannon kühl und trat vor den Kamin. Schwarz zeichnete sich seine Silhouette vor den munter tanzenden Flammen ab. "Wie kann ich... behilflich sein?"
"Es geht um unserren gemeinsamen Frreund Godrric Adana."
"Ah. Wieso habe ich das bloß geahnt."
Edwina trat hinter einen Sessel und stützte sich mit den Ellenbogen auf der Lehne ab.
"Es gibt Ärrgerr, Schannon. Und zwarr wirrklich bösen. Ein Monsterr aus den Kerrkerrdimensionen hat Besitz vom Geist eines Zauberrerrs errgrriffen und eines derr Meisterrtorre ins Rreich derr URRALTEN RRIESEN geöffnet. Und das ist errst derr Anfang. Adana selbst wirrd von sämtlichen Trruppen des Patrrizierrs gejagt und verrsteckt sich in meinerr Wohnung."
"Interessant."
Schon aus seinem Tonfall heraus konnte Edwina hören, daß er nicht besonders interessiert an der Angelegenheit war. Schannon war kein Mensch der jemandem half, ohne daß für ihn selbst dabei etwas heraussprang. Doch die Überwaldianerin kannte die schwache Stelle des Meuchlers. Schließlich hatte sie ihm selbige höchstpersönlich angedichtet.
"Es gab auch einige Prrobleme mit derr Assassinengilde." fuhr sie fort. "Nennen wirr es so. Zwei Helferr von uns drrangen in die Gilde ein und stahlen eine Akte, wobei sie einige Mitgliederr ziemlich dumm dastehen ließen."
Selbst im Gegenlicht konnte sie erahnen, wie sich Schannons fleischige Lippen zu einem humorlosen Grinsen verzogen.
"Und wenn ich es richtig verstehe, ist die Gilde nun hinter ihnen her?" erkundigte er sich.
Edwina nickte langsam, wohl wissend, daß Schannon nichts auf der Scheibenwelt so verabscheute wie die Gilde der Assassinen.
"Um es kurrz zu sagen: Derr Hexerr und ich wärren nicht unglücklich darrüberr, wenn einem oderr zwei derr ehrrenwerrten Herrschaften die sich auf derr Spurr des Wächterrs Arraghast Breguyarr befinden plötzlich etwas zustoßen würrde. Denken Sie darrüberr nach. Einen Gefallen bei Godrric Adana gut zu haben ist etwas wovon einige Bürrgerr dieserr Stadt nurr trräumen können."


Zwischenspiel


Missmutig starrte Kanndra auf die Nachricht, die soeben von einem schlecht gelaunten Aaps in Araghasts Büro abgeliefert worden war, und warf den Zettel auf den Zu-Erledigen-Stapel. Im Moment hatte sie keinen Nerv für die voreilige Bewerbung eines Rekruten namens Halbtag Baumfellerson auf den Posten des Triffinsziels.
"Edwina Dorothea Walerius." sagte Valdimier, der sich auf der Schreibtischkante niedergelassen hatte. "Achtzehnmal verhaftet wegen verschiedenster Vergehen. Was kann diese Frau nur von Bregs gewollt haben? Nichts Gutes schätze ich." Er verzog das Gesicht.
"Wer weiß." antwortete Kanndra diplomatisch. "Wahrscheinlich hat sie in irgendeiner Form mit seinen Ermittlungen betreffend den Hexer zu tun." Mit einem leisen Seufzer strich sie über das nunmehr zugeschlagene Kraftlieb-Buch. Klar ist jedenfalls, daß jemand in den letzten Tagen ihre Akte gelesen hat, und ich verwette einen Monatssold darauf, daß es Bregs war. Wie auch immer, ich hoffe, daß Nyvania bei ihrer Wohnung irgendwas erreichen kann."
Valdimier zuckte mit den Schultern.
"Diese Frau bedeutet Ärger." sagte er.
"Wieso? Woher weißt du das?"
"Nur so eine Ahnung." antwortete der Vampir ausweichend.
Kanndra nickte nur. Ihre Intuition sagte ihr, daß ihr Kollege noch einiges zu erzählen hätte, doch besaß sie zur Zeit nicht die Nerven, sich auch noch mit Valdimier anzulegen. Darum ließ sie es dabei bewenden und wechselte zu einem Thema, welches wiederum ihr nicht sonderlich behagte.
"Was hältst du von Fräulein Leonata Eule?" fragte sie und spürte sofort wieder jenen leichten Stich in der Magengrube, der sie immer überkam, wenn sie sich allzu nahe mit der Verlobten ihres Freundes und Abteilungsleiters beschäftigte. Hundertmal hatte sie sich selbst versichert, daß sie schon seit langem über ihn hinweg war. Doch immer wenn sie dieser zugeknöpft gekleideten, hinkenden Frau über den Weg lief, fragte sie sich, was bei allen Göttern Bregs an ihr fand.
"Sie ist klug und gerissen." sagte Valdimier schließlich. "Und bevor du fragst, ja, ich würde ihr zutrauen, daß sie uns etwas vorspielt um irgendwelche Aktivitäten von Bregs zu decken. Sie kannte Quetschkorn. Und sie liest diesen Hexer von Ankh auch. Dazu hat sie Bregs' Version der Herkunft des Stockdegens verteidigt."
"Kolumbini schien die ganze Sache auch zu glauben." warf Kanndra ein.
"Inspäctor Kolumbini." Valdimier winkte ab. "Kolumbini würde noch seinen eigenen Hintern vergessen wenn der nicht angewachsen wäre. Außerdem ist er ebenfalls mit Bregs befreundet."
Kanndra schwieg. Was hätte sie auch antworten sollen? Um Araghast herum spann sich ein feines aber festes Netz aus unterschwelligem Misstrauen. Sie strich sich eine widerspenstige Locke aus der Stirn. Zugegeben, objektiv betrachtet standen die Dinge schlecht für Bregs. Er war püschisch labil und in letzter Zeit selten nüchtern zum Dienst erschienen. Erst gestern hatte er mit einem Briefbeschwerer nach Nyvania geworfen und nur seinen schlichtweg miserablen Wurfkünsten war es zu verdanken, daß es zu keinen schweren Verletzungen gekommen war.
"Dann lass uns diesen Fall lösen, Val." verkündete die Späherin. "Wir werden ja sehen, was dabei herauskommt."

Langsam beschlich Kolumbini das Gefühl, daß es wieder einmal einer jener Fälle wurde die, kaum daß man glaubte sie gelöst zu haben, gerade erst anfingen. Mit unbewegter Miene sah er zu wie Larius de Garde und Olga-Maria Inös den Körper Emanuel Kaboltzmanns abtransportierten. Der Zauberer war so tot wie ein Sargnagel. Wild auf seinem Glasauge herumklopfend marschierte Kolumbini im gräulichen Zwielicht des Zimmers auf und ab, immer wieder einen Blick auf den Kreideumriss vor dem Bett werfend.
Damit war der Körper des Täters aus dem Verkehr gezogen. Doch wo steckte das
Ding, das den Zauberer überhaupt erst dazu gebracht hatte, eine Näherin und vier Bewohner eines Hauses in der Ulmenstraße zu ermorden? Dazu kam noch der junge Magier der sich vor einer Stunde im Karzer erhängt hatte. Auch er war Mitglied des Expeditionstrupps gewesen, der in Herrn Hongs Imbiss eingedrungen war.
Wollen wir wirklich wissen, was mit Herrn Hong geschehen ist? überlegte Kolumbini zynisch und vollführte eine Kehrtwendung am Fenster. Wenn man es wusste wünschte man sich vermutlich, es niemals erfahren zu haben. Aber so waren die Menschen nun mal und Zauberer im ganz Besonderen. Wenn irgendwo ein Schild mit der Aufschrift Wer diese Tür öffnet wird den Weltuntergang auslösen hing dauerte es bestimmt keine fünf Minuten bis jemand es aus reiner Neugierde heraus ausprobierte. Die Gefahr machte gewisse Dinge erst interessant.
Der Ermittler machte einen kleinen Abstecher zum Schreibtisch. Kaboltzmann hatte laut der Aussagen einiger Zauberer, die der Expeditionsankündigung beigewohnt hatten, einen Plan der Tunnel unter dem
Dreimal Glücklichen Fischimbiss besessen. Die Spurensicherer von SUSI würden zwar nicht besonders erfreut darüber sein, daß jemand in den Papieren des Zauberers herumgewühlt hatte, doch das kümmerte Kolumbini nicht. Wie sollte man als Ermittler vernünftige Arbeit abliefern, wenn man nicht einmal eigenständig nach Hinweisen suchen durfte?
Zu Kolumbinis großer Überraschung befand sich der Schreibtisch in einem Zustand tadelloser Ordnung. Der Füllfederhalter war genau parallel zur Tischkante ausgerichtet worden und nicht ein einzelner Tintenfleck zierte die blütenweiße Tischdecke. Der Ermittler runzelte die Stirn. Wer benutzte schon Damastdecken auf einem Schreibtisch? Es war ihm als hätte jemand, oder
etwas, korrigierte er sich in Gedanken hastig, der sich nicht mit den Feinheiten des menschlichen Lebens auskannte, mit aller Macht versucht, einen Zustand der Normalität aufrecht zu erhalten. Nachdenklich ließ er seinen Blick über die in einem kleinen Holzregal stehenden Bücher schweifen und wunderte sich nicht einmal groß, als er auf ein Exemplar von Erich von Nichtsfjords Die 100 größten Verschwörungen der Scheibenwelt stieß. Er brauchte nicht einmal nachzuschauen um zu wissen, daß der voluminöse Band einen ausführliches Kapitel über das Mysterium namens Dreimal Glücklicher Fischimbiss enthielt. Zum wiederholten Mal an diesem Tag wünschte er sich Araghast herbei. So wie sich die beiden FROG-Wächter verhalten hatten, schien allerhand Ärger in der Luft zu liegen. Die einzige Person die noch an Bregs glaubte war das Fräulein Leonata, in seinen Augen eine der wenigen Frauen die nicht mit dem Verstand einer Amöbe gesegnet waren. Und er selbst, wie er sich eingestand. Araghast Breguyar war launisch, oft betrunken und beißend zynisch. Doch letztendlich war es genau das gewesen, was sie zu Freunden gemacht hatte. Bregs sah weder die Welt durch eine rosarote Brille noch glaubte er an all den romantischen Blödsinn von dem Guten das tief im Inneren jedes denkenden Wesens schlummerte. Und bisher hatte der hochgewachsene Feldwebel mit dem langen Zopf und der Augenklappe letztendlich immer Recht gehabt.
Und dann war da noch Raistan Adelmus Quetschkorn, der junge Zauberer der dem
Ding zu viel gewusst zu haben schien. Laut seiner Akte musste er ein wahrer Streber gewesen sein. Keine Einträge wegen Randale in Tavernen, weit überdurchschnittliche Klausurergebnisse und ein Examen summa cum laude. Das einzig Interessante war ein Attest des Universitätsarztes gewesen, welches den jungen Quetschkorn von jeglichen sportlichen Aktivitäten befreite. Armer Kerl, ging dem Ermittler durch den Kopf, und flüchtig erschien das bleiche, hagere Gesicht mit dem durchdringenden stahlgrauen Blick vor seinem inneren Auge. Vermutlich würde es kein halbes Jahr mehr dauern bis die Schwindsucht ihn endgültig dahinraffte.
Warum müssen immer die Falschen früh sterben, fragte sich der Ermittler insgeheim und begann, die übrigen Buchrücken einer gründlichen Musterung zu unterziehen. Es gab so viele Personen auf die die Scheibenwelt gut verzichten konnte. Angefangen bei einer gewissen weiblichen Okkultismusexpertin die der Meinung war, ihr Posten sei ja so dermaßen einer zungengelöcherten Halbvampirin angemessen.
Plötzlich stutzte er und legte den Kopf schief. Ein schmaler Band hatte seine Aufmerksamkeit erregt.
"Thagon. Philipp Howards Kraftlieb." las er halblaut. Der Name ließ bei ihm sämtliche inneren Alarmglocken schrillen. Das Buch auf Araghasts Schreibtisch, in dem sich die blutigen Fingerabdrücke Raistan Quetschkorns befunden hatten, stammte vom gleichen Autor.
Hektisch zog Kolumbini das Buch aus dem Regal und schlug es auf. Allein das Vorwort brachte ihn dazu, sich auf dem Schreibtischstuhl niederzulassen und seine Pfeife zu stopfen.
Dicke Rauchwolken stiegen in die Luft, als der Ermittler Seite um Seite des Buches umblätterte. Der Text handelte von einem uralten Fischgott und dessen Kult, der sein Domizil in einigen unterirdischen Gewölben in der Unheilsstraße aufgeschlagen hatte. Volltreffer, dachte Kolumbini und sah aus dem Fenster hinaus in den strömenden Regen. Er bedauerte, daß er Kaboltzmann nicht mehr fragen konnte, wie dieser in Besitz des Werkes gelangt war. Und immer wieder Philipp Howards Kraftlieb...



Vor der Orgie


"Und wehe, ihr wagt es, euch von der Stelle zu rühren, bis eure Ablösung eintrifft!"
Mit schwingenden Gewändern wandte sich Lord Epahraim Farrux auf dem Absatz um und würdigte die beiden Wächter, die stocksteif neben der großen Tür der Rattenkammer standen, keines weiteren Blickes. Er wollte den kleinen Unfall, wie er es insgeheim nannte, so schnell wie möglich vergessen. Die vier toten und die zwei verrückt gewordenen Stadträte ließen sich leicht ersetzen, genau wie die zerbrochenen Fenster. Wenn es nur möglich gewesen wäre, diese vermaledeite Karte vom Tisch zu lösen...
Der Patrizier seufzte leise und trat auf die Empore, die einmal um den Großen Saal herumführte. Mehrere Spurensicherungstrupps der Stadtwache und ein Kommando der Geheimpolizei hatten die Rattenkammer mehrmals gründlich durchsucht und weder Spuren von Pulver Nummer Eins noch von Sumpfdrachen gefunden. Und irgendwie musste der Attentäter es geschafft haben, die Umrisse der Insel Leshp in die Karte einzubrennen. Verfluchte Handtuchköpfe. Früher oder später würde er herausfinden, wie sie es angestellt hatten. Er, der Herrscher von Ankh-Morpork, würde ihre Warnung, die Finger von dem frisch aufgetauchten Land zu lassen, nicht beachten.
Lord Farrux machte sich eine geistige Notiz, am folgenden Tag einige Klatschianer festnehmen und hinrichten zu lassen. Strenge Maßnahmen schreckten das Volk ab und beruhigten die Oberschicht. Mit einem zufriedenen Lächeln beobachtete er, wie zwei Diener auf der Empore vor dem Thron ein Gerüst und eine Feuerstelle errichteten. In Gedanken kitzelte der Geruch feinsten quirmianischen Käses bereits sein olfaktorisches Zentrum.
Diese Orgie würde wirklich alles übertreffen was jemals in diesem Saal stattgefunden hatte, da war sich der Patrizier sicher. Sie würden feiern als gäbe es kein Morgen.

Was nun?


Er konnte es spüren. Irgendwo dort draußen befand sich das unbeschreibliche Grauen, das unaufhörlich am Rest seiner Menschlichkeit fraß wie eine Ratte an einem Kadaver. Seine Hand, die das Whiskyglas umklammerte, zitterte leicht. Die Verkörperung des Chaos, sein vampirisches Selbst, saß im Schatten dicht unter der Oberfläche seines Bewusstseins und lauerte auf seine nächste Chance, die Oberhand zu gewinnen. Und je weiter die Macht der URALTEN RIESEN anwuchs, desto schwächer wurde er selbst. Noch gab es Araghast Breguyar, doch für wie lange noch?
Der Feldwebel warf einen verstohlenen Blick auf Raistan Quetschkorn, der sich mit geschlossenen Augen im Schreibtischsessel zurückgelehnt hatte. Schon zum zweiten Mal hatte ihn der junge Zauberer davor bewahrt, sich komplett im B-Wort-Rausch zu verlieren. Doch der zweite Anfall war weitaus schlimmer gewesen als der erste. Vielleicht würde ihn beim nächsten Mal nur noch ein wohlgezielter Pflock aus Edwina Walerius' Baraschnikoff-Armbrust retten können...
Nein. Daran wollte er zumindest im Moment nicht denken. Hastig leerte er sein Glas und richtete seine Aufmerksamkeit auf die erschöpft aussehende Kanndra, die ihre Teetasse abstellte und sich vernehmlich räusperte.
"Errzähl." forderte Edwina sie auf und zog an ihrer Pfeife.
Araghast runzelte die Stirn. Er würde einen halben Monatssold dafür hergeben zu erfahren, was die Überwaldianerin im Laufe des Nachmittags wirklich getrieben hatte. Sie war insgesamt für beinahe vier Stunden fortgewesen. So lange konnte man sich in Araghasts Augen kaum in einer Botschaft aufhalten und bisher hatte sie mit keinem Wort näher erwähnt, was sie dort eigentlich genau zu tun gehabt hatte.
An der Wand neben der Tür lehnte Godric Adana. Hexer hin und her, Araghast vertraute auch ihm nicht gänzlich. Er kannte den Hexer aus den Romanheften gut genug um zu wissen, daß Adana manchmal über Leichen ging, und hatte nicht vor, sich als MUT-Futter missbrauchen zu lassen. Nur mühsam verkniff sich der Feldwebel ein hinterhältiges Lächeln. Falls es nötig werden sollte, hatte er dem Hexer gegenüber noch eine Große Zwiebel auf der Hand. Godric Adana besaß eine einzige wunde Stelle. Er war ein Mann ohne Vergangenheit.
Ich weiß, wer du bist, Hexer, dachte Araghast. Und wenn du vorhast, uns jetzt hier in deinen Kampf gegen die URALTEN RIESEN einzuspannen, anstatt mit uns, wenn Kraftlieb sich endlich zeigt, einen kleinen Abstecher in unsere Heimatwirklichkeit zu unternehmen, dann könnte ich mir durchaus vorstellen, daß ich ein Angebot für dich habe, das du nicht ablehnen kannst.
"Schlechte Nachricht Nummer eins." begann Kanndra ihre Erzählung. "Jemand muss Zupfgut aus dem Schrank befreit haben. Und er ist so wütend wie ich es noch nie bei jemandem erlebt habe. Kurz gesagt, er will deinen Kopf, Bregs. Und am liebsten wäre es ihm, wenn er nicht mehr am Rest deines Körpers befestigt ist."
"Ich habe es geahnt." brummte Araghast. "Die Assassinen und Zupfgut. Besser kann es gar nicht mehr kommen."
Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie der Hexer und Edwina einen flüchtigen Blick tauschten. Lautlos formte die Überwaldianerin mit ihren Lippen ein einziges Wort, woraufhin Adana kaum merklich nickte.
"Schlechte Nachricht Nummer zwei." fuhr Kanndra fort. "Es gab eine Explosion im Patrizierpalast die vier Mitglieder des Stadtrates getötet hat. Einige Wächter versuchen abwechselnd, den Vorfall Bregs, den Zauberern und den Untoten in die Schuhe zu schieben, doch der Kommandeur ist anderer Meinung. Er war bleich wie eine Wand und sprach von seltsamen Worten in einer fremden Sprache, die gefallen sein sollen. Eines von ihnen war eindeutig Cthulhupalhulhu."
"Sprich diesen Namen nie wieder aus, solange diese widernatürliche Bedrohung über der Stadt hängt!" fuhr der Hexer sie scharf an. "Jedes Mal, wenn jemand die verbotenen Worte von sich gibt, spürt er es und seine Macht nimmt zu."
Und das sagst du uns erst jetzt, Hexer, dachte Araghast bissig. Egal ob mit oder ohne Erinnerung an seine Vergangenheit, der Charakter dieses Mannes war und blieb der gleiche. Sich mit ihm abzugeben war, als würde man versuchen, auf einer mit Schmierseife bestrichenen Glasplatte, deren Ränder mit spitzen Dornen gespickt waren, den Stock-und-Eimer-Tanz zu tanzen.
"Aber was machen wir nun?" warf Kamerun ein. "Was hier passiert ist doch eigentlich nicht unser Bier. Wir sollten zusehen, daß wir wenigstens unsere eigene Welt retten. Und einen Nachhauseweg scheint keiner von uns gefunden zu haben."
Dieser Kommentar brachte ihm einen missbilligenden Blick des Hexers ein, doch bevor dieser einen seiner eisigen Kommentare abgeben konnte legte Edwina den Stiel ihrer Pfeife an die Lippen.
"Pssst." zischte sie. "Seid mal rruhig!"
Mit schnellen Schritten eilte sie zum Fenster und schob die Gardinen einen Fingerbreit auseinander.
Auch Araghast hörte es. Mehrere Stimmen grölten einen wütenden Schlachtgesang. Bald darauf waren auch vereinzelte Textpassagen erkennbar.
"Nieder mit der Zombiefrau! Nieder mit der Zombiefrau!" hallte es durch die Straße.
"Es sind ungefährr zwanzig." berichtete Edwina mit gedämpfter Stimme. "Sie haben Fackeln und Mistgabeln dabei und stürrmen gerrade den Frriedhof."
Araghast biss sich auf die Lippen. Atera. Sein alkoholumnebelter Verstand reagierte automatisch. Eine Wächterin war in akuter Lebensgefahr. Er konnte nicht zulassen, daß ihr etwas geschah. Einem antrainierten FROG-Reflex folgend sprang er auf und griff nach seinem Entermesser.
"Niemand greift ungestraft einen Wächter an!" rief er aus und stürmte zur Tür. Doch bevor er den Griff herunterdrücken konnte packte ihn der Hexer unsanft am Arm.
"Du bleibst hier." befahl er und seine Finger bohrten sich schmerzhaft in Araghasts Fleisch. Vergeblich versuchte der Feldwebel, sich zu befreien. Wo auch immer er versuchte, zuzuschlagen oder zuzutreten, wurde sein Angriffsversuch abgeblockt. Doch das machte ihn nur noch wütender. Ein roter Schleier senkte sich vor seine Augen und ein schrecklicher Durst begann ihn zu packen. Ein Durst nach roter, köstlicher Flüssigkeit...
Doch der Hexer gab nicht auf. Ein Handkantenschlag auf das Handgelenk des Feldwebels und das Entermesser fiel ihm aus der Hand. Schließlich gelang es der freien Hand des Hexers, sich um seine Kehle zu schließen, und Araghast war gezwungen, direkt in die eisigen blauen Augen des Mannes zu blicken, wenn er nicht erwürgt werden wollte.
Er fühlte sich, als ob er ein einem eisigkalten Meer versank. So sehr er auch kämpfte, es war ihm unmöglich, sein Auge zu schließen. Etwas tastete in seinem Bewusstsein umher. Und plötzlich erfüllte eine Stimme seinen Kopf.
Du bleibst, wo du hingehörst, Ausgeburt der Finsternis! befahl sie in einem Tonfall, der jeglichen Gedanken an Widerrede sofort ausschloss. Ich befehle es dir!
Dann war alles vorbei. Der eiserne Griff um Arm und Kehle lockerte sich und Araghast stolperte rückwärts. Sein Kopf fühlte sich seltsam leer an. Jegliches Bedürfnis, sich aus blanker Wut einem übermächtigen Mob entgegenzustellen, war von ihm gewichen.
"Es war höchste Zeit, daß ich mir ihn vorgenommen habe." nahm er die kühle Stimme des Hexers wie durch eine dicke Schicht Watte wahr. "Die Bestie in ihm ist schon beunruhigend stark. Ich habe es vermocht, sie fürs Erste zurückzudrängen. Doch der Effekt wird nicht allzu lange anhalten."
"Wie viel Zeit hat err, bis derr Vampirr wiederr zurrück ist?" fragte Edwina ungeduldig. "Stunden? Tage?"
"Einige Stunden." antwortete Adana.
Mit zitternden Knien wankte Araghast zurück zu seinem Sessel und ließ sich hineinfallen. Eine Barriere aus weihwassergetränkten, mit Knoblauch gespickten Pflöcken schien sich quer durch sein Bewusstsein zu spannen und ihn von dem gähnenden, pechschwarzen Abgrund fernzuhalten. Er war wieder er selbst. Doch für wie lange? Was auch immer der Hexer mit ihm angestellt hatte, es konnte ihn nicht für lange schützen. Er musste fort aus dieser verfluchten Wirklichkeit, wenn er nicht endgültig den Verstand verlieren wollte.
"Err muss forrt von hierr." sprach Edwina in diesem Moment seine Gedanken laut aus. "Und zwarr so schnell wie möglich. Marovosk! Was will dieserr Krraftlieb denn nun noch von uns?"
"Wenn wir das wüssten, säßen wir wahrscheinlich schon längst nicht mehr hier." antwortete Raistan, der bisher geschwiegen hatte.
Godric Adana räusperte sich und Araghast, welcher sich plötzlich hellwach fühlte, bemerkte zu seiner Verwunderung einen leichten Anflug von Nervosität in der ansonsten ausdruckslosen Miene des Hexers. Er fürchtet sich, registrierte sein Püschologen-Selbst beinahe automatisch. Der Feldwebel presste die Lippen aufeinander. Wenn selbst der Hexer von Ankh höchstpersönlich Furcht empfand, konnte es nichts Gutes bedeuten.
"Was auch immer im Palast vorgefallen ist, es ist wichtig." sagte Adana streng. Die schneeweiße, blitzförmige Haarsträhne schimmerte im Feuerschein. "Ich werde es untersuchen müssen. Mir bleibt sogar nichts anderes übrig. Wirst du mit mir kommen, Edward?"
"Edwina." korrigierte die Überwaldianerin ihn mit einem seltsamen Lächeln auf den Lippen.
"Wir sollten mitkommen!" mischte sich Kamerun ein. "Alles ist besser, als hier zu versauern!" Er legte beide Hände auf den Knauf seines Schwertes. "Außerdem habe ich wirklich Lust, jemanden für die Untotenjagd auf mich ordentlich zu verdreschen!"
Araghast lächelte grimmig. Es tat so gut, endlich wieder er selbst zu sein, ohne befürchten zu müssen, daß sich jeden Augenblick ein mentaler Parasit seiner bemächtigte.
"Wenn es bedeutet, daß wir Farrux noch nebenbei eins in den Hintern treten können, bin ich auch dabei." verkündete er. "Und da Kraftlieb anscheinend erwartet, daß wir noch irgendwas tun bevor er uns hier wieder rausholt, können wir auch genausogut aktiv werden. Sonst sitzen wir hier noch bis zur verdammten Apokralypse!"
Die Blicke die Adana und Edwina ihm zuwarfen bedeuteten ihm unmissverständlich, daß er soeben etwas Falsches gesagt hatte.
"Ist doch wahr." brummte er trotzig. "Was nützen wir unserer Wirklichkeit wenn wir hier hockenbleiben, während die Scheibe untergeht? Wir werden genauso sterben wie alle anderen, und das Ding in Kaboltzmann sorgt dafür, daß auch dort wo wir hingehören alles den Ankh runtergeht. Wenn ich die Tage richtig gezählt habe, dann dürfte das Ungeheuer auch dort mittlerweile das Buch geklaut und dieses Ritual durchgeführt haben. Ich hoffe deshalb nur sehr für das Fräulein Winchester mit ihrem Blech in der Zunge, daß sie endlich mal verstanden hat, worum es bei der Stelle des Okkultismusexperten überhaupt geht!" Er schlug mit der Faust auf die Sessellehne. Insgeheim wünschte er Skilla seine eigenen Qualen an den Hals. Wenn dieses sich ach so toll vorkommende Mädchen einmal durchgemacht hatte, was er gerade durchmachte, dann würde sie sich nicht mehr so kühl fühlen. "Meine eigenen Kollegen halten mich für verrückt." fuhr er fort. "Letztendlich hängt alles daran, ob Kolumbini und Romulus es schaffen, die anderen zu überzeugen, daß die Sache wirklich ernst ist. Ernster als die anderen Vorfälle, die irgendwelche lächerlichen Kulte in schwarzen Kapuzenmänteln beinhalteten. Die Uhr tickt. Und wenn Kraftlieb noch nicht geruht, uns zurückzuholen, müssen wir wenigstens irgend etwas unternehmen, das ihn vielleicht dazu bringt, uns nach Hause zurückzuschicken."
Noch während er diese Worte aussprach wurde ihm bewusst, daß Kraftlieb sie alle mit Schwung in die Arme des Hexers von Ankh schubste und sie nun ihr Leben riskierten um eine Realität zu retten, die nicht einmal die ihre war. Er ärgerte sich maßlos, daß er noch nicht einmal Adana die Schuld geben konnte. Meister der Puppen, die Fäden ziehend... ging ihm durch den Kopf. In diesem Fall lautete der Name des Meisters Philipp Howards Kraftlieb. Sie waren gefangen in seinem Gewirr von Fäden und es blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als dem Hexer zu folgen. Denn auch dieser war letztendlich nicht mehr als eine Puppe Kraftliebs.
Kamerun klatschte in die Hände.
"Worauf warten wir also noch?" fragte er.
"Ich werde auch mitkommen." ließ sich Raistan vernehmen. Der junge Zauberer legte eine knochige Hand auf den Unterarm seines Bruders.
Adana musterte ihn prüfend.
"Du bist zu schwach." erklärte er schließlich kalt. "Um in den Palast zu gelangen, müssen wir durch die Kanalisation, und ich glaube nicht, daß du das durchhältst."
"Wo der Große hingeht, gehe ich auch hin." antwortete Raistan ebenso bestimmt und lehnte sich nach vorn. "Ich lasse ihn nicht allein mit einem obskuren Hexenmeister in sein Unglück rennen. Außerdem bin ich der einzige, der bisher mit Kraftlieb gesprochen hat. Wer weiß, was dieser Zigarrenraucher nun wieder plant." Trotzig hob er den Kopf.
Mit angehaltenem Atem beobachtete Araghast das stumme Duell zwischen Hexer und Zauberer. Ein Paar eisblauer und eine Paar stahlgrauer Augen fixierten einander. Hätte eine Fliege zufällig diese unsichtbare Linie gekreuzt, wäre sie vermutlich brennend zu Boden gestürzt. Der gesamte Raum schien den Atem anzuhalten, als sich Godric Adana und Raistan Quetschkorn stumm duellierten. Das gleichförmige Ticken der Standuhr klang unverhältnismäßig laut.
"Ohne den Kleinen komme ich nicht mit." sagte Kamerun plötzlich entschlossen.
Adana schnappte nach Luft und unterbrach den Blickkontakt. Erschöpft sank Raistan gegen die Sessellehne.
"Lasst den Unsinn." unterbrach Edwina die Feindseligkeiten. Der Klang ihrer Stimme durchschnitt die im Zimmer liegende Anspannung wie eine scharfe Klinge. "Wirr werrden alle dabeisein. Es tut mirr leid, Godrric, aberr wirr möchten wirrklich gerrn nach Hause und werrden uns auch nicht trennen, nurr weil du dirr Sorrgen um unserre Gesundheit machst." Sie lächelte ihn herausfordernd an.
Sekunden verstrichen, in denen niemand einen Ton sagte. Dann nickte der Hexer von Ankh beinahe unmerklich.
Sie hat ihn, dachte Araghast befriedigt. Warum habe ich nur das Gefühl, daß Godric Adana in der Walerius seine Meisterin gefunden hat?

Die Falle


Entspannt lehnte sich Johann Zupfgut in dem weichen Sessel zurück und versuchte, die Schmerzen, die ihm dieser fünfmal verfluchte Breguyar zugefügt hatte, zu vergessen. Desinteressiert ließ er seinen Blick über die Bühne schweifen, auf der eine beinahe unbekleidete junge Frau mit artistischen Bewegungen um eine Stange kreiste.
Sein Plan konnte gar nicht schiefgehen. Draußen vor der Tür warteten zwei diensteifrige Mannschaftsgrade der FROGs sowie Dennis Schmied darauf, dem Intörnal Affärs-Agenten und Stellvertreter des Kommandeurs ihre Diensteifrigkeit zu beweisen. Ein bösartiges Lächeln stahl sich auf die Lippen des Hauptmanns. Ohne Zweifel war Breguyar irgendwo in der Stadt untergetaucht. Aber er würde ihn finden, dessen war er sich sicher.
Johann Zupfgut nippte an seinem Wasserglas und sah zu, wie die junge Frau sich nach den letzten freizügigen Umkreisungen der Stange mit einem Knicks von der Bühne verabschiedete. Mehrere Münzen flogen an ihrer wohlproportionierten Gestalt vorbei und prallten gegen den dunklen Samtvorhang. An anderen Abenden hatte der Hauptmann ebenfalls eine kleine Belohnung für die Tänzerin auf die Bühne geschnippt, doch an diesem Abend hatte er Frau WawaWumms Skunk Klub nicht nur aufgesucht, um sich zu amüsieren.
Der letzte Applaus verklang und mehrere Kellner löschten sämtliche Lichter bis auf vier Fackeln am Bühnenrand. Eine Trommel hinter der Bühne begann mit einem leisen Trommelwirbel.
Lautlos glitt der Vorhang zur Seite.
Mit einem sinnlichen Lächeln auf den feuerrot geschminkten Lippen betrat die Vanderby die Bühne. Ein bodenlanges, weißes, mit Pailletten besticktes Kleid, welches ihre schlanke, kurvige Figur perfekt betonte, funkelte im Fackellicht. Die Stäbe ihres Korsetts zeichneten sich verführerisch unter dem zarten Stoff ab und Zupfgut konnte sich ein schmieriges Grinsen nicht verkneifen. Feuerrot und leicht gewellt fiel das Haar der Sängerin gleich einem Wasserfall ihren Rücken hinab bis zur Taille. Ihre stahlgrauen Augen glitten scheinbar desinteressiert über das Publikum.
Zupfgut kniff sich in den Arm. Lass dich nicht ablenken, beschwor er sich selbst. Nüchtern betrachtet ist sie noch nicht einmal hübsch. Ihr Gesicht ist zu knochig und ihre Nase zu stolz. Doch insgeheim spürte er, wie seine Libido ihm die metaphorische Zunge herausstreckte. Die Vanderby war die Königin der Nacht, egal ob ihr feines, scharf geschnittenes Gesicht zu männlich für ein Mitglied der Stripperinnengilde wirkte. Ihr Auftritt ließ die Herzen der Männer dahinschmelzen.
Doch ihre größte Qualität war derzeit ihre Bekanntschaft mit Araghast Breguyar, dachte der Hauptmann und versetzte seinen Gelüsten einen mentalen Tritt. Vor knapp einem Jahr hatte Farrux ihren Geliebten verschwinden lassen, welcher ein Freund des abtrünnigen FROG-Püschologen gewesen war. Und wenn er mit Araghast fertig war hatte er alle Zeit der Scheibenwelt, sich die Vanderby vorzuknöpfen. Sie wusste garantiert etwas über die Widerstandsbewegung.
Mit einer schwungvollen Kopfbewegung warf die Vanderby ihr Haar zurück und trat an das Koboldophon. Die Trommel verstummte. Eine atemlose Stille breitete sich aus.
"Dadei dadi dadam," trällerte die Sängerin. "Dadi dadei dadam,"
Und ein unsichtbares Saxophon und ein Piano begannen, eine langsame, melancholische Melodie zu spielen.
"Mein Name ist... Lolita." hauchte die Vanderby in das Koboldophon. "Und man erwartet von mir nicht... mit Jungs zu spielen!"
Zupfgut grinste. Wenn diese ehemalige Näherin nur wüsste, was bald auf sie zukam...
"Mein Herz... gehört Papa!" sang sie in deutlich morporkianisch akzentuiertem Gennuanisch. "Du weißt schon... la proprietaire!"
Sie schnippte mit den Fingern und der Takt der Melodie änderte sich.
Mit einem behaglichen Seufzer rückte Johann Zupfgut seinen Schwertgürtel zurecht. Der angenehme Mezzosopran der Sängerin erfüllte seine Ohren. Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr. In weniger als einer halben Stunde würde Hermione Vanderby in eine der Zellen des Wachhauses wandern.

Durch den Untergrund


Was immer du auch für einen Fall löst und egal in welcher Wirklichkeit, die Kanalisation scheint wirklich dein Schicksal zu sein, Kanndra, ging Araghast durch den von einer großen Tasse klatschianischen Kaffees ausgenüchterten Kopf, als er den Gesichtsausdruck der Voodoo-Hexe bemerkte. Zu siebt stiegen sie über die enge, glitschige Treppe in die Eingeweide Ankh-Morporks hinunter. Im Licht von Raistan Quetschkorns Zauberstab glänzten die Wände feucht und ein unverkennbar muffiger Geruch stieg in die Nasen der Verschwörer. Nach langer Diskussion hatten sie beschlossen, daß es am einfachsten war, durch die Kanalisation in den Palast einzudringen.
Araghast fühlte sich beinahe wie auf einem FROG-Einsatz, mit dem einzigen Unterschied, daß sie dieses Mal auf der anderen Seite des Gesetzes standen. Doch letztendlich lief es auf das Gleiche hinaus. Eine Gruppe Bewaffneter drang in ein Gebäude ein, erledigte was es zu erledigen gab und zog sich wieder zurück. Der Blick des Feldwebels wanderte zu der massiv wirkenden Armbrust und dem mit Pflöcken gefüllten Köcher auf Edwina Walerius' Rücken. Wenn diese Frau wirklich so gut schießen konnte wie sie behauptete, dann war es wirklich kein Wunder, daß diverse Vampirclans einen Groll gegen sie hegten.
Die Treppe endete in einer runden Kammer, von der zwei Gänge abzweigten. Moos und Schimmelpilze bedeckten die Steinwände und von fern war das leise, stetige Tropfen von Wasser zu hören.
"Also, mir gefällt es hier gar nicht." sagte Kanndra zögernd und ihre Hand wanderte zum Griff des langen Dolches der an ihrem Gürtel hing.
Unwillkürlich musste Araghast an die Gerüchte denken, die über die Kanalisation kursierten, und war froh, einige schlagkräftige Begleiter bei sich zu haben.
"Na dann können wir nur hoffen, keinen magisch mutierten Monsterkrokodilen zu begegnen." bemerkte er.
"Ob ihr es glaubt oder nicht, genau diese Möglichkeit hat Kaboltzmann tatsächlich vor einigen Monaten untersucht." murmelte Raistan und zog fröstelnd seinen Umhang enger um sich. "Allerdings fand er lediglich drei neue Krabbenarten, einen Fisch mit schaufelförmiger Nase und ein Rudel sehr angriffslustiger intelligenter, vampirischer Rote Beete-Knollen."
"Hör bitte auf damit, Kleiner." kam Kameruns Stimme aus dem linken Gang.
"Wieso? Du hattest doch eine Menge Spaß beim Produzieren von Rote Beete-Salat."
"Hier geht es ums Prinzip." gab der Nachwuchsheld zurück. "Ich hab endgültig die Nase voll von Kaboltzmanns Expeditionen. Das sind keine Abenteuer mehr, sondern Selbstmordversuche. Eigentlich geschiehts ihm sogar recht, daß dieses Ding nun in ihm drin sitzt."
"Ganz meine Meinung." konnte sich Araghast nicht verkneifen, dem Krieger zuzustimmen.
"Hier ist eine alte Straße, soweit ich es erkennen kann." meldete sich Adana aus dem rechten Eingang zu Wort und trat zurück in die Kammer. "Sie führt ungefähr in die richtige Richtung. Und ich hoffe doch, daß sich keine der Damen vor Ratten fürchtet."
"Irghs." bemerkte Kanndra und verzog das Gesicht. "Na ja, lieber Ratten als Monsterkrokodile oder wildgewordene Knollen."
Rogi entzündete ihre mitgebrachte Laterne und ließ das Streichholz auf den Boden fallen, wo es mit einem leisen Zischen erlosch.
Der Hexer drehte sich zu den Übrigen um.
"Es ist niemand gezwungen, mitzukommen." sagte er noch einmal. "Ihr wisst alle, daß unser Vorhaben im Volksmund auch schlicht und einfach Wahnsinn genannt werden kann. Wer möchte, hat jetzt die letzte Chance zum Umkehren." Während er sprach wanderte sein durchdringender, eisblauer Blick zu Raistan und Kanndra.
"Nein, ich komme mit." sagte ersterer. "Erstens kommen wir nicht wieder in unser Hosenbein der Zeit zurück indem wir faul herumsitzen und zweitens kann ich, wie gesagt, den Großen nicht einfach allein in sein Unglück rennen lassen. Wenn wir uns schon in Lebensgefahr bringen dann tun wir es auch beide."
Die Andeutung eines gezwungenen Lächelns huschte über das harte Gesicht Adanas.
"Ich habe nichts mehr zu verlieren." erklärte Kanndra entschlossen. "Eigentlich habe ich nur noch einen einzigen Wunsch, nämlich Farrux und seiner Regierung in irgendeiner Form eins reinzuwürgen, und zwar kräftig."
"In Ordnung." Der Hexer nickte knapp und schritt durch die Öffnung, die, wie Araghast vermutete, vor langer Zeit einmal eine Tür gewesen war. Die Übrigen folgten im Gänsemarsch. Zuerst Raistan, mit der über den Kopf gezogenen Kapuze nicht mehr als eine schmale schwarze Silhouette. Das kalte Licht auf der Spitze seines Zauberstabs schien hell. Kamerun folgte seinem Bruder auf dem Fuße, immer wachsam nach eventuellen Gefahren Ausschau haltend. Dann kam Kanndra, die sorgsam darauf achtete, keine Ratten zwischen die Füße zu bekommen. Ihre Hand umklammerte den Griff ihres Dolches. Hinter ihr schritt Edwina, das Gesicht von ihrem Hut beschattet, und schließlich Araghast selbst. Rogi Feinstich und ihre Laterne bildeten das Schlusslicht.
Der Gang, der wohl vor vielen hunderten von Jahren einmal eine lange schmale Hintergasse gewesen sein musste, führte langsam aber stetig abwärts. Winzige Wasserfälle liefen die Seitenwände entlang und die Pfützen auf dem Boden erreichten nicht selten Knöcheltiefe. Einmal quiekte Kanndra erschrocken auf, als sie auf eine Ratte trat und das Tier ihr kräftig in den Stiefel biss. Doch außer den fetten grauen Nagetieren begegneten sie keinem lebenden Wesen.
Schließlich blieb der Hexer stehen und wies auf ein völlig verrostetes Tor.
"Hier müssen wir entlang." sagte er.
Wortlos trat Kamerun vor und mit zwei kräftigen Tritten beförderte er das zerfressene Metall aus dem Rahmen. Krachend fielen die beiden aneinander festgerosteten Torflügel zu Boden. Mit angehaltenem Atem begann Araghast zu zählen. Er kam bis zur dreiunddreißig, als das Echo endlich in der Ferne verklang.
"Das warr laut." bemerkte Edwina. "Da können wirr wirrklich hoffen, daß wirr noch weit genug vom Palast entferrnt sind."
"Wir haben gerade mal ein knappes Viertel des Weges hinter uns." beruhigte sie Adana.
"Na dann ist ja gut."
Während er durch die frisch freigeräumte Öffnung stieg hörte Araghast die Zwillinge leise miteinander flüstern.
"Weißt du warum er genau zu wissen scheint wo wir lang müssen? Er hat weder eine Karte noch sonst was." Der Feldwebel beobachtete, wie Kamerun Adana zweifelnd musterte.
Raistan schüttelte unter der Kapuze den Kopf.
"Es gibt einen Zauberspruch mit dem man einen Zauberstab dazu bringen kann, immer die Richtung anzuzeigen. Aber er hat keinen bei sich. Wahrscheinlich ist es wieder diese seltsame Hexermagie."
Derweil untersuchten Edwina, Rogi und der Hexer das andere Ende des vorzimmerartigen Raumes.
"Hier lang." rief Adana die Übrigen zu sich.
Durch einen Torbogen führte der Weg in ein sich weiter abwärts windendes stufenloses Treppenhaus. Araghast hoffte inständig, daß es bald wieder bergauf ging. Er verspürte keine Lust, plötzlich eine Falltür zu öffnen und aus der Unterseite der Scheibe hinauszuschauen.
Der Gang endete abrupt an einer schmalen Spalte, hinter der mehrere grob aus festem Gestein gehauene Stufen weiter in die Tiefe führten. Raistan hob seinen Stab.
"Verdammt." entfuhr es Araghast. "Ist hier jemand Nichtschwimmer?"
Nach acht Stufen verschwand die Treppe in einer dunklen Wasseroberfläche.
"Und Sie sind sich wirrklich sicherr, daß Sie sich nicht im Weg geirrt haben?" erkundigte sich Edwina skeptisch bei Adana.
Dieser nickte.
"Es gibt keinen anderen Weg. Die oberen Gänge sind alle versiegelt um Eindringlinge wie uns fernzuhalten. Lord Farrux war sehr gründlich, was das betraf."
"Aberr anscheinend nicht grründlich genug." antwortete Edwina mit einer gewissen Befriedigung.
"Wartet mal." sagte Raistan plötzlich und trat an die Wand heran. Halbverwitterte Buchstaben waren dort in den Stein graviert worden.
"Caius Neuroticus Galba, Imperator Primus Ankhiae et Morporciae." las der junge Zauberer vor und wandte sich zu den anderen um. "Galba war der erste urkundlich erwähnte König von Ankh." erklärte er und ein wenig Ehrfurcht schwang in seiner leisen Stimme mit. "Wenn hier unten sein Name steht, bedeutet es, daß wir wirklich zu den Grundmauern der Stadt vorgedrungen sind. Tiefer geht es nicht."
"Na das ist wenigstens beruhigend." kommentierte Kanndra den kleinen Exkurs in die Frühgeschichte Ankh-Morporks und bedachte Adana mit einem missmutigen Seitenblick. "Also kann es ja nur noch aufwärts gehen."
Der Hexer stand auf der niedrigsten unüberschwemmten Stufe und stocherte mit seinem Stockdegen im Wasser herum. Der schwarze Holzstab verschwand zu drei Vierteln.
Araghast schauderte bei der Aussicht, in den kalt aussehenden See zu steigen. Doch wie es schien blieb ihnen keine andere Wahl. Schon stieg Adana die Stufen hinab bis er schließlich bis zur Hälfte der Oberschenkel im Wasser stand.
In letzter Sekunde schluckte Araghast einen Kommentar zum Thema magisch verstrahlte mutierte Monsterkrokodile herunter. Kanndra würde ihn dafür vermutlich erwürgen.
"Komm her, Kleiner." sagte Kamerun und hob seinen Bruder hoch, noch bevor dieser protestieren konnte.
Während der Feldwebel in das kalte Nass stieg und sich eine weitere Bemerkung über die Temperatur des Wassers und die Situation im Allgemeinen verkniff, schlossen sich seine Finger um den Flachmann in seiner Manteltasche. Ein wärmender Schluck war genau das, was er nun gebrauchen konnte. Verstohlen blickte er sich nach den anderen um. Der Hexer schritt voran, als könne ihn nichts auf der gesamten Scheibenwelt mehr schrecken. Ihm folgten Kamerun, seinen Bruder, der den leuchtenden Stab trug, auf den Armen, und Edwina Walerius, die ihre Augen wachsam auf die Wasseroberfläche gerichtet hatte und dabei die Armbrust schussbereit hielt.
Verdammt, was sollte es, dachte Araghast, als er den Verschluss der Flasche aufschraubte und sich zwei tiefe Schlucke der hochprozentigen Flüssigkeit gönnte. In dieser Realität galt er mittlerweile offiziell als Abtrünniger und Verräter und war somit nicht mehr an die Regeln der Wache gebunden. Frisch gestärkt stapfte er hinter Adana her, die Hand um den Griff seines Entermessers geschlossen.
"Bregs." sagte Kanndra leise hinter ihm und ihre Hand schob sich in die seinige.
"Was ist los?" fragte er.
"Ich habe so ein Gefühl..." Die Voodoo-Hexe pausierte und alles was Araghast von ihr vernahm war das leise Plätschern als sie sich in ihrem langen Rock Schritt für Schritt vorwärts kämpfte. Er schwieg. Die Frage die sie von ihm erwartete war zu offensichtlich. Von der wirklichen Kanndra wusste er seit anderthalb Jahren, daß ihr Herz einmal ihm gehört hatte. Doch diese Kanndra war anders und glaubte an die Realität in der sie steckte. Eine Realität in der er, Araghast Breguyar, frei war für eine andere Frau als Leonata Wilhelmina Eule.
"Das Ding ist nahe." sagte er ausweichend. "Deshalb fühlst du dich wahrscheinlich komisch."
Insgeheim biss er die Zähne zusammen, um nicht damit zu klappern. Das eisige Wasser der untersten Katakomben Ankh-Morporks schien seine Knochen bis ins Mark gefrieren zu lassen. Araghast fragte sich, weshalb er sich gerade jetzt so anstellte. Während unzähliger Stürme auf den Meeren der Scheibe hatte er oft tagelang keinen einzigen trockenen Faden am Leib getragen und es hatte ihm kaum etwas ausgemacht. Doch diese Kälte war auf eine beunruhigende Art anders. Sie schien geradewegs auf das Bewusstsein einzuwirken. Finsternis senkte sich auf ihn herab...
Sie alle hatten ihn belogen. Diese Erkenntnis war bitter für Breguyar, doch hatte er letztendlich damit gerechnet. Sein Beruf brachte es nun einmal mit sich, daß er niemandem vertrauen konnte außer sich selbst. Der Regen fiel stetig in die dunkle Gasse, die der Privatdetektiv entlangwanderte. Die Melodie des Klaviers klang in seinen Ohren. Er war verflucht dazu, dieses Lied nie wieder loszuwerden. Das Lied, welches er am liebsten vergessen wollte. Genau wie er Leonata am liebsten vergessen hätte. Es war in Pseudopolis gewesen. Und sie trug blau. Ein dunkles Schneiderkostüm umhüllte ihren durch Korsett und Turnüre geformten Körper und auf ihren hochgesteckten dunklen Locken thronte ein zartes Schleierhütchen.
Samuel hatte am Klavier gesessen und das
Lied gespielt.

Die Zeit vergeht so schnell
Und bald schon wird es hell
Die Dunkelheit dem Lichte weicht
Der Traum der insgeheim die Wahrheit kennt
Das Feuer brennt


Es war ihr Lied gewesen. Das Lied der Frau die er bis ans Ende seiner Tage lieben würde. Doch was bedeutete ihm die unglückliche Liebe schon, die er in Flüssen von Untervektor-Rum zu ertränken versuchte. Er war ein schäbiger Ermittler auf eigene Faust, den selbst das Schicksal verlassen zu haben schien. Am Ende der finsteren Gasse warteten garantiert die Schläger der Bande des mysteriösen Bosses auf ihn. Und sie würden sehr ungemütlich werden wenn er ihnen nicht glaubhaft versichern konnte, daß er sich im Fall des klatschistanischen Falken auf einer wirklich heißen Spur befand...

Araghasts Fuß blieb an einer unebenen Stelle hängen und nur Kanndras beherztes Zupacken verhinderte, daß er der Länge nach in das eisige Wasser stürzte.
"Einen Dollar für deine Gedanken." sagte sie.
Der Feldwebel winkte ab.
"Es ist nicht wichtig. Ich habe nur gerade darüber nachgedacht, wie wir an all den Wachen vorbei zur Rattenkammer kommen sollen." log er. Verdammt. Adana mochte einen inneren Vampir für einige Zeit in ein mentales Verließ gesperrt haben, doch die seltsamen Halluzinationen ließen ihn nicht in Ruhe.
Kanndras Hände schoben sich unter seinen Arm.
"Die Rache findet immer ihren Weg." sagte sie und der Feldwebel spürte wie sie ebenfalls vor Kälte zitterte. "Und wenn es das Letzte ist was ich in meinem Leben tun sollte."
Gerade als Araghast glaubte, daß seine Füße zu Eisklumpen gefroren waren, hörte er vor sich Adana verkünden, daß er das Ende des Sees gefunden hatte, und eine Minute später stand die gesamte Truppe frierend zwischen den primitiv wirkenden Säulen eines alten Tempels, während der Hexer leise vor sich hinmurmelnd im Zickzack schritt. Niemand sprach.
Schließlich trat Adana auf die vorletzte Säule auf der linken Seite zu und drückte auf die Augen einer grob in den Stein gemeißelten, mannshohen Götterfigur. Mit einem leisen Scharren verschwand das Abbild des längst vergessenen Gottes und gab eine schmale Öffnung frei.
"Na dann mal aufwärts." murmelte Araghast. "Vielleicht schaffen wir es ja noch, bis morgen früh wieder ans Tageslicht zu kommen."

Brot und Spiele


Ephraim Farrux strahlte. Langsam aber sicher füllte sich der Saal mit den Gästen und der Patrizier genoss die verwirrten Blicke, die zu dem überdimensionalen Kupferkessel wanderten, welcher an einer Stange über einem offenen Feuer hing. Farrux konnte sich denken, daß sie das übliche, mit dekadenten Leckereien überfüllte Buffet vermissten. Zufrieden betrachtete er die blubbernde Käseschmelze im Topf. Mehrere Diener trugen einen Tisch und mit Brotstückchen gefüllte Körbe in den Saal.
"Mit Verlaub, Euer Exzellenz, es liegt mir fern, Eure Orgie zu kritisieren, aber was genau plant Ihr für den heutigen Abend?" wurde der Patrizier von der Seite angesprochen.
Farrux drehte den Kopf.
"Ah, mein lieber Freund Willerfort." begrüßte er seinen alten Bekannten überschwenglich. "Tja, das wird die große Überraschung, was wir heute Abend spielen werden. Aber ich verspreche dir, daß es geradezu exquisit werden wird. Wie geht es übrigens der werten Gattin und dem Töchterlein? Ich habe von meiner Frau erfahren, daß sich die entzückende Valentina nun im heiratsfähigen Alter befindet."
Während er höfliche Belanglosigkeiten mit dem Lord von Willerfort austauschte, sah Farrux seine Elisabeth am anderen Ende des Saales mit einigen Damen der Gesellschaft plaudern. Sie lagen auf samtbezogenen Diwanen und schlürften süßen Likör aus goldverzierten Gläsern.
Mit einem zufriedenen Seufzer griff Farrux ein Getränk vom Tablett eines livrierten Dieners. Noch ging alles zivilisiert und vornehm zu. Doch der Patrizier wusste aus Erfahrung, daß dies sich im Laufe des Abends zu ändern pflegte. Wenige Stunden nach Beginn der Orgie vergnügte sich meist das erste unbekleidete Paar in einer der Nischen des Saales und ab diesem Zeitpunkt wurde es erst richtig interessant. Farrux hatte auf seinen Festen im Laufe der Zeit genug schmutzige Geheimnisse der Oberschicht Ankh-Morporks erfahren, um sie alle fest in der Hand zu haben. So brauchte es beispielsweise nur eine kleine Andeutung der Lady de Ardian gegenüber, daß er gegebenenfalls ihrem Gatten den wahren Vater ihres gemeinsamen Sohnes mitteilen würde, um sie dazu zu bewegen, ihrem leicht dümmlichen Ehemann Farrux' Willen abzuschmeicheln.
Mit einem Nicken wandte sich Lord Farrux von seinem alten Freund ab und betrat das Podium, auf dem der Kessel aufgebaut worden war. Mit einem seiner edelsteinbesetzten Ringe klopfte er gegen das Glas und die Gespräche im Saal verstummten nach und nach. Erwartungsvoll versammelten sich die Orgiengäste um den Patrizier, welcher sich würdevoll räusperte.
"Meine Lieben Gäste." begann er seine sorgfältig einstudierte Rede. Zögerlicher Applaus erklang.
Mit einem jovialen Lächeln sonnte sich Ephraim Farrux in der Aufmerksamkeit der Orgienbesucher.
"Meine Lieben Gäste!" begann er ein weiteres Mal, nur des Effektes wegen. "Ich habe euch alle eingeladen um eine kleine Orgie unter Freunden mit mir zu feiern. Und zum Feiern gibt es wahrhaftig einen Anlass, denn Ankh-Morpork hat am heutigen Nachmittag durch die Annektierung der Insel Leshp bedeutend an Staatsgebiet gewonnen, und selbst wenn die Klatschianer versucht haben, einen Anschlag auf mich zu verüben, lasse ich mir das erst recht nicht gefallen!"
Jubel und Applaus kamen wie erwartet.
"Doch am heutigen Abend wollen wir uns keine Gedanken um die lästige Politik machen, sondern uns dem Genuss hingeben. Ihr, Liebe Gäste, habt euch sicherlich gewundert, wo das übliche Buffet geblieben ist. Dennoch muss keiner hungrig heimgehen, denn ich habe eine besondere Spezialität vorbereitet."
Der Patrizier trat einen Schritt zur Seite und wies mit einer grandiosen Handbewegung und zusammengebissenen Zähnen aufgrund der von der Explosion in der Rattenkammer stammenden Schmerzen in seiner Hand auf den dampfenden Kessel.
"Voila. Das Quirmianische Käsefondue."
Leises Stimmengemurmel hob an.
"Aaaaber, meine Lieben Gäste," fuhr Farrux fort, "Es wäre keine richtige Orgie, wenn es nicht ein paar kleine Spielregeln gäbe. Jeder von uns wird sich einen Holzstab nehmen und ein Stück Brot aufspießen. Dieses Brotstück wird in den Kessel mit dem geschmolzenen Käse getunkt und anschließend verzehrt. Und nun wird es aufregend, meine Lieben Gäste. Verliert jemand zum ersten Mal sein Brotstück im Kessel, so bekommt er fünf Hiebe mit dem Rohrstock."
Vereinzelte kichernde Damenstimmen erklangen in der Gruppe der Gäste. Farrux' Lächeln wuchs in die Breite.
"Verliert jemand zum zweiten Mal sein Brotstück, erwarten ihn zehn Hiebe mit der Peitsche."
"Hehe, das wird ein Spaß!" rief der Herzog von Eorle dazwischen.
Der Patrizier bedachte den dicklichen, alten Mann mit einem milden Blick.
"Außerdem habe ich einige meiner Diener beauftragt, ein Loch in die Kruste des Flusses zu hacken." Sein Grinsen reichte von Ohr zu Ohr. "Denn verliert jemand zum dritten Mal sein Brotstückchen im Kessel, wird er mit einem Gewicht an den Füßen in den Ankh geworfen!"
Der Applaus war ohrenbetäubend.
Insgeheim gratulierte sich der Patrizier zu seiner Ansprache. Diese dummen, gelangweilten Adligen würden mit Genuss an einem Ringkampf mit einem Troll teilnehmen, wenn es nur einen Hauch von Abenteuer und echter Gefahr versprach. Er gab ihnen Brot und Spiele und sie fraßen ihm nicht nur in übertragenen Sinne aus der Hand.
"Nun!" verkündete er, nachdem sich der Jubel gelegt hatte. "Damit erkläre ich das Fondue hiermit für eröffnet!"

Tatort


Sie hatten es geschafft.
Auf dem Boden liegend spähte Araghast zwischen den geschwungenen Beinen eines Prunksofas hindurch und beobachtete die beiden muskulösen Palastwächter, die reglos mit erhobenen Hellebarden links und rechts der Tür zur Rattenkammer standen.
Mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger signalisierte Araghast den Übrigen, die sich hinter der Korridorbiegung verborgen hielten, die Anzahl der Bewacher. Dann seufzte er beinahe lautlos.
Das Licht der in regelmäßigen Abständen im Gang aufgehängten Öllampen ließ die vergoldeten Brustharnische der beiden Palastwächter funkeln. Ein regelrechter Strauß roter Federn zierte den Helm eines jeden Mannes.
Verdammte eingebildete Schnösel, dachte Araghast verächtlich, als er unauffällig den Rückzug antrat. In seinen Augen bestanden die einzigen Fähigkeiten eines Palastwächters darin, stillzustehen, einschüchternd dreinzuschauen und seine Blase zu kontrollieren. Palastwächter waren in etwa so nützlich wie ein Furunkel am Hintern.
Auf Händen und Knien kroch Araghast rückwärts um die Korridorbiegung. Seine Verbündeten erwarteten ihn mit angespannten Mienen. Kamerun Quetschkorn hatte sein Schwert halb gezogen und Edwina hielt ihre Armbrust schussbereit. Rogi hatte ihre Laterne abgeblendet und hielt in ihrer freien Hand ein Skalpell. Unter dem goldgerahmten Porträt eines alten Mannes mit gepuderter Perücke lehnte Raistan an der Wand. Seine Augen waren geschlossen und sein Gesicht leichenblass.
"Und?" zischte der Hexer.
Araghast zuckte mit den Schultern.
"Sie stehen da, als hätte ihnen jemand Besenstiele in den Ort an dem die Sonne nicht scheint gerammt, und tun, als wären sie außerordentlich wichtig." antwortete er mit einem nicht zu überhörenden bissigen Unterton in der Stimme. "Was man von Palastwächtern halt gewöhnt ist."
Adana nickte nur kurz und klemmte sich seinen Stockdegen hinter den Gürtel. Seine Hand verschwand in seinem Mantel und förderte ein kurzes, schlankes Blasrohr zu Tage.
"Magie würde zu sehr auffallen." sagte der Hexer leise, während er einen nadelfeinen Pfeil im Rohr verschwinden ließ. "Und außerdem scheint unser Zauberer gerade größtenteils mit seiner Gesundheit beschäftigt zu sein." fügte er mit einem kalten Seitenblick auf Raistan hinzu.
Araghast bemerkte, wie sich die Hände des jungen Zauberers fester um das Holz des Zauberstabes schlossen. Warum konnte Adana es nicht einfach lassen, an ihnen allen herumzusticheln?
Weil er ist, wer er nun einmal ist, zuckte die Antwort beinahe augenblicklich durch das Bewusstsein des Feldwebels, und er schluckte eine böse Bemerkung hinunter.
Ein Ellenbogen bohrte sich in seine Rippen und als er sich umwandte lächelte ihn Kanndra zaghaft an. Ich finde ihn genauso unsympathisch wie du, schien ihre Miene auszudrücken.
Arghast biss sich auf die Lippen. Seine persönlichen Gefühle dem hochgewachsenen Mann in Schwarz gegenüber spielten keine Rolle. Er war vermutlich die einzige Garantie dafür, daß sie alle wieder dorthin zurückkehren durften, wo sie hingehörten.
Warum konnte der Hexer nicht irgendein anderer Mann sein, fragte sich der Feldwebel düster, während er zusah, wie Adana an die Flurbiegung trat und das Blasrohr an die Lippen setzte. Sekunden später erklang ein schepperndes Geräusch aus der Richtung, gefolgt von einem erstaunten Ausruf. Hektisch trat der Hexer zurück und machte sich erneut an seinem Blasrohr zu schaffen.
"Her, was..." schallte eine körperlose Stimme zu den sieben Verschwörern herüber. "Pedro! Wach auf! Alaaa..."
Eine schmale Gestalt schob sich an Araghast vorbei, drängte den immer noch mit seinem Blasrohr beschäftigten Hexer zur Seite, richtete seinen ausgestreckten Zeige- und Mittelfinger auf den übriggebliebenen Palastwächter und fauchte einen Befehl.
Der Hilferuf brach abrupt ab und ein zweites schepperndes Geräusch hallte durch den Gang.
Mit einem triumphierenden Ausdruck auf dem ausgezehrten Gesicht drehte sich Raistan zur Gruppe um.
Araghast hob unauffällig den Daumen und grinste.
"Warrum müssen diese Wächterr bloß immerr Rrüstungen trragen?" murmelte Edwina leise. "Damit klingen sie wie ein einstürrzendes Altemetallagerr."
Mit regloser Miene ließ Godric Adana sein geladenes Blasrohr im Mantel verschwinden. Doch an seinen Augen konnte Araghast ablesen, daß der Hexer von Ankh nicht besonders glücklich darüber war, bei der Betäubung des zweiten Wächters zu langsam gewesen zu sein.
Mit schussbereit erhobener Armbrust trat Edwina in den Gang.
"Los jetzt." befahl sie. "Wirr wissen nicht, ob derr Lärrm noch anderre Wächterr angelockt hat."
Zehn Sekunden später stand die Gruppe vor der Tür der Rattenkammer. Hastig schleiften Kamerun und Araghast die beiden betäubten Palastwächter zur Seite, während Kanndra mit ihrem Dolch das Siegel der Spurensicherung, welches über den vergoldeten Türgriffen angebracht war, durchtrennte.
Mit einer eleganten Bewegung zog Godric Adana seinen Stockdegen und hielt ihn senkrecht vor seinen Körper.
"Parqua Le'i al Dumak!" befahl er und der Knauf begann, in einem sanften, grünlichen Licht zu schimmern.
Wie auf Kommando stieß Kamerun die Türflügel auf.
Das Innere der Rattenkammer war dunkel und ein Schwall kalter Luft schlug den sieben Verschwörern entgegen. Knatternd wölbte sich die Plane, mit der die zerborstenen Fenster notdürftig repariert worden waren, im Sturm.
Rogi entblendete die Laterne, während Kamerun die Tür hinter ihnen schloss.
Araghast sah sich in dem trüben Licht um. Auch in dieser Wirklichkeit hatte SUSI ganze Arbeit geleistet, das musste man ihnen lassen. Vier sorgfältig gezeichnete Kreideumrisse menschlicher Körper befanden sich an verschiedenen Orten und numerierte Schilder markierten umgeworfene Kaffeetassen, Schreibgeräte, pelzbesetzte Handschuhe und ein großes Blatt Pergament in der Mitte des runden Tisches.
Auf letzteres steuerte Godric Adana geradewegs zu. Im flackernden Licht der Lampe meinte Araghast, einen Anflug von Unruhe auf seinem Gesicht zu erkennen. Auch die Übrigen traten näher, bis sie schließlich in einem Kreis um den Tisch herumstanden.
Schon beim Betreten des Raumes hatte das altvertraute Gefühl der blanken Angst das Bewusstsein des Feldwebels berührt, und mit jedem Schritt, den er auf den Tisch zugetreten war, hatte es zugenommen. Etwas befand sich hier. Etwas Böses aus längst vergessener Zeit.
Als ob sein Blick magisch angezogen worden wäre, starrte Araghast auf die Karte des Runden Meeres. Dort in der Mitte, wo sich eigentlich nichts hätte befinden sollen, waren die Umrisse einer Insel und ein rußiges dreigelapptes Auge in das Pergament gebrannt. Schwärzliche, tentakelartige Rußfäden wanden sich zu acht Punkten auf der Küste, als wollten sie das unheilige Eiland auf diese Weise an seinem Ort festhalten. Und während er noch wie gebannt auf die verfluchte Karte blickte, war dem Feldwebel plötzlich, als ob sich diese Tentakel langsam bewegten.
"Ph'nglui mglw'nafh Cthulhupalhulhu Leshp wgah'nagl fhtagn!!!!!" wisperte eine Stimme am Rande seines Bewusstseins und ließ sein Rückenmark zu Eis erstarren.
"Es ist stark." sagte Godric Adana tonlos. "Es hat schon in dieser Wirklichkeit Fuß gefasst."
"Was soll das heißen?" fragte Kanndra besorgt.
Der Hexer von Ankh seufzte.
"Vielleicht ist es schon zu stark für mich." verkündete er leise.
Als hätte sie nur auf diesen Augenblick gewartet, prasselte eine Regenbö gegen die Abdeckplanen.
Mit geschlossenen Augen hob Godric Adana seinen Stockdegen und konzentrierte sich.
Unwillkürlich hielt Araghast den Atem an, während er einen der Anwesenden nach dem anderen musterte und gleichzeitig versuchte, die abscheuliche Stimme in seinem Kopf zu ignorieren. Edwina Walerius' Hände umklammerten die Tischkante und die Lippen der überwaldianischen Okkultistin waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Kamerun Quetschkorns Gesicht drückte aus, daß er lieber überall wäre als hier an diesem Ort. Eine seiner starken Hände stützte den Ellenbogen seines Bruders, während die andere auf dem Schwertgriff lag. Als ob er ahnte, daß seine Kräfte bei dieser speziellen Angelegenheit nicht gebraucht wurden, lehnte sich Raistan mit dem Kopf gegen Kameruns Schulter. Seine Augen jedoch waren hellwach und beobachteten jede Bewegung des Hexers. Rogi Feinstich wirkte nach außen hin wie die Ruhe selbst. Araghast vermutete insgeheim, daß sich die Igorina beinahe wie daheim in den Diensten einer dieser verrückten Wissenschaftler fühlte. Kanndra umklammerte ihr Amulett mit beiden Händen. Ihre Augen waren zusammengekniffen und ihr Gesicht zu einer Maske der Abscheu erstarrt.
Nein, erklärte Araghast den Stimmen in seinem Kopf trotzig. Ich höre euch nicht. Ihr seid gar nicht da. So leicht schafft ihr es nicht, mich verrückt zu machen.
Die Spitze des Stockdegens funkelte, als sie über dem eingebrannten Ebenbild der Insel Leshp schwebte. Die Sekunden dehnten sich wie ein Gummiband. Dann zeichnete die Klingenspitze langsam einen achtzackigen Stern, in dessen Mitte sich ein Auge befand, in die Luft. Die imaginären Linien begannen, schwach in der Farbe des Degenknaufes zu glühen.
Tu es endlich, schrie Araghast in Gedanken den Hexer an. Mach der Sache ein Ende, verdammt noch mal, und hör auf, nach dramatischen Effekten zu haschen!
Dann hörte er die Stimme Godric Adanas direkt in seinem Kopf. Sie sprach eine Kaskade fremdartiger Worte, deren Klang allein schon genügte um einem durchschnittlichen Bürger Ankh-Morporks den Schrecken seines Lebens einzujagen.
So plötzlich, daß er es kaum wahrnahm, sauste der Stockdegen herab und durchbohrte die Insel Leshp in der Mitte des dreigelappten Auges.
Für mehrere Sekunden schienen selbst Sturm und Regen den Atem anzuhalten, als die stählerne Klinge im Holz des Tisches steckenblieb und durch die Kraft des Hexers immer tiefer hineingetrieben wurde.
Dann ertönte ein nervenzerfetzender Schrei. Er begann knapp oberhalb der akustischen Wahrnehmungsspanne und ließ Araghasts Backenzähne im Kiefer vibrieren. Langsam steigerte sich das dissonante Kreischen zu einem lautstarken Heulen und am liebsten hätte der Feldwebel kehrtgemacht und wäre so weit fortgerannt wie es nur irgend ging. Doch das Geräusch befand sich in seinem Kopf, und selbst wenn er bis zum gegenüberliegenden Rand der Scheibenwelt floh, der unmenschliche Schrei würde ihn überallhin begleiten.
Doch während Araghast noch damit kämpfte, dem unbeschreiblichen Grauen nicht nachzugeben, spürte er, daß etwas entsetzlich schief zu laufen begann. Was auch immer seine mentalen Tentakel nach der Karte auf dem Tisch ausgestreckt hatte, klang nicht gerade, als ob es soeben schwer verwundet worden wäre. Im Gegenteil. Dieser Schrei war ein Ausdruck unbändigen Zorns, der gleich einem Orkan durch das Bewusstsein des Feldwebels fegte.
Schweissperlen standen auf der Stirn des Hexers, welcher noch immer den Griff des Stockdegens umklammerte. Sein Gesicht war vor Anstrengung zu einer grotesken Maske verzerrt und das Licht des Degenknaufes ließ seine gefletschten Zähne grünlich schimmern.
Und dann verstummte der Schrei abrupt. Mit einem leisen Knall zerplatzte die Klinge des Stockdegens in zahllose Splitter und das Licht des Knaufes erlosch wie eine in Wasser getauchte Fackel.
Das Letzte was Araghast erkennen konnte, bevor die Finsternis die Gruppe umfing wie ein schwarzes Tuch, war Godric Adana, welcher zurücktaumelte, als wäre er von einer unsichtbaren Faust getroffen worden. Sein Herz hämmerte wie wild in seiner Brust und seine Hand krampfte sich um den Griff des Entermessers.
Da hörte er auch schon einen geflüsterten Befehl und der Kristall am Ende von Raistans Stab flammte auf.
Entsetzt starrten die Anwesenden auf die Überreste des Stockdegens, die auf der Karte verstreut lagen. Das Aussehen der Insel Leshp hatte sich verändert. Beinahe das gesamte Runde Meer bestand nur noch aus verkohlten Pergamentfetzen. Ein feiner Nebel schien über dem Trümmerfeld zu schweben.
"Was... warr das?" Edwina Walerius fand als erste die Sprache wieder.
Der Hexer lehnte erschöpft an der Wand. Seine Augen waren geschlossen.
"Ich weiß es nicht." sagte er müde. "Es war... als wollte irgend etwas nicht, daß ich den Degen benutze. Es war keiner der URALTEN RIESEN, sondern eine Macht die mir bisher noch nie begegnet ist. Sie legte mir eine Art... Barriere in den Weg. Ich gab alles, um sie zu durchbrechen, doch stattdessen brach der Degen." Er seufzte und verbarg sein Gesicht in den zitternden Händen. All seine Überheblichkeit war verpufft.
Trotz der gegenwärtigen Situation konnte sich Araghast eines Anfluges von Schadenfreude nicht erwehren. Endlich wurde Adana einmal bewusst, daß auch er nicht unbesiegbar war.
"Äh, Leute," unterbrach Kanndra das neuerliche Schweigen. "Aber ich glaube, wir sollten sehen, daß wir hier rauskommen."
Sie wies mit der Dolchspitze auf den feinen Nebel über der Karte. Dieser hatte begonnen, eine sich drehende Spirale mit dem Zentrum des runden Meeres als Mittelpunkt auszubilden. Von den einzelnen Staubpartikeln ging ein eitriggelber Schimmer aus.
Edwina warf einen kurzen Blick auf das Phänomen und nickte.
"Wirr sollten wirrklich gehen. Wirr haben verrsagt." erklärte sie in einem Tonfall, der keine Widerrede duldete.
Während sie sich stumm zurück zur Tür begaben, die sich drehende Staubspirale wachsam im Auge behaltend, lauschte Araghast angestrengt. Was ihn an der unheiligen Manifestation am meisten beunruhigte war die Abwesenheit jeglicher Geräusche. Keine Stimmen flüsterten blasphemische Worte in seinem Unterbewusstsein. Es war ihm, als ob die Ausgeburten des unendlichen Chaos ihre Taktik geändert hatten. Sie lauerten.
Eine andere, weitaus realitätsnähere Geräuschkulisse kitzelte sein scharfes Gehör. Es war das Trampeln eisenbeschlagener Stiefel und das charakteristische metallische Klirren von Rüstungsteilen. Jemand sprach einen leisen Befehl.
"Psst." zischte Araghast. "Da draußen sind Kerle in Rüstungen. Ich fürchte, wir haben nun noch ein Problem."

Der Schatten


Was auch immer dieser Zupfgut vorhatte, er schien sich einen genauen Plan zurechtgelegt zu haben. Mit brutaler Effizienz schleppten die beiden grüngekleideten Wächter die in eine Decke gewickelte Sängerin zu dem hinter dem Skunk Club parkenden Eselskarren und warfen sie auf die Ladefläche. Der ehrenwerte Alfons Messerkuss lächelte kalt. Er würde sich nicht einmal selbst bemühen müssen, diesen Araghast Breguyar zu erledigen. Der Hauptmann der Stadtwache erledigte dies für ihn. Und wenn dieser mit dem abtrünnigen Wächter fertig war brauchte der Assassine nur noch ein Beweisstück für Kreuz einzusammeln.
Der Eselskarren fuhr los und Messerkuss folgte dem langsam dahinzuckelnden Fahrzeug über die Dächer. Von fern drangen die Schreie einer wütenden Menge an seine Ohren und an mehreren Orten der Stadt loderten Flammen gen Himmel. Der Assassine konnte die Unruhe, die in der Luft lag, förmlich spüren. Leichtfüßig sprang er über eine schmale Gasse hinweg und landete auf einem Hausgiebel. Unter ihm fuhr der Eselskarren der Stadtwache, die Insassen völlig ahnungslos, was ihren Verfolger betraf. Zärtlich strich Messerkuss über die Griffe der in einem Gurt über seiner Brust steckenden Wurfmesser.
Heute war eine gute Nacht für Araghast Breguyar und Raistan Quetschkorn, um zu sterben.

Stock und Peitsche


Lord Ephraim Farrux war mehr als zufrieden. Die quirmianische Käseorgie übertraf seine kühnsten Erwartungen. Mit einem behaglichen Grunzen drückte er seine Frau fester an sich und hauchte einen zarten Kuss auf ihre Wange, während er aus den Augenwinkeln beobachtete, wie Lord Venturiis dritter Sohn vom in glänzendes Leder gekleideten obersten Folterknecht fünf Stockschläge erhielt. Diese jungen Adligen schienen es geradezu darauf anzulegen, im Ankh versenkt zu werden. Einer der Neffen des Herzogs von Eorle und Balduin von Eisenstein hatten bereits die Peitsche zu schmecken bekommen, und Farrux wettete mit sich selbst, daß Letzterer noch innerhalb der nächsten halben Stunde Bekanntschaft mit dem Fluss machen würde.
"Schnuckiputzi." hauchte ihm Elisabeth kaum hörbar ins Ohr. Ihr Atem roch nach Likör.
Der Patrizier kniff ihr in den Arm.
"Ich habe dir doch gesagt, daß du mich nicht vor allen Leuten so nennen sollst." fauchte er leise.
Seine Gattin zeigte sich davon jedoch nicht im geringsten beeindruckt.
"Komm, lass uns kuscheln." lallte sie.
Farrux wusste genau, wie es von nun an weiterging. In wenigen Minuten würde er Elisabeth auf einen der Diwane betten und anschließend die große Runde unter seinen Gästen beginnen, bewaffnet mit einem großen, traubensaftgefüllten Kelch. Es war immer wieder erstaunlich wieviele kleine Geheimnisse den Menschen im vertraulichen Zustand der kollektiven Trunkenheit entschlüpften.
"Die Peitsche! Die Peitsche!" johlten die Gäste.
Zwei junge Männer in käsebefleckten Abendanzügen schleiften einen dritten zum Folterknecht, welcher genüsslich die Neunschwänzige entrollte.
Ja, diese Orgie würde in die Geschichte eingehen.

In der Klemme


"Hier spricht Korporal Feige von der Palastwache! Ergebt euch und ich verspreche euch, daß ihr lange genug am Leben bleibt um seiner Exzellenz vorgeführt zu werden! Ach ja, und wehe, einer von euch wagt es, sich über meinen Namen lustig zu machen! Da verstehe ich keinen Spaß!"
"Waf nun, Meifter?" fragte Rogi. Die Klinge ihres Skalpells funkelte.
"Wirr kämpfen." antwortete Edwina ruhig und hob ihre Armbrust. Unabgesprochen hatte sie nach der für den Hexer scheinbar traumatischen Zerstörung des Stockdegens das Kommando übernommen.
"Gut." antwortete Kamerun nur und schob sich seinen mit F.E.S. beschrifteten Schild auf den Arm. "Machen wir sie fertig!"
"Hörr zu, du Würrstchen!" rief Edwina laut. "Wenn du uns haben willst, dann komm und hol uns doch! Oderr machst du deinem Namen alle Ehrre und kneifst?"
"Müssen Sie ihn noch mehr reizen?" fragte Kanndra nervös.
Edwina hob eine Augenbraue. "Wütende Menschen neigen eherr dazu, Fehlerr zu machen." antwortete sie ruhig. "Vielleicht sollten wirr ein paar Schrritte von derr Türr wegtrreten, falls sie mit einem Rrammbock kommen."
"Nicht wenn wir zuerst angreifen." antwortete Kamerun. "Ich mag zwar nicht der schnellste Denker sein, aber mit Schlägereitaktik kenne ich mich aus. Ich mache die Tür auf und das Fräulein Walerius schießt. Damit rechnen sie nicht. Kleiner, du und Fräulein Kanndra, ihr bleibt hinter der Tür, bis alles vorbei ist. Wir hauen sie zu Brei."
Araghast lächelte grimmig.
"Ich weiß nicht warum, aber der Plan gefällt mir." bemerkte er und zog sein Entermesser.
"Auf mein Zeichen." wisperte Edwina. "Wenn err wiederr zu rreden anfängt da drraußen."
Sie warteten. Lautlos trat Adana hinter die Überwaldianerin, sein Blasrohr in der Hand. Sein bleiches, von Erschöpfung gezeichnetes Gesicht trug den Ausdruck eines Menschen, der soeben den Abgrund des Pandämoniums erblickt hatte.
"Zum letzten Mal!" erklang die vor nur mühsam unterdrückter Wut triefende Stimme des Korporals. "Ergebt euch! Oder ihr werdet es bereuen!"
"Jetzt!" hauchte Edwina und Kamerun riss die Tür auf. Die Überwaldianerin zog den Abzug der Baraschnikoff durch, warf sich den Riemen der Waffe über die Schulter und zog ihr Schwert.
Ein beleibter Palastwächter taumelte zurück und umklammerte den aus seinem Bauch ragenden Pflock.
"Attacke!" brüllte Kamerun und stürmte los. Zwei Bolzen prallten kurz nacheinander von seinem Schild ab.
"Klar zum Entern!" schrie Araghast und folgte ihm, Seite an Seite mit Edwina.
Die Palastwächter wurden von dem plötzlichen Ausfall geradezu überrannt. Kamerun fällte den ersten von ihnen mit einem einzigen Schwertstreich. Am Rande seines Wahrnehmungsbereiches bekam Araghast mit, wie Rogi einem weiteren Wächter ihre Laterne über den Kopf schlug und der Hexer sein Blasrohr als improvisierte Keule einsetzte.
"Alarm! Alarm! Alarm!" brüllte der Korporal, bis die Klinge von Edwinas Schwert ihn für immer zum Schweigen brachte. Araghast wandte sich um, auf der Suche nach einem weiteren Gegner - und ein Fluch erstarb auf seinen Lippen.
Links und rechts der Tür lauerten neun weitere Palastwächter mit gezogenen Waffen.
"Rennt!" brüllte in diesem Augenblick Edwina, als auch sie die Falle erkannte. Ohne nachzudenken stürmten die fünf Verbündeten den Korridor entlang, über den sie sich vor einer scheinbaren Ewigkeit der Rattenkammer genähert hatten, ihre sich plötzlich in der Überzahl befindenden Gegner hart auf den Fersen.

Tu es...


Sieben Schritte von Fenster bis zur Tür, dann eine Drehung um hundertachtzig Grad, anschließend die gleiche Anzahl von Schritten wieder zurück. Rince konnte nicht sagen, wie oft er diesen Weg innerhalb der vergangenen halben Stunde abmarschiert war. Die gesamte Situation in der Stadt geriet langsam aber sicher außer Kontrolle. Beinahe im Minutentakt trafen neue Meldungen über Vandalismus, Lynchjustiz, Amokläufe und Brandstiftung von den hoffnungslos überforderten SEALS-Streifen ein. Selbst das Wachhaus war von dem schleichenden, um sich greifenden Wahnsinn nicht verschont geblieben. Vor einer knappen Stunde war Korporal Jack Narrator im Seziersaal plötzlich durchgedreht und hatte seine Kollegin Rea Dubiata mit einem Skalpell angegriffen. Lediglich der Geistesgegenwart der jungen Frau war es zu verdanken gewesen, daß sie nur leicht verletzt worden war. Mit einem zufällig herumliegenden, als Tatwaffe konfiszierten Knüppel hatte sie den Korporal außer Gefecht gesetzt. Mittlerweile tobte Narrator in einer Zelle und stieß Laute in einer seltsamen Sprache aus, die noch kein Wächter je gehört hatte.
Und die kleine Gruppe von vertrauenswürdigen Wächtern, die er mit einem Spezialauftrag versehen hatte, hatte immer noch keine Spur von Breguyar gefunden.
Eine weitere Rohrpostnachricht kam aus der Klappe geschossen und prallte an der gegenüberliegenden Wand ab. Rince ignorierte sie und setzte seine rastlose Wanderung fort. Etwas stimmte ganz und gar nicht in seiner Stadt. Unbewusst erinnerte er sich an die Vorgänge in der Rattenkammer am Nachmittag und das schier unbeschreibliche Grauen, das er verspürt hatte. Was auch immer Lord Farrux von klatschianischen Anschlägen faselte, es musste noch mehr dahinterstecken. Der ganzen Sache haftete ein allgemeines Gefühl der Falschheit an. Der Kommandeur hatte sich immer für einen rationalen Menschen gehalten, nicht zuletzt, weil sowohl die geschriebenen als auch die ungeschriebenen Gesetze des Patriziers keine andere Denkweise zuließen. Doch zuallererst war Rince ein Wächter. Und ein wahrer Wächter zog wirklich alle Möglichkeiten in Betracht, um ein Verbrechen aufzuklären, selbst wenn sie offiziell verboten waren. Mittlerweile war Rince klar, daß in irgendeiner Form Zauberei dahintersteckte. War nicht erst vor wenigen Tagen ein verrückt gewordener Zauberer wegen brutalen Mordes an einer Näherin hingerichtet worden? Hinzu kam die vom Patrizier angeordnete öffentliche Exekution des Okkultisten Edward Wollas, der in der Vergangenheit durch seine Aktivitäten bereits mehrfach aufgefallen war. Nachdenklich strich sich Rince über seine Nachmittagsbartstoppeln. Und wenn jemand für Wollas' Tod hatte Rache nehmen wollen? Immer wieder gab es unbestätigte Gerüchte über einen Mann mit seltsamen Kräften, der die seltsame Angewohnheit besaß, an Orten wo kurz zuvor Dinge geschehen waren die der Patrizier schlichtweg als nicht existent deklarierte, aufzutauchen und dafür zu sorgen, daß alles wieder ins Lot kam. Die Person, hinter vorgehaltener Hand auch der Hexer genannt, galt unter den Wächtern als mysteriöses Phantom, mit dem so ziemlich alles erklärt werden konnte. Der Hexer war's galt vor allem unter Rekruten und Mannschaftsdienstgraden als beliebte Ausrede, wenn wieder einmal etwas schief gelaufen war.
Aber Fakt war nun einmal, daß sich jemand offensichtlich okkulter Kräfte bediente, um Unruhe in der Stadt zu stiften. In Gedanken ging Rince die gesammelten Berichte über das abwegige Verhalten Araghast Breguyars während der vergangenen Tage durch. Alles sprach dafür, daß sich der versoffene Püschologe der FROG auf einer wirklich heißen Spur befunden hatte, als ihm Dennis Schmied und Co in die Quere gekommen waren. Der Kommandeur verspürte plötzlich das dringende Bedürfnis, die nächstbeste Wand hingebungsvoll mit den Fäusten zu bearbeiten. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte Araghast Breguyar in diesem Fall freie Hand gehabt. Doch Schmied, Nemod, de Garde und noch viele andere Wächter gehorchten letztendlich Zupfgut und nicht ihm selbst. Und Araghast Breguyar war Johann Zupfgut schon seit langem ein Dorn im Auge gewesen.
Wütend fletschte Rince die Zähne, als er einen Entschluss fasste. In der Stadt ging es derzeit drunter und drüber. Schon lange hatte er insgeheim den Wunsch gehegt, Zupfgut aus dem Weg zu räumen. Zudem schien eine innere Stimme ihm einen mentalen Rippenstoß zu verpassen und ihm zuzuflüstern, daß das allgemeine sich ausbreitende Chaos die Gelegenheit schlechthin darstellte, sich des hinterhältigen Agenten ein für allemal zu entledigen. Es fühlte sich einfach richtig an. Abrupt hielt der Kommandeur in seiner Wanderung inne. Plötzlich war ihm sonnenklar, was er zu tun hatte.

Alles Käse


"Ich glaube, die Luft ist rein." wisperte Kanndra und zog ihren Kopf zurück. "Die Wächter scheinen nicht zu wissen, daß es uns auch noch gibt."
Raistan nickte nur und griff nach seinem Stab, der neben ihm an der Wand lehnte. Das, wovor Edwina sie eindringlich gewarnt hatte, war eingetreten. Die Gruppe war getrennt worden. Der junge Zauberer warf einen kurzen Blick in Richtung des großen Versammlungstisches. Der widernatürliche Trichter über der verbrannten Karte rotierte schneller als noch vor wenigen Sekunden und Raistan war sich sicher, daß das Gebilde langsam an Höhe und Durchmesser zunahm. Der ertrunkene Cthulhupalhulhu, Herr des Schreckens und ewiger Verdammnis, bahnte sich langsam aber sicher seinen Weg nach Ankh-Morpork. Und nichts und niemand war mehr in der Lage, ihn aufzuhalten.
Dazu sah die weltliche Situation auch nicht viel besser aus. Die gesamte Palastwache lauerte dort draußen und Raistans einzige Begleitung war eine ihm mehr als nur suspekt erscheinende gennuanische Voodoo-Priesterin. Zudem spürte er immer noch leichte Stiche in seinen Lungen. Der mentale Kampf gegen die flüsternden, Wahnsinn und Panik verbreitenden Stimmen während des gescheiterten Rituals hatte ihn einige Kraft gekostet.
"Lass uns von hier verschwinden." flüsterte er der Hexe zu. "Ich will nicht mehr hier sein, wenn der erste Tentakel aus diesem Wirbel herausgekrochen kommt."
"Glaubst du etwa, ich?" gab sie zurück. "Also los, Zaubererlein. Kannst du dich noch an den Weg zurück erinnern?"
"Den Gang nach rechts, dann nach links bis zur Treppe, die dann ein Stockwerk runter und dann von dort aus..." zitierte Raistan den Weg aus dem Kopf.
"Schon gut." unterbrach ihn Kanndra ungeduldig. "Lass uns einfach gehen, ja?"
Sie packte ihn am Arm und gemeinsam traten sie auf den Flur. Mehrere Palastwächter lagen bewegungslos am Boden und Blut tränkte den Teppich. Der junge Zauberer wandte den Blick von den Toten ab und folgte der Hexe bis zur Biegung.
Plötzlich kam ihm eine Idee.
"Warte." wisperte er und ignorierte ihren gedämpften Protest, als er sich losriss. Mit einem Ruck zerrte er eine der Wandlampen von ihrem Haken und eilte zurück zur Rattenkammer. Er konnte die URALTEN RIESEN nicht aufhalten. Doch vielleicht schaffte er es, ihren endgültigen Durchbruch in diese Dimension zu verzögern.
Der Wirbel war seit ihrer Flucht wieder einen guten halben Meter in die Höhe gewachsen. Raistan holte aus und schleuderte die brennende Lampe in den Saal, wo sie Öl sprühend niederging und den Teppich in Brand setzte.
Gerade als er beobachtete, wie auch die Polsterung eines Sessels Feuer fing, wurde er unsanft am Ärmel seiner Robe fortgezogen.
"Komm jetzt endlich!" zischte Kanndra, als sie um die Biegung des Korridors zur Treppe hasteten. "Für Feuerspielchen ist jetzt keine Zeit!"
Gern hätte Raistan eine bissige Antwort zurückgegeben, doch sein Atem reichte kaum aus um zu rennen. Die feinen Nadelstiche in seiner Brust nahmen zu und ein leichter Anfall von Schwäche ließ ihn stolpern.
Die teppichverkleideten Stufen dämpften ihre Schritte, als sie die Treppe hinuntereilten. Raistan kam es in seinem erschöpften Zustand wie eine Ewigkeit vor, bis sie schließlich das untere Ende erreichten. Drei Gänge zweigten in drei verschiedene Richtungen ab.
"Geradeaus." murmelte der junge Zauberer und seine Begleiterin zerrte ihn unverzüglich in den schwach beleuchteten Korridor. Die Gemälde finster dreinblickender verstorbener Würdenträger der Stadt schienen sie mit missmutigen Blicken zu verfolgen.
Sie waren noch nicht weit gekommen, als sie plötzlich schwere Schritte und das Klirren von Metall vernahmen.
"Verdammt!" fluchte Kanndra und machte auf dem Absatz kehrt. Raistan blieb gar nichts anderes übrig als ihr zu folgen, hielt sie doch seinen linken Unterarm mit eisernem Griff umklammert.
"Was nun?" fragte sie hektisch und zog mit der freien Hand ihren Dolch.
"Woher soll ich das wissen?" gab Raistan schwach zurück. "Ich bin Zauberer und kein wandelnder Palastplan!"
"Schön, daß wir das klargestellt hätten. Hat Eure große Zaubrigkeit etwas dagegen, wenn wir uns nun rechts herum davonmachen?" Der Sarkasmus in ihrer Stimme war unüberhörbar.
"Nein. Hauptsache weg."
Der Flur den sie nun entlangflohen war besser beleuchtet als der vorige. Türen mit prunkvoll verzierten Rahmen befanden sich in regelmäßigen Abständen auf beiden Seiten. Vor schweren roten Samtvorhängen hing ein glasverzierter Kronleuchter von der Decke und die geschliffenen Kristalle brachen das Licht in zahllosen Facetten.
"Die Treppe hoch, und zwar etwas plötzlich, ihr lahmen Enten!" erklang eine entfernte Stimme hinter den beiden Flüchtigen, gerade als sie durch den Vorhang stolperten.
Der stechende, nach fauliger Milch und Schimmel stinkende Geruch der ihnen entgegenschlug brachte Raistan zum Husten. Während er nach Luft rang dröhnte ihm lautes Geschrei in den Ohren.
"In den Ankh!" schrie ein wirrer Chor von Stimmen. "In den Ankh! Mit einem Gewicht an den Füßen!"
Mühsam richtete sich der junge Zauberer auf und blinzelte sich die Tränen aus den Augen. Jeder Atemzug schmerzte wie tausende von Nadelstichen und nur mit Mühe konnte er einen weiteren Anfall unterdrücken.
Da wurde auch schon sein Arm wieder mit festem Griff gepackt und er rückwärts gegen eine Wand gezogen.
"Gehts wieder?" fragte die Voodoo-Hexe.
Raistan nickte nur und nahm seine Umgebung endlich bewusst wahr.
Sie standen in einer Art Säulengang, welcher in einigen Metern Höhe einmal um den großen Saal des Palastes herumführte. Unten auf dem Saalboden vergnügte sich eine betrunkene Menschenmenge in fettverschmierter Abendgarderobe offenbar aufs Prächtigste. Derzeit feuerten die Feiernden mit lautstarken Rufen einen Mann in der Kleidung eines Henkers an, welcher ein Gewicht an den Füßen eines wild protestierenden Partygastes festkettete.
"Der Käse." flüsterte Kanndra in sein Ohr. "Deswegen stinkt es hier so erbärmlich."
Mit gerunzelter Stirn musterte Raistan den großen Topf, der über einem offenen Feuer hing. Die Farbe der gelblichgrünen Schmelze erinnerte ihn unangenehm an den Wirbel in der Rattenkammer ein Stockwerk über ihnen. Träge stiegen Blasen aus der zähflüssigen Masse auf und zerplatzten in einem Sprühregen feinster Käsepartikel, während eine neue Welle käsig-verschimmelten Gestanks den jungen Zauberer beinahe wieder zum Husten brachte.
"Bäh." kommentierte Kanndra die ruhig vor sich hinköchelnde olfaktorische Vergewaltigung.
Unter dem Johlen der Menge wurde der an das Gewicht gefesselte junge Mann von zwei Aushilfshenkern davongeschleift und Raistan fragte sich, was der offensichtliche Todeskandidat wohl verbrochen hatte. Was auch immer dort unten stattfand ergab für ihn keinen Sinn.
"Sag mal," fragte Kanndra plötzlich, "Schaffst du es, mit einem Feuerball den Topf da unten zu treffen?"
Raistan legte den Kopf schief und visierte das Ziel an. Eine weitere Käseblase zerplatzte an der Oberfläche des Topfinhalts.
"Du meinst... es könnte brennen?" fragte er.
Die Voodoo-Hexe nickte. "Wenn wir hier lebendig wieder rauswollen, brauchen wir eine Ablenkung die größer ist als die brennende Rattenkammer. Eine Panik da unten könnte Wunder wirken."
Unten im Saal tauchten mehrere Männer Brotstücke an Holzstöcken in den Kessel. Als sie sich wieder zu den übrigen Gästen gesellten, zogen sie lange Fäden aus Käse hinter sich her.
"Also gut." sagte Raistan, dem sich beim Anblick der schmatzenden Partygäste beinahe der Magen umdrehte. Er atmete tief durch und bereute es sofort wieder. Mit zusammengebissenen Zähnen wartete er ab, bis die Welle des Schmerzes abgeebbt war.
Kanndra klopfte ihm sanft auf die Schulter.
"Was ist eigentlich los mit dir?" fragte sie.
Raistan winkte ab. "Eine angeborene Krankheit." erläuterte er kurz und konzentrierte sich. Die reale Welt verschwamm vor seinen Augen und er spürte, wie sich reine Magie über der Fläche seiner ausgestreckten Hand manifestierte. Eine faustgroße Feuerkugel schwebte über seinen Fingern.
Jetzt oder nie, dachte er und warf den brennenden Ball mit aller Kraft. Nun würde sich herausstellen, ob all die Abende des Wurftrainings mit Ewein in der Turnhalle der Universität etwas genützt hatten.
Wie in Zeitlupe nahm er wahr, wie der Feuerball auf sein Ziel zuflog. Während er dem Geschoss noch nachsah gaben seine Knie unter ihm nach. Jemand, von dem er nur hoffte, daß es sich um Kanndra handelte, packte ihn und halb fiel er, halb wurde er zu Boden gerissen.
Die Explosion übertraf seine kühnsten Vorstellungen. Eine stinkende Hitzewelle wallte durch den Raum und nahm dem jungen Zauberer schier den Atem. Menschen schrien in Panik auf. Und während er noch glaubte, nun endgültig ersticken zu müssen, vermischten sich Geräusche und Gerüche zu einem undefinierbaren Mischmasch, welcher direkt aus dem Pandämonium zu entspringen schien. Finsterer Nebel wallte durch sein Gesichtsfeld und streckte wabernde Fühler nach seinem Bewusstsein aus. Und eine einzelne Stimme erhob sich über den grässlichen Tumult. Das Buch, Junge! Das Buch ist der Ausweg! Plötzlich veränderte sich der Nebel und floss zu einer Silhouette zusammen. Ein hochgewachsener, schlanker Mann hob eine brennende Zigarre zu einem höflichen Gruß.
Unsanfte Schläge auf seine Wange brachten Raistan wieder zurück in die Wirklichkeit. Er lag auf dem Rücken und die über ihm kniende Kanndra bearbeitete sein Gesicht mit ihrer flachen Hand.
"Aufwachen, Zaubererlein." sagte sie. "Falls es dich interessiert, die halbe Wandbespannung brennt und da unten ist eine Massenpanik ausgebrochen. Ich wusste gar nicht, daß Käse dermaßen explosiv sein kann."
Raistan hustete schwach und blinzelte. Verkohlte Käsereste klebten an der Decke über ihm und der unverkennbare Geruch von Rauch stieg ihm in die Nase. Erneut musste er husten. Der Qualm brannte wie Feuer in seinen kranken Lungen.
Kanndra packte ihn grob und zerrte ihn auf die Beine. "Jetzt mach mir aber nicht schlapp hier!" fuhr sie ihn an. "Du musst raus an die frische Luft, und zwar schnell!"
"Ich... weiß." keuchte Raistan und nahm seinen Stab an sich.
Gebückt hasteten sie die Balustrade entlang, immer wieder ängstliche Blicke um sich werfend. Am Saalboden drängten sich die Partygäste an den Ausgängen und schubsten einander gnadenlos aus dem Weg. Mehrere Wandteppiche standen lichterloh in Flammen. Ein dicker, glatzköpfiger Mann in einer käsebespritzten, pelzbesetzten Robe brüllte mehrere Palastwächter an.
"Da drüben!" rief Kanndra aus und deutete auf einen Durchgang auf der anderen Seite der Balustrade. Raistan war zu erschöpft um gegen irgend etwas zu protestieren. Beinahe willenlos ließ er sich in Richtung der potentiellen Sicherheit mitziehen.

Auf der Flucht


Die Wächter rasen durch die Stadt...
Araghast konnte beim besten Willen nicht erklären warum ihm der Text des alten Gassenhauers ausgerechnet in diesem Moment durch den Kopf ging. Ja, er war ein Wächter und raste durch einen sich innerhalb eines Gebäudes befindlichen Teil der Stadt. Aber der Grund dafür war nicht die Verfolgung eines Verbrechers wie in dem alten Schlager, sondern das geschätzte Dutzend Palastwächter, das ihm und seinen Begleitern dicht auf den Fersen folgte.
Mit einem lauten Twänng wurde eine weitere Armbrust abgeschossen und Araghast krümmte sich im Rennen instinktiv zusammen. Neben ihm schrie Rogi auf und klappernd fiel ihre Laterne zu Boden. Der Feldwebel sah sich nicht um, sondern konzentrierte sich darauf, um sein Leben zu rennen. Als sie an einer geöffneten Tür vorbeisprinteten musste er unwillkürlich an Kanndra und Raistan denken, die sie in der Rattenkammer hatten zurücklassen müssen, und er hoffte inbrünstig, daß die Wächter sie nicht bemerkt hatten. Doch ob die es nun geschafft hatten unbemerkt zu bleiben oder nicht - diese Realität funktionierte nach den Gesetzen des Schund-Gruselromans, von dessen ehernen Gesetzen sie soeben eines gebrochen hatten. Von hier aus konnte eigentlich nur noch alles schief gehen. Kamerun hatte lautstark protestieren wollen, daß er seinen Bruder nicht zurückließ, doch ein eisiger Blick von Edwina hatte ihn zum Schweigen gebracht. Raistan und Kanndra waren vorläufig am sichersten wenn niemand laut herausposaunte, daß sie sich überhaupt im Palast befanden.
"Nach unten!" keuchte er, als vor ihnen eine Treppe in Sicht kam. Weitere Fehler waren möglichst zu vermeiden, wenn sie mit dem Leben davonkommen wollten. Doch der Hexer, Edwina und Kamerun waren bereits am rettenden abwärtsführenden Weg vorbeigesprintet. Der Püschologe folgte ihnen, einen nicht druckfähigen Fluch ausstoßend.
Weiter und weiter ging die wilde Hatz, durch schmale und breite, gut beleuchtete und finstere Korridore, bis vor ihnen schließlich eine Treppe in Sicht kam, welche nur aufwärts führte. Araghast wandte sich um. Von ihren Verfolgern war nichts zu sehen.
"Verrdammt." brachte Edwina ihre derzeitige Lage auf den Punkt, und schwang ihre Armbrust vom Rücken, um sie nachzuladen. Es klickte leise, als der Pflock im Abschussmechanismus einrastete. "Wo ist Rrogi?"
Erst jetzt bemerkte Araghast, daß die Igorina fehlte, und die Erinnerung an einen Schmerzensschrei und die zu Boden fallende Laterne kehrte in sein Bewusstsein zurück.
"Sie wurde getroffen, glaube ich." sagte er immer noch außer Atem.
Edwinas Gesicht zeigte keine Gefühlsregung.
"Was nun?" fragte Kamerun. "Die Treppe hoch?"
"Bloß nicht." antwortete Araghast sofort. "Das macht alles nur noch schlimmer."
"Sag bloß, du glaubst wirklich an diese blödsinnigen Regeln." ertönte die Stimme des Hexers, welcher offensichtlich langsam zu seinem alten Selbst zurückfand.
"Und ob ich das tue!" Langsam aber sicher spürte Araghast seinen alten Zorn in sich aufwallen. Die ersten Gitterstäbe des metaphorischen Gefängnisses, welches seinen inneren Vampir festhielt, begannen, sich leicht zu verbiegen. "Diese Welt funktioniert nun mal auf diese Weise!"
"Wenn ihrr beiden vielleicht einmal aufhörren könntet, euch zu strreiten." ging Edwina dazwischen. "Wirr werrden jetzt diese Trreppe hinaufgehen und damit basta! Das hierr ist eine Sackgasse!"
Am liebsten hätte Araghast die schmücke Büste in der Nische neben der Treppe vor Wut zertrümmert, doch er besann sich eines Besseren. Wenn sie sich nun endgültig zerstritten war alles verloren.
"Wir werden schon sehen, was wir davon haben." murmelte er schicksalsergeben, als er den anderen folgte.
Sekunden darauf erschütterte eine gewaltige Explosion den Palast in seinen Grundfesten.

Waffenwahl


Das polierte Holz der Armbrust schimmerte sanft im Laternenschein. Rince nickte zufrieden als er sich die Waffe an ihrem Trageriemen über die Schulter hängte. Dazu befestigte er noch einen Köcher mit Bolzen und sein Dienstschwert am Gürtel, nur um auf der sicheren Seite zu sein. Wenn er auszog um Johann Zupfgut zu erledigen, dann wollte er sichergehen, daß der verhasste Agent für immer und ewig tot blieb. Es war einer der häufigsten Fehler die ein Mörder begehen konnte, vom Tatort zu verschwinden, ohne sich vorher vergewissert zu haben, daß die Seele des Opfers auch tatsächlich von Gevatter Tod vom Körper getrennt worden war. Und Rince hatte sich vorgenommen, keinen Fehler zu machen.
Unter anderen Umständen hätte er vermutlich längst einen Rückzieher gemacht und seine Pläne bei reinen Gedankenspielereien belassen. Doch die Stimme in seinem Kopf spornte ihn an. Sie war zu ihm gekommen wie ein plötzlicher Seelentröster in einem Meer aus Verzweiflung, und hatte begonnen, ihm Stück für Stück die Lösungen all seiner Probleme ins Ohr zu flüstern. Rince konnte sich kaum noch vorstellen, wieso er vorher nicht selbst auf solche Ideen gekommen war. Erwartungsvoll rieb er sich die Hände als er das kleine Waffenarsenal des Wachhauses verließ. Wie war er bloß immer ohne diese Stimme klargekommen, die ihn gerade in Richtung Wachetresen leitete, wo Zupfgut alle halbe Stunde per Taubenpost seinen derzeitigen Stand der Jagd nach Breguyar durchgab? Alles machte plötzlich einen Sinn. Und nachdem er mit Zupfgut fertig war würde Dennis Schmied dran sein und danach Larius de Garde und Dragor Nemod. Der Weg war frei für eine neue, ihm persönlich ergebene Wache. Und anschließend könnte er...
"Hier, Sir!" Der eifrig salutierende Rekrut drückte ihm die letzte Nachricht Zupfguts in die Hand. "Er steht direkt vor dem Palast und wartet ab, Sir!"
"Danke, Rekrut." murmelte der Kommandeur abwesend und eilte aus dem Wachhaus. Er fühlte sich als ob er gleichzeitig schlafwandelte und wachte.
"Zupfgut, geliebter Feind." murmelte er träumerisch, als er nach draußen in den strömenden Regen trat und sich die Kapuze seines ledernen Regenumhangs über den Kopf zog. "Ich will dich winseln hören wie ein räudiger Hund. Ich will sehen wie sich deine Eingeweide auf dem Boden schlängeln während du um Gnade schreist. Ich will dein schlagendes Herz mit bloßen Händen packen und es zerquetschen!"
"Ph'nglui mglw'nafh Cthulhupalhulhu Leshp wgah'nagl fhtagn!!!!!" wisperte die Stimme in seinem Kopf zur Antwort.
Kommandeur Rince warf den Kopf in den Nacken und sein brüllendes, eisiges Lachen schallte gen Himmel.

Regel Nummer Sieben-plus-eins


Die Küche des Palastes war menschenleer.
"Hände hoch!" befahl Edwina vorsichtshalber und richtete ihre geladene Armbrust auf niemanden im Besonderen, doch nicht einmal ein verängstigter Küchenjunge rührte sich.
"Die Luft ist rrein." verkündete die Überwaldianerin zufrieden und Godric Adana schlüpfte durch die Flügeltür.
Die Küche erweckte den Eindruck, in großer Hast verlassen worden zu sein. Ein halb aufgeschnittener Käse aus Quirm lag auf dem großen Arbeitstisch in der Mitte des Raumes und auf dem riesigen Herd köchelte vergessen ein großer Topf vor sich hin. Leichter Brandgeruch lag in der Luft.
"Wer auch immer diese Panik ausgelöst hat, wir sollten ihm dankbar sein." stellte der Hexer fest, während er ein langes Küchenmesser aus einem Holzklotz zog. "Bei den Göttern, das tut gut, wieder bewaffnet zu sein." Prüfend schwang er die improvisierte Waffe.
Edwina nickte. "Eine gute Idee, den Palast anzuzünden. Die Wächterr werrden wichtigerres zu tun haben, als uns zu verrfolgen." Sie legte die Armbrust auf den Küchentisch. "Wohin nun, Godrric? Zu dirr oderr zu mirr?"
Adana lächelte plötzlich und Edwina fühlte sich, als würde jemand ihr schlagendes Herz kitzeln.
"Ich kann mich immer noch nicht daran gewöhnen, daß du plötzlich eine Frau bist, Eddie." sagte er leise. "All die Jahre warst du mein getreuer Assistent und Verbündeter. Und nun stecken wir beide in einem aussichtslosen Spiel fest von dem du sogar mehr zu wissen scheinst als ich. Ich bin dir wirklich dankbar dafür, daß du vorhin das Kommando übernommen hast, als ich immer noch getroffen von dem Rückschlag beim Bannritual gewesen war."
"Keine Urrsache." antwortete Edwina nur und trat näher an ihn heran. "Es wirrd schon wiederrr alles werrden."
"Nein, das wird es nicht. Ich weiß es."
"Und warrum?" Die Überwaldianerin runzelte die Stirn und schob sich ihren Hut in den Nacken. Das klang gar nicht gut.
"Ich besitze die Gabe, eine Art der Magie zu wirken." Die Stimme des Hexers senkte sich zu einem Flüstern. "Und deshalb weiß ich auch, daß ich sehr bald sterben werde. Ich wusste es urplötzlich, als der Stockdegen in meinen Händen zerbrach."
Edwina schnappte nach Luft. Sie ahnte, daß die narrative Kausalität in diesem Augenblick etwas im Stil von Nein, das darf nicht sein erwartete. Doch sie war Edwina Dorothea Walerius. Schon zu oft hatte sie das Schicksal in die vier Buchstaben getreten, als daß sie noch überrascht davon war. Der Tod hatte letztendlich auf die eine oder andere Weise jeden zu sich geholt der ihr etwas bedeutet hatte. Schon deshalb hatte sie es in den Jahren nach ihrer Umsiedlung nach Ankh-Morpork vermieden, eine feste Bindung mit irgendjemandem einzugehen. Doch nun, wo sie dem Objekt ihrer jahrelangen Schreibtätigkeit gegenüberstand und sich letztendlich entgegen aller Vorsätze doch in ihn verliebt hatte, war sein Tod schon vom Multiversum auf den Termin 'bald' angesetzt. Die Überwaldianerin gab sich einen Ruck. Jetzt oder nie schien eine innere Stimme ihr zuzuflüstern.
Ohne Vorwarnung schlang sie ihre Arme um den Hals Godric Adanas und gab ihm einen langen Kuss. Nur undeutlich spürte sie, wie die Hände des Hexers ihre Taille umfassten.
"Eddie." wisperte Adana, nachdem sich ihre Lippen voneinander gelöst hatten. "Warum hast du es mir nicht eher gesagt?"
"Ich warr nicht ich." antwortete Edwina, kurz bevor sie sich erneut küssten.
Als ihr Schwertgurt und ihr Hut zu Boden fielen musste die Überwaldianerin flüchtig an die bisher unausgesprochene Regel Nummer Sieben-plus-eins des Gruselromans denken. Keine Näharbeiten oder mindestens einer der beiden wird sterben. Doch letzendlich spielte es keine Rolle mehr. Godric Adanas Tod war bereits vorherbestimmt, völlig unabhängig von allem was nun noch geschehen mochte.
Näharbeiten, Knieweich und Musik mit Steinen drin zitierte Edwina in Gedanken den Schriftzug auf Kameruns T-Shirt, während der Hexer und sie einander mehr oder weniger gegenseitig auf den Küchenfußboden zogen. War es nicht gerade genau das, was das Leben lebenswert machte, selbst wenn, oder gerade genau wenn man wusste, daß es bald vorbei war?

Verfolger des Verfolgers


Johann Zupfgut stand immer noch an Ort und Stelle. Von seinem Versteck auf dem Dach von Jimkin Bärdrückers Brennerei beobachtete Alfons Messerkuss den nahe der Palastmauer parkenden Eselskarren, auf dem sich der Hauptmann und die drei übrigen Wächter unter einer Segeltuchplane duckten. Von der entführten Frau war nichts zu sehen und der Assassine vermutete, daß sie zu einem handlichen Bündel verschnürt irgendwo auf der Ladefläche des Karrens verstaut worden war. Alfons gähnte verstohlen und neigte den Kopf um das in seiner Hutkrempe gesammelte Regenwasser loszuwerden. Schlechtes Wetter ist des Assassinen bester Freund, hatte der alte Mericet während des theoretischen Unterrichts unzählige Male wiederholt, doch Messerkuss hätte im Augenblick nichts gegen eine laue, klare Vorfrühlingsnacht einzuwenden gehabt.
Unter ihm schlingerte eine von zwei panischen Pferden gezogene brennende Kutsche vorbei. Aus ihrem Inneren drangen entsetzte Hilfeschreie.
Der Assassine zuckte nur mit den Schultern und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Zupfgut zu. Was für eine Nacht. Vor einigen Minuten hatte ein gewaltiger Donner die Mauern des Palastes erzittern lassen und nun schlugen meterhohe Flammen aus mehreren Fenstern der Vorderfront. Insgeheim schätzte Messerkuss, daß die Stunden Lord Ephraim Farrux' als Patrizier von Ankh-Morpork sich an einer Hand abzählen ließen. Die Stimmung in der Stadt roch förmlich nach einer blutigen Revolution. Messerkuss gestattete sich ein schmallippiges Lächeln. Doktor Kreuz würde entzückt sein. Unruhige Zeiten waren stets ein Segen für die Gildenschatzkammer gewesen.
Die Taube besaß ein dunkles Gefieder, so daß der Assassine sie zuerst nicht bemerkte. Erst als Johann Zupfgut seine Hände ausstreckte um das Tier in Empfang zu nehmen, fiel schlagartig alle Müdigkeit von ihm ab und die Muskeln und Sehnen in seinem durchtrainierten Körper spannten sich an. Er beobachtete, wie der Hauptmann seinen Männern einen knappen Befehl gab die beiden Grüngekleideten eilig salutierten. Anschließend verschwand Zupfgut mit dem dritten Wächter, mit dem er ein angeregtes Gespräch führte, durch das Palasttor. Kurz darauf wendete der Eselskarren der Wache und fuhr in Richtung Götterinsel davon.
Na bitte, dachte Messerkuss. Lange kann es jetzt hoffentlich nicht mehr dauern.
Doch was ihn stutzig machte war die große, füllige Gestalt mit der gezogenen Armbrust, die, kaum daß Zupfgut und sein Kollege den Palast betreten hatten, über die Straße lief und ebenfalls im Gebäude verschwand. Auch dieser Mann trug unter dem Regenumhang die Uniform der Stadtwache.

Der stärkste Gegner


Eigentlich hätte nur noch gefehlt, daß jemand von uns irgendwo mit Näharbeiten angefangen hätte. Oder trotz eindringlicher Warnungen an Tür, Fenster oder den privaten Semaphorenturm gegangen war. Ganz zu schweigen von einer blonden Frau die immerzu kreischte in der Gruppe. Wäre es derzeit möglich gewesen, hätte Araghast Godric Adana alias der Hexer von Ankh alias Havelock Vetinari mit Gedächtnisverlust zu Tode gewürgt. Er hatte recht gehabt. Sie hätten niemals diese verdammte Treppe hochlaufen sollen. Und vor allem sich anschließend auf gar keinen Fall noch einmal trennen dürfen.
Der Feldwebel warf den beiden Palastwächtern, die ihre Armbrüste auf ihn und Kamerun gerichtet hielten, einen vernichtenden Blick über die Schulter zu, während er seinem Verhängnis entgegenmarschierte.
"Eddie und ich sehen uns den linken Gang an, ihr den rechten." hatten die Worte des Hexers gelautet und ohne weiter abzuwarten war Kamerun auch schon dem Auftrag gefolgt, nur um nach wenigen Metern von einer ihnen entgegenstürmenden Gruppe von Palastwächtern abrupt aufgehalten worden zu sein. Und Araghast, der ihm gefolgt war um ihn zurückzuzerren, war mit in die Falle getappt.
Die Anzahl der Backsteine die er anschließend am liebsten in die breit grinsende Visage Lord Ephraim Farrux' gehauen hätte, als sie ihm nach ihrer Gefangennahme vorgeführt worden waren, hätte ausgereicht, um an anderer Stelle ein zweites Ankh-Morpork zu errichten. Der Patrizier hatte kurz mit einem Bediensteten gesprochen und ihm und Kamerun anschließend eine Schnell-Verurteilung zum Tode aufgrund von Verschwörung, Kooperation mit Zauberern und klatschianischen Landbesetzern, Verbreitung kollektiven Wahnsinns und der Sprengung sowohl der Karte auf dem Tisch der Rattenkammer als auch eines Käsefondues im Großen Saal zukommen lassen. Der Feldwebel war sich sicher, daß sein alter Erzfeind ihn nur deshalb nicht sofort hatte exekutieren lassen, weil er einen anderen, langsameren, qualvolleren Tod für ihn im Sinn hatte.
Ephraim Farrux. Der Mann der sich wahnsinnige Mühe gegeben hatte zu verhindern, daß er und Lea ein Paar wurden. Der Mann, dem es in beiden Wirklichkeiten geradezu unbändige Freude zu bereiten schien, anderen das Leben schwer zu machen. Woher kam bloß dieser Hass? Selbst Araghasts Püschologen-Ich wusste darauf keine andere Antwort als die Beobachtung, daß die menschliche Seele von Natur aus zu Verschlagenheit und Korruption neigte. Doch während die menschliche Bosheit auf dem klassischen Wege schikanierte, folterte und mordete, näherte sich die äonenalte, seelenfressende Finsternis auf leisen Sohlen. Araghast konnte gar nicht anders, als hinterhältig zu grinsen. Seine Begleiter und er waren daran gescheitert, das blasphemische Grauen aus einer Dimension jenseits von Raum und Zeit aufzuhalten. Zwei Versionen der Scheibenwelt würden in Kürze in den Flammen der Apokralypse vernichtet werden. Doch er würde schon tot sein, wenn dies geschah. Farrux und seine Kumpane jedoch erwartete der ungeschminkte Wahnsinn, der ihre Seelen Stück für Stück in Fetzen riss. Insgeheim gönnte der Feldwebel ihnen ein solches Ende mittlerweile von Herzen. Die URALTEN RIESEN kannten keinen Unterschied zwischen Gut und Böse. Endlich bekamen Farrux und Co was sie verdienten.
Immer tiefer führten die Wächter sie in die Eingeweide des Palastes. Die Tapeten und Gemälde an den Wänden waren grob behauenen Backsteinen gewichen. Araghast knirschte mit den Zähnen. Er hasste es, dem Schicksal hilflos ausgeliefert zu sein.
Plötzlich blieben die insgesamt sechs Wächter vor einer massiv aussehenden Tür stehen und einer von ihnen schob zahllose dicke Riegel zurück.
"Da rein." befahl ihnen ein anderer knapp, als das einsenverstärkte Portal geöffnet worden war.
Auf der Schwelle drehte sich Kamerun, der bisher geschwiegen hatte, noch einmal um.
"Wartet nur ab, ihr werdet noch bereuen, euch mit einem echten, lizenzierten Helden angelegt zu haben!" rief er aus.
Ein weiterer Wächter versetzte ihm kichernd einen Stoß mit dem stumpfen Ende seiner Hellebarde und wenig elegant stolperte der junge Held in das vermutlich letzte Gefängnis seines Lebens. Araghast folgte ihm mit stolz erhobenem Haupt und verkniff sich jedwede Bemerkung über das wahre Grauen, das sich bereits auf dem Weg in diese Wirklichkeit befand, obwohl sie ihm wie Feuer auf der Zunge brannte. Kaum daß er die Schwelle überschritten hatte, fiel die Gefängnistür mit einem dumpfen Krachen hinter ihm ins Schloss und er hörte, wie eifrig Riegel vorgeschoben wurden.
Eine geradezu unheimliche Stille füllte jeden Winkel der kargen, lediglich aus vier Wänden und einem Gitterrost in der Mitte des Bodens bestehenden Zelle. An einem Strick baumelte eine flackernde Öllampe von der Decke.
"Ein solches Verließ kam auch in einem von den Cohen der Barbar-Heften vor." brach Kamerun das Schweigen. "Gleich öffnet sich bestimmt eine Klappe und ein wilder, hungriger Leopard wird zu uns reingelassen." Er seufzte. "Schade, daß sie uns die Waffen abgenommen haben. Aber Cohen hat das Monster auch mit bloßen Händen erwürgt."
"Ich wollte, ich hätte dein Vertrauen in die Zukunft." murmelte Araghast und lehnte sich gegen die kühle Wand. Der einzige Vorteil dieses Verließes bestand darin, daß sich keine Skorpione darin aufhielten. Doch Farrux hatte bestimmt irgendeine für ihn interessante Falle konstruiert die jeden Augenblick zuschnappen könnte...
Und dann hörte er es. Ein knirschendes Geräusch, als ob jemand einen komplizierten Mechanismus in Gang gesetzt hätte. Er sah nach oben. Mehrere Steine an der Kante zwischen Wand und Decke waren beiseitegeglitten. Gleichzeitig erreichte ein leises Plätschern seine Ohren und Wasser begann, die Wände hinabzuströmen.
Natürlich. Noch ein Beweis, daß diese Realität nach Wollas' Gesetzen funktioniert.
In Windeseile war der verschlossene Abfluss vollgelaufen und eine immer größer werdende Pfütze breitete sich auf dem Boden des Verließes aus.
"Verdammt, so eine Falle kenne ich." knurrte Araghast und sah zu wie das Wasser seine Füße umspülte. "Im Finale von Eddie Wollas' Der Blaue Bogenschütze steckten die Helden in einem ähnlichen Ding fest und wären beinahe ertrunken."
"Und wie sind sie wieder rausgekommen?" fragte Kamerun begierig.
"Sie wurden in letzter Minute gerettet weil jemand die Tür von außen geöffnet hat." erklärte Araghast. "Aber daß uns hier jemand findet und wieder herausholt ist wahrlich eine Chance von weniger als eins zu einer Million." Wütend auf Farrux, den Hexer und die Scheibenwelt im Allgemeinen hieb er mit der Hand gegen die massive, feuchte Kerkerwand. "Was für eine Ironie des Schicksals. Ich, der wirklich jedes Buch von Wollas kennt, endet nun in einer Falle die aus einem seiner Werke stammen könnte. Jetzt fehlt wirklich nur noch, daß Farrux einen Schwarm verdammter Wiewunderland-Piranhas loslässt!"
Als Antwort darauf griff Kamerun reflexartig nach seiner leeren Schwertscheide.
"Sollen die nur kommen." rief er herausfordernd.
Araghast seufzte. Warum konnte er nicht auch alles so einfach sehen wie dieser junge Nachwuchsheld? Für Kamerun Quetschkorn teilte sich die Welt in zwei Hälften. Die eine bestand aus Dingen zum Bekämpfen, die andere aus Dingen bei denen man das Schwert lieber in der Scheide ließ. Außerdem tat er alles, was sein Bruder oder jemand anderes dessen Autorität er anerkannte ihm sagten. Trotz seiner misslichen Lage musste Araghast grinsen. Der junge Mann würde den idealen FROG abgeben. Kampfstark, loyal und nicht allzu intelligent.
Lautes Platschen erklang als Kamerun durch das mittlerweile knöchelhohe Wasser auf ihn zugeeilt kam.
"Also, Mörderfische scheint es hier keine zu geben." erklärte er. "Ich habe jedenfalls keine gesehen."
"Wir haben alles falsch gemacht." sagte Araghast plötzlich. "Wir haben uns verhalten wie die Idioten in Eddie Wollas' Romanen. Regel Nummer wasauchimmer: Trennt euch niemals.Trotzdem hielt es das eingebildete Großmaul von einem Hexer für eine gute Idee, getrennt die Gänge zu untersuchen. Und Jetzt sitzen wir hier in der Tinte ohne einen einzigen Zauberer, obwohl wir drei von der Sorte mitgenommen haben. Außerdem: Fliehe niemals eine Treppe hinauf wenn du verfolgt wirst. Und was haben wir gemacht? Was ich sagen will ist, es ist doch eigentlich alles völlig logisch. Aber warum verhalten wir uns trotzdem so fürchterlich falsch, daß wir das Schicksal und das Klischee geradezu zum Zuschlagen herausfordern?"
Doch noch während er die Frage laut stellte, wusste er bereits die Antwort. Es gab einen Grund, weshalb die Personen sowohl in den Eddie Wollas-Heften als auch in der Realität nun einmal so handelten wie sie handelten. Und dieser hieß die einfache menschliche Dummheit. Oh ja, eine Gruppe mochte glauben logisch zu denken, wenn sie sich trennte, um ein offensichtlich gefährliches Gebäude schneller durchsuchen zu können. Doch die durchschnittliche Intelligenz einer Gruppe errechnete sich aus dem Verstand des dümmsten Mitgliedes geteilt durch die Anzahl der Personen. Und wenn man Kameruns Verstand durch sieben teilte, blieb nicht mehr viel übrig.
"Verdammt!" fluchte der Feldwebel laut. Was sollte er auch sonst sagen, wenn er in Gesellschaft einer klassischen Kampfmaschine in einer sich langsam aber stetig mit Wasser füllenden Kammer steckte, aus der es kein Entkommen gab? Andere hätten in solch einer Situation vermutlich angefangen zu beten, doch Araghast glaubte nicht, daß einer dieser Mistkerle dort oben in Würdentracht einem Religionsmuffel wie ihm in irgendeiner Form Gehör schenken würde. Und der namenlose Gott der Wächter würde wohl kaum etwas zur Rettung seines wahrscheinlich einzigen Gläubigen unternehmen können, weil er einfach nicht genügend Glaubenskraft besaß um irgend etwas auszurichten. Er würde sterben, genau wie er es sich in den letzten Monaten insgeheim schon mehrmals gewünscht hatte, und seine verfluchte Existenz in einem Meer von eiskaltem Wasser ertränken. Endlich hatte er Ruhe vor dem Monster in ihm, das ihn tagtäglich mit sengender Begierde quälte und sein Leben zerstörte. Der Frieden, nach dem er sich so lange gesehnt hatte, war zum Greifen nahe.
Ein leichtes Lächeln spielte um seine dünnen Lippen, als sich der Feldwebel gegen die Kerkerwand lehnte. Wenn das Ende kam, würde er sein inneres Monster mit sich reißen. Wir sind eins, du und ich, schien der eingesperrte Vampir in seinem Inneren die Worte aus dem Traum zu wiederholen. Du kannst gegen mich nicht gewinnen, weil ich ein Teil von dir bin.
"Ich mag dich nicht bekämpfen können, aber wenn du ein Teil von mir bist, stirbst du mit mir, du verdammter, sieben-plus-eins-Mal verfluchter blutsaugender Mistkerl!" flüsterte Araghast und seine Hand griff nach dem Flachmann in seiner Manteltasche. "Und so gewinne ich doch! Ha!"
In den Tiefen seines Bewusstseins schrie der letzte Rest seines gesunden Menschenverstandes ihn an, doch der Feldwebel stellte sich taub. Er war zu müde von dem aussichtslosen Kampf gegen den immer näherrückenden Abgrund. Als er die Flasche an die Lippen setzte und trank, sah er undeutlich, wie Kamerun Quetschkorn ihn verwundert anstarrte.
Der Alkohol brannte scharf in Araghasts Kehle und der Wächter kostete das Gefühl bis zum Letzten aus, als er im Stillen von seinem besten Freund Abschied nahm. Niemand auf der ganzen Scheibenwelt hatte ihm so geduldig zugehört ohne ihn mit klugen Ratschlägen zu belästigen wie der Schnaps. Mit der Zunge leckte der Feldwebel den letzten Schluck vom Flaschenhals.
"Vergib mir, Lea." murmelte er leise als er an jene Nacht dachte, in der er einsam durch den Regen gelaufen war. "Ich kann einfach nicht mehr. Verzeih mir, daß ich einfach keine Kraft mehr habe, weiterzukämpfen, und mich auf das Ende freue. Du weißt, daß ich dich bis zum Schluß geliebt habe." Wenn er schon abtreten musste, dann wollte er es auch mit der nötigen Portion Dramatik tun, wie es der Schundroman-Realität entsprach in der er sich befand. Er hatte das Gefühl, daß das Multiversum derartige Abschiedsworte einfach von ihm erwartete.
Er schloss die Augen während er spürte, wie das Wasser langsam aber sicher seine Waden hinaufkletterte. Eigentlich war es sogar eine doppelte Ironie des Schicksals. Nicht nur, daß er sein Leben in einer Original Eddie Wollas-Todesfalle lassen würde, nein, er, der ehemalige Pirat, der unzählige schwere Stürme inklusive Beinahe-Schiffbruch, reißenden Segeln und über Bord gespülten Matrosen überstanden hatte, würde ausgerechnet auf dem trockenen Land ertrinken.
Araghast konnte gar nicht anders. Leise begann er zu singen.
"Wir segeln bei Sturm und bei tosender Gischt, trinkt aus, Piraten, Yo-ho...
Doch wir lachen dem nassen Tod nur ins Gesicht, trinkt aus, Piraten, Yo-ho...
Mit Donner und Blitz, die Fahne im Mast, trinkt aus, Piraten, Yo-ho...
Sind wir gen Pandämonium gerast, trinkt aus, Piraten, Yo-ho..."
"Der Kleine hatte recht." sagte Kamerun laut und deutlich und übertönte den düsteren Gesang des Feldwebels mühelos. "Du bist völlig übergeschnappt. Was redest du da eigentlich für ein komisches Zeug vom Aufgeben?"
Araghast verstummte und funkelte den jungen Krieger mit seinem verbliebenen Auge kalt an.
"Wir werden sterben." sagte er ruhig. "Und es macht mir nichts aus, da ich meinen ganz persönlichen Kampf schon lange verloren habe. Nur noch wenige Stunden und ich werde komplett wahnsinnig werden. Also lass mich in Ruhe und verzieh dich in eine andere Ecke wo du mit deinem Leben abschließen kannst wie du lustig bist."
"Aber ich will nicht sterben!" gab Kamerun zurück. "Ich hab noch so viel was ich alles machen will! Und wer passt dann auf den Kleinen auf, wenn ich tot bin?"
"Das Leben ist nun einmal grausam." Araghast fühlte sich von der frischen Alkoholdosis angenehm entspannt und ruhig. "Warum sonst hat es zugelassen, daß ein innerlich zerrissenes Ungeheuer wie ich überhaupt geboren wurde? Ich kämpfe nicht mehr, weder auf die eine noch auf die andere Weise. Es hat keinen Zweck. Wir sitzen hier in einer Falle ohne Rettung und das Monster in mir ist unbesiegbar, außer im Tod."
"Das stimmt nicht!" ereiferte sich Kamerun und trat einen Schritt im knietiefen Wasser zurück. "Es gibt immer einen letzten Kampf! Mein Kleiner weiß das. Du hast doch gesehen wie er leidet, jeden Tag seines Lebens! Er weiß auch, daß er seinen kranken, schwachen Körper niemals besiegen wird! Aber trotzdem hat er nie aufgegeben wie du! Er kämpft den letzten Kampf, immer und immer wieder! Und weißt du was, manchmal gewinnt er! Es hat immer einen Zweck, zu kämpfen! Aufgeben tun nur die Feiglinge, die Angst vor dem haben was sie erwartet, wenn sie ihre Waffen ziehen. Ich weiß nicht wie oft ich den Kleinen aufgehoben habe, halb ohnmächtig vor Schmerzen und Erschöpfung und mit Blut auf den Lippen. Aber er gibt niemals auf, auch wenn es ihn fast umbringt! Deshalb, hör auf zu jammern und sterben zu wollen und steh deinem Mann!"
Araghast biss sich auf die Lippen. So hatte es noch niemand gewagt, mit ihm zu reden. Wut begann in ihm zu kochen. Woher sollte dieser Nachwuchsheld schon wissen, wie es in ihm aussah und was er in den letzten Monaten durchgemacht hatte, um dem B-Wort und dem Vampirismus endgültig zu entsagen? Er konnte nichts daran ändern, was er nun einmal war.
Doch tief in seinem Inneren, unter all den dicken Schichten aus Trotz, Stolz, Überheblichkeit, Selbstmitleid und Unnahbarkeit, unter denen er seine Gefühle versteckte, musste er zugeben, daß Kamerun recht hatte. Auch Raistan konnte nichts daran ändern was er nun einmal war. Das hagere, von der schweren Krankheit gezeichnete Gesicht des jungen Zauberers schob sich vor Araghasts Auge. Er hatte nicht davor zurückgeschreckt, den Feldwebel in die Assassinengilde zu begleiten, wohl wissend, daß es ihm nur fürchterliche Qualen bringen würde. Ihm verdankte Araghast sein Leben das er gerade bereit gewesen war, einfach aufzugeben.
Und plötzlich wusste er, wer sein stärkster Gegner war. Es handelte sich nicht um seinen inneren Vampir, dem er in den letzten Monaten die Schuld für alles zugeschoben hatte, was in seinem Leben schief gelaufen war. Die unüberwindbar erscheinenden Gegner Araghast Breguyars waren sein eigener Hochmut und sein eigener Stolz. Er brachte es einfach nicht fertig, jemanden um Hilfe zu bitten. Nicht dem Monster in ihm galt seine Furcht. Sie galt dem Zeigen von Schwäche im Angesicht anderer. Wer kümmerte sich um den Püschologen? Er war zu stolz und arrogant gewesen, den anderen zu zeigen, daß auch er, die Perfektion in Person, der Inbegriff des harten Auftretens, der Feldwebel Gnadenlos, Der Abteilungsleiter des Grauens, einmal Hilfe brauchte. Stattdessen hatte er ihnen Briefbeschwerer um die Ohren geworfen, sie grundlos angebrüllt und sich in den Augen seiner Kollegen wie ein völliger Idiot benommen. Kein Wunder, daß sie ihn mit seinen Theorien im Fischimbiss-Fall nicht ernst genommen hatten.
Araghast ballte die Hände zu Fäusten. Sein Kampfgeist kehrte zurück. Es gab einige Personen bei denen er Abbitte leisten musste wenn dieser ganze Blödsinn endlich vorbei war, angefangen bei Kanndra Mambosamba, Raistan Quetschkorn und Nyvania. Und das tat er am Besten indem er zusah, daß er diese Eddie-Wollas-Gedächtnis-Todesfalle irgendwie überlebte und die verantwortlichen Personen, von Lord Farrux bis zu diesem mysteriösen Philipp Howards Kraftlieb, kräftig dorthin trat wo die Sonne nicht schien, wobei er nicht den Ort in Lancre meinte.
Er atmete tief durch und bereitete sich mental auf einen der schwersten Schritte seines Lebens vor.
"Es... tut mir leid." sagte er zu Kamerun, der ihn immer noch herausfordernd anblickte. "Mir gehen einfach langsam die Nerven auf Grundeis. Ich habe diesen ganzen Mist einfach sowas von satt. Und außerdem habe ich vergessen, daß es da draußen immer noch einige Individuen gibt, denen ich dringend eins reinwürgen muss. Also, versuchen wir, uns etwas einfallen zu lassen."
"Und wie!" stimmte der Krieger ihm zu. "Wenn ich diesen Farrux in die Finger kriege dann sollte er sich wünschen, nie geboren worden zu sein!"
Das war eigentlich mein Spruch, dachte Araghast.

Mörder vor niemandens Gnaden


Das Donnern der Stiefel der Palastwächter verhallte in der Ferne. Vorsichtig spähte Raistan durch den schmalen Schlitz zwischen den Vorhängen, während er seinen Stab zum Zuschlagen erhoben hielt.
"Die Luft ist rein." kam Kanndras Stimme flüsternd hinter der großen Topfpflanze hervor und wenig später erschien die Voodoo-Hexe auf dem Gang, mehrere Blätter in ihren Locken und die Hand am Dolchgriff.
Raistan kletterte von der Fensterbank und zupfte den Vorhang zurecht.
"Rechts." sagte er müde. "Von links sind wir gekommen."
Während sie vorsichtig den Gang entlangschlichen, von dem keiner der beiden wusste wo er sie hinführte, grübelte der junge Zauberer über die Halluzination nach, die ihn während seiner Beinahe-Ohnmacht auf der Empore des Großen Saales heimgesucht hatte. Die Silhouette war Kraftliebs gewesen, daran bestand kein Zweifel. Unter anderen Umständen hätte Raistan die Erscheinung als ein Produkt seiner überreizten Phantasie abgetan, doch zur Zeit gehorchte das menschliche Unterbewusstsein anderen Meistern. Der Traum aus dem ihn sein Bruder so unsanft geweckt hatte fiel ihm wieder ein. Mit diesem hatte ihm jemand, vielleicht ebenfalls Kraftlieb, versucht zu erklären, wie Havelock Vetinari zu Godric Adana geworden war. Neun Skelette auf einem staubbedeckten Kavernenboden in einer anderen Wirklichkeit. Acht Kultisten und... der alte Hexer von Ankh.
Schlagartig war Raistan klargeworden, weshalb der Hexer scheinbar ewig lebte. Philipp Howards Kraftlieb musste sein abartiges Spiel schon seit vielen Jahrhunderten betreiben. Zu gegebener Zeit sorgte er dafür, daß eine passende Person am richtigen Ort auftauchte, löschte ihre Erinnerungen und gab sich anschließend als ihr Retter und Mentor aus. Niemandem war es offenbar aufgefallen, daß es immer unterschiedliche Männer gewesen waren, die das Mal der URALTEN RIESEN und den Stockdegen trugen. Die Leute hatten immer nur den Hexer von Ankh gesehen und niemals die Person betrachtet die dahintersteckte. Doch vor einem Vierteljahrhundert war in den Katakomben unter Herrn Hongs Imbiss etwas fürchterlich schiefgelaufen. Die Person die den Platz des Hexers einnehmen sollte war nicht erschienen und eine kontinuierliche Linie abrupt unterbrochen worden.
In dieser Welt jedoch war Havelock Vetinari im unterirdischen Tempel des Thagon erschienen, mit dem Ergebnis, daß ein widerlicher Fettsack die Stadt regierte. An einem bestimmten Punkt hatten sich die Hosen der Zeit gegabelt und seitdem existierten zwei Wirklichkeiten...
"He!" zischte Kanndra ihm ins Ohr. "Tagträumen kannst du wenn wir hier lebendig wieder draußen sind!"
Raistan nickte nur und rieb sich die vom mittlerweile allgegenwärtigen Rauch brennenden Augen. Er bekam nur mühsam Luft. Mittlerweile bereute er aus ganzem Herzen, auf diese Expedition mitgekommen zu sein. Und ganz besonders bereute er es, am Tag von Kaboltzmanns unglückseliger Expedition überhaupt aufgestanden zu sein.
Vor den beiden Flüchtenden erstreckte sich eine prunkvoll eingerichtete Halle, deren Decke von blattgoldverzierten Säulen gestützt wurde. Eine breite Treppe führte zu ihrer Rechten aufwärts und ihr oberes Ende verlor sich in dichten Rauchschwaden. In diesem Moment begann der Boden unter ihren Füßen zu zittern und ein dumpfes Grollen dröhnte durch das Gebäude. Vereinzelte Putzfladen fielen von der Decke.
Kanndra räusperte sich.
"Siehst du die große Doppeltür am anderen Ende?"
Mit tränenden Augen versuchte Raistan, die Distanz abzuschätzen. Seinem von Schwindel übermannten Verstand erschien das Portal meilenweit entfernt. Eine laut kreischende blonde Frau rannte die Treppe herab. Aus der Schleppe ihres Abendkleides schlugen Flammen. [5]
Kanndras Finger umschlossen seinen Arm.
"Jetzt!" rief sie und rannte los, ihren Begleiter hinter sich herziehend.
Die folgenden Sekunden nahm Raistan wie durch eine Schicht dicker Watte wahr. Undeutlich registrierte er, wie sie durch die rauchgefüllte Halle hetzten und der Qualm ihm das Gefühl vermittelte, daß seine Atemwege von innen heraus verbrannten. Die schwere Tür schien von ganz allein aufzuschwingen und dann schlug ihm der eiskalte Regen ins Gesicht und rauchfreie Luft füllte seine Lungen. Dann stolperte er über irgend etwas und stürzte, während einer seiner Hustenanfälle mit aller Macht zuschlug.
Nach einer Weile ließen die schlimmsten Schmerzen nach und Raistan kämpfte sich auf Hände und Knie hoch. Regenwasser lief ihm in einem eiskalten Rinnsal den Nacken herunter. Der junge Zauberer blinzelte sich die Tränen aus den Augen. Unwirkliches, flackerndes Licht erhellte den Breiten Weg und der Erdboden zitterte in unregelmäßigen Abständen. Vereinzelt schrie jemand auf.
Mit zitternden Fingern tastete Raistan nach seinem Taschentuch und tupfte sich die Lippen ab. Auszusehen wie ein Vampir kurz nach dem Abendessen kam zur Zeit einem sofortigen Todesurteil gleich. Während er das blutbefleckte Stück Stoff in seinen Ärmel zurückschob bemerkte er das menschenförmige Bündel zu seinen Füßen. Berggießhübels Stab lag halb unter dem reglosen Körper begraben.
"Kanndra?" krächzte Raistan und krabbelte auf die liegende Gestalt zu.
Das aus den Fenstern des Palastes schlagende Feuer warf ein unheimliches Schattenspiel auf das stille, regennasse Gesicht der Voodoo-Hexe. Lodernde Flammen spiegelten sich in ihren weit aufgerissenen Augen wieder und dem jungen Zauberer war für einen Moment, als blicke er durch ein Fenster direkt in den Abgrund des Pandämoniums. Selbst ohne den aus ihrer Brust ragenden gefiederten Bolzenschaft hätte er sofort sagen können, daß Kanndra Mambosamba nicht mehr unter den Lebenden weilte.
"Schade um sie, nicht wahr?"
Die Stimme schien aus dem Nichts zu kommen. Erschrocken sah Raistan auf und blickte direkt auf die Bolzenspitze einer auf ihn gerichteten Armbrust.
"Ich hätte sie ja gern behalten, aber leider war sie mir im Wege. Und nun steh auf, kleiner Zauberer. Ich hasse es, jemanden zu inhumieren, der vor mir auf dem Boden kniet."
"Wie... wieviel?" brachte Raistan hervor. Es war aussichtslos. Die schwarze Kleidung der Person die die Waffe hielt wies mit aller Deutlichkeit darauf hin, daß es sich bei dem Fremden um ein ordiniertes Mitglied der Assassinengilde handelte. Sobald er auch nur die Hand hob um einen Zauber auszuführen war er ein toter Mann. Er glaubte zu bemerken, wie sich der Mund des Meuchlers unter der schwarzen Stoffmaske zu einem Lächeln verzog.
"Falls es dich erfreut, kleiner Zauberer, ich bekomme von Doktor Kreuz fünfzehntausend Dollar für dich und den Wächter mit der Augenklappe, und zusätzlich die allgemeine Gefahrenzulage für die Inhumierung eines Zauberers von dreitausend Dollar. Also stirb in dem Bewusstsein, daß dein Leben nicht billig gewesen ist."
Am liebsten hätte Raistan etwas Schnippisches geantwortet, doch seine Kehle war ihm wie zugeschnürt. Nur mit Mühe unterdrückte er einen weiteren Anfall. Tausende metaphorischer Nadeln bohrten sich in seine Lungen und er krümmte sich zusammen, eine Hand auf die Brust gepresst.
"Memme." sagte der Assassine mit einer Stimme weich wie Seide und doch gleichzeitig scharf wie eine Messerschneide. "Könnt ihr kleidertragenden Eunuchen nicht einmal sterben wie ein Mann?"
"Erschieß mich doch!" keuchte Raistan erstickt. "Davon wirst du auch nicht länger leben. Die Dinge aus den Kerkerdimensionen kriegen dich so oder so!"
"Versuch nicht, mir zu drohen, kleiner Zauberer." Der Finger der am Abzug lag krümmte sich unendlich langsam. "Alfons Messerkuss fürchtet sich nicht vor leeren Prophezeiungen. Also sag der Scheibenwelt auf Nimmerwiedersehen."
Das Geräusch war nicht mehr als ein sanftes Zischen, gefolgt von einem kurzen, scharfen Einatmen. Polternd fiel die Armbrust zu Boden. Die Augen hinter den Sehschlitzen der Maske weiteten sich in ungläubigem Erstaunen. Und schließlich, Zentimeter für Zentimeter, rutschte der Oberkörper des Assassinen vom Rumpf. Platschend fielen die beiden Hälften des Meuchlers auf das regennasse Straßenpflaster und Blut und Eingeweide quollen aus dem durchteilten Körper hervor. Ein großes, dunkles Organ zuckte in unregelmäßigen Abständen, als wolle es sich krampfhaft gegen den Tod wehren.
Raistan konnte nur noch auf das blutige Chaos vor sich starren. Er wagte es nicht, aufzusehen, um herauszufinden, was ihn auf derart brutale Weise vor dem sicheren Tod gerettet hatte. Insgeheim erwartete er, daß ihn jeden Moment ein schleimiger Tentakel packte...
Ein sehr menschlich aussehender, in einen schwarzen Lederstiefel gehüllter Fuß trat beinahe lässig eine in der Mitte durchtrennte Darmschlinge beiseite.
"Du hast einen guten Magen, Kleiner. Ich habe schon viele Personen erlebt, die sich bei dem Anblick spontan übergeben haben."
"Ich bin ein Landkind." murmelte Raistan reflexartig und hob vorsichtig den Kopf.
Der kahlgeschorene Schädel seines Retters glänzte im Feuerschein und bildete einen unheimlichen Kontrast zu dem Paar kohlschwarzer Augen, welches den jungen Zauberer prüfend musterte. Eine schlangenförmige Narbe zog sich über die Stirn des Fremden, um hinter dem rechten Ohr zu verschwinden. Blut tropfte von dem langen achatenen Schwert, das der Mann beinahe lässig in der linken Hand hielt.
"Wer sind Sie?" fragte der junge Zauberer flüsternd. "Warum haben Sie mich gerettet?"
Der Fremde hob die Augenbrauen.
"Ich bin der Mörder vor niemandens Gnaden." sagte er mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen. "Und zufälligerweise schuldete ich dem Hexer von Ankh noch einen Gefallen." Lässig wischte er die Klinge seines Schwertes an den Hosenbeinen des zerteilten Assassinen ab und schob die Waffe in eine Scheide auf seinen Rücken.
"Aber woher wissen Sie..."
"Ich hatte am Nachmittag ein kleines Gespräch mit dem Herrn Edward Wollas. Beziehungsweise mit der Dame, die sich bisher als der gute Edward ausgegeben hat. Es scheint, als sei der Hexer von Ankh dieses Mal wirklich in ernsten Schwierigkeiten."
"Und ob." murmelte Raistan. "Er hat es nicht geschafft, das Portal zu schließen." Mühsam zog er seinen Zauberstab unter der Leiche Kanndra Mambosambas hervor. Wieder hatte sich ein Puzzleteil in das Gesamtbild eingefügt. Er brauchte dringend Ruhe und Zeit zum Nachdenken. "Er ist im Palast. Zusammen mit meinem Bruder."
Der Fremde nickte nur ernst.
"Ich werde sehen, was ich tun kann." sagte er. "Niemand soll Schannon nachsagen, er löse seine Versprechen nicht ein."
Und schneller als Raistans erschöpfte Sinne es auch nur wahrnehmen konnten war der seltsame Mörder des Assassinen von den Schatten die der brennende Palast warf verschluckt worden.

Das Licht am Ende des Tunnels...


Das Wasser war eisig. Gluckernd umspülte es Araghasts Schultern und der Feldwebel presste die Zähne aufeinander damit sie nicht laut klapperten. Nur noch wenige Zentimeter und er verlor den Boden unter den Füßen. Wütend trat er gegen die eisenverstärkte Tür, die davon jedoch völlig unbeeindruckt blieb.
"Das Pandämonium soll dich holen, Ephraim Farrux!" fluchte er und für einen Moment erschien ihm das Sterben wieder allzu verlockend. Er knurrte leise. Irgendwie musste er es schaffen, wütend zu bleiben. Denn wenn er stinksauer war, dachte er nicht mehr daran, all seine Probleme durch Ertrinken loszuwerden. Glaub an das Gesetz der Geschichte, Bregs! beschwor er sich selbst. Dies ist eine klassische Eddie Wollas-Todesfalle! Also gibt es auch irgendwo eine Möglichkeit, hier lebendig wieder rauszukommen!
"Schon was gefunden?" fragte Kamerun Quetschkorn.
"Nichts." gab Araghast zurück und stellte sich auf die Zehenspitzen. "Keine lockeren Steine, geheimen Knöpfe oder Türangeln die zum versteckten Hebel werden." Immer noch lief das Wasser unermüdlich die Wand herunter. Bald würde sich zeigen, wer von ihnen beim Schwimmen die längere Ausdauer besaß.
"Ich muss hier raus!" tobte der Nachwuchsheld. "Was ist wenn ich den Kleinen nie mehr wiedersehe? Das darf nicht sein Er braucht meine Hilfe da draußen!"
Vieles passiert hier, was nicht sein darf, dachte Araghast im Stillen. Wenn du wüsstest, wie hinterhältig einem das Leben manchmal in den Arsch treten kann... Und selbst wenn es sich hier um eine klassische Eddie Wollas-Todesfalle handelt - Wird die letzte Sekunde in der normalerweise die Rettung stattfindet vor oder nach dem Zeitpunkt liegen in dem die Ungeheuer aus den Kerkerdimensionen entgültig in diese Wirklichkeit durchbrechen? Alle paar Sekunden wackeln die Wände wieder. Wenn das ein gutes Zeichen ist fresse ich meinen Webel.
Doch er hütete sich, Kamerun mit seinem Fatalismus noch weiter zu verunsichern. Er brauchte den unerschütterlichen Glauben an Rechtschaffenheit und Heldenmut den der junge Kämpfer an den Tag legte. Wenn nur genügend Leute an etwas glaubten, dann funktionierte es auch. Zumindest in den meisten Fällen...
"Wenn wir lange genug schwimmen, dann können wir vielleicht durch die Wasserklappe da oben entkommen." schlug Kamerun vor. "In einem Cohen-Heft ist der Held mal durch einen solchen Gang dem Krokodilbecken des Pharaohs von Djelibeby entkommen."
"Vielleicht." antwortete Araghast diplomatisch und fragte lieber nicht nach, was Cohen vorher mit den Krokodilen angestellt hatte. Er glaubte, zumindest das grobe püschologische Profil Ephraim Farrux' zu kennen. Ein Mann wie dieser ließ garantiert keine bequemen Kletterhaken in den Wasserschacht einer Todeszelle einbauen. Araghasts Zehenspitzen verloren den Boden und er begann, im Kreis zu schwimmen. Derweil stand Kamerun das Wasser bis zu den Schultern. Auch wenn er weder in der Lage war, eine Armbrust auch nur halbwegs zielgenau abzufeuern, noch aus dem Stehgreif eine betäubende Gift- und Gasmischung zusammenzurühren, wenn es ums Schwimmen ging machte Araghast so schnell keiner etwas vor. Mehr als ein Jahrzehnt auf den Meeren der Scheibenwelt hatten ihn gründlich gelehrt, wie man sich in allen erdenklichen Situationen möglichst lange über Wasser hielt.
Ein knirschendes Geräusch unterbrach seine Gedanken an meilenweite Schwimmausflüge in verborgene Grotten warmer, randwärtiger Inseln.
"Wir werden gerettet!" rief Kamerun aus. "Das Wasserloch geht zu!"
Araghast blickte nach oben. Ein verborgener Mechanismus schob einen Steinblock vor die Öffnung durch die das Wasser unaufhaltsam in die Zelle geströmt war. Gleichzeitig setzte eine Strömung ein die den schwimmenden Feldwebel unaufhaltsam in die Mitte des Raumes zog.
Während er noch gegen den plötzlichen Sog ankämpfte spürte er plötzlich wieder Boden unter seinen Füßen. Gurgelnd bildete sich ein Strudel in den dunklen Fluten und der Wasserspiegel sank. Während Kamerun einen Jubelschrei ausstieß mochte Araghast nicht recht an eine Rettung glauben. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, daß einer der anderen tatsächlich herausgefunden hatte, wohin sie verschleppt worden waren? Wieder bebten die Wände und ein Stein löste sich aus der Decke. Wasser spritzte durch die gesamte Zelle, als der massive Quader aufschlug. Araghast drückte sich flach an die Wand. Wenn es wirklich einen Gott der Wächter gab...
Mit einem saugenden Geräusch verschwand der letzte Rest des eisigen Nasses im Ausguss. Gleich darauf verkündete metallisches Klappern, daß sich jemand an der Tür zu schaffen machte.
"Kleiner?" rief Kamerun. "Fräulein Walerius? Seid ihr das?"
Knarrend schwang das massive Portal auf und schlagartig bahnte sich ein altes Sprichwort seinen Weg in Araghasts Bewusstsein. Das Licht am Ende des engen Tunnels ist nur die Laterne der heranrasenden Kutsche, welche dich in wenigen Sekunden zermalmen wird
Im tropfenden Türrahmen, die schwarze Uniform in korrekter Ordnung und das Kinn von einem dunklen Bluterguss entstellt, stand Hauptmann Johann Zupfgut. Die Augen brannten gleich einer Flamme des Hasses in dem vor Wut verzerrten Gesicht. Einen halben Schritt hinter dem IA-Agenten hielt Dennis Schmied eine geladene Armbrust in den Händen.
"Zupfgut." sagte Araghast nur und straffte seine Schultern. Er wusste, daß er unbewaffnet, mit blaugefrorenen Lippen und triefenden Kleidern eine geradezu lächerliche Figur abgab. Doch so einfach würde er sich diesem Schwein nicht geschlagen geben.
"Ja, ganz recht, Breguyar." Zupfguts Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Lächeln. "Seine Exzellenz Lord Farrux war so unfassbar freundlich, mich zu benachrichtigen, daß er dich in seinem Kerker sitzen hat."
"Wirklich sehr nett von ihm." gab Araghast zurück. "Und, was hast du nun vor? Wenn du mich erledigen willst, dann tu es doch einfach. Ach ja, und wenn du schon dabei bist, dann schreib noch in die Akte, daß ich das letzte halbe Jahr über im Dienst kein einziges verdammtes Mal nüchtern geblieben bin!" Er verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. Zupfgut gehörte zu jenen Menschen die sich gern ausgiebig am Anblick ihrer Opfer ergötzten. Und je interessanter Araghast diesen Akt gestaltete, desto länger würden er und Kamerun am Leben bleiben. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie sich der junge Held Schritt für Schritt aus dem Blickfeld der beiden Wächter schob. Jetzt kam es darauf an, Zeit zu gewinnen. Er musste dafür sorgen, daß Zupfgut weiterredete.
"Ich weiß, daß du ein armseliger versoffener Niemand bist." antwortete Zupfgut. "Und als Niemand wirst du nun auch sterben."
"Und trotzdem hat es dir der Niemand ganz schön gegeben. Auch wenn du mich gleich töten wirst, Zupfgut, du wirst doch nie Ruhe vor mir haben. Nachts in deinen Träumen werde ich zu dir kommen und du wirst den schmerzhaften Stich meiner Zähne an deiner Halsschlagader spüren. Ja, ich habe dich reingelegt, Zupfgut. Ich habe euch alle reingelegt. All die langen Jahre hat keiner von euch auch nur die leiseste Ahnung gehabt, daß sich der Sohn eines Monsters mitten unter euch befindet."
Araghast ließ seine Zähne blitzen. Wenn es so etwas gegeben hätte, hätte man ihm vermutlich für diese Rede die goldene Eddie Wollas-Medaille des Schwachsinns überreicht. Pathetische, dramatische Worte waren eine der Grundfesten der püschologischen Kriegsführung. Doch Zupfgut beging den klassischen Fehler beinahe jedes anständigen Heftroman-Bösewichtes. Er hörte zu.
"Siehst du, ich habe dir doch gesagt, daß er ein verkleideter Vampir ist, Sör!" kreischte Dennis Schmied in einem Anfall plötzlicher Nervosität. Seine Hände zitterten nicht nur von dem neuerlichen Erdbeben, das die Palastmauern zum Zittern brachte. "Aber du wolltest mir nicht glauben!"
"Gib mir die Waffe!" herrschte Zupfgut den Verkehrsexperten an und riss ihm unsanft die Armbrust aus den Händen. "Besorg mir einen Pflock, eine Zitrone und einen Hammer! Und mach schnell, bevor auch noch die Küche und die Vorratskammer abgebrannt sind!"
"Ja, Sör!" Dennis Schmied salutierte eilig und machte auf dem Absatz kehrt.
Er kam nie dazu, Araghasts Blickfeld zu verlassen. Ein plötzlicher Ruck ging durch den muskulösen Körper des Verkehrsexperten und er erstarrte mitten in der Bewegung. Langsam, wie in Zeitlupe, kippte er nach hinten, streifte Zupfguts Arm und stürzte die Stufen zum Zellenboden herab. Der IA-Agent zuckte zusammen und zog den Abzug der Armbrust durch.
Reflexartig ließ sich Araghast zu Boden fallen und verspürte ein schmerzhaftes Brennen auf seiner linken Schulter. Er landete auf Händen und Knien in einer Pfütze und rollte sich zur Seite. Wieder stach ihn etwas schmerzhaft in die Schulter. Mit einem gewandten Sprung kam er wieder auf die Füße und sah auf.
Dennis Schmied lag bewegungslos auf dem Rücken, die Augen starr gen Decke gerichtet. Ein gefiederter Armbrustbolzen steckte tief in seiner Kehle. In der Zellentür rang Johann Zupfgut mit einer schattenhaften, massigen Gestalt. Der Angreifer keuchte hingebungsvoll und prügelte wie von Sinnen auf den Agenten ein.
"Alles in Ordnung, Feldwebel?" Kamerun Quetschkorn kam auf Araghast zugelaufen. "Bist du schwer verletzt?"
Araghast schauderte vor Kälte und sah auf seine linke Schulter. Zupfguts Bolzen hatte sich durch seinen durchnässten Mantel gebohrt und der graue Stoff hatte begonnen, sich rot zu färben.
"Storka!" fluchte der Feldwebel auf Überwaldianisch und packte das Ende des Bolzens. Entschlossen brach er es ab und nickte Kamerun zu.
"Zieh den Rest raus!" befahl er mit zusammengebissenen Zähnen. "Scheint nur ein Kratzer zu sein!"
Als der junge Held die Bolzenspitze umfasste, spürte Araghast schmerzhaft, wie die Hände des Nachwuchshelden vor Kälte zitterten.
"Mach schon!" fauchte er. "Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!"
Und als ein brennender Schmerz durch seine getroffene Schulter raste und der Feldwebel scharf einatmete wandte sich das Gesicht des Fremden, der auf Leben und Tod mit Johann Zupfgut kämpfte ihm zu. Schaum stand vor Kommandeur Rinces Mund und in seinen Augen brannte die gleiche helle Flamme des Wahnsinns, die auch in den Augen des verrückt gewordenen Fischers geleuchtet hatte. Blut strömte von der Klinge des langen Dolches in der Hand des Oberbefehlshabers der Wache und immer wieder bohrte sich die Klinge in Johann Zupfguts Körper. Doch der Agent wehrte sich verzweifelt und krallte seine Finger in Rinces Kehle.
Und wieder haben die URALTEN RIESEN zwei Opfer gefunden, ging Araghast durch den Kopf als er seinen Blick widerwillig von der blutigen Rangelei losriss und den Mantel von seiner verletzten Schulter zog. Sein triefendes Hemd war zerrissen und eine breite Wunde zog sich quer über seine Schulter. Der Feldwebel knurrte leise und rückte seinen Mantel zurecht. Es tat zwar höllisch weh, aber er würde nicht dran sterben.
"Komm." sagte er zu Kamerun, dessen Angebot, die Wunde zu verbinden, ignorierend. "Lass uns sehen, daß wir unsere Waffen wiederfinden und dann die Mücke machen."
Zupfgut und Rince wälzten sich auf dem Boden, während ihr Blut sie überströmte und sich auf den feuchten Pflastersteinen vermischte. Fleischfetzen hingen von der Kehle des Kommandeurs, der dennoch weiterhin unverdrossen auf den Agenten einstach.
"Danke, Sir." sagte Araghast nur, als die beiden Flüchtlinge an den Kämpfenden vorbeihasteten und aus der Zelle schlüpften, die beinahe ihr Ende gewesen wäre. Ein weiteres Erdbeben erschütterte die Grundfesten des Palastes.
Sie fanden ihre Waffen in einem Schrank in der Nähe der Zellentür. Der Griff des Entermessers fühlte sich warm unter Araghasts steifgefrorener Hand an. Eine plötzliche Ruhe durchströmte den Feldwebel. Es tat verdammt gut, seine Finger um etwas zu schließen, mit dem man ordentlich zuschlagen konnte. Er war müde, nass bis auf die Haut und verletzt. Das mentale Gefängnis seines inneren Vampirs begann langsam aber sicher, die ersten Risse zu bekommen. Und doch fühlte er für einen Moment ein beinahe verzweifeltes Lachen in seiner Kehle aufsteigen, als die Absurdität der ganzen Situation ihn mit voller Wucht traf. Die alles war nicht anders als einer der Hexer-Romane von Eddie Wollas, nur daß er selbst dieses Mal die Hauptfigur war. Es war sein Buch gewesen, das ihn in diese andere Wirklichkeit gebracht hatte. Die Gegenstücke der anderen unfreiwilligen Realitätsreisenden waren alle auf den einen oder anderen Weg in dieser Wirklichkeit ums Leben gekommen, sein Ebenbild jedoch nicht. Er hatte es einfach ersetzt, als hätte es niemals existiert. Von Anfang an hatte er recht gehabt. Hier lief eine gigantische Verschwörung gegen ihn ab.
Und auf die Frage nach dem Warum würde er auch noch eine Antwort finden, selbst wenn er Philipp Howards Kraftlieb dazu in handliche Scheibchen schneiden musste.
Kamerun klopfte ihn auf die unverletzte Schulter.
"Sollten wir nicht langsam mal los?" fragte er. Seine Zähne schlugen klappernd aufeinander
Araghast nickte.
"Ich musste mich nur eben in die richtige Stimmung bringen." antwortete er düster und strich sich mit der freien Hand das nasse Haar aus der Stirn.
"Stimmung? Welche Stimmung?" erkundigte sich der junge Held, als sie die breite Wendeltreppe erklommen, die zu den Verließen führte.
"Das willst du gar nicht wissen." sagte Araghast nur und stieg weiter aufwärts, während die Wände wieder einmal wackelten. Mörtel und Staub rieselten auf die beiden Flüchtlinge herab und insgeheim fragte sich der Feldwebel, wie lange die jahrhundertealten Mauern des Patrizierpalastes den Erschütterungen noch standzuhalten vermochten. Zu dem dumpfen Grollen der Erdbeben hatte sich ein weiteres Geräusch gesellt. Eine zischende, unmenschlich eiskalt klingende Stimme wisperte gerade an der Grenze des Hörbaren immer wieder den einen Satz, den Araghast Breguyar nur zu gut von den Seiten seines Lieblingsbuches kannte.
"Ph'nglui mglw'nafh Cthulhupalhulhu Leshp wgah'nagl fhtagn!!!!!"

In Nomine Monstrositas


Die Erdbeben nahmen kein Ende.
Ein Autor schwülstiger Schnulzenromane hätte die Gelegenheit jetzt vermutlich genutzt, um sich in aller Gründlichkeit über den Boden erschütternde Leidenschaft auszulassen, ging Edwina durch den Kopf, während sie mit dem Finger Oberlippen- und Kinnbart des Hexers nachzog. Auch Adanas eisfarbene Augen wanderten zu den Haken über dem Herd, an denen Küchengeräte aller Formen und Größen hingen. Das leise Geräusch aneinanderklirrenden Metalls schwebte im Raum.
Edwina seufzte leise und legte ihren Kopf an die Brust des Hexers. Sein regelmäßiger, schneller Herzschlag drang an ihr Ohr und sie lächelte. Doch schon bald würde dieses Herz zu schlagen aufhören, diese Tatsache war so unumstößlich wie die Existenz der vier Elefanten auf deren Rücken die Welt ruhte. Das ist dein Fluch, Lady Walerius. Jeder der dich geliebt hat, egal auf welche Weise, ist eines grausamen Todes gestorben. Aus diesem Grund hatte die von Haus her zum Ernstnehmen von Aberglauben erzogene Edwina es immer vermieden, eine engere Bindung mit jemandem einzugehen. Gewiss, sie hatte mehrere Liebhaber gehabt, einer davon ein verheirateter Mann, was ihr eine Anklage wegen unlizenzierter Näherei eingebracht hatte. Mit rollendem r und geheimnisvollem Gebaren hatte sie so manchen Mann um den kleinen Finger gewickelt, meistens dann wenn er etwas besaß, was sie haben wollte. Ihr Ruf war in den feineren Kreisen der Stadt nicht der Beste und sie wusste nur zu gut, daß sich feine Damenkränzchen hinter ihrem Rücken die dezent geschminkten Plappermäulchen über sie zerrissen. Aber sie war eine Walerius. Und wenn es je einen Walerius gekümmert hätte was andere über ihn dachten, hätte sich ihre Familie schon vor hunderten von Jahren selbst beerdigen können.
Und nun hatte sie sich allen guten Vorsätzen zum Trotz ein einen Mann verliebt von dem sie wusste, daß er in Kürze sterben würde und zu allem Überfluss mit ihm auch noch das getan hatte, was man in einem anständigen Gruselroman tunlichst sein lassen sollte wenn man am Leben bleiben wollte.
Godrics Finger kitzelten sie im Nacken.
"Du solltest sehen, daß du fortkommst, Eddie." sagte er leise. "Bald wird es losgehen."
Sie reckte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf das bärtige Kinn.
"Warrum ich?" fragte sie. "Du bist hierr genauso in Gefahrr. Und zu Näharrbeiten gehörren immerr zwei."
"Weil es hier passieren wird." Ruckartig löste er sich von ihr. "Es ist mir nicht bestimmt, den Palast lebend zu verlassen. Das wurde mir in dem Augenblick als der Stockdegen unter meinen Fingern zu Staub zerfiel unwiderruflich klar."
"Verrdammt!" fluchte Edwina und strich sich das wirre Haar aus dem Gesicht. "Warrum muss bloß immerr alles so enden?"
Wie zur Bekräftigung ihrer verbitterten Worte erschütterte ein Erdstoß der alles bisher dagewesene übertraf das Gebäude. Mörtelbrocken fielen von der Decke und das Geschirr in den Schränken schepperte, als es von der schieren Wucht des Bebens in Stücke geschlagen wurde. Eine Lawine aus Töpfen, Pfannen und anderen Kochgeräten ging unter ohrenbetäubendem Lärm zu Boden. Zitternd blieb sich ein von seinem Haken gefallenes Fleischerbeil gleich einer unterschwelligen Drohung nur wenige Zentimeter neben Edwinas Stiefelspitze in den hölzernen Bodenbrettern stecken.
Und mitten in all dem Lärm und Chaos schlug die Grausige Stille urplötzlich zu. Edwina war, als hielte die ganze Welt den Atem an und eine lähmende Welle der Furcht schwappte über sie hinweg. Fragend sah sie zum Hexer auf und sein kreidebleiches Gesicht mit den eisigen, weit aufgerissenen Augen sagte ihr mehr als Tausend Worte.
Und dann warf Godric Adana den Kopf in den Nacken und schrie Worte in einer Sprache, von der die Überwaldianerin kein Wort verstand, die ihr aber dennoch so vertraut war wie ihre Muttersprache. Eisige Kälte kroch ihr den Rücken hinunter und breitete sich in ihren Gliedern aus. Etwas befand sich dort, am Rande ihres Bewusstseins. Etwas so altes und abgrundtief Böses, dessen volle Macht kein lebendes Wesen verkraften konnte.
Erschöpft sackte der Hexer in sich zusammen und Edwina ergriff seinen Arm. Er zog sie an sich und küsste sie.
"Er ist hier, Eddie." wisperte er ihr ins Ohr als sich ihre Lippen voneinander gelöst hatten. "Bei allem was dir heilig ist, lauf um dein Leben! Rette wenigstens dich selbst! Das hier ist kein Vampir sondern ein Gegner der für uns alle zu groß ist!"
Edwina biss die Zähne zusammen. Wie sehr sie es hasste, sich völlig ohnmächtig zu fühlen! Die Hand des Hexers ergriff die ihrige und klemmte ihre Finger um einen kalten, zackigen Gegenstand.
"Nimm das." flüsterte Adana. "Vielleicht kannst du es gebrauchen."
"Ph'nglui mglw'nafh Cthulhupalhulhu Leshp wgah'nagl fhtagn!!!!!"
Das kaum hörbare hypnotische Flüstern schien direkt aus den Wänden zu kommen. Hektisch sah sich Edwina um und spürte erneut den eisigen Griff der nackten Panik. Die Schatten in den Ecken und Nischen der großen Küche erschienen ihr plötzlich viel schwärzer, als wollten sie das Licht des Deckenleuchters ersticken. Gleichzeitig war ihr, als ob mit den Winkeln der Wände etwas nicht stimmte. Sie erschienen ihr mit einem mal auf eine unmögliche Weise verzerrt. Und über allem lag das unmenschliche, grauenerregende Wispern mit seinen Verheißungen von Qual und alles zermalmendem Wahnsinn.
Mit einem Schrei schubste Godric Adana sie von sich fort.
"Lauf!" schrie er sie an. "Er kommt um mich zu holen!"
Wie im Schlaf stolperte Edwina rückwärts. Die Wände bogen sich nach innen.
"Renn!"
Ein armdicker, schleimtriefender Tentakel wand sich schlangengleich aus dem Abfluss in der Mitte des Küchenbodens und umschlang die Knöchel des Hexers.
Stocksteif blieb Edwina stehen. Der tobende Wahnsinn zerrte an ihrem Verstand, doch für sie gab es nur den Mann an den sie gegen ihren Willen ihr Herz verloren hatte. Ein zweiter Tentakel, weitaus dicker als der erste, kam aus der massiven Wand geschossen und packte Godric Adana um die Leibesmitte. Mit nadelspitzen Zähnen bewehrte Mäuler öffneten und schlossen sich und das weiße Hemd des Hexers begann sich rot zu färben.
Da traf sein eisblauer Blick ein letztes Mal den ihren und seine schmerzverzerrte Stimme schien geradewegs in ihrem Kopf zu sprechen.
Verschwinde von hier, Eddie! Tu es für mich!
"Lebewohl, Hexerr." murmelte Edwina beinahe lautlos und floh. Während sie aus der Küchentür hinaus in die flammenerhellte Nacht rannte vermischten sich ihre Tränen mit den Regentropfen die ihren Weg unter die Krempe ihres Hutes gefunden hatten.


Zwischenspiel


"Die Wohnung war leer, Ma'am. Nur ihre Igorina war zu Hause und die hat ausgesagt, daß sie die Lady Walerius nicht zum Mittagessen erwarten sollte. Wo die Lady steckt, weiß sie nicht."
"Ganz ruhig, Nyvania." versuchte Kanndra, die nervöse Gefreite zu beschwichtigen. "Es war ja auch nur ein Versuch. Was aber nichts daran ändert, daß diese Frau in höchstem Maße verdächtig ist. Wusstest du, daß Mindorah sie in der Menge vor Herrn Hongs Imbiss gesehen haben will, wo sie einige Worte mit Bregs gewechselt haben soll?"
Nyvania schüttelte den Kopf.
"Ich habe noch etwas entdeckt." fuhr sie fort. "Die Tür zum Arbeitszimmer stand offen und ich habe mal kurz reingeschaut. An der Wand hing ein Bild von einem dunkelhaarigen Kerl mit weißer, blitzförmiger Haarsträhne. Im Hintergrund schauten zwei Augen aus dem dunklen Himmel Sie waren golden, Ma'am, und hatten sanduhrförmige Pupillen. Es war schrecklich..." Ihre Stimme versagte.
"Der Hexer von Ankh." antwortete Kanndra müde und ihre Finger trommelten auf dem ledernen Einband des Kraftlieb-Romans. Sie hatte das Buch zugeschlagen, weil sie den Anblick der Blutflecken nicht mehr ertragen konnte.
Nachdem die Püschologin ihren Bericht beendet hatte, dankte sie ihr für die Nachforschungen und schickte sie nach Valdimier. Immer wieder dieser verfluchte Hexer. Und die Nachrichten von Kolumbini trugen auch nicht gerade dazu bei, die Laune der stellvertretenden Abteilungsleiterin zu heben. Emanuel Kaboltzmann war tot, der Inhalt seiner Schädelhöhle laut SUSI nicht mehr als eine schleimige schwarze Masse. Das ganze Gehirn weggelutscht, wie Jack Narrator es salopp ausgedrückt haben sollte. Und Philipp Howards Kraftlieb, der gleiche Mann der auch das Buch auf dem Schreibtisch vor ihr geschrieben hatte, war offenbar Urheber eines Werkes über die Katakomben unter dem
Dreimal glücklichen Fischimbiss, welches Emanuel Kaboltzmann vermutlich überhaupt erst dazu verlockt hatte, die unglückselige Expedition durchzuführen. Und nun hatte sich das Ungeheuer aus den Kerkerdimensionen einen neuen Körper gesucht und niemand konnte sagen, welchen. Sicherheitshalber war der Hauptgefreite Patrick Nichts weggesperrt worden, doch erweckte er laut Skilla (als ob man ihrem Urteil trauen könnte, warf eine kleine bissige Stimme in Kanndras Kopf ein) nicht den Anschein, in irgendeiner Form besessen zu sein. Jeder der seit dem Morgen das Wachhaus verlassen hatte konnte der neue Wirt des grausigen Dings sein.
Valdimier trat ein ohne zu klopfen.
"Was gibts?" fragte er nur. In seinem Gesicht standen Anspannung und Besorgnis geschrieben.
"Nichts Gutes." antwortete Kanndra. "Diese Walerius steckt ziemlich tief drin in der Sache, auch wenn ich nicht weiß, wie. Sie sagte ihrer Igorina, daß sie zum Mittag nicht zurück sein würde. Also muss sie etwas geplant haben."
Valdimiers Miene verhärtete sich.
"Wenn sie Bregs auch nur ein Haar krümmt..." Er ließ den Satz unbeendet.
Kanndra seufzte.
"Sie hat laut Nyvania ein großes Porträt des Hexers von Ankh bei sich in der Wohnung hängen. Was auch immer sie von Bregs wollte, ich glaube, es hat etwas damit zu tun. Mal sehen. Sie tauchte am Tatort in der Unheilsstraße auf und sprach kurz mit ihm. Abschließend suchte er sie auf. Igorina behauptete, es sei gestern gewesen und sie sollen ziemlich lange miteinander gesprochen haben."
"Worüber?" schnappte Valdimier.
Kanndra schüttelte den Kopf.
"Igorina ist leider sehr traditionell eingestellt." bemerkte sie mit Bedauern. "Du weißt schon, die Sache mit dem keine Fragen stellen und die Türen nie ölen."
"Ich hätte es wissen müssen. Und dann?"
"Nun ja, die Lady Walerius ging früh am Morgen, wurde von Nyvania und einem Rekruten im Wachhaus gesehen und seitdem nie wieder."
"Und wenn die beiden zusammen Eddie Wollas besuchen gegangen sind?" spekulierte er. "Oder noch besser, diesen Philipp Howards Kraftlieb? Dem würde ich selbst auch ganz gerne mal ein paar Fragen stellen!"
"Wer würde das nicht?"
Kanndra sah aus dem Fenster, gegen das der Regen immer noch mit einem monotonen Trommeln prasselte.
"Wir werden diesen Fall schon kleinkriegen, Val. Bisher haben wir noch jeden Fall irgendwie früher oder später gelöst. Und irgendwie... Ich stelle mir gerade vor, wie Bregs gleich die Bürotür aufreißt, mehr oder weniger betrunken, reingestürmt kommt, irgendwas auf den Tisch knallt und behauptet, den Fall gelöst zu haben. Das wäre etwas, was er tun würde."
"Hoffen wir es." Valdimier klang wenig überzeugt. "Du weißt, wie er sich in letzter Zeit aufgeführt hat. Was, wenn er durch den Entzug nun völlig verrückt geworden ist? Außerdem wissen wir immer noch nicht, was mit Kolumbinis Zeugen passiert ist."
Kanndra schüttelte den Kopf.
"Letztendlich weiß keiner irgendwas." sagte sie und verzog das Gesicht. "Aber sag mal ganz ehrlich, Val. Könnte es nicht sein, daß entgegen aller Wahrscheinlichkeit irgendwo doch ein Hexer von Ankh existiert?"
"Natürlich existiert er irgendwo. Nämlich in diesen dämlichen Romanheften, die Bregs wohl nun endgültig zu Kopf gestiegen sind." Der Vampir zuckte mit den Schultern. "Und die einzige Wahrscheinlichkeit die ich im Moment sehe ist, daß Bregs nach der Geschichte auf jeden Fall zu einem Püschologen geschickt wird. Vielleicht hilft das endlich mal und bringt uns unseren alten Freund zurück!"
"Ich weiß nicht." Kanndra sah aus dem Fenster in den strömenden Regen. "Menschen ändern sich nun einmal im Laufe ihres Lebens und entwickeln sich weiter. Ehrlich gesagt fürchte ich, daß auch ein Püschologe uns den alten Bregs aus unserer GRUND-Zeit nicht wieder zurückbringen kann. Es ist zu viel passiert. Zu viel das sich nicht mehr rückgängig machen lässt." Unbewusst schlossen sich die Finger ihrer linken Hand um ihr Amulett.
"Ich hasse diesen Tag." bemerkte Valdimier. "Warum bin ich heute Morgen eigentlich überhaupt aus dem Sarg gekrochen?"
"Weil die Wächterpflicht rief." antwortete ihm Kanndra. "Und he, wir sind die Freiwilligen Retter Ohne Gnade. Irgendwann kriegen wir jeden, so oder so. Auch
Dinge aus den Kerkerdimensionen."

Zentimeter für Zentimeter öffnete Ewein Krawunkel die Tür seines Zimmers. Seine Knie zitterten wie Pudding und sein Herz raste, als er mit schweißnassen Händen seinen Zauberstab umklammerte wie ein Ertrinkender einen Rettungsring. Das Taschenmesser das er zwecks effektiverer Selbstverteidigung an die Spitze des Stabes gebunden hatte erschien ihm mit einem Mal nicht größer als eine Nadel. Das Ungeheuer würde Hackfleisch aus ihm machen sobald er diesen Raum verlassen hatte. Mittlerweile konnte er kaum noch begreifen wie er es überhaupt fertiggebracht hatte, sein Versteck unter dem Bett zu verlassen. Doch nach all den einsamen, sich wie zäher Sirup dehnenden Stunden in panischer Angst hatte das Verlangen nach getrockneten Froschpillen, die ihm zumindest für eine Weile süsses Vergessen bescheren würden, seine Furcht schließlich übertroffen. Am liebsten hätte sich Ewein mit Vergnügen sein komplettes Gedächtnis löschen lassen. Er wollte sich nicht mehr an das Grauen erinnern, das ihn, seit er den verfluchten Imbiss betreten hatte, in seinen eisigen Klauen gefangen hielt. Und vor allem wollte er vergessen, daß Raistan tot war.
Die Dose Superbulle brannte in Eweins Magen als wolle sie ihn an den Werbespruch erinnern, welcher jede der kleinen Dosen aus Metall zierte.
Superbulle verleiht Prügel
Der dickliche Zauberer biss die Zähne zusammen um sie am Klappern zu hindern. Er
würde es lebend bis zum Büro des Quästors schaffen und sich dort einige der heißbegehrten Pillen einverleiben. Und was danach kam... das mochten allein die Götter wissen.
Dennoch klang das Geräusch der hinter ihm zuschlagenden Kammertür wie eine Totenglocke in seinem Herzen.


Apokralypse Jetzt


Unwirkliches flackerndes Licht spiegelte sich auf den glänzenden Körpern der acht Nilpferde wieder. Erschöpft und nach Atem ringend sank Raistan gegen das Geländer der Messingbrücke und blickte zurück. Die oberen Stockwerke des Palastes brannten lichterloh. Doch das war es nicht, was ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Direkt über dem in Flammen stehenden Gebäude hatte sich ein ungeheurer trichterförmiger Wirbel gebildet. Eitergelbe Blitze zuckten durch die immer schneller im Kreis rasenden Wolken. Raistan wusste nur zu gut, daß es sich um keinen gewöhnlichen Wirbelsturm handelte. Im Zentrum des unheiligen Wirbels bildete sich ein Portal zu den grauenerregenden Kerkerdimensionen. Fauchende Geräusche donnerten gleich Peitschenschlägen über die Straßen Ankh-Morporks hinweg, in denen das Chaos tobte. Zahlreiche Bürger der Stadt schienen bereits von einem kollektiven Wahnsinn befallen zu sein. Als Raistan am Gebäude der Diebesgilde vorbeigelaufen war hatte sich gerade ein Mann schreiend in die Tiefe gestürzt.
Der junge Zauberer biss die Zähne zusammen als sich seine Atemwege erneut schmerzhaft zusammenkrampften. Hatte sein Bruder es geschafft, dem pandämonischen Inferno zu entkommen? der bloße Gedanke daran, daß Kamerun nicht mehr leben konnte fuhr durch seinen erschöpften Verstand wie ein Eiszapfen.
Wenn etwas schiefgehen sollte treffen wir uns alle bei Edwina. beschwor er sich selbst. Kamerun konnte gar nicht tot sein. Er war ein lizenzierter Held. Und Helden überlebten immer, ganz besonders in einer Welt in der einem das Klischee des Gruselromans aus allen Ecken entgegensprang.
Ein weiterer Erdstoß erschütterte die Stadt Ankh-Morpork in ihren Grundfesten. Mit einem schauerlichen Knirschen brach ein großes Stück aus dem Geländer auf der gegenüberliegenden Brückenseite. Das metallene Hinterteil eines Nilpferds blitzte ein letztes Mal im Feuerschein auf bevor die Figur auf Nimmerwiedersehen in den Fluss stürzte.
Raistan stolperte und landete auf dem pfützenübersäten Boden. Kalte Angst legte sich wie eine Decke über sein Bewusstsein, als sämtliche Geräusche urplötzlich verstummten. Ein Mantel aus absoluter, grausiger Stille hatte sich über die Stadt gebreitet. Die Münder verzweifelter Passanten waren in lautlosen Schreien weit aufgerissen.
Und dann durchschlug ein Strahl aus grünlichem Feuer das Dach des Patrizierpalastes und bohrte sich geradewegs in die Mitte des abscheulichen Wirbels am Himmel. Gleich einer Explosion schossen baumstammdicke, sich windende Tentakel aus den Fenstern der oberen Stockwerke.
Es war vorbei. Diese Erkenntnis traf Raistan wie ein Hammerschlag. Diese Wirklichkeit war unrettbar dem Untergang geweiht. Dem Hexer von Ankh war es nicht gelungen, die URALTEN RIESEN aufzuhalten. Hustend kämpfte sich der junge Zauberer auf die Beine. Was auch immer seine Begleiter und er hier hatten tun sollen, sie hatten gnadenlos versagt.
Verzweifelt stolperte Raistan in Richtung Götterinsel, nur fort von dem unbeschreiblichen Grauen, das mit seiner Heimsuchung der Stadt begonnen hatte.
Das Buch, Junge! Das Buch ist der Schlüssel! Gleich einem geisterhaften Echo hallten die Worte Philipp Howards Kraftliebs in seinem Kopf wieder. Was konnte der geheimnisvolle Mann mit seinen Worten bloß gemeint haben? Welches Buch? Das grausige, bewusstseinszerfetzende NECROTELICOMNICON oder doch eines seiner eigenen Werke, die Raistan mittlerweile Seite für Seite studiert hatte? Wenn es jemanden gab, der zumindest die vier unfreiwilligen Realitätswanderer vor der nahenden Apokralypse retten konnte, dann war es Kraftlieb. Doch laut seinen eigenen Worten war seine Macht in dieser Welt am Schwinden und er hatte Raistans Hilfe gebraucht um überhaupt Gestalt annehmen zu können. Streng deinen Verstand an, kleiner Zauberer, beschwor Raistan sich selbst, während er sich durch Straßen kämpfte in denen der Wahnsinn die Herrschaft übernommen hatte. Zu irgendwas musst du ja schließlich gut sein!
Etwas brachte ihn zum Stolpern und hätte er sich nicht auf seinen Stab gestützt wäre er von neuem gestürzt. Beinahe automatisch sah er nach unten und erneut griff das Grauen nach seinem Bewusstsein. Mitten auf dem Gehweg lagen die grausam zugerichteten Leichen zweier Menschen. Selbst im Tode waren ihre Gesichtszüge zu einem irrsinnigen Grinsen verzerrt und in ihren aufgerissenen Augen spiegelte sich der zügellose Wahnsinn ihrer letzten Lebensminuten wieder. Beide hielten in ihren zerhackten Händen Schwerter, die der Regen langsam von dem vergossenen Blut reinigte.
Nicht daran denken, Kleiner! Denk über das Buch nach! Mühsam wandte sich Raistan von dem schaurigen Anblick ab und konzentrierte sich auf seine Willensstärke und seinen gesunden Menschenverstand. Er musste es zumindest bis zu Edwinas Wohnung schaffen und zusehen, daß er irgend etwas mit einem Buch ausprobierte. Was sollte er tun? Eine gewisse Passage laut vorlesen?
Ein axtschwingender Wahnsinniger kam die Straße entlanggelaufen und Raistan duckte sich hastig in einen Hauseingang. Eine neue Woge düsteren Fatalismusses schwappte über ihn hinweg. Sie waren jetzt drei Tage fort gewesen. Selbst wenn es ihnen gelingen würde, nach Hause zu kommen, wer konnte ihnen sagen, daß es in ihrer Heimatwirklichkeit nicht auch von Ungeheuern aus den Kerkerdimensionen nur so wimmelte? Auch dort gab es einen besessenen Kaboltzmann der mittlerweile Gelegenheit genug gehabt hatte, das NECROTELICMNICON aus der Bibliothek der Universität zu stehlen. Aus ganzem Herzen verfluchte Raistan den Tag an dem der Professor für angewandte Legendenforschung beschlossen hatte, dem Mysterium, was wirklich mit Herrn Hong geschehen war, auf den Grund zu gehen. Ewein Krawunkel hatte mit seinen Bedenken dieses eine Mal wirklich mehr als nur Recht gehabt.
Als er aus seinem improvisierten Versteck hervorspähte und nach weiteren mordlustigen Wahnsinnigen Ausschau hielt, drang das schwache Geräusch beschlagener Pferdehufe auf Steinpflaster an seine Ohren. Verwirrt runzelte er die Stirn und duckte sich sicherheitshalber zurück zwischen die Türpfosten. Warum erweckte das Geräusch den Eindruck, von oben zu kommen? Stetig wurden die Hufschläge lauter. Trotz seiner Furcht konnte Raistan sich nicht mehr beherrschen und spähte vorsichtig unter dem Türbalken hervor, innerlich bereits darauf gefasst, die nächste unheilige tentakelbewehrte Monstrosität zu erblicken.
Ein Loch hatte sich in der dichten Wolkendecke gebildet. Kein Wirbel drehte sich einem rotierenden Sturm gleich und bleiche, kalte Sterne funkelten jenseits der augenförmigen Öffnung. In einen schimmernden Nimbus aus Sternenlicht gehüllt galoppierten vier Reiter aus dem Loch hervor. Raistan wusste sofort, wer sie waren. Gevatter Tod auf Binky, die Klinge seiner Sense eine kalte blaue Flamme. Pestilenz, in schmutzige Lumpen gehüllt und eine neunschwänzige Geißel schwingend. Daneben Hunger, eine knochige Gestalt auf einem ebenso knochigen Reittier. Und schließlich Krieg, eindrucksvoll anzusehen in seiner rotschimmernden Rüstung und dem gehörnten Helm. An seinem Sattelknauf wippten die abgeschlagenen Köpfe vieler Männer im Takt des Wilden Rittes auf und ab. Doch hinter ihnen, sogar noch größer und schrecklicher anzusehen, raste eine fünfte Gestalt in einem Streitwagen heran. Fraktale Muster zierten ihre Rüstung und ein gewaltiger Helm mit flammendem Federbusch zierte ihren Kopf. Und während der Streitwagen sich in neben den vier Reitern der Apokralypse einreihte wusste Raistan instinktiv, wofür der unbekannte fünfte Reiter stand. Dies war sein Grund und Boden. Er war es, der begonnen hatte, seinen langen Schatten über die Scheibenwelt zu werfen. Seine Existenz verkörperte alles wofür die URALTEN RIESEN standen. Sein Name war Chaos.
Die Wirklichkeit verschwamm vor Raistans Augen, als er sich in seiner Vermutung bestätigt sah, daß nun wahrhaftig alles zu spät war. Jemand schrie, doch das Geräusch stammte nicht von außerhalb. Die Stimme erklang geradewegs in seinem Kopf.
Du gehst nirgendwo hin, Turisas Lin-Isthar! Verstehe doch endlich! Keine Macht der Scheibenwelt kann die URALTEN RIESEN beherrschen, sei sie auch noch so groß! Du kannst die Schotensterne als Waffen gegen sie verwenden, aber nicht um sie zu unterjochen!
Raistan ließ seinen Stab fallen und presste sich die Finger gegen die Schläfen. Was sagte sein Bruder dort in seinem Kopf? Hatte ihn der Wahnsinn nun doch endgültig gepackt?
Und warum nicht? krächzte eine zweite Stimme, die seiner eigenen zum Verwechseln ähnlich war. Sieh mich an, Bruder. Mein ganzes Leben lang stand ich immer im Schatten anderer. Alle waren stärker, gesünder und beliebter als ich und behandelten mich immer nur als dein unnützes Anhängsel! Und jetzt wo ich endlich mächtiger bin als sie alle willst du mich noch aufhalten? Ich hole mir nur was mir zusteht, also laß mich vorbei!
"Nein!" keuchte Raistan erstickt. "Das bin ich nicht! Ihr versucht doch nur, mich verrückt zu machen!" Ein Hustenanfall schüttelte seinen zerbrechlichen Körper und er sackte zusammen, während die Stimmen weiter in seinem Kopf tobten.
Nein. Du hast die Wahl, Turisas. Entweder du verschließt dieses Portal oder ich muß dir leider den Kopf abschlagen und es selbst versuchen. Ob du es glaubst oder nicht, ich liebe dich immer noch, trotz allem was du getan hast, mein Bruder. Doch hier geht es um das Wohl der gesamten Scheibenwelt und wenn du dieses Loch zwischen den Dimensionen nicht schließt werden die Dinge durchkommen und die gesamte Welt vernichten!
Turisas Linistar. Der Meistermagier von Überwald, von dem Philipp Howards Kraftlieb in Edwinas Buch ausgiebig geschrieben hatte. Mit dem Ärmel seiner Robe wischte Raistan sich das Blut von den Lippen. Welches Spiel spielten die URALTEN RIESEN mit ihm, einem unbedeutenden frisch graduierten Magier? Aus einer Pfütze blickte ihm sein eigenes Spiegelbild entgegen. Das lange Haar hing ihm in triefenden Strähnen in das Gesicht welches den Eindruck erweckte, einem Toten zu gehören. Die Schatten unter seinen Augen waren beinahe schwarz und seine ausgezehrten, feingeschnittenen Gesichtszüge erinnerten ihn mehr als je an einen Totenschädel.
Gerade als Raistan seinen Blick abwenden wollte, begann das Spiegelbild, sich zu verändern. Das hellbraune Haar färbte sich weiß und die eisgrauen Augen verwandelten sich in ein Meer aus goldenem Funkeln.
"Ich glaube nicht, daß das wirklich ist!" stieß Raistan hervor. "So leicht kriegt ihr mich nicht!"
"Ich bin auch nicht wirklich hier." antwortete ihm sein grausam entstelltes Spiegelbild. "Aber es gibt mich. Ich bin du - in gewisser Weise. Ich bin das was du hättest werden können wenn du keinen so guten Charakter besitzen würdest."
"Ich, meinen Bruder verraten wie Turisas Linistar? Niemals!"
Ein spöttisches Lächeln verzerrte die vertrockneten Lippen des Spiegelbildes.
"Wir werden uns wiedersehen, Raistan Adelmus Quetschkorn. Ich warte auf dich."
"Nein, das wirst du nicht." hauchte Raistan und schlug mit der Faust in die Pfütze. "Ich bin nicht so ein machtgieriger Mistkerl wie du, Turisas! Also verschwinde aus meinem Kopf!"
Als sich das aufgewühlte Wasser wieder beruhigte blickte ihm nur noch sein eigenes erschöpftes Spiegelbild entgegen.

Das Vermächtnis


Die Tentakel waren überall. Eiterfarbener Geifer tropfte aus zahllosen aufgerissenen Mäulern auf die dicken Teppiche und hinterließ qualmende Löcher. Blutunterlaufene Augen mit sanduhrförmigen Pupillen waren überall und schienen jede ihrer Bewegungen zu beobachten. Araghast schlug wie wild mit seinem Entermesser auf alles was sich bewegte ein. Das monotone eisige Flüstern des URALTEN RIESEN sang in seinen Ohren. Doch er kämpfte. Er kämpfte für alles was ihm in seinem verpfuschten Leben noch etwas bedeutete. Neben ihm hackte Kamerun Quetschkorn mit seinem gewaltigen Schwert auf diverse Pseudopoden ein die sich ihm in den Weg schlängelten. Araghast gab sich Mühe, dicht genug an dem jungen Helden zu bleiben um durch dessen in den Tentakelwald gehackte Lücken schlüpfen zu können, jedoch ihm nicht nahe genug zu kommen um von den schwungvollen Schwertstreichen versehentlich geköpft zu werden.
"Das ist für Lea!" knurrte Araghast und rammte das Entermesser in ein schleimiges pulsierendes Objekt von dem er lieber nicht wissen wollte was es darstellte. "Und das ist für Kaboltzmann, diesen Spinner!" Die Spitze eines Tentakels flog durch den halben Korridor. "Und das ist für Farrux als verdammten Patrizier!" Schleim spritzte, als Araghast seine Waffe in eines der zahlreichen Augen stieß. Er war so wütend wie noch nie in seinem Leben. Den Schmerz in seiner verletzten Schulter spürte er kaum. Etwas das noch tiefer ging als der Wahnsinn der Ungeheuer aus den Kerkerdimensionen hatte von ihm Besitz ergriffen. Die Mauern des künstlichen Gefängnisses, das seinen inneren Vampir zuerst mit Alkohol und dann mit der Kunst des Hexers im Schach gehalten hatte, waren plötzlich zerbrochen und schlagartig war Araghast klar geworden, daß Godric Adana nicht mehr unter den Lebenden weilte. Die Macht des Hexers von Ankh war gebrochen. Der Vampir in ihm wollte töten. Und er mit ihm.
"Und das ist für Zupfgut!" Mit einem ekelhaften feuchten Geräusch trennte das Entermesser mehrere Saugnäpfe von einem Tentakel ab. Sein entfesseltes Erbe brannte in Araghast wie Feuer. Durch den Wald aus blasphemischen Extremitäten gewahrte er eine geöffnete Tür hinter der regnerische Dunkelheit wartete.
"Kamerun!" brüllte er gegen das sich langsam zum Heulen steigernde Flüstern bestialischer Worte an. "Da drüben!"
Während er noch mit dem Entermesser auf den offenen Fluchtweg wies blieb er mit dem Fuß an einem Hindernis hängen. Wild mit seiner Waffe um sich schlagend versuchte er, das Gleichgewicht zu halten, doch ein heranpeitschender Tentakel den er nur mühsam abwehren konnte brachte ihn endgültig aus dem Gleichgewicht und er stürzte zu Boden.
Der Teppich fühlte sich unnatürlich weich unter seinem Körper an. Araghast war als ob sämtliche seiner Sinne plötzlich schärfer geworden waren. Überdeutlich nahm er den Tentakel wahr, der sich wie in Zeitlupe auf ihn zuzubewegen schien. Hektisch tastete er nach seinem Entermesser, das ihm bei seinem Sturz aus der Hand gefallen war. Die Fasern des Teppichs schlangen sich um seine tastenden Finger wie Schlingpflanzen um die Beine eines Ertrinkenden.
Ich will verdammt noch mal nicht sterben, schoss Araghast durch den Kopf. Jedenfalls nicht so!
Da, endlich! Seine Finger schlossen sich um kühles Metall. Hektisch riss er die Waffe hoch, doch zu spät. Der Tentakel schoss auf sein Gesicht zu und traf ihn mit voller Wucht gegen die Stirn.

Araghast biß sich auf die Lippen, unfähig seinen Blick von dem grausigen Geschehen abzuwenden. Sein gesamter Körper war wie erstarrt. Das Grauen überschwemmte ihn und begann, seinen Verstand in Stücke zu reißen.
Der Schmerz als sich sein spitzer Eckzahn in seine Unterlippe bohrte ließ ihn wieder zu sich kommen.
"Nein, ich will nicht!" schrie er gegen seine eigene Panik an. "Mich kriegst du nicht!"
Die peitschenden Tentakel hielten in ihrer Bewegung inne.
"
Thuuuul" sangen die verhüllten Gestalten.
Urplötzlich löste sich das schattige, tentakelbewehrte Wesen von der Wand und kam mit einer unbeschreiblichen Schnelligkeit direkt auf Araghast zu.
Reflexartig zog der Wächter seinen Degen.
"Verschwinde!" kreischte er. "Hau ab dahin wo auch immer du hergekommen bist!"
Ein einzelner Tentakelarm schoß vor und bevor Araghast sich auch nur rühren konnte wurde er an der Stirn getroffen. Er spürte einen brennenden Schmerz und die warme Nässe seines Blutes die ihm über das Gesicht lief.
Kurz bevor ihm endgültig die Sinne schwanden gewahrte er einen hellen Lichtblitz und sah dicke Felsbrocken von der Decke fallen.
Dann packte ihn etwas am Arm.

Es war alles nur ein Alptraum gewesen. Nun würde Kanndra ihn wecken und fragen ob es ihm gut ginge...
Wieder und wieder schlug die Hand unsanft auf seine Wange. Etwas Kaltes und Nasses tröpfelte auf sein Gesicht.
"Feldwebel!" Etwas an der Stimme die ihn rief klang seltsam. Zu dunkel. Wer auch immer versuchte ihn zu wecken, es handelte sich eindeutig nicht um Kanndra. Ein stechender Schmerz pulsierte in Araghasts Kopf. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, zusammen mit der Rumflasche einen ausgedehnten Spaziergang zu unternehmen. Und nun hatte ihn vermutlich irgendein unbekannter Rekrut in völlig verkatertem Zustand aufgefunden.
"Wenns wichtig ist leg die Nachricht auf den Ablagestapel und verschwinde." stöhnte er. "Und wenn du dem Knollensauger auch nur ein Sterbenswörtchen sagst dann mach dich auf interessante Zeiten gefasst."
"Welcher Knollensauger?" fragte die eindeutig männliche Stimme und erneut wurde auf seine Wange geklopft. "Bitte, Feldwebel, werd nicht verrückt!"
"Verrückt?" brummte Araghast. "Ich bin wahrscheinlich schon länger verrückt als du existierst. Und was den Knollensauger betrifft, es wird Zeit, daß du mal mit ein paar richtigen Wächtern zusammenkommst. Also, wo brennts? Fass dich kurz oder ich zieh dir das Fell über die feuchten Ohren! Ich weiß schon, Geiselnahme, irgendwo, und FROG wird gebraucht. Reingehen, alles erledigen was uns Widerstand leistet und wieder raus. Dazu ist diese Abteilung doch gut oder? Und wehe einer von uns will mal in einem wirklichen Fall ermitteln. Dann heißt es gleich, dafür sind andere Abteilungen zuständig und uns wird die Akte einfach weggenommen." Er atmete tief durch und kniff sein Auge in Erwartung des unbarmherzigen Tageslichtes, das gleich einem Schmiedehammer auf den Amboss seines Bewusstseins schmettern würde, fest zusammen. "Ach ja, und falls du zufällig Skilla Amelia Winchester siehst, sag ihr Bescheid, daß ich den Fall Dreimal glücklicher Fischimbiss schneller lösen werde, so wahr mein Name Araghast Breguyar ist!"
Kräftige Finger schlossen sich um seine Schultern und er wurde unsanft durchgeschüttelt.
"Komm zurück!" flehte die Männerstimme. "Ich will dich nicht auch noch verlieren! Ich bin es, Kamerun!"
"Du..." Zäh wie Sirup sickerte die Erinnerung in Araghasts Bewusstsein zurück. Er war in seinem Büro eingeschlafen... und in einem Ankh-Morpork erwacht, das seine schlimmsten Alpträume hatte wahr werden lassen. Es war doch kein Traum gewesen und es gab keine Kanndra oder sonstwen der ihn mit einem Griff um den Arm wieder in die Wirklichkeit zurückholen konnte. In der Wirklichkeit in der er zur Zeit gefangen war schallte Cthulhupalhulhus Ruf in ohrenbetäubender Lautstärke durch Ankh-Morporks Straßen. Er war im Patrizierpalast gewesen, eingeschlossen von einem unmaskierten Grauen. Peitschende Tentakel überall und kein Ausweg. Dunkel erinnerte er sich daran, über etwas gestolpert zu sein, und an eine schlangengleiche Pseudopodie die wie in Zeitlupe auf ihn zugeschossen gekommen war...
"Wo sind wir?" brachte er mühsam hervor.
"In Sicherheit." antwortete Kamerun Quetschkorn. "Zumindest soweit wie man im Moment von Sicherheit reden kann. Wir sind aus dem Palast draußen."
Mühsam öffnete Araghast sein Auge. Durch löchrige Holzbalken konnte er den wolkenverhangenen, in einem kränklichen grünen Licht flackernden Himmel erkennen. Vereinzelte Regentropfen fielen auf sein Gesicht.
"Ich habe gesehen, wie das Ungeheuer dich erwischt hat und hab dich rausgebracht. Du hast eine ziemlich üble Wunde, gerade am Haaransatz."
Araghast nickte nur.
"Und ich dachte gerade, ich hätte alles nur geträumt und nun stünde irgendein Rekrut in meinem Büro und versucht mich zu wecken nachdem ich mir ordentlich einen angesoffen habe." brummte er. "Aber selbst das wäre zu schön gewesen um wahr zu sein."
"Es gibt vieles was schöner wäre als hier zu sein." sagte Kamerun. "Was glaubst du wie oft ich mir gewünscht habe, daß eine kalte Hand meinen Arm schnappt und mich weckt und der Kleine mir sagt, daß alles gar nicht wirklich passiert ist und wir immer noch da sind wo wir hingehören. Ich hoffe, ich sehe ihn wieder..." Seine Stimme verlor sich.
Ich wollte ich könnte ihm sagen, daß alles gut wird, ging Araghast durch den Kopf als er sich mühsam aufsetzte und versuchte, die pochenden Schmerzen in seinem Kopf zu ignorieren. Aber ich glaube ja nicht einmal selbst daran. Ich hätte gerade eben erst sterben können wie so viele andere die den Dingen aus den Kerkerdimensionen zum Opfer gefallen sind.
Blinzelnd sah er sich um. Sie befanden sich in einem halb ausgebrannten Stall. Kamerun Quetschkorn saß auf einem angesengten Heuballen, das Schwert über den Knien liegend. Sein langes Haar hing ihm in triefenden Strähnen ins Gesicht.
"Danke." sagte Araghast leise.
"Wofür?"
"Daß du mir meinen verdammten Hals gerettet hast. Du hättest einfach laufen können. Warum hast du mir geholfen, einem püschopathischen Spinner der eh kurz davor stand, durchzudrehen und von einem unberechenbaren Ungeheuer besessen ist?"
Der Feldwebel konnte förmlich spüren, wie sein Gegenüber schluckte.
"Es wäre... unehrenhaft gewesen, einen Kameraden zurückzulassen." antwortete Kamerun. "Ich bin ein offizieller Held. Und ein Held lässt niemals einen Gefährten zurück. Das gehört zum Kodex."
Ein Kodex der sicherlich einige deiner Kollegen ins Grab gebracht hat. Araghast biss sich auf die Lippen und verfluchte im Stillen jenen Teil seines Ichs das in den vergangenen Jahren die Funktion eines automatischen Zynismusgenerators übernommen hatte. Er lebte nur dank der beinahe hirnrissigen Tapferkeit des jungen Mannes neben ihm und insgeheim begann er zu glauben, daß irgend etwas es geradezu darauf anzulegen schien, daß die beide am Leben blieben.
Das Gesetz des Eddie Wollas. Die Hauptfiguren überleben immer. Er wischte sich mit der Hand über das Gesicht und sah, daß seine Finger blutverschmiert waren. Doch was spielte eine Narbe mehr oder weniger nun noch für eine Rolle, wenn er hier nur lebendig und halbwegs bei klarem Verstand wieder herauskam.
"Und..." Kamerun stockte und seine Finger fuhren über die flache Seite seines Schwertes. "Du... Du bist einer der wenigen Menschen die gut zu ihm waren. Er sagte, ihr beiden versteht euch, auf eine gewisse Art und Weise. Ihr beide habt etwas an euch, einen Fluch den ihr nie loswerdet. Weißt du, sein Leben war nicht schön. Vater hat ihm jedes Mal den Rücken blutig geprügelt wenn er wieder etwas gesehen hat was eigentlich nicht sein konnte. Dazu kamen seine Krankheit und die Leute im Dorf die irgendwie erfahren hatten, daß er das zweite Gesicht hatte, und denen er deshalb unheimlich war. Und du... du bist wie er. Ich glaube, auch du konntest nie vor dem weglaufen was du bist, und du hast es wahrscheinlich versucht. Egal wohin du gegangen bist, es hat dich irgendwann eingeholt."
"Ja, das hat es." Araghast starrte in den flackernden Himmel an dem giftgrüne Wolkenfetzen vorüberjagten. "Und eines Tages treibt es einen in eine Sackgasse aus der es kein Entkommen mehr gibt. Genauso wie wir nun in der Falle sitzen. Als wir uns durch die Tentakel kämpften... Plötzlich verschwand alles was der Hexer mit meinem Verstand angestellt hat um meinen inneren Vampir zu fesseln aus mir. Ich wusste einfach, daß der Mann tot war. Nun können wir nicht einmal mehr unserer eigenen Wirklichkeit helfen, gesetzt der Fall, daß wir überhaupt jemals zurückkommen."
Kameruns Räuspern übertönte die leisen verzerrten Geräusche der Stück für Stück dem Wahnsinn verfallenden Stadt mühelos.
"Es gibt da noch etwas, Feldwebel." sagte er leise. "Ich bin mir nicht sicher, aber..."
"Verzeiht, die Herren."
Die Stimme glich einer scharfen Klinge die mühelos durch ein darübergeworfenes Seidentuch schnitt.
Reflexartig hoben Araghast und Kamerun ihre Waffen.
"Wer ist da?" fauchte der Feldwebel.
Ein Schatten in einer der Ecken des halbverbrannten Stalles bewegte sich und verwandelte sich in einen schwarzgekleideten Mann. Sein kahlrasierter Schädel schimmerte im diffusen Licht des von blasphemischen Wesenheiten heimgesuchten Himmels. Gleich einer Schlange wand sich eine Narbe über seine Stirn bis hinter das rechte Ohr.
"Schannon." brachte Araghast hervor und fühlte sich plötzlich, als habe die narrative Kausalität höchstpersönlich ihn in ihren Klauen. Zahllose Male hatte er in den Hexer-Romanen von dem mysteriösen Mörder vor niemandens Gnaden gelesen. Und nun stand A'Shanon Goryn Thalion Iskariot Majere in Fleisch und Blut vor ihm.
"Stets zu Diensten, Hexer." sagte der abtrünnige Assassine und neigte leicht den Kopf in der Andeutung einer spöttischen Verbeugung.
"Wer schickt Sie?" besaß Araghast die Geistesgegenwärtigkeit zu fragen. "Ist das alles nur ein schlechter Scherz?"
"Ganz und gar nicht." Ein Lächeln das nur den Mund betraf huschte über Schannons Gesicht. "Ich grüße Sie herzlichst von dem Herrn Edward Wollas. Oder von dem Fräulein, was auch immer Ihnen lieber ist. Jedenfalls hat sie mich dazu gebracht, Ihnen einen Gefallen zu tun, Hexer."
"Was habe ich nur getan damit ich eine solche Wirklichkeit verdiene?" stöhnte Araghast und ließ die Waffe sinken. Ihm lagen zahllose Fragen auf der Zunge, ganz zuvorderst die, was Eddie Wollas' tatsächliche Verstrickungen in diese Realität betraf. Und warum redete Schannon ihn andauernd mit Hexer an?
"Da muss ein Irrtum vorliegen." erklärte er. "Der Hexer von Ankh ist tot. Ich stamme noch nicht einmal von hier und alles was ich will ist nach Hause in mein eigenes verdammtes Hosenbein der Zeit!"
Bedächtig schüttelte Schannon den Kopf.
"Nein, Sie sind Godric Adana. Das Stigma hat Sie gezeichnet und somit gilt mein Auftrag Ihnen."
Araghasts Hand fuhr zu seiner Stirn. Er zuckte zusammen als seine Finger aufgerissenes Fleisch berührten und schlagartig wurde ihm klar, daß etwas in seinem Bewusstsein fehlte als habe sich ein plötzlicher blinder Fleck gebildet. Das unmenschliche, nervenzerfetzende Flüstern, das ihn seit Betreten der Rattenkammer beinahe pausenlos begleitet hatte, war völlig verschwunden. Stattdessen war ihm, als sei sein Blick schärfer geworden. Pulsierende, grüne Linien flossen über die Konturen der Welt und verwandelten sein Sichtfeld in ein absurdes Zerrbild der Wirklichkeit. Tief in seinem Inneren befand sich etwas, das zuvor nicht dort gewesen war, eine Quelle kalter, ruhiger Vernunft.
Entsetzt starrte er auf sein transparentes Spiegelbild in einer Pfütze. Sein Gesicht war blutüberströmt und dunkle Schatten lagen unter seinem Auge. Doch was ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte und ihn endgültig an seinem Verstand zweifeln ließ war die gut drei Zentimeter breite schneeweiße Strähne die sein schwarzes Haar von der Wunde an seinem Haaransatz bis zur Spitze seines halb aufgelösten Zopfes durchzog.

Heimkehr


Mit dem nassen Ärmel ihres Hemdes wischte sich Edwina die Tränen aus dem Gesicht. Sie hatte genug geweint. Nun gab es Wichtigeres zu tun als um einen verstorbenen Geliebten zu trauern, nämlich ganz zuerst einmal, selbst am Leben zu bleiben. Ein unwirklicher, grünlich schimmernder Nebel waberte um die Gräber des Zentralfriedhofs und Edwina packte den Griff ihres Schwertes fester. Nicht mehr lange und Heerscharen von Toten würden die Stadt heimsuchen und mit ihren knochigen Fingern alles Lebende in Stücke reißen. Sie wusste, daß die Mächtigsten der URALTEN RIESEN zumindest in dieser Wirklichkeit in der Lage waren, die Körper Verstorbener in großer Zahl zu kontrollieren. Immerhin hatte sie ihnen diese Fähigkeit selbst angeschrieben.
Es sollte eine allgemeine Richtlinie für Schriftsteller geben, überlegte sie grimmig während sie im Schatten der Häuser die Chrononhotonthologosstraße entlanghuschte. Erschaffe niemals eine Welt in der du es nicht selbst für einige Zeit aushalten willst.
Mit einem schnellen Schritt brachte sie sich in einem Hauseingang in Sicherheit. Hatte sich dort hinter dem Friedhofszaun nicht eben etwas bewegt? Sie zog das Schwert aus der Scheide. Nicht daß sie sich vor Zombies fürchtete, doch die Aussicht, allein einem ganzen Heer von ihnen gegenüberzutreten, das nur darauf aus war, zu töten und Wahnsinn zu säen, gefiel ihr nicht besonders. Drei Häuser noch bis zu ihrer Wohnung. Vorsichtig spähte Edwina zum Friedhof hinüber. Wieder eine Bewegung hinter dem Zaun. Ein Windstoß zerriss die widernatürlichen glühenden Nebelschwaden und für einen Augenblick wurden die schemenhaften Umrisse einer halb skelettierten Leiche sichtbar, die sich mit ruckartigen, marionettenhaften Bewegungen in Richtung des Tores bewegte. Die Überwaldianerin knirschte mit den Zähnen. Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln bis sich die Zombiehorden auf die vom Irrsinn beherrschten Straßen Ankh-Morporks ergossen. Jetzt oder nie. Sie schuldete es der Erinnerung an Godric, diesen von ihr selbst erschaffenen Alptraum zu überleben.
Mit gezogenem Schwert sprintete sie über den regennassen Gehweg. Laut scheppernd fiel das Friedhofstor aus den Angeln. Ohne auch nur einen Blick in Richtung des Geräusches zu werfen stolperte Edwina in den Torweg der zu ihrer Wohnung führte, in dem Bewusstsein, daß die entfesselten Untoten ihr folgen würden. Sie konnten Lebendiges spüren wie ein Hund eine frische Fährte. Noch so eine Fähigkeit die sie ganz allein ihr und ihren verfluchten Romanen verdankten. Hektisch tastete Edwina nach den Schlüsseln und Erleichterung durchströmte ihre Glieder als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Sicherheitshalber drehte sie den Schlüssel zwei Mal im Schloss um, wohl wissend, daß es das Zombieheer höchstens für eine Minute aufhalten würde. Doch eine Minute würde reichen. In Igorinas, pardon, Rogis Keller gab es eine Falltür die direkt in das schier unendlich verzweigte Netz der begrabenen Stadt führte. Irgendwie würde sie entkommen und sich einen Weg zurück suchen. Sie war Edward Damien Wollas. Und nun, wo sie die wahre Natur dieser Realität herausgefunden hatte, konnte sie gewiss irgendwie etwas drehen, wenn man ihr nur etwas Zeit ließ.
"Wer ist da?" zischte eine kraftlose Stimme aus den Schatten des Flures. "Ich warne Sie, ich bin bewaffnet!"
"Sparr deine Krraft, Kleinerr." antwortete Edwina. "Wirr haben gerrade einen Haufen wütenderr Zombies auf den Ferrsen. Ab durrch Rrogis Kellerr."
"Fräulein Walerius." Raistans Stimme klang erleichtert. "Ist sonst noch jemand bei Ihnen? Haben Sie den Großen gesehen?"
"Wirr wurrden getrrennt." Mit langen Schritten eilte Edwina auf die Kellertür zu. Etwas pochte gegen die Wohnungstür. "Es tut mirr leid."
"Warten Sie." Eine kalte Hand schloss sich um ihren Arm und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Edwina, ein Untoter griffe nach ihr. Der junge Zauberer hustete. "Es gibt einen Weg zurück." wisperte er. "Ich habe lange nachgedacht, bis es mir schließlich eingefallen ist. Kraftliebs Buch hat uns hergebracht. Also kann es uns auch wieder zurückbringen. Lassen Sie uns auf die anderen warten und dann diese Wirklichkeit verlassen."
Ein Schlag ließ die Wohnungstür in ihren Angeln erbeben.
Edwina seufzte leise.
"Wirr können nicht warrten." sagte sie schweren Herzens. "Nicht mit einem ganzen Frriedhof vollerr Zombies auf den Ferrsen. Die URRALTEN RRIESEN haben sie beseelt und ihrr einziges Ziel ist es, Chaos zu verrbrreiten." In der Dunkelheit biss sie sich auf die Lippen und hoffte, daß Schannon es geschafft hatte, Breguyar und Kamerun aufzuspüren. Der Mörder vor niemandens Gnaden fand immer einen Ausweg in allerletzter Sekunde.
"Ich lasse meinen Bruder nicht hier." erklärte Raistan. "Die fünf Reiter der Apokralypse sind am Himmel erschienen und das kann nur eines bedeuten. Diese Wirklichkeit stirbt und niemand kann mehr etwas dagegen tun."
Edwina packte seinen mageren Oberarm.
"Das weiß ich selbst, daß diese Rrealität verrlorren ist." zischte sie. "Sie ist schließlich irrgendwie mein höchst eigenes Werrk. Und da ich die Gesetze dieserr Wirrklichkeit geschaffen habe, weiß ich auch, daß dein Brruderr überrleben wirrd. Eines derr Gesetze des Grruselromans. Derr Held überrlebt immerr."
Die Scharniere der Tür knirschten bedrohlich, als sich von außen etwas in gleichmäßigen Intervallen gegen das dicke, mit Eisennägeln verstärkte Holz warf. Ohne weiter zu zögern zerrte Edwina Raistan in ihr Arbeitszimmer. Die im Kamin glimmenden Kohlen verbreiteten ein schwaches, flackerndes Licht, das nichts erhellte. Undeutliche Gestalten huschten vor den Fenstern umher. Mit der freien Hand hob die Überwaldianerin ihr Schwert.
"Wirr sind umzingelt, Kleinerr. Es gibt nurr zwei Möglichkeiten. Entwederr du schaffst es, uns zurrückzubrringen oderr eine Horrde wahnsinnigerr Zombies sorrgt dafürr, daß wirr einen qualvollen Tod sterrben."
Scheppernd zersprang eine Fensterscheibe und ein mit verwesendem Fleisch besteckter Arm schob sich durch die Öffnung.
Edwina spürte wie der junge Zauberer zusammenzuckte.
"Dann haben wir wirklich keine Wahl?" fragte er flüsternd. Der matte Feuerschein verwandelte sein ausgezehrtes Gesicht mehr denn je in das bleiche, kalte Antlitz eines Toten.
"Nein, die haben wirr nicht, wenn dirr dein Leben auch nurr einen Cent werrt ist." antwortete Edwina und eine eisige Ruhe breitete sich in ihr aus. "Außerrdem haben wirr eine eigene Wirrklichkeit um die wirr kämpfen müssen."
Krachend fielen weitere Teile der Fensterscheibe aus dem Rahmen und die skelettierten Gesichter mehrerer Zombies grinsten sie höhnisch an. Jetzt haben wir euch, schienen die Blicke ihrer leeren Augenhöhlen zu sagen. Gleich wird Cthulhupalhulhus Ruf euer Bewusstsein in Fetzen reißen und der Wahnsinn euch verschlingen.
Nicht mit mir, sandte Edwina mental zurück und ließ Raistans Arm los. Ihr alle könnt mich mal dort wo die verdammte Sonne nicht scheint, ihr Ausgeburten des Abgrunds. Ihr habe schon den Mann den ich liebe bekommen. Mehr steht euch nicht zu!
Raistan hatte sich über den Schreibtisch gebeugt und blätterte hastig in dem aus Araghasts Büro entwendeten Philipp Howards Kraftlieb herum. Mit dem Kopf voran fiel der erste Zombie durch das zerborstene Fenster ins Büro.
"K'duz burum sk'ard razar'k!" Mit einem zwergischen Kampfschrei auf den Lippen stürzte sich Edwina auf die wandelnde Leiche und zertrümmerte ihr mit einem kräftigen Schlag den knochigen Schädel. Halbverweste Gehirnreste spritzten über den Teppich.
"Das ist fürr Godrric!" fauchte die Überwaldianerin und zertrat die faulige Hand des Zombies unter dem Absatz ihres Stiefels. Doch schon hatten zwei weitere der widernatürlich belebten Toten den Platz des Gefallenen eingenommen und mindestens ein Dutzend weitere tummelten sich draußen vor dem zerschlagenen Fenster. Das Geräusch splitternden Holzes drang an Edwinas Ohren. Die Wohnungstür hatte nachgegeben.
Natürlich hat sie das, schien ihr eine innere Stimme zuzuflüstern. Schließlich ist dies hier die Welt deiner Geschichten, Eddie Wollas. Da findet eine dramatische Rettung immer in allerletzter Sekunde statt.
"Kommen Sie." Raistans Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Der junge Zauberer stand hinter dem Schreibtisch, in einer Hand seinen Stab, die andere zur Faust geballt. Tropfen einer dunklen Flüssigkeit rieselten auf das aufgeschlagen vor ihm liegende Buch.
"Es ist Zeit."
Edwina zögerte nicht lange und eilte zu ihm. Scheppernde Geräusche ertönten auf dem Flur und mit einem Ruck wurde der Rahmen des zerstörten Fensters herausgerissen. Eine weibliche Leiche in einem zerfetzten Totenhemd richtete sich im Zimmer auf. In den Händen hielt sie ein scharfgeschliffenes Beil.
"Legen Sie Ihre Hand auf meine."
Beinahe willenlos gehorchte Edwina. Dies hier war nicht mehr ihre Aufgabe. Sie hatte Vampiren Auge in Auge gegenübergestanden und ihnen den Garaus gemacht, doch die Kunst der Anwendung der nichtphysischen Kräfte war ihr immer verborgen geblieben. Eigentlich hasste sie es, jemandem anderem zu vertrauen, doch dieses Mal gab es keinen anderen Ausweg. Die Mächte gegen die sie kämpfte ließen sich nicht mit ein paar wohlgezielten Schwerthieben, Pflöcken oder Armbrustbolzen aus der Welt schaffen.
Und du trägst die Mitschuld daran, daß diese Mächte hier heraufbeschworen wurden, Eddie Wollas.
Mit einem mentalen Fußtritt versuchte Edwina, die Stimme aus ihren Gedanken zu verdrängen, doch insgeheim musste sie sich eingestehen, daß aus diesen Worten nichts als die Wahrheit sprach. Sie hatte diese Wirklichkeit irgendwie erschaffen, mit all ihren Bewohnern, die nun ihretwegen unbeschreibliche Qualen litten. Nur sie war Schuld am Tod Godric Adanas. Warum hatte sie nur jemals angefangen, diese im wahrsten Sinne des Wortes verfluchten Romane zu schreiben?
Wie in Zeitlupe nahm sie wahr, daß die Tür des Arbeitszimmers aus dem Rahmen fiel und ein Zombie nach dem anderen in den Raum drängte. Raistans Hand sank zusammen mit ihrer nach unten und schlug auf das geöffnete Buch. Die Finger waren blutverschmiert.
Träumend wartet der tote Cthulhupalhulhu in seinem Haus auf Leshp
Flammengleich brannten die Buchstaben für Bruchteile einer Sekunde vor Edwinas Augen bevor der Boden unter ihren Füßen fortgerissen wurde und sie fiel...

Der Anblick der Welt jenseits von Araghasts Bürofenster hatte sich im Laufe des Tages nicht groß verändert. Immer noch hüllte stetiger Regen die größte Metropole der Scheibenwelt ein und die Farbe des Himmels erinnerte an Blei.
Valdimier van Varwald wandte sich von dem trostlosen Anblick ab. Die erzwungene Untätigkeit begann ihm langsam aber sicher auf die Nerven zu gehen. Wie lange mochte es schon her sein, daß Kanndra ihn gebeten hatte, hier im Abteilungsleiterbüro die Stellung zu halten, da sie sich dringend mit der zurückgekehrten SEALS-Streife über eventuelle Spuren unterhalten musste? Zehn Minuten? Eine halbe Stunde? An anderen Tagen verabscheute er das Sonnenlicht, doch im Moment hätte er nur allzugern einen Bezugspunkt gehabt, der ihm die verstrichene Zeit anzeigte. Araghast schien nicht einmal eine Sanduhr zu besitzen.
Seufzend lehnte sich der Vampir gegen das Fensterbrett und sein Blick wanderte zum Schreibtisch, auf dem der aufgeschlagene Gruselroman lag. Die Faszination seines besten Freundes für grauenhafte phantastische Geschichten und obskure Verschwörungen hatte Valdimier nie nachvollziehen können.
Und nun haben ihn sein B-Wort-Entzug und seine Sauferei so weit gebracht, daß er diesen ganzen Blödsinn wirklich ernst nimmt. Der leichte Armbrustschütze schüttelte den Kopf. Mittlerweile schien sogar Kolumbini von dem ganzen Quatsch über den Hexer von Ankh überzeugt zu sein. Bisher hatte Valdimier den kleinen Ermittler für eine logisch schlussfolgernde, wenn auch gelegentlich ziemlich verwirrte Person gehalten, doch Verrücktheit schien tatsächlich ansteckend zu sein.
Die Augen des Vampirs verengten sich zu Schlitzen. Diese Gruselromane waren an allem Schuld, beginnend mit dem ledergebundenen Exemplar dort auf dem Schreibtisch. In den letzten Stunden hatte Kanndra das Buch mit extremer Vorsicht behandelt und den Verdacht geäußert, daß mit ihm etwas nicht stimme. Wahrscheinlich hatte auch sie sich von Kolumbinis Argumenten um den Finger wickeln lassen. Ihre Tätigkeit als nebenberufliche Voodoo-Priesterin hatte sie voreingenommen gegenüber scheinbar unerklärlichen Phänomenen werden lassen.
"Bregs, was hast du nur angerichtet?" fragte Valdimier seinen Freund und die Scheibenwelt im Allgemeinen. Mit gerunzelter Stirn trat er an den Schreibtisch heran und musterte das Buch finster. Höchstwahrscheinlich hatte diese kriminelle Überwaldianerin Araghast und die Übrigen mit Versprechungen über die Aufklärung der Hexer-Geschichte in eine raffinierte Falle gelockt. Valdimier hatte im Laufe der Zeit genug über die skrupellose Vampirjägerin Lady Edwina Dorothea Walerius von Schlaz gehört um dieser Frau alles zuzutrauen. Sie und ihre Vorfahren hatten über die Jahrhunderte zahllose seiner Artgenossen eiskalt erledigt. Es gab kaum einen überwaldianischen Vampir der sich nicht vor dem Namen Walerius fürchtete und ihn gleichzeitig hasste.
Die blutigen Fingerabdrücke auf dem Papier schienen Valdimier höhnisch anzugrinsen. Energisch unterdrückte er ein aufkeimendes Hungergefühl und mehr zur Ablenkung begann er zu lesen.
Als er geendet hatte verzog er das Gesicht. So ein gnadenloser Schwachsinn. Er erinnerte sich daran, daß Bregs das Buch schon während ihrer gemeinsamen GRUND-Zeit besessen hatte und seine Hakennase darin steckte, sobald er sich von den Ausbildern unbeobachtet fühlte. Valdimier war, als läge diese Zeit bereits Jahrzehnte zurück. Den damaligen Araghast mit dem er sich auf Anhieb verstanden hatte gab es nicht mehr. Der unbeschwerte Rekrut Breguyar, der Seemannsgeschichten im Eimer zum Besten gab und über seinen Drang, beim Schlafen einen Deckel über dem Kopf zu brauchen, herzhaft lachen konnte war...
...tot. Ein besseres Wort fiel Valdimier nicht ein. Die Dämonen seiner Existenz als Halbblut fraßen an ihm wie Ratten an einem Kadaver in der Gosse. Und je verzweifelter er seinen Zustand vor der Außenwelt zu verbergen zu versuchte, desto launischer wurde er. Warum ließ sich Bregs bloß von niemandem helfen und stieß seine Freunde ein ums andere Mal vor den Kopf?
Ein leises Geräusch ließ ihn aufhorchen. Sein Blick wanderte zur Ausgangsklappe des Rohrpostsystems und er duckte sich vorsichtshalber um aus der Schusslinie einer von Reggies besonders schwungvoll geworfenen Nachrichtenröhren zu geraten. Doch keine Beleidigung ertönte und die Klappe rührte sich nicht vom Fleck. Stattdessen schlug wieder etwas leise auf einem harten Untergrund auf.
Der Vampir strengte seine Ohren an. Zwei weitere Geräusche, kurz hintereinander und direkt vor ihm. Es klang als würde etwas tropfen. Hatte der Regen doch seinen Weg durch das Dach gefunden und leckte nun in die höher gelegenen Büros? Valdimier erhob sich aus seiner geduckten Stellung und ließ den Blick über den Schreibtisch wandern. Das Buch lag aufgeschlagen vor ihm und plötzlich konnte er sich des Bildes eines mit Zähnen gespickten aufgerissenen Mauls nicht erwehren. Ein dunkelroter Tropfen materialisierte sich aus dem Nichts etwa einen halben Meter über der Schreibtischplatte und fiel auf das bedruckte Papier, wo er zu einem Fleck neben vier weiteren wurde. Mit dem untrüglichen Instinkt seiner Spezies erkannte Valdimier sofort um welche Flüssigkeit es sich handelte. Scheinbar aus dem Nichts tropfte Blut auf das Machwerk Philipp Howards Kraftliebs herab.
Der leichte Armbrustschütze hielt seine Hand über das Buch und spürte wie sich die feinen Haare auf seinem Handrücken aufrichteten. Ein weiterer Tropfen erschien und landete auf seiner ausgestreckten Handfläche. Schnell zog Valdimier seine Hand zurück und schnupperte an dem Tropfen um sicherzugehen. Das Blut war eindeutig menschlich.
Wieder meldete sich sein Durstgefühl. Gierig starrte er auf die fein über seine Hand verteilten Spritzer des roten Lebenssaftes. Wie aus einem plötzlichen Reflex schnellte seine Zunge vor und leckte den Tropfen ab. Nicht übel, wenn auch eindeutig keine Jungfrau teilten ihm seine Geschmacksnerven mit. Es prickelt irgendwie auf der Zunge und schmeckt ein wenig seltsam im Abgang, aber ich habe schon wesentlich schlechtere Tropfen getrunken.
Während Valdimier noch mit der Miene eines Connaisseurs die Herkunft des Blutes herauszuschmecken versuchte, nahmen seine scharfen Ohren zahlreiche Schritte und das Klirren von Waffen wahr. Verwundert trat der Vampir einen Schritt zurück, fest entschlossen, daß seine Sinne ihm einen Streich spielten mussten. Denn die Geräusche schienen direkt aus dem aufgeschlagenen Buch zu kommen.
"Das ist nicht witzig!" rief Valdimier. "Was auch immer Sie gerade tun, Sie locken mich nicht so leicht mit deinen Tricks in die Falle wie Bregs, Lady Walerius!"
Wie aus dem Nichts erschien der blutige Abdruck einer Hand mitten über den gedruckten Versen in dieser komischen Sprache. Und die Welt schien zu implodieren...

Die Schwärze vor seinen Augen verschwand. Valdimier schüttelte den Kopf. Ihn war als hätte sich das ganze Büro zu einem winzigen Klumpen zusammengeballt, nur um anschließend in Bruchteilen einer Sekunde in seine ursprüngliche Form zurückzuspringen. Ein leichter Geruch von schmierigem Blech lag in der Luft und plötzlich merkte der Vampir, daß er nicht mehr allein im Zimmer war. Eine Gestalt in dunklem Umhang und schwarzem Herrenhut stand mit dem Rücken zu ihm, in der Rechten ein gezogenes Schwert, während sie mit der Linken einen totenbleichen jungen Mann in durchnässten Zauberergewändern auf die Beine zerrte. Der Zauberer stolperte und für einen Augenblick traf sein erschöpfter, stahlgrauer Blick denjenigen Valdimiers.
"Wir sind nicht allein hier." wisperte er.
Die schwarzgekleidete Gestalt fuhr herum und richtete die Spitze des Schwertes auf Valdimier und der Wächter erkannte, daß er es mit einer Frau zu tun hatte. Trotz des dämmrigen Lichts funkelten ihre Brillengläser und der Mund mit dem verschmierten Lippenstift war zu einer dünnen Linie zusammengekniffen.
"Bleib wo du bist, Wächterr." zischte sie, während sie mit der freien Hand einen schwärzlichen Gegenstand umklammerte und nach hinten reichte. "Kleinerr, nimm den Sterrn und verrschwinde! Err ist die einzige wirrksame Waffe die wirr haben! Ich kümmere mich hierrum!"
Blutverschmierte Finger nahmen den ominösen Gegenstand entgegen und Valdimier erkannte plötzlich, wessen Blut er gekostet hatte. Angewidert spuckte er aus. Niemand hatte je davon berichtet welche Nebenwirkungen der Lebenssaft eines Zauberers auf einen Vampir haben konnte und der leichte Armbrustschütze wollte nicht unbedingt der erste sein der es herausfand.
Reiß dich zusammen, Valdimier, beschwor er sich. Hier stehst du wie angewurzelt, während eine Frau, auf die die Beschreibung einer gesuchten Verbrecherin aufs Haar genau passt dich mit einem Schwert bedroht, während ein Vermisster versucht, zu entkommen!
Währenddessen hatte der junge Zauberer einen langen, kristallbesetzten Holzstab vom Boden aufgehoben und war bis zur Tür zurückgewichen.
"Wenn wir jetzt rennen, schaffen wir es beide." sagte er mit leiser, brüchiger Stimme und hustete auf eine Weise die Valdimier ganz und gar nicht gesund vorkam.
"Und wirr gleich einen verrfluchten Blutsaugerr auf den Ferrsen haben?" gab die mutmaßliche Edwina Walerius ungehalten zurück. "Lauf! Das ist unserre einzige Chance!"
Ohne ein weiteres Wort öffnete der Magier die Bürotür und verschwand.
"FROOOGS! ALAAAAARM!" brüllte Valdimier aus voller Kehle, während seine Hand unter dem Umhang nach einer seiner Armbrüste tastete. Wenn er nur schnell genug an einen der Bolzen gelangen konnte...
"Was tun Sie hier?" fragte er seine Gegnerin. "Haben Sie in Ihrem Leben nicht schon genug Tod gesät, Lady Walerius?"
"Was spielt das nun fürr eine Rrolle?" gab sie zurück und verharrte an Ort und Stelle, die Schwertspitze immer noch auf Valdimiers Kehle gerichtet. "Die gesamte Scheibenwelt ist in höchsterr Gefahrr. Es ist ein wahrres Wunderr, daß das Wachhaus überrhaupt noch steht. Sagt mirr, hat sich derr Wahnsinn schon überr die Strraßen derr Stadt errgossen und verrschlingt die Seelen derr Einwohnerr Stück fürr Stück?"
"Sonst geht es Ihnen auch gut." Valdimier hatte die Armbrust zu fassen bekommen und legte den Bolzen ein. "Ich weiß nicht, was Sie mit Araghast und den anderen angestellt haben, aber glauben Sie mir, Sie werden dafür büßen! Erst setzen Sie meinem armen, vom Entzug halb verrückten Freund irgendwelche Flausen in den Kopf, dann entführen Sie heute morgen zwei wichtige Zeugen direkt aus eben diesem Büro hier, von Ihrem Auftritt eben gar nicht zu schweigen." Der Bolzen rastete ein und der leichte Armbrustschütze hob die Waffe. "Welches abartige Spiel spielen Sie dieses Mal, Lady Walerius? Runter mit dem Schwert!"
Wie in Zeitlupe ließ die ehemalige Vampirjägerin die Waffe sinken. Eine steile Falte bildete sich auf ihrer Stirn als ob sie angestrengt nachdachte und für einen Moment ertappte sich Valdimier bei dem Gedanken wie es wohl wäre, diese Person, die seiner Spezies so viel Leid zugefügt hatte, einfach zu erschießen. Er konnte immer noch sagen, sie hätte Gegenwehr geleistet. Doch gleich darauf unterdrückte er den Impuls mit Macht. Er war ein Wächter und kein eiskalter Mörder wie sie. Und für das was sie Bregs angetan hatte würde die Dame hoffentlich eh erst einmal in den Kerker wandern.
"Wie Ihrr wünscht, Blutsaugerr." sagte sie und die Klinge fiel klirrend zu Boden. Ihre Gesichtszüge strafften sich. "Aberr hörrt mirr zu. Derr Stockdegen muss verrwendet werrden um den besessenen Emanuel Kaboltzmann aufzuhalten. Err darrf das NECRROTELICOMNICON nicht bekommen! Leiderr haben wirr es nicht geschafft, den Hexerr von Ankh herrzubrringen. Deshalb geben Sie mirr die Klinge des Hexerrs und lassen Sie mich die Sache errledigen!"
"Lady Walerius." sagte Valdimier ruhig. Hastige Schritte erklangen auf dem Flur und die Bürotür wurde aufgestoßen. Ktrask und Sidney traten mit gezogenen Waffen ins Zimmer.
"Sie werden in nächster Zeit nichts erledigen außer einem Besuch in unserer Zelle, bis Sie unserer Okkultismusexpertin glaubwürdig erklärt haben, was Sie im Laufe des Tages alles so getrieben haben."
Als die Handschellen zuschnappten wandte sich Edwina Dorothea Walerius noch einmal um. "Ich werrde mirr dein Gesicht merrken, verrfluchterr Blutsaugerr!" zischte sie ihm entgegen. "Und falls die Apokrralypse zuschlägst wirrst du es noch berreuen, mirr nicht zugehörrt zu haben!"
Nachdem seine Kollegen die Gefangene abgeführt hatten ließ sich Valdimier schwer in Araghasts Schreibtischstuhl fallen. Langsam aber sicher kam er sich vor wie in einem von Araghasts schlechten Gruselromanen. Er beugte sich vor und klappte Philipp Howards Kraftliebs blutverschmiertes Werk zu. Wo bist du nur, Bregs, fragte er sich. Gibt es denn niemanden in diesem Irrenhaus der mal ein paar klare Antworten für mich hat?

Unausweichlich


Mein Name ist Araghast Breguyar und ich bin Feldwebel der Stadtwache von Ankh-Morpork. Geboren wurde ich in der Affenstraße Nummer zwölf am siebten Mai im Jahr des hinterhältigen Goldhamsters. Meine Mutter hieß Lisa und arbeitete als Näherin. Und mein Vater war ein Ungeheuer mit dessen Erbe ich massive Probleme habe. Ich habe erst bei meiner Mutter, dann im Waisenhaus und schließlich auf einem Piratenschiff gelebt, habe Überwald bereist und bin schließlich Wächter geworden. Vor einem Jahr habe ich mich mit Leonata Eule verlobt und leite nun die Abteilung F.R.O.G.
Immer noch wie in einem Traum starrte Araghast sein transparentes Spiegelbild an. Die schneeweiße Strähne in seinem dunklen Haar schimmerte. Es war alles eingetreten wie in den Romanen. Die Berührung der URALTEN RIESEN, die Ohnmacht, das Stigma der Macht, die seltsam verzogene Wahrnehmung. Doch war er immer noch in der Lage, jederzeit die Fakten seines Lebens in seiner Erinnerung herunterzuzitieren. Im Gegensatz zu Havelock Vetinari hatte er sein Gedächtnis nicht verloren.
Nicht zum ersten Mal in diesen schrecklichen Tagen überkam Araghast die überwältigende Sehnsucht nach einer düsteren Kneipe und dem größten und stärksten Drink Ankh-Morporks. Er hatte es satt, der Spielball eines ominösen Mannes zu sein der wahllos Personen von Wirklichkeit zu Wirklichkeit schubste und Unheil anrichtete wo er nur konnte.
Was willst du nun schon wieder, Philipp Howards Kraftlieb, fragte er stumm, während ein markerschütternder Donner die Fundamente Ankh-Morporks erbeben ließ und ein Geflecht von eitergelben Rissen sich durch die Wolkendecke fraß wie Säure.
"Wir müssen weg von hier, Hexer!" drang Schannons Stimme undeutlich zu dem überreizten Bewusstsein des Feldwebels durch.
"Wohin denn?" gab Kamerun Quetschkorn zurück. "Die Welt geht unter!"
"Vertraut mir." Der Mörder vor niemandens Gnaden ergriff beinahe sanft Araghasts Arm. "Es gibt einen Weg hier hinaus. Zur Universität!"
"Und das sagst du uns verdammt noch mal jetzt erst?" schnappte Araghast als sie aus der Stallruine ins Freie traten. Strömender Regen peitschte senkrecht durch die Straßen und bildete eine beinahe solide Wand aus Wasser, während schier unerträgliches Geheul durch die Straßen hallte. Das Geflecht grüner pulsierender Fäden lag gleich einer bemalten Glasscheibe über der Wirklichkeit.
"Ich wurde dafür bezahlt, Hexer." antwortete Schannon nur. "Lauft!"
Diverse Fragen brannten Araghast auf der Zunge, doch er brauchte seinen Atem zum Rennen. Seine verwundete Schulter brannte wie Feuer und nur mit Mühe kämpfte er gegen die völlige Erschöpfung an. Entschlossen biss er die Zähne zusammen. Er konnte es sich nicht erlauben, jetzt schlappzumachen.
Das große Tor der Unsichtbaren Universität hing schief in den Angeln und die zerfetzten Papierhüllen zahlreicher Pulver Nummer Eins-Pakete klebten völlig aufgeweicht an Torflügeln und Boden. Mitten in der offenen Lücke lag die Leiche eines Zauberers mit dem Gesicht im Straßendreck. Eine Mistgabel steckte in ihrem Rücken.
Araghast wandte den Blick ab und sah nach oben in den Regen. Er hatte die Schnauze gestrichen voll von dieser Welt. Ein dickes Bündel glühender, pulsierender Linien verlief vom Dach der Bibliothek in Richtung Patrizierpalast. Und eben auf die Bibliothek steuerte Schannon zu.
Mittlerweile galt es in der Wache als Allgemeinwissen, daß sich die Dinge aus den Kerkerdimensionen von Magie zu ernähren pflegten. Und die größte Sammlung magischer Bücher auf der gesamten Scheibenwelt durfte ihnen die willkommenste Futterquelle überhaupt sein...
Araghast blieb abrupt stehen.
"Schannon!" schrie er. "Wer hat dich bezahlt?"
Wie in Zeitlupe wandte sich der Assassine zu ihm um, die Augen zwei pechfarbene Abgründe in einem wie aus Stein gemeißelten Gesicht. Aus dem Augenwinkel sah Araghast wie sich Kamerun mit erhobenem Schwert neben ihn stellte.
"Das dachtest du dir wohl so, uns in das Gebäude zu jagen, in dem sich die Macht der URALTEN RIESEN als Nächstes manifestieren wird!" brüllte er Schannon an. "Ich weiß genau, daß es dir immer nur um blankes Geld geht! Also, wer hat dich dafür bezahlt, uns beide in eine Falle zu locken und entgültig zu beseitigen, A'Shanon Goryn Thalion Iskariot Majere?"
Der Assassine wurde kreidebleich.
"Woher kennst du meinen wahren Namen?" stieß er hervor.
"Ganz einfach." knurrte Araghast. "Ich habe jeden einzelnen von diesen verdammten Wollas-Romanen gelesen. Also nochmal - wer hat für unser Ableben bezahlt? Rede, oder ich tue irgend etwas von dem ich selbst noch nicht mal weiß, daß ich dazu fähig bin!"
Er ballte die Fäuste. Etwas noch nie Dagewesenes prickelte durch seine Finger und er verspürte eine plötzliche innere Ruhe. Er bewegte sich wieder auf dem vertrauten Gebiet der püschologischen Kriegsführung mit all ihren Bluffereien und leeren Drohungen.
Unendlich langsam, wie in Zeitlupe, nickte Schannon.
"Er kam vor einigen Tagen zu mir und nannte keinen Namen. Hochgewachsen war er, mager und trug einen dunkelblauen Anzug. Sein Haar war fein, braun und zu einem Seitenscheitel gekämmt. Und er rauchte abscheulich stinkende Zigarren."
"Philipp Howards Kraftlieb!" rief Araghast aus.
Schannons Lippen verengten sich zu einem Schlitz.
"Er bezahlte mir eine Menge Geld dafür, daß ich erstens schwieg und zweitens tat was ich nun tun muss." sagte er. "Und so leid es mir auch tut, ein Vertrag ist ein Vertrag. Und daß sich seine Interessen größtenteils mit denen von Eddie deckten war reiner Zufall."
Schneller als Araghast es wahrnehmen konnte hatte sich der Mörder vor niemandens Gnaden bewegt und die scharfe Schneide eines Dolches zitterte nur Millimeter über Kameruns Kehle. Der junge Kämpfer stand da wie vom Blitz erschlagen.
"Vorwärts." befahl Schannon mit Samtstimme. "Du möchtest doch nicht, daß der kleine Zauberer seinen hochgeschätzten Bruder verliert, nur weil du nicht hören wolltest? Außerdem will ich nicht, daß du zu lange zögerst. Dafür ist dein Leben zu wertvoll, Hexer."
Widerwillig setzte sich Araghast in Bewegung. Wieder Philipp Howards Kraftlieb. Er hätte es sich beinahe denken können. Giftgrüne Entladungen knisterten über die steinernen Wände des Bibliotheksgebäudes, dessen Eingang einem schwarzen Schlund glich.
"Begreif es endlich, Hexer." sagte Schannons schneidende Stimme leise hinter ihm. "Mein... Kunde wollte, daß du am Leben bleibst. Der einzige Weg zurück führt durch die Bibliothek."
Verflucht. Dreimal verflucht.
Araghast fühlte sich wie vom Blitz getroffen als sich das volle Ausmaß der Verschwörung vor ihm entfaltete wie ein achatenes Origamimuster. Kraftlieb hatte sie in diese Wirklichkeit geschickt um den Hexer von Ankh zu holen. Doch nicht den Hexer von Ankh dieser Wirklichkeit, wie sie immer geglaubt hatten... Mit der Linken tastete er nach seinem Haaransatz, während er mit der Rechten sein Entermesser zog. Kraftlieb würde braten wenn dieser Alptraum endlich vorbei war...
"Gehen wir." sagte er nur und betrat das Gebäude.
Im Inneren sah es aus wie nach wiederholtem schwerem Katapultbeschuss. Vereinzelte Steine waren aus der Decke herausgebrochen und herumwirbelnder Staub erschwerte das Atmen. Araghast, Schannon und Kamerun hasteten den Flur entlang. Mit seiner verzerrten Sicht gewahrte der Feldwebel ein feines Geflecht grüner Adern, das sich zur Decke zu immer dickeren Schläuchen vereinigte. Gleichzeitig war ihm als ob die Winkel in denen Boden, Decke und Wände zueinander standen, nicht stimmten...
Ein Schlag wie von einem gewaltigen Hammer erschütterte die Bibliothek.
"Thuuuul" zischte eine körperlose Stimme als weitere Steine aus der Decke fielen und die drei Eindringlinge nur knapp verfehlten.
Die Tür zur Hauptbibliothek existierte nicht mehr. Eine zähflüssige, bläulich glühende Masse floss langsam den steinernen Torbogen hinab. Araghast und seine Begleiter hasteten in den gewaltigen Raum und wurden von der Wucht des Lärmes schier erschlagen. Unzählige Zauberbücher rissen verzweifelt an ihren Ketten und zerfetzten einander in ihrer Panik gegenseitig. Von der großen Kuppel war nicht mehr als ein Haufen scharfkantiger Glasscherben übrig geblieben und strömender Regen fiel ungehindert durch das so entstandene Loch in der Decke.
"Immer geradeaus!" schrie Schannon gegen den Lärm an. "Schaut nicht mach links oder rechts und verlasst auf gar keinen Fall den Weg!"
"Verstanden." brüllte Araghast zurück und griff Kameruns Hand. Dieser riss sich los.
"Der Kleine! Ohne ihn gehe ich nicht!"
Araghast knirschte mit den Zähnen. Natürlich hatten sie den schlimmsten aller Fehler den man in einem Gruselheft nur begehen konnte begangen und sich getrennt. Und nun, wo die gestaltgewordene Apokralypse in jeder Sekunde über sie hereinbrechen konnte und ihnen der langersehnte Fluchtweg offen stand, weigerte sich dieses dumme Riesenross von einem Helden auf einmal, die einmalige Gelegenheit zum Verduften wahrzunehmen.
"Dann bleib hier und werd wahnsinnig, verdammt noch mal!" schrie er zurück. "Du kannst deinen Bruder nicht retten! Nicht dieses Mal!" Gestein krachte und die Wände begannen, sich nach innen zu wölben. Tentakelartige Schatten von schier unfassbarer Schwärze zeichneten sich auf dem groben Mauerwerk ab.
Der messerscharfe Glassplitter schien aus dem Nirgendwo herabzufallen und bohrte sich treffsicher in Schannons Hals. Der Meuchler stieß ein gurgelndes Geräusch aus und sackte auf die Knie, während rotes Blut in rhythmischen Stößen aus der tödlichen Wunde sprudelte. Verschwindet, formulierten Schannons Lippen lautlos. Die unzähligen schattigen Tentakel lösten sich von den Wänden und schlängelten sich unaufhaltsam auf die Mitte der Bibliothek zu.
Araghast schlug Kamerun gegen die Schulter.
"Du hast die Wahl, Held. Komm mit oder stirb!"
Dann rannte er los ohne noch einmal zurückzublicken.

Araghast lief. Unter ihm schien sich die Wirklichkeit in für den menschlichen Verstand unfassbare Dimensionen zu krümmen. Schemenhaft gewahrte er lange Bücherregale, die seinen Weg säumten und er widerstand nur mühsam der Versuchung, einen Blick darauf zu werfen. Schaut nicht mach links oder rechts und verlasst auf gar keinen Fall den Weg! Schannons letzte Warnung hallte in seinem Kopf wieder. Der Mörder vor niemandens Gnaden war tot. Genau wie Kamerun, falls er Araghast nicht doch in allerletzter Sekunde gefolgt war. Der Feldwebel zeichnete zwei weitere Striche auf die mittlerweile recht lange imaginäre Liste der Dinge die er Philipp Howards Kraftlieb heimzahlen wollte. Eine endlose Reihe von Hättes ging ihm durch den Kopf. Hätte er sich in jener schicksalshaften Nacht bloß nicht so sinnlos betrunken, um dann mit dem Kopf auf dem verdammten Buch einzuschlafen. Hätte er bloß niemals die Visitenkarte der vermutlich nun auch toten Edwina Walerius angenommen. Und vor allem wünschte er sich, daß er vor knapp drei Jahren diesen seltsamen Laden nicht betreten und das Buch, mit dem der ganze Ärger angefangen hatte, nie gekauft hätte.
Eine weiße Mauer ragte vor Araghast auf. Ihre Grenzen waren nicht zu erkennen. Für einen Augenblick war der Feldwebel versucht, anzuhalten, doch eine innere Stimme sagte ihm, daß dies sein Ende sein würde. Immer weiterlaufen. Sich nicht umdrehen. Nur so würde er hier lebend herauskommen.
Je näher er der Mauer kam desto winziger fühlte er sich und sein Verstand begann, ihm Streiche zu spielen. Er sah sein Büro im Wachhaus. Philipp Howards Kraftliebs Ruf des Cthulhupalhulhu lag aufgeschlagen auf dem Schreibtisch. Das Papier war von roten Tropfen und einem ebenso roten Handabdruck verunstaltet. Vor dem Fenster stand ein wild gestikulierender Valdimier van Varwald, der offensichtlich versuchte, Kanndra, Kolumbini und Skilla etwas zu erklären. Während er noch versuchte, aus der Szene schlau zu werden, stürzte er plötzlich auf das Buch zu. Immer größer wurden die vertrauten Buchstaben, bis sie schließlich vor seinen Augen verschwammen. Für einen Augenblick glaubte er, durch weiche Watte zu fallen, bis etwas ihn abrupt zur Seite riss. Araghast war, als würde das gesamte Multiversum um ihn herum kräftig niesen. Hilflos fiel er durch die Schwärze. Raum und Zeit verloren jegliche Bedeutung.
Der Feldwebel konnte nicht sagen wie lange er sich in jenem scheinbar körperlosen Zustand befunden hatte, als er wieder festen Boden unter den Füßen spürte. Sich an Schannons Worte erinnernd rannte er weiter. Wieder flogen endlose Bücherregale an ihm vorbei und die Wirklichkeit wand sich in kopfschmerzenverursachenden Schleifen. Endlich tat sich eine Lücke vor Araghast auf. Seine letzten Kräfte mobilisierend hielt der Feldwebel darauf zu und stolperte schließlich auf den freien Platz unter der großen Glaskuppel der Universitätsbibliothek.
Keuchend sackte Araghast gegen ein Lesepult und ließ seinen Blick erschöpft durch den Raum schweifen. Die Bibliothek wies nicht die geringsten Spuren von Zerstörung auf. Das leise Rascheln unzähliger Zauberbücher erfüllte den Raum mit einem beruhigenden Hintergrundgeräusch. Hinter einem glänzend polierten Schreibtisch saß der Bibliothekar und drückte mit den Händen einen Stempel in ein Buch, während er mit den Füßen eine Banane schälte.
"Ugh?" fragte er und sah von seiner Arbeit auf.
Hektisch befreite Araghast seine Dienstmarke aus der Brusttasche seines nassen, blutbefleckten Hemdes und hielt sie dem Orang-Utan entgegen.
"Das NECROTELICOMNICON!" brachte er hervor. "Ist es noch hier?"
Gemächlich schob sich der Bibliothekar die Hälfte der Banane in den Mund und salutierte. Anschließend nickte er.
"Dem Gott der Wächter sei Dank." murmelte Araghast und trat an den Schreibtisch heran, während die zweite Bananenhälfte zwischen den wulstigen Lippen des Bibliothekars verschwand. Er konnte nicht genau sagen wie, aber er hatte es geschafft. Vorerst.
Das Poltern lauter Schritte ließ ihn aufblicken. Kamerun Quetschkorn stürmte mit gezogenem Schwert aus einer Lücke zwischen den Regalen. Sein Gesicht war eine leichenblasse Maske des Entsetzens und schwarzer Schleim tropfte von Hildegards Schneide.
"Dddd... die Schwärze!" stammelte er. "Der... der Sturz!"
"Kamerun." Araghast brachte ein müdes Lächeln zustande. "Ich bin verdammt froh, daß du hier bist."
"Ich... ich auch." stöhnte der Nachwuchsheld nachdem er seine Umgebung in Augenschein genommen hatte. "Diese Höhe... ich will nie wieder fallen."
"Das wirst du nicht. Wir sind zu Hause."
"Ugh-ugh! Ugh!" Eine kräftige Hand klopfte auf Araghasts verletzte Schulter und nur mühsam unterdrückte der Feldwebel einen Schmerzensschrei. Nun begann der schwierige Teil.
"Hör zu." sagte er zu dem Bibliothekar. "Professor Emanuel Kaboltzmann will unbedingt das NECROTELICOMNICON stehlen. Ein Ding aus den Kerkerdimensionen ist in seinen Körper gefahren und tötet alles was sich ihm in den Weg stellt. Deshalb tu der Wache und der gesamten Stadt den riesigen Gefallen und verbarrikadiere die Bibliothekstür von innen sobald mein Begleiter und ich hier raus sind. Bitte! Wenn Kaboltzmann das Buch in die Finger kriegt kommt es zur Katastrophe!"
Der Bibliothekar legte den Kopf schief und schien angestrengt nachzudenken.
"Ugh?" sagte er schließlich und deutete mit einem schwieligen Zeigefinger auf Araghasts Haaransatz.
"Ich weiß." seufzte der Feldwebel. "Die Strähne bedeutet im Klartext, daß am Ende ich der Dumme sein werde, der dieses Ding das nicht sein darf endgültig erledigen muss."
"Iiek." sagte der Bibliothekar und sprang vom Schreibtisch. Mit je einer Hand umfasste er Kameruns und Araghasts Handgelenke und beförderte sie sanft aber unnachgiebig in Richtung Tür.

Heldensache


Die donnernden Geräusche jenseits der großen Doppeltür ließen keinen Zweifel daran, daß jemand diverse Möbelstücke hastig aufeinanderstapelte. Kamerun lehnte sich gegen das massive Holz und legte die Hand auf den Schwertgriff. Er war wieder zu Hause. Doch zu welchem Preis...
Das andere Ankh-Morpork musste mittlerweile nicht mehr als ein von Wahnsinnigen durchstreifter Trümmerhaufen sein. Und sein Zwillingsbruder, die Person die ihm auf der ganzen Scheibenwelt am meisten bedeutete, befand sich immer noch irgendwo dort inmitten dieses wahrgewordenen Alptraums. Vielleicht geschah nun doch noch, was er immer wieder geträumt hatte. Die URALTEN RIESEN schnappten sich den wehrlosen Raistan, zerstörten alle Menschlichkeit in ihm und ließen ihn anschließend als ihr williges Werkzeug wieder zurück in die heimische Wirklichkeit.
Du kannst mich nicht retten, Großer. Niemand kann mich mehr retten. Ich bin verdammt und verloren für immer und ewig.
Wie Hohngelächter hallten die im Traum gesprochenen Worte in Kameruns Kopf wieder. Der junge Held knirschte mit den Zähnen. Es stand für ihn völlig außer Frage, daß er alles tun würde um die Seele seines Bruders zu retten. Der Kleine hatte von allen Bewohnern der Scheibenwelt ein solches Ende am allerwenigsten verdient.
Araghast Breguyar hatte behauptet, Gerechtigkeit sei lediglich eine Illusion. Doch Kamerun glaubte nicht daran. Er war groß, kräftig und besaß ein langes, scharfes Schwert. Ob er es nun schaffte, seinen Bruder zu retten, oder nicht - Dieser Kraftlieb oder wer auch immer hinter allem steckte würde sich schon bald dem Zorn eines wahren Helden gegenübersehen.
Doch bevor sie zu ihrer wohlverdienten heroischen Vergeltung schreiten konnten mussten Araghast und er zusehen, daß sie das widernatürliche Wesen in Emanuel Kaboltzmanns Körper zur Strecke brachten.
In finstere Gedanken versunken, die angefüllt waren von Blut, Tod und Rache, ließ Kamerun seinen Blick durch den in ein düsteres Zwielicht gehüllten Gang schweifen. Die steinernen Bögen und Säulen mit den eingemeißelten Blattverzierungen erinnerten ihn an den Brustkorb eines gewaltigen Tieres. Kein Wunder, daß in der gesamten Zeit in der er hier Wache stand nicht eine einzige Person vorbeigekommen war. Ein erstickender Schleier der Bedrohung hatte sich über den gesamten Bibliothekstrakt gelegt und sämtliche Geschäftigkeit zum Erliegen gebracht. Kamerun runzelte die Stirn. Zu oft hatte er in den vergangenen Tagen das schleichende Grauen der URALTEN RIESEN verspürt. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Vorsichtig lockerte er das Schwert in der Scheide. Etwas in ihm ahnte, daß bald etwas passieren würde. Bald war es dunkel dort draußen. Dann würde das Ding aus seinem Versteck gekrochen kommen und versuchen, in die Bibliothek einzudringen.
"Nicht mit mir, Cthulhupludingsbums!" teilte Kamerun dem leeren Gang mit um sich Mut zu machen. "Erst musst du an einem wirklichen Helden vorbei!"
Verzweifelt versuchte er, nicht an das niedergebrannte Haus und seine im Schlaf verbrannten Mitbewohner zu denken. Durch den Kleinen wusste er nur zu gut, was ein geübter Zauberer mit einer Handbewegung und einigen Worten alles anzurichten vermochte. Und dieses Wissen beruhigte ihn keineswegs. Kamerun sandte ein Stoßgebet zu Brassica, daß der Feldwebel es mit dem Stockdegen wieder hierher zurückschaffte, bevor der besessene Kaboltzmann auftauchte.
Angst. Ein solches Gefühl ziemte sich nicht für einen Helden. Raistan hatte immer gesagt, es gäbe einen kleinen aber feinen Unterschied zwischen Heldenmut und akuter Lebensmüdigkeit. Früher hatte Kamerun darüber gelacht. Mittlerweile war er Gefahren begegnet, gegen die ein offenen Kampf den sicheren Tod oder noch viel Schlimmeres bedeutete. Manchmal war es einfach besser, den Rückzug anzutreten.
Doch aus dieser Situation gab es kein Entkommen. Er, Kamerun Horatio Quetschkorn aus Kohldorf, Sto Barrat, war vom Schicksal dazu bestimmt worden, an der Rettung der Scheibenwelt teilzuhaben, selbst wenn es ihn sein eigenes Leben kosten sollte. Der junge Kämpfer schluckte. Wenn er überlebte, galt er bestimmt als wahrer Held und würde mit Ruhm überhäuft werden. Starb er jedoch den würdigen Heldentod im Kampf, blieb nur noch die Hoffnung, daß sich irgend jemand an ihn erinnerte und eine Gedenktafel in der großen Halle der Heldengilde aufhängte.
Ob sich Wächter ähnlich fühlten? Sie riskierten jeden Tag ihr Leben um den Sumpf des Verbrechens zumindest ansatzweise trockenzulegen. Auch wenn ihre Gegner nur selten von übernatürlicher Abstammung waren.
Das leise Scharren von Stiefelsohlen auf Stein ließ Kamerun zusammenfahren. Seine Nackenhaare stellten sich auf und die Knöchel seiner rechten Hand, mit der er den Schwertgriff umklammerte, traten weiß hervor als er so lautlos wie möglich die Waffe zog. Es war soweit.
Eine schlanke Gestalt bog um die Biegung des Ganges und kam lässig auf Kamerun zugeschlendert. Rotes Haar schimmerte im letzten Tageslicht und die Form des Körpers deutete an, daß es sich um eine Frau handelte.
Kamerun schnappte nach Luft. Er hatte mit allem gerechnet, von peitschenden Tentakeln bis zu einem Emanuel Kaboltzmann mit Schaum vor dem Mund. Das Erscheinen der Dame deren einzige Bekleidung aus einem hautengen grünen Ganzkörperanzug zu bestehen schien hatte ihn völlig aus dem Konzept gebracht.
Ihr Kopf wandte sich ihm zu und er erkannte, daß ihre Augen von einer Sonnenbrille verdeckt wurden.
"Im Namen der Wache, was tust du hier?" fragte sie und wie aus dem Nichts erschien eine Dienstmarke in ihrer linken Hand.
Erleichtert atmete Kamerun aus. Eine Wächterin. Doch warum trug sie eine Sonnenbrille? Unwillkürlich musste er an golden glühende Augen mit sanduhrförmigen Pupillen denken, das einzige äußere Zeichen offensichtlicher Besessenheit, und seine Muskeln spannten sich wieder an.
"Runter mit der Sonnenbrille!" rief er.
Die Wächterin zuckte mit den Schultern.
"Wenn du unbedingt meinst - aber wer bist du und was hast du hier zu suchen?" Die Dienstmarke verschwand im Halsausschnitt ihren seltsamen Anzugs.
"Mein Name ist Kamerun der Dinge-aus-den-Kerkerdimensionen-Jäger. Euer Feldwebel Breguyar hat mich gebeten, hier die Bibliothek zu bewachen, bis er zurückkommt." Insgeheim war der junge Held stolz auf seine Antwort. Wenn dies alles hier vorbei war würde sein spontaner Einfall vielleicht einen wirklich prächtigen Heldennamen abgeben.
Die Lippen der Wächterin entblößten zwei Reihen scharfer, nicht ganz menschlich wirkender Zähne als sie lächelte.
"Kamerun der Dinge-aus-den-Kerkerdimensionen-Jäger. Soso."
Immer noch lächelnd schob sie ihre Sonnenbrille nach oben in ihr Haar.
Kamerun erschrak. Er hatte mit allem gerechnet. Selbst auf den widernatürlichen, brennenden Blick einer Besessenen war er vorbereitet gewesen. Doch wo sich bei anderen humanoiden Wesen die Augen befanden spannte sich lediglich von zwei Narben durchzogene Haut.
"Wie..." brachte er hervor.
"Ich bin von Geburt an blind." sagte die Wächterin leise. "Sehen kann ich nur mit Hilfe eines magischen Amuletts."
"Das tut mir leid."
"Oh, es braucht dir nicht leid zu tun. Ich bin daran gewöhnt, die Welt auf eine etwas andere Weise zu sehen. Zum Beispiel sehe ich, daß du ziemlich erschöpft bist."
"Ich hatte einen harten Tag." Kamerun ließ den Kopf sinken. "Euer Feldwebel und ich haben einiges durchgemacht bis wir einen Weg gefunden haben, dieses Viech aus den Kerkerdimensionen endgültig zu erledigen. Er ist nun los, die Waffe holen."
"Natürlich wird er das tun." Die Wächterin trat an ihn heran und legte ihm ihre Hand auf die Schulter. Ein seltsames Gefühl der Kälte ging von ihren Fingern aus und der junge Held schauderte. Erst jetzt aus der Nähe fiel ihm auf, daß sich ihr Brustkorb unter dem gummiartigen Anzug nicht hob und senkte. "Aber bis dahin werde ich längst mit dir fertig sein, Kamerun Dinge-aus-den-Kerkerdimensionen-Jäger."
Ein Pfeil aus Eis schien Kameruns Arm von einer Sekunde auf die andere zu lähmen. Ein fürchterliches, nervenzerfetzendes Kreischen gellte durch seinen Kopf.
Du unverbesserlicher Idiot, schrie ihn der letzte vom Hauch des Wahnsinns noch unberührte Teil seines Bewusstseins zu, als er zurücktaumelte. Du bist geradewegs in die Falle gerannt!"
Das Gesicht der Wächterin verzerrte sich zu einer Fratze und ihre Fingernägel wuchsen in Bruchteilen einer Sekunde zu langen, messerscharfen Krallen heran.
"Ph'nglui mglw'nafh Cthulhupalhulhu Leshp wgah'nagl fhtagn!!!!!" zischte sie mit einer unmenschlich verzerrten Stimme und stürzte sich auf Kamerun.

Die Jagd


Als der vertraute Umriss des Wachhauses am Pseudopolisplatz im Regen vor ihm auftauchte hätte Araghast beinahe gejubelt. Dieser Teil des Unternehmens Jagen-wir-Herrn-Hongs-Nemesis-wieder-dorthin-zurück-wo-sie-hingehört war geglückt. Nun begannen die Schwierigkeiten. Wie brachte er es möglichst geschickt fertig, ungesehen ins Wachhaus zu gelangen, den Stockdegen aus Skillas Büro zu holen und wieder zu verschwinden? Er atmete tief durch. Das Fenster seines Büros kam nicht in Frage. Wie er Kanndra einschätzte hatte sie bestimmt dort die Einsatzzentrale hinverlegt. Also musste er es mit Dreistigkeit versuchen und darauf bauen, daß der Tresenrekrut zu eingeschüchtert war um Alarm zu schlagen.
In einer Sache jedoch war er immer noch völlig verwirrt. Er war tagelang in der falschen Wirklichkeit gefangen gewesen. Warum hatten alle Zeitungen auf den Handkarren der Verkäufer immer noch das Datum des Tages angezeigt an dem Kraftlieb ihn entführt hatte? Araghast beschloss, dieses Mysterium später zu lösen. Überhaupt hatte er das Gefühl, daß ihm seine veränderte Wahrnehmung Streiche spielte. Auf der Messingbrücke war eine zierliche, in einen dunklen Kapuzenmantel gehüllte Gestalt auf der gegenüberliegenden Straßenseite an ihm vorübergelaufen und für einen Moment hatte er geglaubt, den jungen Raistan erkannt zu haben. Sogar der Stab hätte gestimmt. Araghast schüttelte den Kopf. Kameruns Bruder war höchstwahrscheinlich mittlerweile entweder tot oder wahnsinnig. Leise fluchend pirschte sich der Feldwebel an das Wachhaustor heran. Selbst mit bestem Willen hätte er Edwina und Raistan nicht zu retten vermocht. Sie gehörten zu den Opfern in einem Spiel das Araghast immer noch nicht zur Gänze durchschaut hatte.
Mit dem Ärmel seines triefenden Mantels wischte er sich über das Gesicht und hoffte, durch den anhaltenden Regen zumindest das gröbste Blut losgeworden zu sein. Seine angeschossene Schulter pochte. Wehe demjenigen der es wagte, irgendwelche dummen Fragen zu stellen. Das hier war, allen blechbezungten Okkultismusexpertinnen zum Trotz, sein Fall. Und wie es aussah war er wirklich der einzige, der ihn zu Ende bringen konnte. Abgesehen davon, je weniger Zuschauer es gab wenn er den Stockdegen aktivierte und einen Menschen töten musste, desto besser...
Während er beobachtete wie eine SEALS-Streife das Wachhaus verließ streckte Araghast seinem inneren Vampir die Zunge heraus. Zumindest ein Gutes hatte die ganze Hexer-Sache. Das Erbe seines Vaters hatte sich seit der Verwundung durch den URALTEN RIESEN erstaunlich ruhig verhalten.
Nun, wir werden ja sehen, wer von uns beiden am Ende lacht, dachte Araghast und sah den beiden Streifenwächtern nach wie sie im Regen verschwanden. Als er sie nicht mehr sehen konnte stieß er die schwere Wachhaustür auf und trat ein. Wie selbstverständlich schlenderte er durch die Halle am Tresen vorbei, winkte dem ihm unbekannten Rekruten einen kurzen Gruß zu und stieg die Treppen hinauf, eine Spur von Wassertropfen hinter sich lassend.
"Na bitte." murmelte er zufrieden. "Frechheit siegt."
Der Weg bis zu Skillas Büro erwies sich hingegen als nicht mehr so einfach. Mehrmals rettete ihn nur noch ein schneller Rückzug vor dem Entdecktwerden. Konnten die ganzen Kollegen nicht einfach mal für einige Zeit in ihren Büros sitzen bleiben? Er hatte es schließlich verflucht eilig.
Rennend bog er um die letzte Ecke und prallte unsanft mit jemandem zusammen. Mehrere Akten gingen zu Boden.
"Tschuldigung." sagte Araghast nur und eilte weiter zu Skillas Büro. Schwungvoll riss er die Tür auf und wollte gerade eintreten, als er vom Gang ein lautes "He!" hörte.
Ein alter Piratenfluch kam über seine Lippen als er die Tür hinter sich ins Schloss warf, bereit, Skilla zu überrumpeln bevor sie schreien konnte. Zu seiner unendlichen Erleichterung war das Büro jedoch unbesetzt. Hektisch begann er, den Raum nach einem langen, schmalen Bündel abzusuchen, während er sich insgeheim ausrechnete wie lange es dauerte bis der Wächter den er umgerannt hatte Alarm schlug. Vielleicht sollte er doch auf Nummer sicher gehen. Er packte den Besucherstuhl und schob ihn mit der Lehne unter die Türklinke. Das würde zwar nur so lange vorhalten bis sich ein Wächter mit übermenschlichen Kräften die Tür vornahm, war jedoch besser als nichts.
Plötzlich musste Araghast grinsen. Es war wieder einmal fast wie ein einem Wollas-Roman. Oft genug war der Hexer von Ankh trotz aller Vorsichtsmaßnahmen beim Eindringen in ein Gebäude entdeckt worden und musste sich den gesuchten Gegenstand in aller Eile beschaffen während sämtliche übrigen Hausbewohner hinter ihm her waren.
Schon hämmerte von außen jemand gegen die Tür und der Griff wurde hektisch auf- und abbewegt.
"Bregs? Bist du das wirklich?"
Araghast schickte ein stummes Stoßgebet zum Gott der Wächter während er den Schrank durchwühlte. Valdimier. Der hatte ihm gerade noch gefehlt.
"Bregs! Mach auf! Geht es dir gut?"
Die Tür erbebte unter einem gewaltigen Schlag und für Bruchteile einer Sekunde fühlte sich der Feldwebel als hätte ihn etwas in die einstürzende Bibliothek zurückversetzt. Er presste die Lippen aufeinander und warf sich auf den Boden um unter die Möbel zu schauen. Warum hatte diese dumme Nuss den Degen bloß versteckt? Hatte sie etwa, wie er insgeheim zugeben musste berechtigte, Angst davor gehabt, daß er die Hexer-Waffe heimlich stehlen wollte? Oder befand sich der Stockdegen längst in der Asservatenkammer im Regal der Gegenstände unbekannter Herkunft?
"Araghast Breguyar, Sör!" Das war unverkennbar Nyvania. "Wir wissen alle, daß du im Moment ziemliche püschische Probleme hast. Wir wollen dir nur helfen!"
Da, ein Blinken unter dem Schrank! Araghast streckte seinen Arm aus und seine Finger berührten die glatten Flächen eines gleichmäßig geschliffenen Kristalls. Eine Woge der Erleichterung durchströmte ihn. Wieder ein Problem gelöst. Er zog den Stockdegen hervor und klemmte ihn unter seinen Gürtel. Da vor der Tür seine Kollegen lauerten blieb dem Feldwebel nur noch ein Fluchtweg. Es war nur noch eine Frage von Sekunden bis Valdimier die Tür einfach eingeschlagen hatte. Die Angeln ächzten unter den regelmäßigen Schlägen.
Araghast stieß das Fenster auf und dankte dem Kommandeur dafür, das Okkultistenbüro in den zweiten Stock gelegt zu haben. Der Feldwebel kletterte auf die Fensterbank und seine Finger schlossen sich um die Regenrinne. Während er sich mit höllisch schmerzender Schulter auf das rutschige Dach zog musste er plötzlich daran denken, daß er im Laufe dieses scheinbar nie enden wollenden Tages schon einmal auf die gleiche Weise aus dem Wachhaus geflohen war. Ein sehr Hexer-artiger Abgang, wie ihm plötzlich bewusst wurde. Am liebsten hätte er seine Kollegen noch einen netten kleinen Zauber in den Weg geworfen, doch der bloße Gedanke daran ließ ihn schnell wieder von dieser Idee Abstand nehmen. Er hatte nicht die geringste Ahnung wie er mit der Hexermagie umgehen sollte und die versehentliche Sprengung des Wachhauses wollte er lieber nicht auch noch auf seine Liste der dienstlichen Verfehlungen schreiben.
So blieb ihm nur noch die Hoffnung, daß Valdimier ihn nicht allzu schnell fand.

Die wenigen Passanten wichen ihm freiwillig aus als er durch die Straßen stürmte und Araghast konnte es ihnen nicht einmal verübeln. Mit seinen nassen, blutbespritzten Kleidern, den Waffen an seinem Gürtel und der schneeweißen Strähne im aufgelösten, langen Haar musste er wirklich wie ein entlaufener Verrückter wirken. Mit den Fingerkuppen strich er über den Kristallknauf des Stockdegens, während er sich ausmalte wie seine Kollegen sämtliche im Wachhaus anwesende Püschologen alarmierten. Ihren panischen Worten an der Tür nach zu schließen hielten sie ihn nun für endgültig ausgerastet.
Warum habt ihr nicht einfach auf mich gehört, fragte sich Araghast in aller Stille. Ich mag zwar massive Probleme mit meiner Spezies haben, aber unzurechnungsfähig bin ich deshalb noch lange nicht.
Als er die Hälfte der Acht Tödlichen Sünden hinter sich gebracht hatte, flog ein schwarzer Schatten an ihm vorbei. Araghast fluchte lautlos, als das vertraute plopp seine Ohren erreichte.
Valdimier van Varwald stand mitten auf der Straße und versperrte ihm den Weg.
"Wir wollen dir nur helfen, Bregs." sagte er.
Dem Feldwebel blieb gar nichts anderes übrig, als anzuhalten.
"Was willst du, Valdimier? Die gesamte Scheibenwelt ist in Gefahr! Lass mich verdammt noch mal durch!"
"Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist." sagte der Vampir. "Was hat dieses verrückte Walerius-Weib mit dir angestellt? Hältst du dich nun schon für den Hexer von Ankh? Was du brauchst ist viel Ruhe und püschologische Betreuung."
Ich bin der Hexer von Ankh, du Hornochse, hätte Araghast am liebsten geantwortet, doch er schluckte die Antwort herunter. Jede Sekunde zählte und er stritt sich hier mit jemandem herum den er immer für seinen Freund gehalten hatte.
"Die Strähne." antwortete er stattdessen mit gepresster Stimme. "Das ist nur ein Trick. Püschologie, verstehst du? Und jetzt lass mich gehen! Es ist wichtig!"
"Wo bist du den ganzen Tag über gewesen?" wollte Valdimier wissen.
"Das geht dich nichts an!"
"Und ob es mich etwas angeht. Du verschwindest spurlos und deine erste Tat nach deinem Wiederauftauchen ist es, den Gegenstand zu klauen hinter dem du schon seit Tagen hergeierst. Bitte, Bregs! Wir wollen nur, daß es dir wieder gutgeht! Du brauchst Hilfe!"
"Mir geht es so gut wie schon lange nicht mehr." knurrte Araghast. "Und nun zum letzten Mal: Lass mich durch!"
Valdimier schüttelte den Kopf.
"Nicht bevor du mir sagst was los ist."
Araghasts Auge verengte sich zu einem schmalen Schlitz. Die Zeit lief ihm durch die Finger wie Sand.
"Mach mir Platz, Chief-Korporal van Varwald und lass mich einfach in Ruhe!" bellte er. "Das ist ein verdammter Befehl!"
Zufrieden bemerkte er, daß Valdimier zusammenzuckte. Schritt für Schritt wich der Vampir zur Seite, seine Miene eine Mischung aus Verletztheit und Kummer.
"Ja, Sör." antwortete er mit gepresster Stimme.
Es tut mir leid, Val, sagte Araghast lautlos als er weiterlief. Aber er hatte keine Wahl gehabt. Waren dies schon die ersten Anzeichen des Fluches der URALTEN RIESEN die ihn heimsuchten? An Valdimiers Gesichtausdruck hatte er erkannt, daß er soeben vermutlich einen jahrelangen Freund verloren hatte. Der Hexer von Ankh hatte niemals die Wahl. Araghast hatte den Fluch des Vampirismus gegen den Fluch des Hexers eingetauscht. In diesem Fall war das Heilmittel schlimmer als die Krankheit selbst.
Araghast konnte sich beim Besten Willen nicht vorstellen, wie die ganze Geschichte ausgehen würde. Zur Zeit hielten ihn sogar seine eigenen Kollegen für geistesgestört und er war sich sicher, daß Valdimier ihm unauffällig folgte. Dafür konnte er seinen langjährigen Kollegen zu gut um glauben zu können, daß Valdimier seinem Befehl blind gehorchte.
Während er durch den Regen rannte verschwamm die Wirklichkeit vor Araghasts Augen.
Wasser tropfte von seinem Hut und bildete kleine Pfützen auf dem Marmorfußboden. Araghast konnte den Atem der beiden bulligen Schläger im Nacken beinahe spüren.
"Weiter." knurrte einer der Gorillas und versetzte ihm einen unsanften Stoß mit dem Schwertknauf. Was blieb Araghast anderes übrig als sich zu fügen? Offensichtlich wollte der ominöse Boss, der sich schon mehrfach in seine Ermittlungen eingemischt hatte, mit ihm reden. Sonst hätten die beiden Handlanger ihn vermutlich schon an Ort und Stelle kaltgemacht wie einen räudigen Straßenhund.
"Halt." befahl eine Stimme aus einem Armsessel neben dem Kamin. "Das ist nahe genug." Von dem Besitzer der Stimme war nicht mehr als eine schmale Hand zu sehen, zwischen deren Fingern eine dicke, qualmende Zigarre klemmte.
Araghast blieb stehen und spürte, wie die beiden Gorillas dicht hinter ihm Aufstellung bezogen.
"Was willst du von mir?" fragte er kalt.
"Nur eine Kleinigkeit, mein Freund. Nur eine Kleinigkeit." Die Stimme im Sessel lachte leise. "Eins muss man dir lassen, du bist wirklich gut, da du immer noch am Leben bist."
"Ich bin nicht dein Freund." gab Araghast zurück. "Ein Mann wie ich hat keine Freunde mehr."
"Um so besser."
Der Private Ermittler zuckte mit den Schultern.
"Wenn du mich umnieten willst, warum tust du es nicht gleich, anstatt hier noch groß herumzuschwafeln? Ist das wieder eins von deinen Spielchen mit denen du mich in den letzten Tagen schon zur Genüge belästigt hast?"
"Scharfsinnig ist er auch noch." bemerkte die Stimme. "Ja, du hast recht mein Freund. Ich weiß, daß du nun wieder sagen wirst, ich sei nicht dein Freund. Aber bald, schon sehr bald, wirst du meine Freundschaft brauchen, Araghast Breguyar. Und du tätest gut daran, es nicht schon im Voraus mit mir zu verscherzen."
Eine hochgewachsene, schlanke Gestalt erhob sich aus dem Sessel und wandte sich dem Schnüffler zu. Die Flammen im Kamin loderten auf wie von einem plötzlichen Windstoß erfasst und beleuchteten feines, zu einem Seitenscheitel gekämmtes braunes Haar und ein blasses, eingefallenes Gesicht. Der Fremde schob sich die Zigarre in den Mundwinkel und nahm einen tiefen Zug.
"Wir werden uns wiedersehen und zwar bald."


Am Ende aller Dinge


Die Unsichtbare Universität hatte sich seit seiner nächtlichen Flucht nicht groß verändert.
Mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze war es Raistan gelungen, unerkannt an dem vor den Universitätstoren parkenden Eselskarren der Stadtwache vorbeizukommen, auf dessen Ladefläche mehrere Wächter in blau-orangenen Uniformen eine zugedeckte Bahre festzurrten. Der junge Zauberer vermutete, daß es sich bei dem Toten um ein Opfer des besessenen Kaboltzmann handelte. Ob er denjenigen wohl gekannt hatte?
Mittlerweile war Raistan so erschöpft daß er kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte. In seiner Manteltasche steckte der schwarze, achtzackige Stern, den Edwina ihm kurz vor seiner Flucht aus dem Wachhaus in die Hand gedrückt hatte. Offenbar war die Überwaldianerin sich sicher, daß es sich dabei um eine magische Waffe gegen die URALTEN RIESEN handelte. Und er, Raistan Adelmus Quetschkorn, lungenkranker Nachwuchszauberer und hoffnungsloser Nicht-Held, war nun vom Schicksal dazu ausersehen worden, ein Ding aus den Kerkerdimensionen zu bekämpfen, das Leute wie ihn wahrscheinlich mit dem kleinen Finger erledigte.
Mitten auf dem verregneten Hof blieb er stehen und ließ den stählernen Dorn aus der Spitze seines Stabes springen. Eine Sturmbö riss ihm die Kapuze vom Kopf und blies einen Schwall eisigen Wassers in sein Gesicht.
Der Husten schlug zu wie eine Schlange und schien ein glühendes Eisen in seine Brust zu drücken. Zitternd und nach Atem ringend sank Raistan auf die Knie. So würde er niemals mit einer unheimlichen Macht aus einer Dimension jenseits von Raum und Zeit fertig werden. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und betrachtete die blutige Spur, die langsam vom Regen fortgewaschen wurde. Dann musste es also so sein. Ein junger Zauberer starb, eine Scheibenwelt lebte. Raistan fürchtete sich nicht vor dem Tod. Dafür hatte er dem Sensenmann schon oft genug in die leere Augenhöhle geblickt.
Seine einzige Trauer betraf seinen Bruder. Nur zu gern hätte er ihn noch einmal wiedergesehen und ihm erklärt warum er nun tun musste was er zu tun hatte. Falls Kamerun die Rückkehr aus der falschen Realität gelingen sollte blieb nur noch Edwina Walerius um ihm Trost zuzusprechen wenn er an Raistans Grab stand.
Falls überhaupt genug von dir übrig bleibt das sich bestatten lässt.
Mühsam kämpfte Raistan sich auf die Füße und setzte stolpernd seinen Weg in Richtung Bibliothek fort. Dort würde Kaboltzmann seinen ersten Schlag führen. Der junge Zauberer sah zur großen Turmuhr auf. Die Bibliothek war bereits für die Öffentlichkeit geschlossen. Für einen Moment fragte sich Raistan, was er tun sollte, wenn das Liber Paginarum Fulvarum bereits gestohlen worden war, doch verdrängte er den Gedanken sofort wieder. Immer eines nach dem anderen.
Die Tür zum Bibliothekstrakt stand offen.
Raistan biss sich auf die blutverschmierten Lippen als er aus dem Regen in den dämmrigen Flur trat. Die Fackeln an den Wänden waren erloschen und in den Nischen zwischen den Säulen lagen tiefe Schatten. Der junge Zauberer atmete tief durch und bereute es sofort. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen. Mit zitternden Händen hielt er seinen Stab wie eine Lanze vor sich und schlich Schritt für Schritt den Gang entlang.
Eine unnatürliche Stille hüllte das Gebäude ein. Nicht einmal das gleichmäßige Prasseln des Regens drang an Raistans Ohr. Stattdessen vernahm er etwas anderes - Ein gleichmäßiges Scharren, als würde etwas rhythmisch über eine hölzerne Oberfläche kratzen.
Lautlos wie eine Katze näherte sich Raistan der letzten Biegung und fühlte sich schlagartig an seinen Alptraum in der vergangenen Nacht erinnert. Ein schwacher, fahlgrüner Lichtschimmer beleuchtete dunkle Spritzer auf dem steinernen Boden. Inmitten des größten Flecks lag ein abgetrennter Finger.
Raistan schluckte und umklammerte seinen zur Lanze umfunktionierten Zauberstab. Die tastenden Fühler des Grauens streiften sein Bewusstsein, stetig nach neuen Seelen gierend die sie in den Abgrund des Wahnsinns reißen konnten. Das Ding war hier, darin bestand kein Zweifel. Und es hatte soeben einen weiteren Mord begangen.
Um sich Mut zu machen dachte Raistan an Ewein Krawunkel, Adrian Rübensaat, Jonathan Gernerauch und die Millionen von Morporkianern die in der parallelen Wirklichkeit dem unheilbaren Wahnsinn verfallen waren. Araghast Breguyar hatte seine Furcht immer mit Hilfe des Zorns überwunden. Konnte er, Raistan, es auch schaffen, so wütend zu werden, daß ihm jegliche Gefahr völlig egal wurde?
"Ich hasse dich." wisperte er beinahe unhörbar. "Ich hasse dich dafür, daß du Kaboltzmanns Seele vernichtet und die anderen in den Wahnsinn getrieben hast. Ich hasse dich für die Hetzjagd auf den Großen und mich. Ich hasse dich für den Mord an all den Menschen in der Ulmenstraße und der Frau. Ich hasse dich, weil ich deinetwegen vor meinem Tod meinen Bruder nicht mehr wiedersehen werde. Und vor allem hasse ich dich und Philipp Howards Kraftlieb gleichermaßen für dieses gesamte kranke Spiel das ihr mit uns allen gespielt habt!"
Mit gefletschten Zähnen und blutverschmiertem Mund trat Raistan Quetschkorn um die Ecke.
"Du Schwein!" fauchte er und beachtete die Leichenteile und die riesige Blutlache auf dem Boden kaum. Schritt für Schritt ging er auf die dunkle Gestalt zu, die sich an der verschlossenen Bibliothekstür zu schaffen machte.
"Damit kommst du nie durch! Nicht in dieser Wirklichkeit!" sprach er den wohl abgedroschensten Spruch aller Zeiten aus. Die Wut die in ihm brodelte mobilisierte seine letzten Kraftreserven. Beinahe automatisch suchten sich seine Füße ihren Weg um die Überreste des grausam zerstückelten Leichnams herum. "Ich habe hier ein kleines Geschenk für dich dabei, das dir ganz bestimmt nicht gefallen wird!"
Die Gestalt wandte sich um und trat in das kränkliche Licht, das überall aus den Wänden zu strömen schien. Verdutzt erkannte Raistan, daß es sich nicht um Emanuel Kaboltzmann handelte. Vor ihm stand eine junge Frau, beziehungsweise das, was einmal eine junge Frau gewesen war. Der hautenge grüne Anzug hing in Fetzen an ihrem mit haarigen Geschwüren bedeckten Körper. Gelbe, halbverfaulte Reißzähne quollen aus ihrem Mund und ihr feuerrotes Haar wand sich gleich einer Masse peitschender Tentakel. Wo sich bei einem normalen Menschen die Augen befunden hätten, gähnten zwei von zerfetztem Fleisch eingerahmte leere Höhlen. Aus der sichtbaren Hand dieser gestaltgewordenen Bestie sprossen anstelle der Fingernägel lange, scharfe Krallen, während die zweite Hand hinter ihrem Rücken verborgen blieb.
"Soso, der kleine Zauberer ist zurück." Die Stimme des Dings erinnerte an Fingernägel, die genüsslich über eine Schiefertafel kratzten.
"Ja, ich bin zurück." antwortete Raistan und biss die Zähne zusammen als sich seine Luftröhre schmerzhaft verkrampfte.
Die Lippen der besessenen Frau verzogen sich zu der grausigen Karikatur eines Lächelns.
"Wie erfreulich." zischte sie. "Weißt du, ich habe schon gespürt, daß du kommen würdest. Deine ganzen Hasstiraden - wie überaus drollig von dir. Aber eine Sorge kann ich dir nehmen. Du musst nicht sterben, ohne dein allerliebstes Brüderchen wiedergesehen zu haben."
Mit diesen Worten zog sie die verborgene Hand hinter ihrem Rücken hervor.
Vor Entsetzen wie gelähmt stolperte Raistan mehrere Schritte zurück, mitten hinein in die Lache des Blutes, das einst in den Adern seines Zwillings geflossen war. Wie ein Sack baumelte Kameruns Kopf, festgehalten am Haar, unter der Klaue des Dings. Sein Gesicht, das Raistan kaum je anders als gutmütig und freundlich erlebt hatte, war zu einer Maske des Entsetzens erstarrt.
"Er hat nicht sehr gelitten, zumindest nicht körperlich." flötete die Besessene. "Sein Verstand erlitt so schlimme Qualen, daß er die Stückelei kaum noch gespürt hat."
Raistans Blick wanderte immer wieder zwischen dem entstellten Gesicht des Körpers, den das Ding aus den Kerkerdimensionen beherrschte, und dem abgetrennten Kopf seines Bruders hin und her. Leise, unmenschlich verzerrte Stimmen, die er mittlerweile nur zu gut kannte, begannen, Wörter einer blasphemischen Sprache in seinem Kopf zu flüstern.
Du hast ihn im Stich gelassen. Obwohl Raistan die Sätze nicht bewusst verstand, war ihre Bedeutung glasklar. Du hast ihn verraten. Und er wusste es, als er starb.
"Gib auf." grinste das Ungeheuer und schwenkte Kameruns Kopf provozierend hin und her. Blutstropfen spritzten auf dem Boden. "Das Reich des Wahnsinns wartet auf dich. Dir gönnen wir kein so leichtes Ende wie deinem Bruder."
Achtlos schubste die Besessene den Kopf in eine Ecke und ihre Umrisse schienen zu verschwinden. Den Bruchteil einer Sekunde später stand sie zwischen Raistan und dem Fluchtweg und kam langsam auf ihn zu. Der junge Zauberer wich zurück.
"Tja, ich kann mir schon denken, welche Sprüche du mir gern an den Kopf werfen würdest, kleiner Zauberer." höhnte das Ding. "Immerhin habe ich lange genug im Körper dieses Magiers gesteckt um sein gesamtes Bewusstsein auseinanderzunehmen." Mit einer raubtierartigen Bewegung sprang es vor und entriss Raistan seine Stablanze. Der Ruck warf den jungen Zauberer zu Boden, wo er hustend liegen blieb. Er hatte auf der ganzen Linie versagt. Kamerun war unter grausigen Qualen ermordet worden und er selbst war zu schwach ihn zu rächen oder überhaupt irgend etwas gegen diese Monstrosität aus den Kerkerdimensionen zu unternehmen.
Dein Vater hatte recht. höhnten die Stimmen in seinem Kopf. Du bist ein Nichts. Ein Niemand. Du bist völlig nutzlos.
Breitbeinig stand die Besessene über ihm. In ihrer Hand funkelte ein langer, scharfer Dolch.
"Willkommen in deiner ganz persönlichen Hölle, kleiner Zauberer." zischte sie und stach zu.
Raistan fühlte einen brennenden Schmerz in seiner linken Seite, der sich mit dem in seiner Brust zu einem Reigen der Pein vermischte. Hätte er die Kraft dazu besessen, hätte er geschrien, doch alles was seiner Kehle entschlüpfte war ein leises Röcheln. Seine Finger krallten sich in den Stoff seines Mantels und berührten etwas Hartes.
Das Ding aus den Kerkerdimensionen kicherte.
"Das hast du davon, kleiner Zauberer, daß du mich unter einem halben Gebäude begraben wolltest. Bevor ich mit dir fertig bin wirst du um den Wahnsinn betteln!"
Und es drehte den Dolch in der Wunde um.
Grelle Punkte tanzten vor Raistans Augen als er die Finger um Edwinas schwarzen Stern schloss. Die Schmerzen waren schlimmer als alles was er je erlebt hatte und die blasphemischen Stimmen tosten in seinem Bewusstsein und zerrten an seinem Verstand. Die verzerrte Fratze der Besessenen verschwamm zu einem ovalen Fleck vor einem glühenden Hintergrund.
Der junge Zauberer biss die Zähne zusammen und zog die Hand die den achtzackigen Stern hielt aus der Manteltasche.
"Fahr ins Pandämonium!" keuchte er mit letzter Kraft und presste den Stern gegen das Gesicht des Ungeheuers.
Ein schriller Schrei in dem nichts Menschliches lag, drang wie durch Watte an seine Ohren und er verlor das Bewusstsein.

Eine leise Melodie erfüllte die Leere. Die melancholischen Klänge eines einzelnen Saxophons, gelegentlich unterstützt von einem Piano, fanden ihren Weg in Raistan Quetschkorns Gehörgänge und erzählten eine Geschichte von regnerischen, dunklen Gassen, finsteren Schurken und einsamen Männern, die ihren Lebensfrust in billigem Schnaps ertränkten.
Vorsichtig öffnete der junge Zauberer die Augen.
Die Aussicht die sich ihm darbot enttäuschte ihn beinahe ein wenig. Als kleiner Junge hatte er sich vorgestellt, daß ihn nach seinem Tod eine bunte Welt der Geschichten erwartete, wo er, befreit von seiner Krankheit, auch endlich einmal nach Herzenslust spielen durfte. Später war diese Vorstellung einer vagen Idee einer großen Bibliothek gewichen und in den letzten Jahren seines Lebens wusste er schließlich aus der Vorlesung in theoretischer Nekromantie, daß einem nach dem Sterben zustieß, was man glaubte, verdient zu haben.
Raistan war sich ziemlich sicher, mit seiner Lebensführung keinen schäbigen, holzvertäfelten Flur provoziert zu haben, an dessen schmutzige Fenster unaufhörlich der Regen prasselte. Dazu kam die Melodie. Wo auch immer diese unsichtbaren Musiker sitzen mochten, ihr Sinn für Dramatik war auf alle Fälle stark ausgeprägt.
Der junge Zauberer blickte an sich herunter. In der Hand hielt er den pechschwarzen Stern und sein eigenes Blut bildete große, dunkelrote Flecken auf seinen Gewändern. Ein bläuliches, glühendes Band war um seinen linken Knöchel geschlungen. Mit seinem Blick verfolgte Raistan den schimmernden Faden, der ihn noch mit seinem sterbenden Körper im Flur vor der Bibliothek der Unsichtbaren Universität verband. Seltsamerweise fühlte er gar nichts. Weder den Schmerz seiner Wunden noch die Mischung aus Schock und blanker Wut, die ihn bei dem Anblick seines brutal ermordeten Bruders gepackt hatten. Nüchtern stellte er fest, daß das Schicksal einen besonderen Sinn für Ironie besaß. Raistan war zehn Minuten nach Kamerun zur Welt gekommen. Und nun war er nur kurze Zeit nach seinem Zwillingsbruder gestorben.
"Großer?" fragte er in die Leere des Ganges hinein. "Bist du hier?"
Der gleichmäßige Schlag eines Beckens, welcher sich den übrigen Fäden der Melodie hinzugesellte, bildete zusammen mit dem Prasseln des Regens gegen die Fensterscheiben die einzige Antwort die er bekam.
Verwirrt sah er sich um und stellte fest, daß er noch immer allein war. Wo blieb nur Gevatter Tod? Damals, an Großvater Hühnertaus Sterbebett, hatte der Schnitter versichert, niemals zu spät zu kommen. Raistan war ein Zauberer. Er hatte ein Anrecht darauf, von Tod persönlich ins Jenseits geleitet zu werden, also, worauf wartete der Sensenmann noch?
Aus den Augenwinkeln gewahrte er einen schwachen Lichtschimmer am Ende des Korridors. Da er nicht wusste was er sonst tun sollte, ging er langsam darauf zu. Die Melodie schien ihm auf unsichtbaren Schwingen zu folgen.
Beim Näherkommen erkannte er, daß es sich um eine Tür handelte. Dunkle Farbe blätterte von ihr ab und der Messingknauf wirkte abgegriffen. Der Lichtschimmer stammte von einer nicht zu erkennenden Quelle hinter einem großen Milchglasfenster, das in die obere Hälfte der Tür eingelassen war. Mit Serifen versehene Buchstaben bildeten einen Schriftzug auf der trüben Scheibe.

ARAGHAST BREGUYAR
PRIVATDETEKTIV


Raistan zögerte kurz, bevor er seine freie Hand auf die Klinke legte, und fragte sich, was dies nun schon wieder zu bedeuten hatte. Allmählich beschlichen ihn gewisse Zweifel, daß er wirklich gestorben war. Die ganze Szenerie erweckte vielmehr den Eindruck einer durch Erschöpfung, Blutverlust und die Nähe des Dinges hervorgerufenen Halluzination, ähnlich seinem Alptraum von den Kavernen unter Herrn Hongs Imbiss.
"Privatdetektiv." murmelte der junge Zauberer. "Warum habe ich nur das Gefühl, daß du in diesem Beruf am Besten aufgehoben wärst, Breguyar?"
Wieder antwortete ihm nur die leise, melancholische Melodie.
Raistan biss sich auf die Lippen. Er hasste es, nichts zu tun. Wenn er schon einmal hier war, konnte er auch herausfinden, was sich hinter dieser Tür befand. Kamerun jedenfalls hätte nicht gezögert, sondern sein Schwert gezogen und zum Stürmen angesetzt.
Doch Kamerun war tot. Trotz seiner Körperlosigkeit fühlte Raistan plötzlich einen Stich in seiner Brust. Er erinnerte sich an die Nacht vor drei Tagen, als das Haus in der Ulmenstraße vor seinen Augen in Flammen aufgegangen war. Oder waren es vier Tage gewesen? Raistan war sämtliches Zeitgefühl abhanden gekommen. Und nun stand er hier, außerhalb seines sterbenden Körpers, ohne eine Ahnung zu haben, in welchen Alptraum er geschickt worden war. Dieses Mal würde ihn niemand wecken. Es gab niemanden mehr, der sich um ihn kümmerte. Er war allein.
Raistans Hand schloss sich fester um Edwinas steinernen Stern. Was auch immer ihn hinter dieser Tür erwartete, es würde für den Tod seines Bruders dreifach bezahlen. Er spürte ein heißes Brennen um seinen linken Knöchel. Der blaue Faden glühte hell.
Noch lebe ich, verkündete der junge Zauberer der Scheibenwelt im Allgemeinen lautlos. Es gibt immer einen letzten Kampf.
Entschlossen drückte er die angelaufene Klinke herunter und stieß die Tür auf.
Als ob es die Dramatik der Szene spürte, spielte das Saxophon eine schnelle Tonleiter.

Eine flackernde Öllampe warf einen trüben Schein auf abgenutzte Büromöbel und ein mit verblichenen Gardinen verhangenes Fenster. Auf der Platte des wuchtigen Schreibtisches wirkten die zu drei Vierteln leere Schnapsflasche und der angelaufene Handspiegel beinahe verloren. Der dunkle Ledersessel, aus dessen Nähten stellenweise die Füllung quoll, war zur Wand gedreht. In der Luft hing der strenge Geruch teurer Zigarren.
Als Raistan ins Zimmer trat war ihm, als passe plötzlich alles zusammen. Dieses Zimmer stellte in seiner schäbigen Düsternis die Essenz all der schlimmen Dinge dar, die in den vergangenen Tagen geschehen waren. Als sich die Tür hinter ihm auf gespenstische Weise schloss, wusste er, daß er sein finales Ziel erreicht hatte. Seine nicht real existenten Nackenhaare stellten sich auf und ein unbestimmtes Gefühl der Bedrohung versetzte seiner Entschlossenheit einen empfindlichen Dämpfer. Er war nicht allein in diesem Raum.
Mit einem leisen Knarren schwang der Ledersessel herum.
Raistan trat unwillkürlich einen Schritt zurück, als er die hagere Gestalt im dunkelblauen Anzug erkannte. Ihr Gesicht war seit dem letzten Zusammentreffen merklich eingefallen. Die grauen Augen lagen tief in ihren Höhlen und sämtliches Fleisch schien aus den totenbleichen Zügen des Mannes herausgeschmolzen worden zu sein.
"Sie!" war alles, was der junge Zauberer hervorbrachte.
"Ja, ich." antwortete Philipp Howards Kraftlieb und blies eine Rauchwolke in die Luft. "Willkommen in meinem bescheidenen Reich, kleiner Magier."

Kaltes Herz


Wenn Blicke töten könnten wäre die bleiche, schwarzhaarige Wächterin unter Edwinas wütendem Starren qualvoll verendet. Das Geräusch, als sich die Zellentür hinter der Überwaldianerin geschlossen hatte, besaß einen Unterton, der sie an eine Totenglocke erinnerte. Hier saß sie, eingesperrt von der Stadtwache, während in der Unsichtbaren Universität der junge, kranke Zauberer versuchte, etwas gegen das Ding aus den Kerkerdimensionen zu unternehmen, das in der Lage war, die gesamte Scheibenwelt ins grauenerfüllte Chaos zu stoßen. Und was war mit Araghast und Kamerun? Würden sie es jemals schaffen, zurückzukehren? Edwina ballte ihre Hände zu Fäusten. Sie wollte kämpfen und gegebenenfalls an der Seite ihrer Verbündeten sterben und nicht in einer Wachhauszelle vor sich hinschimmeln während eine verdammte Blutsaugerin ihr dämliche Fragen über ihren Besessenheitszustand stellte. Was hatte sie schließlich noch zu verlieren? Die Leiche des Mannes an den sie trotz aller guter Vorsätze ihr Herz verloren hatte lag zerfetzt in einer parallelen Wirklichkeit herum. Ihr Herz war so kalt wie ein erloschenes Kaminfeuer am Morgen und alles was sie wollte war Rache an demjenigen, der all das zu verantworten hatte.
"Haben Sie an einer der Personen die Sie mutmaßlich entführt haben irgendeine Form von Besessenheit entdeckt?" fragte die Wächterin und der Metallstab in ihrer Zunge blitzte, genau wie ihre spitzen Eckzähne.
"Glaubst du, selbst wenn es so wärre, daß du irrgendetwas gegen einen derr URRALTEN RRIESEN aurrrichten könntest?" knurrte Edwina mit zusammengebissenen Zähnen. "Du weisst nicht einmal ansatzweise, worrin du gerrade herrumstocherrst, Mädel. Doch bald wirrst du es errfahrren, wenn sich Finsterrnis und Wahnsinn überr diese Welt senken."
Hastig hielt die Wächterin ein Exemplar des Buches OM vor sich.
"Ich weiß alles über Dämonen!" rief sie aus. "Und wie man sie austreibt! Ich bin Expertin für Okkultismus! Deshalb weichet von dieser Frau, ihr Ausgeburten des Pandämoniums!"
"Wie schön fürr dich." gab Edwina kalt zurück. Sie beugte sich vor. "Was wirrst du tun, wenn sich die Augen einerr Perrson, derr du schon lange verrtrrautest, plötzlich golden färrben und seine Pupillen sich zu Stundengläserrn zusammenschnürren?" zischte sie. "Wenn derr Schatten deines alten Frreundes sich in ein Gewirr von peitschenden Tentakeln verrwandelt? Wenn du in den Abgrrund blickst und derr schleichende Wahnsinn seine eisigen Fühlerr nach dirr ausstrreckt? Bist du dann immerr noch stolz darrauf, alles überr Dämonen zu wissen, oderr tust du das einzig Verrnünftige das jemand in einerr solchen Situation tun kann, nämlich um sein Leben rrennen? Die URRALTEN RRIESEN sind keine Dämonen die sich einfach so verrbannen lassen, Mädel, selbst wenn man ein blutsaugendes Ungeheuerr ist wie du. Denk an die Näherrin. Willst du auch rriskierren, daß sich eine unheilige Monstrrosität genüsslich am Geschmack deines Gehirrns weidet?"
Die Wächterin schwieg. Mit eisiger Miene lehnte sich Edwina auf der harten Pritsche zurück.
"Also." sagte sie. "Ich bin berreit, dirr zu helfen, und ich schwörre dirr bei welchem Gott auch immerr du willst, ich bin nicht besessen. Lass mich aus dieserr Zelle herraus und ich zeige dirr, wie du es vielleicht schaffen kannst, das Ding aus den Kerrkerrdimensionen zu besiegen."
Für einen Augenblick schien die Vampirin mit sich zu ringen. Edwina sah das gierige Funkeln in ihren roten Augen, die Begierde, am Ende als große Heldin dazustehen. Doch dann schüttelte die Wächterin langsam den Kopf.
"Ich durchschaue Sie." sagte sie. "Sie wollen doch nur ausbrechen und dann irgend etwas tun, was dem Ungeheuer hilft! Ihre Akte ist lang, Lady Walerius von Schlaz. Glauben Sie wirklich, ich würde Ihnen nach achtzehn Verhaftungen noch trauen?"
Mist, fluchte Edwina innerlich. Das Pflichtbewusstsein der Blutsaugerin schien ihren Ehrgeiz doch zu überflügeln.
"Natürrlich nicht." antwortete sie. "Ich bin die Arrt Perrson derr man norrmalerrweise nicht überr den Weg trraut. Werr sich mit dem Okkulten beschäftigt, kommt nun einmal nicht um gewisse Gauerrstücke herrum. Oderr wusstest du das etwa, nicht, Frräulein Experrtin?"
"Sie... sind Okkultismusexpertin?" fragte die Vampirin.
Edwina nickte grimmig. Selbst wenn sie nicht aus der Zelle herauskam, so bot sich hier doch die Gelegenheit, ihre ohnmächtige Wut an einem Opfer auszulassen.
"Schon längerr als du das B-Worrt saugst." sagte sie.
"Ich trinke kein Blut!" beschwerte sich die Wächterin.
Lässig winkte Edwina ab. Es spielte keine Rolle mehr, was sie sagte. Nichts spielte mehr eine Rolle. Falls Raistan es nicht schaffte, das Ding aufzuhalten, was sehr wahrscheinlich war, würde diese Welt innerhalb weniger Tage enden wie die Wirklichkeit ihrer Romane.
"Das ist mirr völlig gleich." antwortete sie. "Ein Vampirr ist und bleibt ein Vampirr. Seine schwarrze Seele wirrd niemals verrschwinden. Ich habe Dutzende von ihnen getötet. Einen nach dem anderren. Staub und Asche, das ist alles was von ihnen übrrig bleibt."
Der letzte Rest von Farbe wich aus dem Gesicht der Wächterin. Offenbar wusste sie nicht mehr, was sie sagen sollte. Edwina war es nur recht. Nur mühsam unterdrückte sie den Hass, der in ihr aufwallte. Der Walerius-Fluch streckte ihr die metaphorische Zunge heraus. Irgendwann mussten fünfhundert Jahre der Vampirjägerei auf ihre Familie zurückfallen. Hier saß sie, das letzte Glied einer alten Dynastie, eingesperrt in einer Zelle, während das Schicksal der Scheibenwelt an einem seidenen Faden hing. Vielleicht war dies der Moment den sich das Schicksal ausgesucht hatte, um sie für das Verbrechen zu strafen, daß sie vor vielen Jahren begangen hatte. Sie hatte sich selbst und andere belogen, all die Zeit. Selbst zwergischer Whisky hatte die Erinnerung an die schwärzesten Minuten in ihrem Leben nicht zu löschen vermocht.
Zufrieden zog Edwina die Schnüre des kleinen Lederbeutels zusammen, welcher einen Teil der Asche Breguyars von Duschen-Duschen enthielt. Meterhohe Flammen schlugen aus den schweren Wandteppichen. Klirrend zersprang ein Fenster und eine hereinwehende Bö des nahenden Gewitters fachte das Feuer weiter an. Die Vampirjägerin lächelte kalt. Bald würde von dem stolzen Schloss nicht mehr als eine ausgebrannte Ruine übrig geblieben sein.
Ein Funke traf das Banner mit dem Familienmotto des Grafen. Mit ausdrucksloser Miene beobachtete Edwina, wie die Worte In Sanguis Est Eternitas ein Raub der Flammen wurden. Breguyar hatte für das Leben ihres Vaters und ihrer Schwester bezahlt. Verächtlich schnaubend wandte sich Edwina ab und machte sich auf den Weg zum Kücheneingang. Der wütende Mob der Bewohner Duschen-Duschens würde den Rest der Arbeit für sie erledigen.
Das schmale Treppenhaus war dunkel, doch Edwina kümmerte sich nicht darum. Sie kannte jede Stufe im Schlaf. Vampirschlösser zeichneten sich durch große Ähnlichkeit untereinander aus.
Die Treppe endete in einem geräumigen Zimmer. Blankpolierte Küchengeräte hingen an den Wänden und im Herd brannte ein prasselndes Feuer. Edwina fragte sich immer wieder, welchen Zweck eine Küche erfüllte, wenn die Bewohner des Schlosses ausschließlich frischen Lebenssaft zu sich nahmen. Wahrscheinlich brutzelte Igor hier alle paar Wochen oder Monate einmal die Henkersmahlzeit der unglücklichen Reisenden, die so dumm waren, die Warnung 'Bleibt dem Schloss fern' nicht ernst zu nehmen. Der Vampirjägerin wurde plötzlich eisig kalt. Auf dem großen schmiedeeisernen Herd hatte am Abend noch das letzte Abendessen ihrer Familie vor sich hingekocht...
"Edwina. Schwester."
Die Stimme war kaum mehr als ein Wispern.
Die Atemluft zischend ausstoßend fuhr die Vampirjägerin herum, die Hand am Schwertgriff. Bekleidet mit einem hauchdünnen Nachthemd, die roten Locken gleich einem Wasserfall über Schultern und Brust fallend, stand Anita Walerius im Eingang zur Vorratskammer. Ihre Haut war weiß wie Schnee und blutige Röte zierte ihre Lippen.
Edwina fühlte sich, als habe ihr jemand einen Vorschlaghammer in die Magengrube geschlagen, als sie begriff.
"Warum, Anita?" brachte sie hervor.
Ihre Schwester lächelte und entblößte ein Paar nadelspitzer Eckzähne.
"Ich soll dir schöne Grüße von Breguyar bestellen." sagte sie. "Er hat gewusst, daß du kommen würdest um ihn zu erlegen."
Die Armbrust glitt beinahe automatisch in Edwinas Hände. Die Hand der Vampirjägerin löste sich vom Schwertgriff und zog einen Pflock aus dem Köcher, während das zufriedene Gefühl nach getaner Rache zerbröckelte wie eine altersschwache Mauer während eines Erdbebens.
"Das tust du nicht, Edwina." sagte Anita lächelnd. "Nicht deine eigene Schwester. Komm her, Edwina. Es hat nur den Biss gebraucht bis ich erkannte, was unsere Familie all die Jahre über angerichtet hat."
"Wir haben diese Bestien erledigt, damit sie Leuten nicht mehr antun konnten, was sie dir angetan haben!" schrie Edwina.
Langsam schritt die Vampirin, die einmal Anita Walerius gewesen war, auf ihre Schwester zu.
"Nein." sagte sie. "Du bist die Bestie. Du bist die Schlächterin. Für euch ist unseresgleichen nicht mehr als Freiwild."
Edwina wich zurück.
"Immerhin haben wir niemals jemandem aufgezwungen zu sein, was wir sind! Und wir verspeisen kein Menschenblut zum Abendessen! Anita! Bist du da noch irgendwo drin in diesem Scheusal?" Sie spannte den Abzug der Armbrust.
"Du kannst es nicht, Edwina." Die Eckzähne funkelten im Feuerschein. "Dazu liebst du mich zu sehr, mich, deine kleine zarte Schwester, die du immer versucht hast, zu beschützen. Zu beschützen vor dem, was ich nun bin. Der Baron hat mir ein neues Leben geschenkt, das mir so viel besser gefällt als die alte, sterbliche Existenz. Jetzt brauche ich dich nicht mehr, Edwina, dich und deinen dummen, naiven Beschützerinstinkt. Jetzt bin ich die Mächtigere von uns beiden."
Edwina spürte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen. Sie fühlte sich, als hätte man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. War denn die Liebe zwischen ihrer Schwester und ihr nichts als eine Lüge gewesen? Doch dann begriff sie. Weinend richtete sie ihre Waffe auf Anitas Herz.
"Du bist nicht Anita." sagte sie mit zitternder Stimme. "Anita Walerius ist tot, gestorben in den Moment in dem Breguyar ihr sein Blut zu trinken gab."
"Du irrst, Schwester." Die Vampirin blickte ihr direkt in die Augen. "Ich bin Lady Anita Walerius von Schlaz, erste in der Familie, die die Irrwege ihrer Vorfahren eingesehen hat. Nun bin ich endlich stark, Edwina, und dich und dein Herumgeprahle damit, der Mannersatz im Haus zu sein, endlich los. Und doch liebst du mich immer noch, du dummes, waffenschwingendes Ding."
Edwina antwortete nicht. Wortlos zog sie den Abzug ihrer Armbrust durch.
Teilnahmslos sah sie zu, wie sich das Wesen, welches einmal ihre Schwester gewesen war, schreiend auf dem Boden wälzte und langsam zu Staub zerfiel. Jegliches Triumphgefühl über Breguyars Erlegung hatte sich verflüchtigt und einer finsteren Leere Platz gemacht. Sie hatte sich das Unleben des Barons geholt. Doch seine Rache an der Familie Walerius war fürchterlicher gewesen als es sich Edwina in ihren kühlsten Träumen ausgemalt hatte.

Selbst das Wissen, daß sich ihre Schwester unter dem Bann Breguyars gefunden hatte, und der Bolzenschuss für sie die Erlösung bedeutet haben musste, hatte Edwina in all den Jahren nicht trösten können. Die nagenden Zweifel blieben. Was war, wenn Breguyar in Anita lediglich hervorgeholt hatte, was sie insgeheim schon lange über ihre Schwester dachte?
Die Geschichte wiederholte sich immer wieder, ging Edwina durch den Kopf. Unwillkürlich musste sie an die Geschichte von Cantor und Turisas Linistar aus Philipp Howards Kraftliebs Seelenschmiede denken. Cantor hatte es nicht fertiggebracht, seinen wahnsinnigen Bruder zu töten bevor dieser das Tor zu den Kerkerdimensionen öffnen konnte, während sie eiskalt den Abzug der Armbrust betätigt hatte. Anita Walerius war ein Opfer Baron Breguyars gewesen, während Turisas dem Geist Achmed Al-Alhazreds und dem NECROTELICOMNICON zum Opfer gefallen war. Der Wahnsinn besaß viele Gesichter. Und Edwina Walerius hatte dem Kampf gegen ihn und seine zahlreichen Ausgeburten schon vor langer Zeit ihren Seelenfrieden geopfert. Sie war Eddie Wollas, die Hexerin von Ankh dieser Wirklichkeit. Und als solche musste sie verdammt noch mal etwas unternehmen, selbst wenn es zu spät war. Godric Adana hätte es auch nicht anders getan.
Langsam tauchte die Überwaldianerin aus der Welt ihrer Gedanken auf und bemerkte, daß die Wächterin sie neugierig anstarrte.
"Was meinen Sie mit schwarzer Seele?" erkundigte sich die Vampirin.
"Nichts." antwortete Edwina schroff. "Lass einerr alten Frrau ihrre Vorrurrteile überr die Wesen die ihrr Leben zerrstörrt haben. Ich stamme aus Überrwald und weiß so ziemlich alles überr die grrausamen Dinge die deine Arrt anrrichten kann. Eurre Herrzen sind so kalt wie die Gipfel derr Spitzhorrnberrge im Winterr und eurre Seelen sind auf ewig mit derr Finsterrnis verrschmolzen."
Mit ausdrucksloser Miene beobachtete sie, wie sich die Blutsaugerin den Gitterstäben der Zelle näherte. Vampire besaßen zwar die schnelleren Reflexe doch Edwina hatte, wie schon so oft, das Überraschungsmoment auf ihrer Seite.
"Was meinen Sie mit dem mit der Finsternis verschmolzen?" kam auch schon die nächste Frage. Schlecht verborgene Neugierde schwang in der Stimme der Vampirin mit.
"Das ist ganz einfach. Ihrr Ungeheuerr weidet euch an derr Verrzweiflung derr Menschen die ihrr fürr nichts besserres als Schlachtvieh haltet. Ihrr haltet euch fürr so überrlegen mit eurrerr Unsterrblichkeit und eurrem Können." Ja, komm nur noch näher, Mädchen. Gleich schlägst du schon mit der Stirn gegen die Gitterstäbe. "Aberr ihrr neigt dazu, zu verrgessen, daß wirr Menschen auch zubeißen können!"
Mit diesen Worten sprang Edwina auf, packte ihr Gegenüber am Kragen ihrer Uniform und schmetterte ihren Kopf mit aller Macht gegen die Gitterstäbe. So sah zumindest die Theorie aus. Doch kaum daß sie sich von der schmalen Zellenpritsche erhoben hatte, verspürte Edwina plötzlich eine ungeheure Schwäche, die sie auf die harte Bank zurücksacken ließ. Verzweifelt kämpfte sie gegen die Bewusstlosigkeit an, doch eine unsichtbare Hand schien ihren Geist gepackt zu haben und zog sie mit aller Kraft hinab in die Schwärze.

Tag der Rache


Araghast stolperte durch die offen stehende Tür und stürmte in den Bibliothekstrakt. Verdammter Valdimier und seine Auffassung von Pflichtbewusstsein. Die Auseinandersetzung mit seinem Freund hatte ihn kostbare Sekunden gekostet. Sekunden, die vielleicht über Leben und Tod entschieden. Die Halluzination des Gaunerhauptquartiers hatte seine ohnmächtige Wut auf Philipp Howards Kraftlieb aufs Neue entfacht. Araghast hatte es gründlich satt, nicht mehr als eine Figur zu sein, die durch den Willen eines Anderen über das Schachbrett des Grauens geschoben wurde. Irgendwann würde Kraftlieb kommen, um sich seine Erinnerungen holen. Und dann konnte er, Araghast Breguyar, diesem verdammten Mistkerl endlich zeigen, daß der schlimmste Alptraum überhaupt aus einem stinkwütenden halbvampirischen Feldwebel der Stadtwache Ankh-Morporks bestand.
Mit gefletschten Zähnen bog er um die letzte Ecke und stoppte abrupt.
Eine Lache aus Blut hatte sich auf dem Boden vor der verschlossenen Bibliothekstür ausgebreitet und mitten in ihr lag eine grausam zerstückelte kopflose Leiche. Das Fleisch hing in Fetzen von den Knochen und Organe und Extremitäten waren über den gesamten Flur verstreut. Über allem hing ein feines Gespinst fahler, pulsierender Linien.
Wie in Trance griff Araghast nach dem Stockdegen in seinem Gürtel und schloss seine Hand fest um den Kristallknauf. Die blutgetränkten Fetzen eines ehemals weißen T-Shirts und die überall verstreuten Kettenhemdringe sagten mehr als tausend Worte.
Das hast du davon, daß du ihn hier allein gelassen hast.
Araghast zuckte zusammen. Die eiskalte Stimme hatte direkt in seinem Kopf gesprochen.
Du bist schuld an seinem Tod. Nur du.
Eine Bewegung am Ende des Gangs erregte seine Aufmerksamkeit. Schwarz hoben sich die Umrisse einer schlanken Frau vor den plötzlich grün aufglühenden Wänden ab und eine eisige Welle des Grauens schwappte über den Feldwebel hinweg. Beinahe nachlässig trat die weibliche Gestalt einen weiteren, reglos am Boden liegenden Körper und drehte Araghast den Rücken zu. In der Hand hielt sie Kameruns Schwert.
Das Ding aus den Kerkerdimensionen hatte den Wirtskörper gewechselt. Araghast biss sich auf die Lippen und versuchte krampfhaft, die Anschuldigungen zu verdrängen, die bereits wie Säure an seinem Gewissen fraßen. Wieder einmal hatte man ihn an seiner wundesten Stelle erwischt.
Mörder. Die Stimme schlug zu wie eine Peitsche. Willst du wissen, wer der Nächste ist den du dir auf dein Gewissen schreiben kannst?
Das diffuse Glühen nahm an Intensität zu und der immer noch wie erstarrte Araghast erkannte das schmale, totenbleiche Gesicht der Person am Boden. Seine Gedanken rasten. Wie bei allen Göttern und Teufeln war Raistan in die Universität gelangt? Die rechte Hand des ohnmächtigen oder sogar schon toten jungen Zauberers umklammerte krampfhaft einen nicht erkennbaren Gegenstand. Seine Gewänder waren blutbefleckt.
"Was hast du getan, du Ungeheuer?" knurrte der Feldwebel. "Komm lieber her und kämpf mit mir!"
Das Ding aus den Kerkerdimensionen lachte meckernd und drehte sich um.
"Zu Befehl, Sör." höhnte es und zu seinem Entsetzen erkannte Araghast das grausam entstellte Gesicht seiner Knallpulverexpertin Charlotta.
Das reißzahnbewehrte Gesicht der Wächterin war auf der linken Seite bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. An manchen Stellen blitzte der blanke Knochen durch das versengte Fleisch und Blut und Eiter rannen über Kinn und Hals auf die Schulter der Gummiuniform.
"Ich weiß, was du jetzt denkst, kleine Made. Noch ein Mord auf deinem Gewissen? Denk nicht darüber nach, denn ich werde dich holen genau wie ich mir Herrn Hong, Kaboltzmann, die kleine Werwölfin und die Zwillinge geholt habe. Der Wahnsinn wartet auf dich! Ph'nglui mglw'nafh Cthulhupalhulhu Leshp wgah'nagl fhtagn!!!!!"
Eine weitere Woge puren nervenzerfetzenden Grauens wallte durch den Korridor. Mit zusammengebissenen Zähnen konzentrierte sich Araghast auf seine Wut.
"Mich kannst du nicht mehr in den Wahnsinn treiben." sagte er langsam. "Mein innerer Vampir und ich, wir sind schon längst wahnsinnig genug! Komm her und versuch mich!"
Die verkohlten Lippen teilten sich zu einem bösartigen Lächeln als die besessene Knallpulverexpertin begann, auf ihn zuzugehen. Die Klinge von Kameruns Schwert reflektierte das ungesunde grüne Licht.
"Du hast das wahre Grauen noch nicht gekostet." zischte das Ding. "Gib auf. Einfache Waffen können mich nicht verletzen. Dein Kampf ist sinnlos, kleine Made."
Araghast zog den Stockdegen hinter seinem Gürtel hervor. Es gab immer einen letzten Kampf, hatte Kamerun einst gesagt. Tief in seinem Inneren spürte er, wie sich seine vampirische Seite die metaphorischen Hände rieb.
"Es tut mir Leid, Charlotta." wisperte er beinahe unhörbar und drehte den Griff. Mit einem leisen Klicken glitt die Klinge aus der Stockhülle.
Der Feldwebel räusperte sich und warf sein nasses Haar zurück. Erst das Ding. Und dann Kraftlieb, dessen Vergehensstrichliste allmählich überquoll. Mochte der heilige Sankt Tobsucht ihm in der kommenden Stunde beistehen.
"Ich bin der Hexer von Ankh." sagte er mit fester Stimme. "Schieb deine verdammten Tentakel dahin zurück wo sie hingehören, du schleimiges Stück Dreck! Parqua Le'i al Dumak!"
Der Knauf des Stockdegens flammte auf und Araghast spürte ein seltsames Prickeln unter seinen Fingern.
Was folgte war ein harter Schlagabtausch zwischen Schwert und Stockdegen. Charlottas werwölfischen Reflexe brachten Araghast ein ums andere Mal gefährlich an den Rand des Verlierens und der vom Blut des armen Kamerun glitschige Boden war alles andere als ein idealer Kampfgrund. Verzweifelt wandte der Feldwebel eine Tavernenschlägerfinte nach der anderen an, nur um überhaupt am Leben zu bleiben. Seine Wunden und die Erschöpfung forderten ihren Tribut und schließlich fand er sich mit dem Rücken an der Bibliothekstür wieder, mühsam einen Hieb nach dem anderen parierend. Sein Schwertarm fühlte sich an wie Blei. Blut rann aus einer frischen Schnittwunde an seinem linken Oberschenkel. Glühende Schlieren zogen an seinem Auge vorbei. Unendlich langsam senkte sich Kameruns Schwert über seinem Kopf und hielt schließlich inne. Charlottas zerstörtes Gesicht erstarrte zu einer Maske.
Ein wirklich interessanter Kampf, das muss man dir lassen. Aber leider sitzt du nun ziemlich in der Klemme, Menschlein.
Die Stimme erklang in seinem Kopf, doch Araghast wusste sofort, daß sie nicht dem Ding aus den Kerkerdimensionen gehörte.
"Was willst du ausgerechnet jetzt von mir?" fragte er gereizt.
Dir einen Handel vorschlagen. Weißt du, als ein Teil von dir bin ich nicht besonders daran interessiert, daß du nun das Zeitliche segnest.
"Wie kannst du überhaupt mit mir reden und warum steht die Zeit still?"
Araghast Breguyars vampirische Seite lachte.
He, wir sind der Hexer von Ankh. Wirklich faszinierend, was uns beiden dank dem Erbe unseres Vaters für Möglichkeiten offen stehen.
"Und ich dachte, ich hätte es nun endlich geschafft, daß du mich in Ruhe lässt."
Da hast du falsch gedacht. Adana hat es kurzfristig geschafft, mich einzusperren, aber du, du hast von den Feinheiten der Hexermagie ja gar keine Ahnung. Ich habe einfach geschwiegen und beobachtet.
"Warum verschwindest du nicht einfach?"
Ich würde ja gern. Glaub mir, es gibt nichts Schlimmeres, als es mit dir jämmerlichem Waschlappen auszuhalten. Aber ich kann nicht, da ich ein Teil von dir bin. Begreif es endlich, wir beiden sind so unzertrennlich wie der kleine Zauberer und seine Krankheit. Wie schade, daß ich ihn nicht mal kosten konnte...
"Halts Maul mit deinem Gerede über die B-Wort-Saugerei!" Wenn Araghast in der Lage gewesen wäre, sich zu rühren, hätte er mit den Zähnen geknirscht.
Ich kann nur wiederholen, daß ich dir anbiete, uns beide hier lebendig rauszuholen. Für eine Halbliterflasche Jungfrau Spezial pro Monat. Denk mal nach. Was ist dir lieber? Ein paar heimliche Schlucke menschlicher Lebenssaft oder die Tatsache, daß wir beide unsere Leonata nie wiedersehen werden und sie und der Rest der Bevölkerung Ankh-Morporks unrettbar dem Wahnsinn der URALTEN RIESEN verfallen? Denk darüber nach, aber nicht zu lange. Ewig kann ich diesen Zeiteffekt nicht halten ohne daß es ernsthafte Probleme gibt.
"Na schön." knurrte Araghast. "Du hast mich mal wieder erwischt, du verdammter Mistkerl. Für Lea. Und bete zum Gott der Wächter, daß Kraftlieb uns beiden nicht unsere gesamte Erinnerung klaut!"
Also haben wir Waffenstillstand?
"Waffenstillstand." antwortete Araghast widerwillig und die glühenden Schlieren vor seinem Auge verzogen sich. Die Welt setzte sich wieder in Bewegung. Gleichzeitig spürte er, wie etwas Fremdes und doch gleichzeitig Vertrautes von ihm Besitz ergriff und die Kontrolle übernahm. Pfeilschnell glitt er zur Seite und die auf seinen Kopf gezielte Schwertklinge bohrte sich tief in das Holz der Bibliothekstür.
Letztendlich war es ein klassisches, von Eddie Wollas nur allzuoft beschriebenes Hexermanöver.
Während das Ding in Charlottas Körper noch damit beschäftigt war, die Waffe aus der Tür zu ziehen rammte Araghast den Stockdegen durch Gummiuniform und Haut tief in den Brustkorb der Werwölfin.
Schlagartig verlosch das kränkliche Glühen an Wänden und Decke und die besessene Charlotta erstarrte im letzten Licht des weichenden Tages. Beißender Rauch kringelte sich um die Einstichstelle des Stockdegens. Araghast umklammerte die Waffe mit beiden Händen, zog sie aus dem Körper seiner Kollegin und stieß erneut zu. Der Knauf verwandelte sich in eine kalte Flamme, in der die Umrisse des achtzackigen Schotensterns deutlich hervortraten.
Die Charlotta-Kreatur riss den verbrannten, mit Reißzähnen bestückten Mund auf und schrie.
Der unmenschliche Schrei ließ Araghast das Blut in den Adern gefrieren, doch er ließ das Heft des Stockdegens nicht los. Er spürte wie das Material der magischen Waffe unter seinen Fingern zu zerbröseln begann. Gleichzeitig erschienen schwarze, rauchende Flecken auf der Haut der besessenen Werwölfin. Der Schrei erstarb. Für einen Augenblick meinte Araghast, den Schatten eines tentakelbewehrten Etwas an der Wand neben der Bibliothekstür zu erkennen, doch dann löste sich das Bild in Nichts auf.
Thuuuul hauchte eine leise, klagende Stimme und verklang im Nichts.
Der Stockdegen zerfiel unter Araghasts Händen zu Staub. Fassungslos sah der Feldwebel zu, wie Charlotta, nur noch ein vertrockneter, schwärzlicher Körper mit halbversengtem feuerrotem Haar in einer zerrissenen Gummiuniform, zu Boden sackte. Knochen knackten als die Leiche auf dem Boden aufschlug.
Der Alptraum ohne Erwachen, der begonnen hatte als Emanuel Kaboltzmann und sein Expeditionstrupp die Kavernen unter Herrn Hongs Imbiss betreten hatten, war vorbei.
Todmüde, zerschlagen und blutend ließ sich Araghast gegen die Wand sinken. Sein Blick streifte den reglosen Körper Raistan Quetschkorns, der immer noch unverändert dort lag wo die besessene Charlotta ihn zurückgelassen hatte. Nur zu gern hätte er nachgesehen ob wenigstens der junge Zauberer noch am Leben war, doch seine Glieder waren schwer wie Blei. Halt durch, Kleiner, war sein letzter Gedanke, bevor die Finsternis sein Bewusstsein verschluckte.

Freiwillige Retter Ohne Gnade


So schnell er konnte flog Valdimier durch den strömenden Regen zum Wachhaus zurück. Ihm war völlig klar, daß Araghast nicht mehr richtig im Kopf war. Die weiße Strähne im Haar seines Freundes war nach dem Diebstahl des Stockdegens das letzte Indiz für kompletten Realitätsverlust gewesen. Mit Zähneknirschen hatte Araghasts Befehl befolgt, nur um dem Feldwebel auf seinem Weg unauffällig zu folgen. Als er ihn in der Bibliothek der Unsichtbaren Universität hatte verschwinden sehen waren all seine Befürchtungen bestätigt worden. Bregs hielt sich offenbar allen Ernstes für den Hexer von Ankh, auch wenn er es während des kurzen Gespräches vehement abgestritten hatte. Und nun war er wahrscheinlich auf der Suche nach der Person die sich das Ding aus den Kerkerdimensionen nun als Wirtskörper ausgesucht hatte und rannte geradewegs in sein Unglück.
Es hatte Valdimier einiges an Überwindung gekostet, zum Wachhaus zurückzukehren und die FROGs zusammenzutrommeln, doch letztendlich hatte seine Vernunft gesiegt. Als Trupp standen ihre Chancen weitaus besser, sich gegen ein gehirnefressendes Ungeheuer zur Wehr zu setzen.
Mit den Ultraschallimpulsen seiner Fledermausgestalt ortete Valdimier das Wachhaus und setzte zum Sinkflug an. Der gesamte Fall Dreimal Glücklicher Fischimbiss war immer mehr zu einer Farce verkommen und er war der Letzte der durch die ganzen Verwicklungen noch durchblickte. Bisher hatten sie einen völlig ausgeklinkten Abteilungsleiter, eine Tatverdächtige und einen Vermissten die scheinbar aus dem Nichts erschienen waren und ein Ding aus den Kerkerdimensionen das in so ziemlich jeder Person stecken konnte. Ganz gleich was er sonst auch glaubte, nach den neuesten Geschehnissen konnte nicht einmal mehr Kolumbini behaupten, Bregs sei nicht reif für eine ausgiebige püschologische Behandlung.
Mit einem leisen 'plopp' verwandelte sich Valdimier zurück in seine menschliche Gestalt und stürmte ins Wachhaus, vorbei an zwei sich aufgeregt unterhaltenden Tresenrekruten, die Treppe hinauf und in Araghasts Büro, wo Kanndra und der Rest der sich im Wachhaus aufhaltenden FROGs auf ihn warteten, bereit zum Ausrücken.
"Und?" fragte Kanndra nur.
Der Vampir verzog schmerzlich das Gesicht.
"Er ist komplett übergeschnappt." sagte er traurig. "Wahrscheinlich glaubt er wirklich, er könnte mit dem Stockdegen das Ding aus Herr Hongs Imbiss einfach so töten. Und ich glaube nicht, daß er weiß, in wessen Körper es sich nun befindet."
"Hoffentlich können wir ihn schnappen, bevor er größeres Unglück anrichtet." Kanndra sprang auf. "Wo ist er hingelaufen?"
"Unsichtbare Universität, Bibliothekstrakt."
"Na dann nichts wie los! Wir nehmen Schusi! Mindorah, schick eine Taube an Rogi, für alle Fälle!"
Während er mit den übrigen Abteilungsmitgliedern die Treppe wieder herunterhastete begann sich Valdimier zu fragen, wer wirklich hinter den Ereignissen der letzten Tage steckte. Fakt war, daß das gleiche Wesen, das vermutlich Herrn Hong getötet hatte, im Körper eines Bürgers von Ankh-Morpork durch die Gegend spazierte. Jeder konnte der mysteriöse Besessene sein. Zumindest jeder der sich im Laufe des Tages in der Unsichtbaren Universität aufgehalten hatte. Fakt war außerdem, daß die Teilnehmer der Imbiss-Expedition diesen verfluchten Stockdegen gefunden hatten. Valdimier war überzeugt, daß die ganzen Verwicklungen mit dieser Waffe überhaupt erst angefangen hatten. Eine zünftige Monsterjagd, wohlmöglich mit dramatischem Finale wie in den Fallakten von Cim Bürstenkinn, das wäre ganz nach seinem Geschmack gewesen. Doch dann waren der vermeintliche Stockdegen des Hexers von Ankh, das Walerius-Weib und der lungenkranke Zauberer aufgetaucht und seitdem wusste eigentlich keiner mehr, in welche Richtung sich der Fall, falls man es überhaupt noch einen Fall nennen konnte, als nächstes wandte. Hoffentlich konnte Skilla aus der Vampirmörderin zumindest ein paar klare Antworten herausquetschen.
"Ich habe da ein ganz mieses Gefühl." sagte er leise zu Kanndra, als sie nur eine knappe Minute später den Einsatzeselskarren aus den Stall lenkten. Die übrigen FROGs sprangen hinten auf.
"Platz daaa! Stadtwacheee!" brüllte Ktrask, schwenkte die Glocke und los ging die rasante Fahrt.
Der Regen peitschte ihnen ins Gesicht und schlammbespritzte Passanten schüttelten drohend die Fäuste hinter dem Karren her, als die Freiwilligen Retter Ohne Gnade durch die Stadt rasten.
"Nyvania!" schrie Kanndra gegen den Fahrtwind an. "Wenn wir Bregs finden, versuchst du, ihn in ein Gespräch zu verwickeln! Aber sei vorsichtig, er ist genauso Püschologe wie du!" Sie drückte die Zügel Valdimier in die Hand und drehte sich auf dem Kutschbock nach hinten. "Und damit ihr mich verstanden habt: Geschossen wird nur im alleräußersten Notfall und auch dann nicht in lebenswichtige Körperteile! Hier geht es um unseren Abteilungsleiter! Das Gleiche gilt für Gifte, Gase und Knallpulver!"
"Ja, Ma'am!" erschallte es von der Ladefläche auf der sich Ktrask, Sidney, Holly Rigg, Igor, Nyvania und Tyros zusammenkauerten und notdürftig versuchten, ihre Ausrüstung mit ihren Mänteln vor dem Regen zu schützen.
"Wer ist eigentlich in der Universität geblieben?" fragte Valdimier Kanndra während der Karren über den Platz der Gebrochenen Monde raste.
"Max, Xantes, Harry und Charlotta." antwortete die Späherin. "Sie sollen die noch lebenden Imbissforscher bewachen und zusehen, daß sie sich nicht auch noch umbringen."
"Na dann..." murmelte der Vampir und konzentrierte sich wieder auf das Lenken.
Wenig später brachte er den Karren schlingernd vor dem Haupttor der Unsichtbaren Universität zum Stehen und die FROGs sprangen vom Wagen. Während die Mannschaft durch das Tor hastete fühlte sich Valdimier auf einmal um ein knappes Jahr zurückversetzt. Auch damals hatte es einen blutigen Endkampf innerhalb der Mauern der Universität gegeben und Bregs war dabei beinahe ums Leben gekommen. Der leichte Armbrustschütze mochte gar nicht daran denken, was dieses Mal geschah...
Vor der weit geöffneten Bibliothekstür hielt Kanndra den Einsatztrupp an.
"Holly und Ktrask, ihr seht zu, daß keiner dieses Gebäude betritt." befahl sie und die beiden Angesprochenen nickten. Ein leises Knirschen ertönte als diverse Armbrüste gespannt wurden.
Kanndra nickte und hob die Hand. "Ihr anderen, seid jederzeit bereit euch zu verteidigen. Denkt immer daran, wir haben es mit etwas zu tun, das, egal in welchem Körper es auch steckt, kein Mensch ist. Dieses Wesen ist hochgradig gefährlich und es wird versuchen, euch mit Bildern des Grauens in den Wahnsinn zu treiben. Festigt euch mental so gut ihr könnt!"
Die versammelten FROGs nickten grimmig, doch Valdimier konnte die Nervosität die in der Luft lag förmlich spüren. Warum hatte Kanndra ihnen das nur erzählt? So etwas regte die Mannschaft nur unnötig auf und nach der Meinung des Vampirs war dieses ganze Getue über Wahnsinn und Mystik hoffnungslos übertrieben. Dann feuerten sie dieses Mal ihre Bolzen halt in eine Masse von Tentakeln anstatt in die Hinterteile von Verbrechern. Schulterzuckend folgte Valdimier Kanndra ins Zwielicht des Bibliothekstraktes.
Schon nach wenigen Schritten stieg ihm ein nur allzu vertrauter Geruch in die Nase. Das durchdringende Aroma frischen Blutes hing wie eine Dunstglocke in den schummrigen Gängen. Sidneys Knurren grollte unheilverkündend durch die ansonsten absolute Stille.
Valdimier tippte Kanndra auf die Schulter.
"Hier riecht es stark nach Blut." wisperte er und hoffte im Stillen, daß es sich nicht um Araghasts Lebenssaft handelte.
Die Späherin nickte.
"Doppelte Vorsicht!" befahl sie leise und Schritt für Schritt arbeitete sich der Einsatztrupp tiefer in die Eingeweide der Unsichtbaren Universität vor.
Mit jedem Meter den sie zurücklegten wurde der Blutgeruch stärker und schon bald ertappte sich Valdimier dabei wie seine Gedanken trotz aller Gefahr immer wieder zu der seit Monaten nicht angerührten Flasche Jungfrau Spezial in seinem Pensionszimmer wanderten. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie sich Sidney ein Tuch über Nase und Mund band. Was auch immer hier vor der Bibliothek geschehen sein mochte, es musste ein wahres Gemetzel gewesen sein. Mit Bregs mittendrin...
Als die FROGs mit schussbereiten Waffen um die letzte Biegung spähten war das ganze Ausmaß der Katastrophe unübersehbar. In einem wahren See aus Blut lagen die Reste einer grausam zerstückelten Leiche. Eine reglose Gestalt lag ein Stück jenseits der schrecklichen Lache und zwei weitere Körper vor der Tür der Bibliothek. Hinter seinem Rücken hörte Valdimier ein ersticktes Würgen. Er selbst wagte es kaum hinzusehen und war mehr als dankbar, nicht auf Atemluft angewiesen zu sein. Nur nicht an Blut denken... denk an etwas anderes, Val! Bregs! Wo bei allen Göttern ist Bregs?
"Licht!" befahl Kanndra knapp und Sekunden später reichte Tyros ihr eine Laterne. Im Fahlen Lichtschein erkannte Valdimier, daß auch die Späherin blass um die Nase war. Vorsichtig, um nicht auf Leichenteile zu treten watete sie in den Korridor, während Sidney ihr mit der Armbrust den Rücken deckte. Valdimier folgte seiner Kollegin mit ebenfalls gezogenen Waffen während seine Gedanken rasten. Was konnte hier nur passiert sein? Wer war der so fürchterlich zugerichtete Tote?
Kanndras entsetztes Keuchen schreckte ihn auf und hektisch suchte er die Umgebung nach einer sich nähernden Gefahr ab. Doch die Späherin schüttelte den Kopf und wies mit zitternden Fingern auf die beiden bewegungslosen Gestalten vor der Bibliothekstür.
Nur an der teilweise zerfetzten und angeschmolzenen grünen Gummiuniform war zu erkennen, daß es sich bei dem zuvorderst liegenden Körper um die Leiche des Chief-Corporals Charlotta Perkins handelte. Haut und Fleisch waren zu schwarzer fester Asche verkohlt und angesengte Knochen schauten an vielen Stellen heraus. Der Mund mit den schwärzlichen Zähnen war wie zu einem Schrei aufgerissen und die zersplitterte Zunge quoll grotesk hervor. Araghast Breguyars Körper hingegen war bis auf einige oberflächliche Wunden unversehrt. Er lag auf dem Rücken und das offene, schwarze Haar, aus dem die schneeweiße, wie ein Blitz geformte Strähne deutlich hervorstach, umrahmte sein leichenblasses Gesicht. Sein einziges Auge war geöffnet und starrte reglos gen Himmel.
Von einer Sekunde auf die andere war Valdimiers gesamte Vorsicht vergessen. Er sicherte seine Armbrüste, sprang über die tote Knallpulverexpertin hinweg und hockte sich neben seinem langjährigen Freund nieder.
"Tu mir das bloß nicht an, Bregs!" murmelte er, während er nach der Halsschlagader des Feldwebels tastete. Undeutlich nahm er wahr wie Kanndra mit zitternder Stimme Befehle erteilte. Es war einfach nicht fair. Araghast hatte in letzter Zeit genug unter seinen Püschosen und Wahnvorstellungen gelitten, er hatte es nicht verdient zu sterben. Ein Luftzug streifte ihn als sich Kanndra neben ihn kniete.
"Und?" fragte sie beinahe verzweifelt.
Valdimiers Finger legten sich auf die Halsschlagader seines Freundes. Ein schwaches, regelmäßiges Pochen ließ seine Fingerkuppen erzittern und ein riesiger Stein fiel ihm von seinem untoten Herz.
"Er lebt." sagte er leise und Kanndra seufzte erleichtert auf. "Kannst du ihn irgendwie aufwecken?"
Die Späherin stellte die Laterne auf den blutverschmierten Steinboden und legte beide Hände auf Araghasts Schläfen. Dann schloss sie die Augen.
Während Kanndra sich in ihre Trance versetzte schaute Valdimier sich um. Nyvania und Tyros beugten sich eifrig diskutierend über die dritte herumliegende Gestalt, während Sidney mit seinen Armbrüsten die Umgebung sicherte. Der Vampir verzog das Gesicht und ärgerte sich darüber, Araghast nicht doch in die Bibliothek gefolgt zu sein. Vielleicht hätte er helfen können, Charlottas Tod oder den des Unbekannten zu verhindern. Doch Bregs hatte ihn fortgeschickt. Warum hatte er angesichts dieses fürchterlichen Gemetzels seine Hilfe in den Wind geschlagen?
Schweigsam sah er auf das stille Gesicht seines Freundes mit dem weit aufgerissenen Auge. Welcher Wahn hat dich geritten, Bregs? Was hat die Walerius mit dir gemacht? Er versank in dumpfes Brüten. Etwas stank ganz gewaltig an der ganzen Geschichte und er konnte es einfach nicht benennen. Weshalb hatte die Lady Edwina Dorothea Walerius von Schlaz getan was sie getan hatte? Valdimier konnte sich keinen vernünftigen Grund vorstellen weshalb sie auf eigene Faust hätte handeln sollen. Höchstwahrscheinlich stand sie in den Diensten dieses Philipp Howards Kraftliebs. So musste es sein. Kraftlieb war der eigentliche Täter. Er hatte Professor Kaboltzmann das Buch geschickt und ihn so in den Imbiss gelockt. Und als Bregs begonnen hatte, in dem Fall herumzustochern, hatte der teuflische Verbrecher mit ihrer Hilfe erst ihn und dann die beiden Zeugen irgendwie aus dem Verkehr gezogen. Anschließend hatte Kraftlieb die Walerius und den vermutlich mittlerweile auch verrückt gemachten Zauberer zurückgeschickt um sie alle noch mehr zu verwirren. Und dem armen Araghast hatte er bestimmt unter Hypnose weisgemacht, er sei der Hexer von Ankh und ihn so dazu gebracht, den Stockdegen zu stehlen.
"Er ist am Leben." sagte Kanndra schließlich nach einer Zeit die Valdimier wie eine Ewigkeit vorgekommen war. "Aber ich kann ihn nicht erreichen. Sein Bewusstsein ist fort und ich weiß nicht wohin."
"Du meinst-" Valdimier schluckte. "Du meinst, daß er nun nie wieder zurückkommt?"
"Ich weiß es nicht, Val. Er muss den Weg zurück allein finden. Hoffen wir das Beste."

Die Wurzel allen Übels


Die Buchstaben auf der milchigen Glasscheibe, die seinen Namen und seine Berufsbezeichnung verkündeten, ließen keinerlei Zweifel daran, daß es sich wieder einmal um eine seiner Halluzinationen handelte. Araghast konnte sogar die leise Klaviermusik im Hintergrund hören, in die sich gelegentlich ein trübsinnig vor sich hinspielendes Saxophon einmischte. Wenn es in seiner unmittelbaren Nähe ein Fenster gegeben hätte würde der Ausblick todsicher aus einem schäbigen verregneten Hinterhof bestehen in dem ein magerer Hund einen Müllhaufen durchwühlte.
Und hier stand er nun, Araghast Breguyar, Versager und versoffener Privatdetektiv vom Dienst, und spürte förmlich, daß jemand hinter der schäbigen Tür seines eigenen Büros auf ihn wartete. Wer mochte es sein? Die Gorillas des Bosses, die ihn nun zu seiner finalen Unterredung schleifen wollten? Der kleine Schmierlappen mit der Schweinchenvisage der ihn wieder mal warnen wollte, die Finger von dem Fall zu lassen? Eine hübsche Frau in einem tief ausgeschnittenen Kleid die ihn nach Strich und Faden anlügen und hintergehen würde?
Wer auch immer es ist, letztendlich bedeutet es eh nur wieder mal Ärger. Araghast zuckte mit den Schultern und legte die Hand auf den abgewetzten Türknauf. Mit der Art Ärger wie er ihm von seinen Klienten drohte kannte er sich aus. Alles war in Ordnung. Er war nach dem Kampf gegen die besessene Charlotta vor Erschöpfung in Ohnmacht gefallen und nun träumte er wieder einmal den Traum der ihn in den vergangenen Tagen regelmäßig heimgesucht hatte. Hier konnte ihm gar nichts passieren.
"Das träumst du alles nur, Bregs." sagte er zu sich selbst und stieß die Tür zu seinem schummrig beleuchteten Büro auf, nur um gleich darauf überrascht den Atem anzuhalten.
Vor dem Schreibtisch stand, die Hände in die Hüften gestemmt, Edwina Dorothea Walerius. Ihr dunkelrotes Haar hing ihr wirr um den Kopf und ihr Lippenstift war verschmiert. Eifrig redete sie auf jemanden ein, der verborgen im Sessel hinter dem Schreibtisch saß.
"...mich einfach nurr benutzt?" Ohnmächtige Wut schwang in ihrer Stimme mit.
"Sie waren gut, Wollas. Wirklich gut." kam die Antwort kraftlos und doch gleichzeitig scharf aus den Tiefen des Sessels. "Mir bleibt gar nichts anderes übrig als mich für Ihre großartige Hilfe zu bedanken."
Edwina schnaubte.
"Irrgendwann krriege ich Sie, Krraftlieb! Und dann werrde ich Sie pfählen, köpfen und ihrre Einzelteile in Ankhwasserr auflösen! Bisherr hat noch jederr meinerr Gegnerr am Ende bekommen was err verrdiente!"
Kraftlieb. Araghast knirschte mit den Zähnen. Dieser verdammte Mistkerl war hier. Mit einem kräftigen Tritt stieß er seine Bürotür zur Gänze auf und lauschte zufrieden dem knallenden Geräusch mit dem sie gegen die Wand schlug. Gleich einem Racheengel aus einem schlechten Gruselheft stand er im Türrahmen, seine Hand auf dem Griff des Entermessers.
"So, dann bist du also doch hier, du hundertmal verdammter Mistkerl!" knurrte er. "Komm raus und zeig dich! Ich habe nicht nur ein Hühnchen sondern eine ganze Herde Wiewunderland-Strauße mit dir zu rupfen nach all dem Mist den du mit uns angestellt hast!"
Eine bleiche, knochige Hand zwischen deren Fingern eine brennende Zigarre klemmte winkte beinahe nachlässig. Edwina Walerius stolperte rückwärts wie eine Puppe und stürzte zu Boden, ihr Gesicht eine Maske puren unverfälschten Hasses.
"Vorsicht, Feldwebel! Er kann zaubern!"
Araghast fuhr herum. An der Wand neben der Tür stand Raistan Quetschkorn. Seine Gewänder waren blutbefleckt und schimmernde Fesseln hielten seine Hände vor dem Bauch zusammen. Der Zauberstab lag unerreichbar für ihn am Boden.
"Tja, mein lieber Araghast Breguyar, oder sollte ich lieber Godric Adana sagen?" Wieder diese kranke und gleichzeitig schneidende Stimme. "Nun seid ihr endlich alle dort wo ich euch haben will. Ihr habt eure Sache gut gemacht, auch wenn ich manchmal etwas nachhelfen musste. Und nun bist du dran, mein Freund. Deine Bestimmung erwartet dich."
Mit diesen Worten erhob sich Philipp Howards Kraftlieb aus seinem Sessel und schritt hinkend um den Schreibtisch herum. Mit einem Blick erkannte Araghast, daß dieser Mann am Ende seiner körperlichen Kräfte war. Sämtliches Fleisch schien aus seinem Gesicht herausgeschmolzen zu sein und die Augen lagen in tiefen Höhlen. Der dunkelblaue Gehrock schlotterte um einen knochendürren Leib.
"Du meinst, daß du mir nun mein Leben klauen willst?" fauchte Araghast. "Daß ich der nächste Hexer von Ankh bin den du für deine Zwecke nutzen kannst? Dann will ich aber verdammt noch mal vorher wissen, warum! Das bist du mir schuldig, du Mistkerl!"
"Ich bin dir gar nichts schuldig." Kraftlieb hustete heiser und stützte sich an der Tischkante ab.
"Doch, das bist du." warf Edwina ein. "Jederr anständige Schurrke errklärrt seinen Opferrn zumindest, warrum err ihnen seine Gemeinheiten antut. Du bist nurr ein Witzkeks, ein Möchtegerrnoberrbösewicht, derr mit den Schicksalen von Menschen herrumpfuscht weil err einfach zu schlecht ist um die Welt zu erroberrn! Wenn du willst, daß wirr unserre Meinung überr dich änderrn, dann gib uns eine Errklärrung!"
Philipp Howards Kraftlieb seufzte leise.
"Genau!" warf Raistan ein. "Ich will wenigstens wissen, warum mein armer Bruder sterben musste!"
Die gute Edwina... Innerlich musste Araghast grinsen. Mit ihren Beleidigungen hatte sie Kraftlieb so gut wie dazu gebracht, den klassischen Fehler aller Bösewichte in Gruselromanheften zu begehen. Wenn Kraftlieb erst einmal damit begonnen hatte, seinen bösen Plan zu erklären, wuchsen die Chancen der drei Gefangenen, doch noch mit ihm fertig zu werden. Diese Traumwelt funktionierte genau wie die parallele Wirklichkeit in der sie gefangen gewesen waren, nach dem Gesetz des Schundromans. Mit den eigenen Waffen geschlagen.
"Also." sagte Araghast müde. "Wer bist du? Beziehungsweise was bist du?"
Schweigend richtete sich Philipp Howards Kraftlieb mit sichtlicher Kraftanstrengung zu seiner vollen Größe auf. Die Zigarre entglitt seinen Fingern und landete auf dem gefliesten Boden.
"Du kennst mich, Araghast Breguyar." sagte der Autor von Cthulhupalhulhus Ruf leise. "Du hast mich schon einmal gesehen, zu dem Zeitpunkt der für alle als die letzten Minuten meines Lebens galt. Weißt du, ich sah nicht immer so aus wie heute und der Name den ich heute benutze ist nicht der mit dem ich geboren wurde. Achthundert Jahre sind eine lange Zeit, selbst für mich." Kraftliebs Gestalt begann langsam zu schrumpfen. "Ich bin der erste Hexer von Ankh, der Mann der die Geheimnisse des NECROTELICOMNICONS vom Geist des Achmed Al-Alhazred persönlich erfuhr. Ich bin der Meister über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft."
Für einen Augenblick glaubte Araghast, seinen Augen nicht zu trauen. Das braune Haar Philipp Howards Kraftliebs verlor jegliche Farbe und wuchs in die Länge. Gleichzeitig verfärbten sich seine Augen golden und sein dunkelblauer Anzug verschwamm. Der kleine, dürre Mann in den schwarzen Gewändern, der wenige Sekunden später vor dem Feldwebel stand, lächelte kalt und zeigte zwei Reihen schlechter Zähne.
"Gestattet, mich vorzustellen." sagte er mit einer spöttischen kleinen Verbeugung. "Turisas Lin-Isthar, Meistermagier von Überwald."
"Das... kann nicht sein." brach Raistan schließlich das auf diese Worte folgende Schweigen. "Die Dinge aus den Kerkerdimensionen haben ihn verschlungen."
"Und den Stockdegen mit mir, kleiner Zauberer." antwortete Turisas ruhig. "Und ja, mein Körper ist nur wenig später an der Folge der unermesslichen Qualen gestorben. Für meinen Geist jedoch habe ich rechtzeitig gewisse... Vorkehrungen getroffen. Doch nun war ich eine körperlose Seele, die orientierungslos in den Tiefen des L-Quadrat Raumes herumtrieb, bis mich schließlich ein Dämonologe und Okkultist namens Philipp Howards Kraftlieb etwa dreihundert Jahre später versehentlich beschwor. Ich übernahm mit Hilfe der Künste Achmed Al-Alhazreds seinen Körper und führte sein Leben fort. Doch kaum daß ich wieder in der Wirklichkeit weilte, schienen die URALTEN RIESEN mich zu wittern. Wer erst einmal aus ihren unheiligen Klauen entkommen ist, den geben sie niemals mehr auf. Und so forschte ich viele Jahre lang, bis ich schließlich die Lösung aller meiner Probleme in der Hand hielt. Ich lenkte den Aufmerksamkeit der Dinge auf eine andere Person, dich ich mir sorgfältig aussuchte. Ich stattete meinen Stellvertreter mit einem Teil meiner Kräfte aus und zum Ausgleich nahm ich mir seine Erinnerungen und einen Teil seiner Lebenszeit. Und seitdem gibt es den Hexer von Ankh."
"Aber vor fünfundzwanzig Jahren ist etwas schiefgegangen." sagte Raistan kalt und trat einen Schritt vor.
Turisas Linistar nickte langsam.
"Der Mann, der vorgesehen war, der nächste Hexer von Ankh zu werden, wurde aufgehalten und so teilte ich die Wirklichkeit. Von nun an gab es zwei Beine der Hosen der Zeit, wie es am anschaulichsten beschrieben wird. In einem gab es den Hexer weiterhin, im anderen fehlte er. Die Anstrengung, diese Trennung der Wirklichkeiten aufrecht zu erhalten, erschöpfte mich lange vor der Zeit und so begann ich mich nach anderen Hilfsmitteln umzusehen. Und da kam Edwina Walerius. Oder Eddie Wollas, wie ich vielleicht besser sagen sollte. Ich spielte der angehenden Gruselromanschreiberin die Seelenschmiede in die Hände, das Buch in dem alles stand was sie zu wissen brauchte. Sie begann zu schreiben und schon bald entstand ein Reservoir des Glaubens an die Welt die sie beschrieb. Diese Glaubenskraft half mir, die Wirklichkeit in der der Hexer von Ankh weiterexistierte am Leben zu erhalten. Aber so konnte es nicht für immer weitergehen. Ich brauchte einen neuen Hexer von Ankh für die ursprüngliche Realität. Und eines Tages stieß ich bei meiner Suche auf einen jungen Mann namens Araghast Breguyar, der sich gerade bei der Stadtwache Ankh-Morporks hatte vereidigen lassen. Er war der perfekte Kandidat."
"Soso." bemerkte Araghast sarkastisch. "Lass mich raten. Du hast dafür gesagt, daß ich in diesem komischen Laden den Ruf des Cthulhupalhulhu gefunden habe und dir somit geradewegs in deine Falle getappt bin."
"Schlaues Kerlchen." Die Mundwinkel des Meistermagiers von Überwald verzogen sich zu einem schmerzlichen Lächeln. "Genauso wie ich Emanuel Kaboltzmann die Pläne der Kavernen unter Herrn Hongs Dreimal Glücklichen Fischimbiss zukommen ließ als ich merkte, daß die Zeit reif war. Dann brauchte ich nur noch zu warten bis die Dinge ihren Lauf nahmen. Das Buch hat euch alle, wenn auch in drei Fällen nur durch einen Unfall, in die Wirklichkeit gebracht in welcher der neue Hexer von Ankh geboren werden sollte. Ich habe sie den URALTEN RIESEN überlassen da ich sie nun nicht mehr brauche. Die ursprüngliche Realität hat wieder einen Hexer von Ankh. Und nun schließt sich der Kreis."
Langsam, um die Dramatik des Moments voll auszukosten, zog Araghast sein Entermesser aus der Scheide. Die narrative Kausalität hatte ihn voll im Griff.
"Nichts schließt sich, Turisas." sagte er mit eisiger Ruhe. Er war der Hexer von Ankh, zumindest auf Probe. Das Multiversum erwartete von ihm, daß er dem ultimativen Superschurken gehörig den Hintern versohlte. "Du bist einer der größten Feiglinge aller Zeiten, weißt du das? Schiebst Generationen anderer Männer vor und opferst ihr Leben, nur weil du zu feige bist dich dem zu stellen was du vor achthundert Jahren angerichtet hast!"
Turisas Linistar zuckte mit den Schultern.
"Was hast du vor?" fragte er spöttisch. "Willst du mich etwa verhaften?"
"Das würde ich gerne." gab Araghast zurück. "Und es würde sich lohnen. Gefährdung der Struktur des Multiversums und der Stadt Ankh-Morpork. Vielfacher unlizenzierter Diebstahl von Persönlichkeiten und Lebenszeit. Entführung in vier Fällen und Mitschuld am Tod von Herrn Hong, Zulaide Al-Shalafi, mehreren schlafenden Bürgern der Stadt Ankh-Morpork, Chief-Korporal Charlotta Perkins, wahrscheinlich Emanuel Kaboltzmann und nicht zu vergessen Kamerun Quetschkorn. Vernichtung einer ganzen Realität inklusive all ihrer Bewohner. Exzessiver Püschoterror. Bösartiges Herumlungern auf Universitätsmauern. Allein das würde schon reichen um dich für weitere achthundert Jahre ins Loch zu werfen. Aber ich habe es mir anders überlegt. Du wirst nicht verhaftet. Dann hindert mich wenigstens kein verdammtes Gesetz daran, dich dorthin zu schicken wo du hingehörst!"
Der Meistermagier von Überwald hob die Arme und spreizte die langen, knochigen Finger.
"Was erwartest du denn noch von deinem Leben, Araghast Breguyar?" zischte er. "Deine Kollegen halten dich für einen geistesgestörten Säufer der dringend in eine püschiatrische Anstalt gehört. Man wird dich mit Schimpf und Schande aus der Wache werfen. Du wirst alles verlieren für das du jahrelang gearbeitet hast. Selbst deine Freunde haben den Glauben an dich verloren, so wie du sie vor den Kopf gestoßen hast. Du bist allein, Hexer. Dein Leben ist ein Trümmerhaufen, verursacht von einem Ungeheuer das untrennbar mit deiner Seele verschmolzen ist. Ich biete dir allerdings die Chance für einen kompletten Neuanfang. Keine Erinnerungen an dein altes verkorkstes Leben werden dich mehr quälen."
Araghast biss die Zähne zusammen. Er konnte nicht leugnen, daß Turisas' Angebot etwas sehr Verlockendes an sich hatte. Nur allzugern hätte er die Geschehnisse der vergangenen Tage ersatzlos aus seiner Erinnerung gestrichen. Und mit seinem Verhalten Valdimier und den übrigen Wächtern gegenüber hatte er seine Beliebtheit auch nicht gerade gesteigert. Turisas hatte recht. In ihren Augen musste er ein Verrückter sein.
Der Held am Scheideweg der Versuchung. Eine weitere klassische Szene des schlechtren Gruselromans. Araghast grinste hinterhältig und ließ seine angespitzten Eckzähne aufblitzen. Anscheinend erwartete das Multiversum von ihm, daß er seine Rolle bis ins letzte i-Tüpfelchen ausspielte. Nun, er würde ihnen eine Show liefern die sich gewaschen hatte.
"Ich muss leider ablehnen, Turisas." sagte er mit einem sardonischen Lächeln auf den Lippen. "Zugegeben, dein Vorschlag klang ganz nett, aber der Preis war mir dann doch etwas zu hoch. Ich habe eine Verlobte die ich auf keinen Fall vergessen will, egal was ich sonst auch an schlimmen Sachen gesehen habe. Auch Kamerun war ein guter Junge und ich will mich an ihn erinnern können. Ich glaube ich weiß, warum du mein Gedächtnis nicht gleich gelöscht hast so wie bei all den anderen. Du brauchtest mich, meine Erinnerung, um das Ding wieder loszuwerden, das du entfesselt hast. Tja, und das war dein großer Fehler. Egal wie gut sein Plan ist, jeder Superschurke begeht irgendwann einen entscheidenden Fehler. Fluchtwege die direkt über Säurefässer führen. Offensichtliche große rote Hebel die die Selbstzerstörung der Weltvernichtungsmaschine auslösen. Becken mit gefährlichen Tieren direkt unter der schmalen Brücke auf der der alles entscheidende Endkampf stattfindet. Und hier stehe ich nun, in Vollbesitz meines Gedächtnisses und entschlossen, dir deine verdammte Gurgel umzudrehen."
Hinter dem Rücken Turisas Linistars kam Edwina auf die Füße.
"Fahrr ins Pandämonium." sagte sie kalt. "Darran hättest du denken sollen, als du meine Geschichten fürr deine Zwecke gebrraucht hast. Die Leserr glauben fest darran, daß derr Bösewicht am Ende seine verrdiente Strrafe bekommt. Du kannst nicht vorr dem Gesetz derr Geschichte fliehen."
Der Mund des Meistermagiers von Überwald klappte auf. Mit einem erstickten Schrei stolperte Turisas gegen die Kante des abgenutzten Schreibtischs.
"Das... könnt ihr nicht tun!" stammelte er.
"Wir können es nicht nur." antwortete Araghast bissig. "Wir müssen es sogar. Langsam wird es Zeit für dich, daß dein Größenwahn mal eins auf den Deckel bekommt, du Memme. Fakt ist, daß ich keine Lust mehr habe, deine verfluchte Marionette zu sein und für dich den Kopf hinzuhalten. Außerdem wäre ich vermutlich ein ziemlich mieser Hexer. Ich alter Pirat habe nun mal keine anständigen Manieren und eine viel zu kräftige Ausdrucksweise." Prüfend fuhr er mit dem Finger über die Schneide des Entermessers.
"Hyarmen astarsia perundam!" Gleich einem Peitschenknall entwichen die Worte Turisas Linistars Mund und schmieriggrüne Flammen waberten um die Hände des Magiers. Wo sich eben noch ein gardinenverhangenes Bürofenster befunden hatte bildete sich ein schwarzer Strudel. Hinkend bewegte sich Turisas Linistar darauf zu, mit den Händen drohend in Richtung Araghasts und Edwinas wedelnd.
"Irgendwann kriege ich dich doch noch, Hexer!" keuchte er. "Und dann wirst du es bereuen, dich dem Meister über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft widersetzt zu haben! Du wirst nie wieder ruhig schlafen können, denn in deinen Träumen werde ich auf dich..."
Weiter kam er nicht. Eine schemenhafte Gestalt in blauen Gewändern schoss an Araghast vorbei und auf den Meistermagier von Überwald zu. Die Klinge des schlanken Dolches funkelte im trüben Licht der Öllampe als Raistan Quetschkorn sie in Turisas Linistars Kehle rammte.
"Du wartest auf niemanden mehr." sagte der junge Zauberer leise und sah mit ungerührter Miene zu, wie sein älterer Kollege strauchelte und gurgelnde Geräusche von sich gab. Turisas' Gesicht zeigte eine Mischung aus Unglauben und Schmerz. Der sich unaufhörlich drehende schwarze Strudel begann zu verblassen. Dunkles Blut lief die Klinge des Dolches entlang und ergoss sich auf kreidebleiche Haut und schwarze Roben. Wie in Zeitlupe sackte der Meistermagier von Überwald in die Knie.
"Hast du es genossen, zuzuschauen, wie mein Bruder gestorben ist?" fuhr Raistan ebenso ruhig fort, während Turisas ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. "Wo auf deinem Weg hast du dein Gewissen verloren? In dem Moment als du nach mehr Macht zu gieren begannst als dir vom Multiversum zustand? Insgeheim hast du gehofft, ich hätte weder einen guten Charakter noch schönes Haar. Aber jetzt sei froh, daß ich nicht so bin wie du. Wäre ich wie du, wäre dein Tod so langsam und schmerzvoll ausgefallen, daß du dir vor dem Ende noch gewünscht hättest, die URALTEN RIESEN hätten dich bekommen."
Mit diesen Worten raffte der junge Zauberer den Saum seiner blutigen Gewänder und trat Turisas Linistar kräftig gegen das Kinn. Der Meister über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fiel zur Seite wie ein gefällter Baum und sein Körper wand sich in krampfhaften Zuckungen während sein Blut eine Pfütze auf dem Steinboden bildete. Mit einem saugenden Geräusch kollabierte der finstere Wirbel endgültig und an seiner Stelle erschien das verschmierte Fenster das so solide wirkte als sei es nie fort gewesen.
Der Meistermagier von Überwald stöhnte ein letztes Mal gurgelnd auf und seine ausgezehrte Gestalt erschlaffte.
Die drei Überlebenden wechselten in ängstlicher Erwartung eines thaumaturgischen Unwetters schnelle Blicke und wichen an die Wand des Zimmers zurück. Doch keine schleimbedeckten Tentakel ringelten sich aus den Mauerritzen um Turisas Linistars Leiche zu packen und mit sich zu zerren und auch kein sich plötzlich auftuender Spalt im Fußboden verschlang den reglos daliegenden Körper. Selbst ein blitzdurchzuckter Wirbel der durch den Raum fegte blieb aus.
Araghast war beinahe ein wenig enttäuscht über das so völlig unspektakuläre Ableben des wohl mächtigsten Magiers der Scheibenwelt. Vorsichtig trat er vor und stieß die Leiche mit dem Stiefel an. Tapferer Raistan. Er hatte die Gelegenheit genutzt und getan, was getan werden musste. Araghast selbst hätte keinen besseren dramatischen Schlussmonolog hinbekommen.
"Tja, das warr es wohl." ließ sich Edwina vernehmen. Ihre Stimme wirkte in der plötzlichen Stille unheimlich laut. Das geisterhafte Orchester hatte mit dem Tod Turisas Linistars aufgehört zu spielen.
"Ja." antwortete der Feldwebel zerstreut. "Das war es wohl."
Er schloss sein Auge und öffnete es langsam wieder. Die Umgebung blieb die Gleiche. Was auch immer Turisas ihm für Kräfte verliehen hatte, sie waren verschwunden. Zurückgeblieben waren nur Leere, Müdigkeit und das dringende Bedürfnis nach einem starken alkoholischen Getränk.
Edwina trat neben ihn und legte ihm ihre Hand auf die Schulter.
"Derr Rraum hierr verrlierrt langsam an Substanz." sagte sie. "Wahrrscheinlich werrden wirr aufwachen wenn dies alles hierr verrschwunden ist."
Araghast nickte nur und wandte sich zu seinen beiden Mitstreitern um.
"Wenn wir wieder zu uns kommen, werden wir uns an nichts mehr erinnern was passiert ist nachdem wir das Buch berührt haben." sagte er. "Das ist wichtig. Der Schuldige heißt Philipp Howards Kraftlieb. Er hat uns verhext, hypnotisiert, was auch immer. Wir wissen nichts mehr." Mit zusamengepressten Lippen sah er von Raistan zu Edwina und wieder zurück. Die Zimmerwand hinter ihnen hatte bereits deutlich an Substanz verloren. "Bitte. Nur so kann ich meinen Hals und meinen Posten in der Wache retten und hoffen, daß sie mich nicht ins verdammte Sanatorium sperren."
"Was soll passiert sein?" fragte Raistan unschuldig. "Ich bin über etwas gestolpert, auf das Buch gefallen und seitdem weiß ich nichts mehr." Sein Gesicht verzog sich schmerzlich. "Ich weiß nicht, daß der Große tot ist."
Löcher begannen, sich im Boden aufzutun und die Umrisse seines schäbigen Privatschnüfflerbüros verschwammen.
In wenigen Sekunden war alles vorbei. Schon spürte Araghast, wie sich die Präsenzen der anderen von ihm entfernten. Es gab nur noch eine einzige Frage die ihm auf den Lippen brannte.
"Edwina!" rief er. "Stimmt es, daß du wirklich Eddie Wollas bist?"
"Ja." kam die Antwort durch die Dunkelheit, wie aus weiter Ferne. "Aberr verrate kein Sterrbensworrt!"
"Niemals!" schrie Araghast zurück und dann stürzte die Wirklichkeit auf ihn zu.

Heimkehr


Das Bild hatte nichts an der Wand hinterlassen außer einem dunklen rechteckigen Rand auf der Tapete, dort wo der kupferbeschlagene Rahmen viele Jahre lang die Wand berührt hatte.
Edwina trank direkt aus der Flasche. Sie hatte das Porträt des Hexers von der Wand nehmen lassen, weil sie den ständigen Blick der eisblauen Augen nicht mehr ertragen konnte. Vor langer Zeit, als sie sich an den Schreibtisch gesetzt hatte um den ersten Roman zu schreiben, war es ihr fester Vorsatz gewesen, sich niemals in diese fiktive Figur zu verlieben. Die Figur des Edward war lediglich ihr kleiner Eingeweihtenwitz gewesen.
In einer Mischung aus Liebeskummer und blanker Wut holte die Überwaldianerin aus und warf die Flasche mit aller Kraft gegen die Wand. Glasscherben flogen in alle Richtungen davon und billiger Untervektor-Rum rann in bernsteinfarbenen Strömen die Tapete hinunter. Doch noch mehr als der Kummer über den Tod Godric Adanas nagte an Edwina das Wissen, daß sie jahrelang nur benutzt worden war. Philipp Howards Kraftlieb alias Turisas Lin-Isthar hatte ihre Geschichten gebraucht, um genügend Glaubenskraft für die Aufrechterhaltung seiner abgezweigten Nebenwirklichkeit zu bekommen. Am liebsten hätte Edwina ihm den gesamten Inhalt ihres Köchers in diverse Körperteile geschossen und dann in Ruhe zugesehen wie der achthundert Jahre alte Magier langsam aber sicher verblutete. So blieb ihr nur die Gewissheit, daß Raistan diesen Mistkerl endgültig erledigt hatte. Tapferer kleiner Zauberer.
Doch eines wusste Edwina genau. Edward Damien Wollas würde niemals wieder einen Roman über den Hexer von Ankh veröffentlichen.
Ihre rotgeschminkten Lippen teilten sich und entblößten zwei Reihen weißer Zähne in einem bitterbösen Lächeln.
"Du wirrst bekommen was du verrdienst, Philipp Howarrds Krraftlieb, oder Turrisas Lin-Istharr, oderr werr auch immerr du noch gewesen sein magst." erklärte Edwina Dorothea Walerius der Scheibenwelt im Allgemeinen. "Mögen die Seelen all derr Perrsonen die du überr den Lauf all derr Jahrrhunderrte auf dem Gewissen hast, dirr das Leben nach dem Tode zum Pandämonium machen!"
Nachdem der Fluch verhallt war trat die Überwaldianerin zu ihrer Trophäensammlung und nahm eine ganz bestimmte Phiole heraus. In kleinen Flocken rieselte die Asche in dem Gefäß hin und her, als Edwina es in ihrer Hand drehte und von allen Seiten betrachtete. Viele traurige Erinnerungen hingen an diesem Fläschchen und seinem Inhalt. Zu viele...
Die Überwaldianerin atmete tief durch und setzte sich an ihren Schreibtisch. Die vergangenen Tage hatten einen Abschnitt ihres Lebens beendet. Sie würde nicht nur niemals mehr einen Hexer-Roman schreiben. Auch Eddie Wollas war in gewisser Weise gestorben. Vielleicht sollte sie ihm wenigstens eine würdige Bestattung zukommen lassen.
In ihrer Schreibtischschublade fand sie eine kleine Kiste und ihren Gildenausweis, sowie einen Teil eines Manuskripts. Nachdem sie sich ein weiteres hochprozentiges Getränk eingeschenkt hatte, machte sie sich an die Arbeit. Die Phiole mit der Asche des Barons Breguyar von Duschen-Duschen bettete sie sorgfältig in ein Nest aus zerrissenen Manuskriptseiten. Mit wehmütigem Gesichtsausdruck betrachtete Edwina den Mitgliedsausweis der Schriftstellergilde, ausgestellt auf einen Herrn Edward Damien Wollas. Dann legte sie ihn oben auf die Manuskriptfetzen und verschloss das Päckchen mit beinahe rabiatem Griff. Es gab eine Person bei der diese Dinge besser aufgehoben waren als in ihrem Schreibtisch. Sie bereiteten ihr nur noch Kummer.
Nachdem sie das Päckchen an das Wachhaus am Pseudopolisplatz adressiert hatte lehnte sie sich in ihrem Schreibtischsessel zurück und sah aus dem Fenster. Es hatte aufgehört zu regnen.

Requiem


Die untergehende Sonne warf ihre Strahlen auf den Hier-gibt's-alles-Platz als Araghast Breguyar aus dem Haupttor der Unsichtbaren Universität trat. Genüsslich sog der Feldwebel die morporkianische Abendluft ein und musterte die Straßenhändler, die ihre Waren zusammenpackten. Irgendwo brüllte ein Esel und vom Khan her hallte Schnappers Stimme leise über den Platz. Araghast seufzte leise.
Die Scheibenwelt war wieder in Ordnung, zumindest für die allermeisten Bürger Ankh-Morporks.
Philipp Howards Kraftliebs Der Ruf des Cthulhupalhulhu lag wohlverwahrt in der Hochsicherheitsabteilung der Bibliothek. Obwohl sein Schöpfer mausetot war traute Araghast dem Machwerk nicht über den Weg. Magische Bücher waren eine Sache für sich. Nachträglich schauderte der Feldwebel bei dem Gedanken, ein so gefährliches Ding wie Kraftliebs Werk einfach so in seinem Bücherregal aufbewahrt zu haben. Lea hatte recht gehabt. Diese ganze Zauberei machte nichts als Ärger und letztendlich endete man dabei, die Welt vor den Launen eines Verrückten zu beschützen.
Doch der Preis war hoch gewesen. Die Rettung der Welt hatte den jungen Kamerun Quetschkorn das Leben gekostet und auch an der Püsche der anderen war das Abenteuer nicht spurlos vorübergegangen. Sie alle hatten das ultimative Grauen gesehen und waren vom Hauch des unverhüllten Wahnsinns der Dinge aus den Kerkerdimensionen gestreift worden. Raistan würde überleben, das hatte Rogi versichert, doch wie es ihm püschisch ging, das stand auf einem ganz anderen Blatt. Er hatte die Person verloren die ihm auf der ganzen Scheibenwelt am meisten bedeutet hatte.
So viel Grausamkeit und Tod...
Charlottas Beerdigung war für den folgenden Tag angesetzt. Araghast konnte all seine Kollegen deutlich vor sich sehen, wie sie am Grab Spalier standen, während er selbst die letzten Worte sprach. In seinen Augen war es blanker Hohn, daß er, der Mann durch dessen Hand sie getötet worden war, ihre Grabrede hielt. Aber hatte er denn überhaupt die Wahl gehabt? Eine Wächterin starb, damit die Scheibenwelt weiterexistierte. Es gehörte zum Berufsrisiko eines Stadtwächters, für miese Bezahlung in brenzligen Situationen den Kopf hinzuhalten. Und hin und wieder erwischte es nun mal jemanden. Charlotta hatte sich zur falschen Zeit am falschen Ort befunden, so einfach war es. Und es gab keine Beweise für Araghasts Tat. Die Leiche des Chief-Korporals war durch die unkontrollierte Entladung der Macht des Hexers zu einem menschenförmigen Stück Holzkohle verbrannt und die Tatwaffe, der gestohlene Stockdegen, zu Staub zerfallen. Zudem hatte Nyvania Araghast nach einem einstündigen Gespräch eine durch Tiefenhypnose hervorgerufene Gedächtnislücke attestiert und ein Großteil der Wächter schien diese Lüge bedingungslos geschluckt zu haben. Alles was ihm noch passieren konnte war eine eventuelle Anzeige wegen Alkoholgenusses im Dienst. Der Feldwebel zuckte mit den Schultern. Ein Verweis in seiner Akte war gar nichts für das was er wirklich auf dem Gewissen hatte und von dem er hoffte, daß es niemals herauskam.
Vor dem Schaufenster von Kaufguts Spielwarengeschäft blieb Araghast stehen und betrachtete sein transparentes Spiegelbild. Die feine Narbe unter seinem Haaransatz war kaum noch zu erkennen und sein Haar schimmerte in einheitlichem Rabenschwarz. Leonata hatte eine Stunde damit verbracht, die klatschianische Hennafarbe immer wieder aufzutragen, bis die verdammte schneeweiße Strähne endlich verschwunden war. Die Macht des Hexers von Ankh hatte ihn verlassen, doch das Stigma der URALTEN RIESEN zierte ihn bis ins Grab. Das hieß wohl regelmäßiges Nachfärben...
Araghast lächelte versonnen. Die gute Lea. Sie waren schon ein seltsames Paar. Bestimmt wunderten sich zahlreiche Kollegen und Freunde, weshalb er sich ausgerechnet in diese Frau verliebt hatte. Leonata war hochgewachsen, hager und trug schlichte, hochgeschlossene Kleidung, eine Brille und eine strenge Hochsteckfrisur. Selbst ihre Nachthemden besaßen einen Kragen und waren aus dickem, undurchsichtigem Stoff gefertigt. Araghasts Verlobte verkörperte das genaue Gegenteil jener Frauen, die bei seiner finsteren Seite den Appetit anregten. Und das versteht keiner außer mir, ging ihm durch den Kopf. Während die Haarfarbe einwirkte hatte er ihr von seinen Erlebnissen in jener parallelen Wirklichkeit erzählt und sie hatte ihm einfach nur zugehört. Es war die Beichte seines Lebens gewesen und erstaunlicherweise hatte er sich danach wirklich besser gefühlt. Bei der Erwähnung des halben Liters Jungfrau Spezial pro Monat, für den er den Waffenstillstand mit seinem inneren Vampir ausgehandelt hatte, war sie nicht einmal blass geworden. Doch eines wusste Araghast ganz genau. Nie wieder würde er sich sein B-Wort in Olivanders Igordrom besorgen. Diesen Triumph wollte er dem alten Vampir nicht gönnen, der ihn überhaupt erst in diese verdammte Lage gebracht hatte. Sollte Stanislaus Olivander doch glauben, daß er den Entzug tatsächlich geschafft hatte.
Leise begann Araghast, die getragene Klaviermelodie vor sich hinzusummen, die ihn während des gesamten Fischimbiss-Falles in seinen Tagträumen begleitet hatte. Er war nun einmal, was er war und daran konnte auch konsequente Verleugnung nichts ändern. Sein innerer Vampir brauchte ihn und er brauchte seinen inneren Vampir. Ohne ihn hätte er den Kampf gegen die besessene Charlotta nicht überlebt. So schrecklich die Ereignisse der vergangenen Tage auch gewesen waren, zumindest ein Teil seiner Seele hatte ein wenig Frieden gefunden. Und dafür war ein halber Liter Jungfrau Spezial pro Monat ein herzlich geringer Preis.
Das Lächeln auf den Lippen des Feldwebels wuchs zu einem düsteren Grinsen an. Und wieder war er dabei, jemanden auszutricksen. Sein halbes Leben bestand mittlerweile aus Trickserei, Schwindelei und Vertuschung, angefangen bei seinen eigenen püschischen Problemen über falsche Angaben in Wacheakten bis hin zu glattem Mord. Er war ein verlogener Mistkerl. Doch das Schlimmste an der ganzen Sache war, daß ihm diese Spielchen insgeheim wirklich Spaß machten.
"Du magst zwar schönes Haar haben, aber du hast verdammt noch mal wirklich keinen guten Charakter." sagte Araghast laut zu sich selbst als er seinen Weg fortsetzte, während seine Finger den Hals der Flasche Untervektor-Rum umschlossen, die in der Tasche seines Mantels steckte. Nach einem erfolgreich gelösten Fall gab es nichts Besseres, als sich sinnlos zu betrinken. Und genau das hatte er sich verdammt noch mal verdient. Er allein hatte herausgefunden, was wirklich mit Herrn Hong geschehen war. Doch tief in seinem Inneren wünschte er sich, daß er es niemals erfahren hätte...


DER LETZTE TEIL DER GESCHICHTE


So weit sein Auge reichte, er konnte nicht die geringste Veränderung an der Landschaft ausmachen. Weißer Sand erstreckte sich in alle Richtungen bis zum Horizont, kalt schimmernd im Licht fremder Sterne.
"Hallo?" fragte Turisas Linistar vorsichtig. "Ist hier jemand?"
Innerlich gab er sich einen Ruck. Er war der mächtigste Zauberer der seit hunderten von Jahren auf der Scheibenwelt gewandelt war. Was brauchte er schon zu fürchten?
"ICH BIN HIER." antwortete eine Stimme neben ihm. Sie schein direkt in seinem Bewusstsein zu erklingen und wog so schwer wie eine Bleiplatte.
Turisas wandte sich um. Er war nicht mehr allein. Wie aus dem Boden gewachsen war eine Gestalt direkt neben ihm erschienen. Ihr magerer Körper war in einen schwarzen Kapuzenumhang gehüllt und sie stützte sich schwer auf einen schlichten Holzstab.
"Wer bist du?" fragte der Zauberer vorsichtig.
"WER ICH BIN?" Die Stimme des Unbekannten klang beinahe amüsiert. "KANNST DU ES DIR NICHT DENKEN? ACHTHUNDERT JAHRE LANG HABE ICH AUF DICH GEWARTET, TURISAS LIN-ISTHAR."
"Nein! Das darf nicht sein!" Plötzlich dämmerte es Turisas, wen er dort vor sich hatte. "Ich bin der Meister über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft!" rief er. "Du kannst mich nicht einfach so mitnehmen!"
Tod zuckte mit den knöchernen Schultern und mit einem bläulichen Flackern materialisierte sich die Klinge einer Sense am Ende seines Stabes.
"DU MAGST MEINETWEGEN DER MEISTER ÜBER VERGANGENHEIT UND GEGENWART SEIN." erklärte er ruhig. "ABER KEINESFALLS ÜBER DIE ZUKUNFT. NEIN, DAS FUNKTIONIERT NICHT. ES GIBT NUR EINE ZUKUNFT. UND DIE BIN ICH."
"Dann..." Turisas Linistars Selbstbewusstsein verpuffte wie eine Seifenblase. "Dann bin ich nun wirklich tot..." brachte er hervor. "Aber ich will nicht sterben! Ich habe es verdient zu leben, mehr als alle anderen! Ich bin mächtiger als sie alle zusammen!"
"DAS SPIELT KEINE ROLLE MEHR." antwortete Tod völlig emotionslos und holte mit der Sense aus. "ICH HABE NIE VERSTANDEN, WAS MENSCHEN AN DER MACHT SO FASZINIEREND FINDEN." sagte er nachdenklich als er beobachtete, wie die Gestalt Turisas Linistars langsam verblasste. "LETZENDLICH VERSCHAFFT MIR DIESES GANZE STREBEN NACH MACHT NUR ÜBERSTUNDEN."
"Was passiert jetzt mit mir?" Die immer schwächer werdende Stimme des Meistermagiers von Überwald klang ängstlich. "Wo landet meine Seele? Werden die URALTEN RIESEN mich zu sich holen?"
Tod grinste sein knöchernes Grinsen und lehnte sich auf seine Sense.
"WAS GLAUBST DU, VERDIENT ZU HABEN, TURISAS LIN-ISTHAR?"

Plötzlich waren die Wüste und die kalten Sterne verschwunden und der Geist Turisas Linistars schwebte in absoluter Schwärze. Mit einer erstaunlichen Gleichgültigkeit registrierte der Zauberer, daß es nun endgültig vorbei war. Er hatte verloren. Der letzte Hexer von Ankh hatte sich ihm erfolgreich widersetzt und so war er ohne die Kraft, die er aus den gestohlenen Erinnerungen der Männer gezogen hatte, am Ende. Tod hatte recht gehabt. Niemand konnte die Zukunft beherrschen.
Ein bläuliches Licht kam auf Turisas zugeschwebt und explodierte lautlos. Von einer Sekunde auf die andere war er von Schatten umgeben. Den Schatten vieler Männer. Jeder von ihnen trug eine schneeweiße, wie ein Blitz geformte Strähne im Haar.
Und sie alle schienen verdammt sauer auf ihn zu sein.

ENDE


[1] An dieser Stelle mag der geneigte Leser unheimliche Musik nach Wunsch einspielen

[2] Ganz abgesehen davon, daß es bei einer Masse sich windender Tentakel offensichtlich schwerfällt, diese ganz bestimmte Körperöffnung zu lokalisieren

[3] Abgesehen von der Sorte 'Sto-Verfolger' der im Almanach eine ganz besondere Rubrik gewidmet wurde, doch würde eine ausführliche Erklärung des Entstehens dieser Kohlsorte auf den Leser vermutlich die gleiche Wirkung entfalten wie das Gerede Ephraim Farrux' auf den Kommandeur

[4] Eines der großen Kuriosa der Geschichtsschreibung ist, daß jeder anständige wütende Mob mindestens ein gutes Dutzend Mistgabeln mit sich führt, selbst wenn sich selbiger mitten in einer Großstadt bildet und eine Mistgabel eigentlich ein Arbeitsgerät der ländlichen Bevölkerung ist. Vermutlich öffnet sich im Frühstadium der Bildung einer wütenden Meute irgendwo ein Dimensionstor aus dem heraus jemand einige Mistgabeln an ausgewählte Personen verteilt um für die Einhaltung der Gesetze der narrativen Kausalität zu sorgen.

[5] Damit wäre dieses klassische Klischee auch abgehandelt

Diese Mission bitte mindestens 2 Wochen zur Bewertung stellen!



Für die Inhalte dieses Textes ist/sind alleine der/die Autor/en verantwortlich. Webmaster und Co-Webmaster behalten sich das Recht vor, inhaltlich fragwürdige Texte ersatzlos von der Homepage zu entfernen.

Feedback:

Von Romulus von Grauhaar

24.05.2006 14:59

Grandioses Ende einer grandiosen Trilogie. Voll verdiente 15 Punkte!

Wenn ich Kritik anbringen kann dann die Tatsache, dass ich die Single an manchen Stellen allerdings unnötig brutal und hart geschrieben fand. Für mich persönlich kein Problem, wäre da nicht die Tatsache, dass das ganze öffentlich zugänglich ist und hier auch genug relativ junge Leser dabei sind. ;)

Von Ophelia Ziegenberger

24.05.2006 19:31

Auch, um nicht zu sagen besonders, der dritte Teil deiner Hexer-Geschichten um Bregs, hat mich überzeugen können. Sowohl die 15 als Endwertung, als auch der Goldene Ribbon sind meiner Meinung nach mehr als verdient. Hättest Du die Handlung nicht in und für die Scheibenwelt geschrieben, dann würde ich nun darauf warten, deine Trilogie als dickes, fettes Taschenbuch mit Signatur zu erwerben. :D

Die ersten beiden Teile hatten mich schon dermaßen durch deren fließenden und mitreißenden Schreibstil begeistert, dass ich mir die "original" Hexer-Reihe von Hohlbein zum Vergleich einverleibte. Die vielen Stunden dazu haben sich gelohnt, unter anderem auch wegen der unglaublich vielen Parallelen zu deiner Geschichte, die aber nie auf das Niveau von Kopien herabsanken, sondern im Gegensatz viele der ursprünglichen Erzählstränge "alt" aussehen ließen, als wären diese von deiner Wache-Single abgeguckt worden. Zumal Du bei Weitem nicht so ein immer und immer wiederkehrendes [b:09afe40a3f]Vokabular[/b:09afe40a3f] genutzt hast, wie besagter Star-Autor. Ich habe tatsächlich keine Kritik vorzubringen. Doch woran kann ich möglichst genau das Lob festmachen? Erstens natürlich an dem einfach wunderschönen [b:09afe40a3f]Schreibstil[/b:09afe40a3f] - wenige Worte eines Absatzes haben fast immer gereicht, um mich sofort in jede neue Situation und Szene versetzt zu fühlen. Das hatte bestimmt mit der ausbalancierten [b:09afe40a3f]Mischung[/b:09afe40a3f] von Monologen, Dialogen, Gedankenbeschreibungen und atmosphärischem Szenengeplänkel zu tun.
Dann der [b:09afe40a3f]ständige Wechsel[/b:09afe40a3f] zwischen den Sichtweisen und den Personen. Den persönlichen Welten ebenso wie den Parallelwelten an sich. Ich habe die Beschreibungen tatsächlich mehr als die Darstellung "persönlicher Welten", denn lediglich als "Szenen" empfunden. Deine Beschreibungen der Gedanken und Reaktionen der Einzelnen waren für mich Charakterstudien mit Geschenkschleifchen drumherum.
Auch waren die [b:09afe40a3f]Abstände[/b:09afe40a3f] optimal abgepasst, zu denen ich wieder zu meinen "Lieblingsfiguren" zurückkehren durfte. Wobei fast jede der Figuren so fesselnd in ihren Eigenarten beschrieben wurde, dass ich Neugier auf sie verspürte - Jede der auftretenden [b:09afe40a3f]Figuren,[/b:09afe40a3f] so auch die Kolleginnen und Kollegen von Bregs, bekam "Raum" und wurde lebendig.
Die [b:09afe40a3f]Zwischenüberschriften[/b:09afe40a3f] waren sehr, sehr gut gewählt. Sie machten nicht nur die Wechsel zwischen den Szenen klar, sondern stimmten stilvoll auf deren Inhalte ein.
Die [b:09afe40a3f]Formatierung[/b:09afe40a3f] in kursiv für die Kenntlichmachung der Realität war sinnvoll gewählt und half dadurch ebenfalls, sich als Leser in dem ja nicht auf Anhieb leicht verständlichen Drunter und Drüber des Plots zurechtzufinden.
Ja, der [b:09afe40a3f]Plot.[/b:09afe40a3f] Ich gebe zu, dass ich da zu Beginn der dritten Single etwas Bauchweh mit hatte, da ich mir nicht so ganz vorzustellen vermochte, wie eine logische oder zumindest folgerichtige Auflösung möglich sein könnte. Aber wie bereits gesagt, wurde ich von Dir eines Besseren belehrt. Es hat mir viel Freude gemacht, den Werdegang der Figuren zu verfolgen, mit ihnen zu hoffen, zu zweifeln, zu raten, zu fiebern und zu leiden. Der um sich greifende Wahnsinn der labileren und anfälligeren Gemüter setzte auch den Handlungsstrang unter Zeitdruck, so dass zusätzliche Spannung ob der drohenden Katastrophe anstieg. Die tragisch-gute Mischung des Endes ist wohl die bestmögliche für eine so vielschichtige Geschichte, was ich trotz meiner fatalen Neigung zu Happy-Endings zugeben muss. Es war eine innere Erleichterung, als Du (und dass Du) den Bogen geschlossen und so einen Ausklang nach grandiosem Finalkampf eingeleitet hast.
Die Menge der [b:09afe40a3f]Informationen,[/b:09afe40a3f] die Du dem Leser vermitteltest, war in etwa die gleiche, welche Du auch den Akteuren zuleitetest. Ich hatte dadurch das Gefühl, bei der Hand genommen und durch die Rätsel und Ungereimtheiten geführt zu werden. Und dieses Gefühl bestätigte sich zum Ende hin ja sogar als korrekt.

Es gäbe noch viel zu sagen. Aber eines genügt, denke ich: [b:09afe40a3f]Vielen Dank [/b:09afe40a3f]für die Stunden um Stunden an Arbeit, die Du in dieses Projekt gesteckt und dass Du es uns letztlich zum Lesen überlassen hast. :)

Von Tussnelda von Grantick

24.05.2006 20:08

Wo soll ich beginnen? Ich befürchte ich vergess was, behalte es mir also vor, noch was nachzuschieben.

Erstmal - wirklich danke, für die gute Unterhaltung auf meinem Balkon. Du bist schuld, dass ich eine Woche keine Ahnung vom Weltgeschehen hatte;-) Meine arme Zeitung ist neben dem Hexer vergilbt.

Kritik hab ich auch keine, ich schweife jetzt nur in Lobreden.
Erstens: Ich liebte die Figur Walerius! Sie war stark und handlungsfähig, stand aber auch unter Leidensdruck - eben ein Charakter mit Leidenschaft, mit ihn zerreissenden Begehrlichkeiten. Als sehr gelungen empfand ich hier vor allem das Stelldichein mit Godric und alle einleitenden Szenen, sie verblieben (und verblasten nicht wie manche Szenen mancher Geschichten).

Als Leser, der die Teile ein und zwei nicht gelesen hat, habe ich das Glück in den Genuss wohl eingeschmeckter Wiederholungen gekommen zu sein, die meinem Verständnis absolut dienlich waren. Ich konnte der Geschichte spätestens ab Seite 5 gut folgen. Das zu schaffen, ist harte Arbeit.

Sehr dicht, sehr atmosphärisch waren alle Deine Beschreibungen. Egal, ob es Orte waren oder Person. Ich hätte zuvor gesagt - bei sovielen Figuren ist Chaos vorprogrammiert. Doch nein, jede Figur hatte ihren Platz und ich hatte mein Verständnis. Dem wohl sehr zuträglich war die Arbeit, die Du in das Innenleben Deiner Figuren gesteckt hast - jede einzelne hat die Geschichte weiter getragen, wie in einem Staffellauf.

Der Spannungsbogen war da - es war immer spannend, aber trotzdem ist es Dir gelungen, noch höher zu kommen, eine astreine Kurve tät ich sagen.

Eine der krassesten Szenen für mich war sicherlich das "Aufeinandertreffen" der Brüder in der Uni. Oh ja, ich hab mich kurz für den Kleinen gefreut, dass er seinen Grossen wieder sehen darf. Dann fiel mir dieses fiese Detail seines Todes wieder ein - dadurch das Du die Bindung so stark gestaltet hast, konnte man WIRKLICH mitfühlen udn bekam nicht nur einen Abklatsch von Gefühl. Auch schön - dass Du den Großen nicht einfach so getötet hast, sondern, dass der Kleine dies für seine Entwicklung "brauchte", um zum Schluss das zu tun, was getan werden musste.

Im Augenblick fällt mir nicht mehr ein. Ausser: Respekt. BLödes Copyright, blödes geistiges Eigentum*gg*. Andere Leuten hätten an der Geschichte Geld verdient.

Von Magane

27.05.2006 00:51

Ich weiß nicht viel zu sagen, lange Kritik liegt mir nicht und außerdem ist die Schrift so winzig und alle Buchstaben sind doppelt (Ja, manchmal ist es unumgänglich die Welt durch den Boden einer Rumflsche zu betrachten, aber man sollte hinterher nicht mehr versuchen zu tippen.).

Bewertungen sind absolut eine Sache. allerdings muss es immer mindestens einen geben der die Skala sprengt.
Die Genialität der Hexertrilogie lässt mich in purem Neid erstarren.

Wahnsinn.

Hmmm... mich störts ja nicht... aber das ganze ist schon eine ziemliche Materialschlacht ;)

Die Stadtwache von Ankh-Morpork ist eine nicht-kommerzielle Fan-Aktivität. Technische Realisierung: Stadtwache.net 1999-2024 Impressum | Nutzungsbedingugnen | Datenschutzerklärung