Die durchs Feuer gehen

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vollendet am 07.11.2017
Zeitmönche haben die Geschichte auf den 02.09.2014 datiert
Dauer: Über fünf Wochen

Das spurlose Verschwinden von Oberfeldwebel Ophelia Ziegenberger aus dem verhängten Wachhausarrest liegt inzwischen mehr als ein Jahr zurück. Nur wenige sichtbare Spuren sind von ihr und den Ereignissen rund um sie am Pseudopolisplatz geblieben; der verkokelte Beschwörungskreis auf den Dielen des Büroraumes, in dem sie untergebracht war, der eingetrocknete blutige Handabdruck Mina von Nachtschattens am Türrahmen ihres Stellvertreterbüros aus der Nacht vor Ophelias Verschwinden... und eine dicke Akte mit Ophelias Namen darauf. Die unsichtbaren Spuren jedoch gehen tiefer. Und wenn die Kollegen der unterschiedlichen Abteilungen auch nicht mehr über sie reden, heißt das längst noch nicht, dass alle sie vergessen hätten. Information nach Information sammelt sich heimlich an, Puzzlestücke eines ungelösten Rätsels, dessen Lösung nicht unmöglich schiene, wenn... ja, wenn die einzelnen Wächter miteinander agieren und sich austauschen würden! Aber wird das im hecktischen Einerlei des Wachealltages jemals geschehen? Und über all dem schwebt eine dunkle Macht, deren Zentrum sich verlagert...

HINWEIS! Die Durchführung dieser Multi bedarf besonderer Absprachen, auf die sich alle Interessierten lange im Voraus geeinigt haben. Bitte bedenkt, dass dazu ein vorgegebener Roter Faden gehört, an dem wir uns über Spielewiesenabsprachen entlanghangeln werden! Die einzelnen Posts werden hierbei erst zum Abchecken der inneren Figuren- und Ereignisfolge-Logik an mich weitergegeben. Anschließend gebe ich das OK zum jeweiligen Onlinestellen. Ideen und Vorschläge sind immer gerne gesehen, ebenso wie tiefschürfende Plaudereien zu Wünschen und Motiven. Die beiden Hauptziele dieser Multi werden darin bestehen, jedem Beteiligten heldenhafte Szenen und Raum zum Ausleben seiner Figuren zu geben - sowie Ophelia zu retten! Mit möglichst wenig Kolleteralschäden. ;-)

Ophelia Ziegenberger

Der Mann in der schmalen Kammer griff nach einem Holzkamm und begann damit das Haar der vor ihm auf dem Tisch liegenden Frau durchzukämmen. Seine Gedanken wanderten zu wichtigeren Dingen.
Die Institutsleiterin wurde langsam nervös. Wieder einmal! Vermutlich war es bald an der Zeit, gewisse Drohungen ihren Mädchen gegenüber aufzufrischen. Es war lange her, seit er sich das letzte Mal genötigt gesehen hatte, eines dieser Druckmittel auch in die Tat umzusetzen. Und die gebotene Vorsicht zu solch seltenen Gelegenheiten hatte nie sonderlich viel Spaß an der Arbeit zugelassen. Es war eben ein Teil des Problems, dass sie für Ausrutscher deutlich zu nahe am Institut residierten. Leider!
Der schlanke Vampir warf den Kamm verärgert in eine der Metallschüsseln und stützte sich mit hochgekrempelten Hemdsärmeln am Tischrand ab. Er schloss einen Moment die Augen und atmete bewusst ein und aus.
Er hatte es so satt! Die letzten Monate waren eine unerträgliche Zumutung gewesen. Nicht nur, dass ihm jede noch so kleine Freude verboten wurde! Nein, das reichte natürlich nicht. Obendrein hatte sein Auftraggeber sich selber mehr denn je den eigenen Freuden hingegeben!
Sebastian stieß den kleineren Tisch neben sich frustriert um, was einen scheppernden Regen aus Blechnäpfen und Metallinstrumenten auslöste.
Er warf den Kopf in den Nacken und knirschte mit den Zähnen.
Raculs Gelüste zwangen seinen Diener dazu, in immer kürzeren Abständen für Nachschub zu sorgen. Und langsam aber sicher wurde das schwierig.
Der alte Mann war so dermaßen arrogant! Hatte er überhaupt eine Ahnung davon, wie kompliziert es war, die richtigen Damen ausfindig zu machen, diejenigen, die nicht ernsthaft gesucht werden würden? Und gleichzeitig sollten sie natürlich gewisse Standards erfüllen, die für sich genommen schon nicht ohne waren!
Der Mann in der Kammer warf einen dunklen Schatten auf die Tote, wobei seine Augen wie finstere Kohlestücke in dem unsteten Licht der Öllampe glommen. Er konzentrierte sich wieder und entspannte bewusst die Nackenmuskulatur. Seine Schultern sanken herab und seine Fäuste öffneten sich. Die harten Linien um seinen Mund glätteten sich. Er hob langsam den Tisch auf, als wenn es ihn bewusste Anstrengung kosten würde, jeden einzelnen Muskel dabei im Zaum zu halten. Bedächtig sammelte er alles Verstreute ein.
Er würde sich keine Blöße geben. Weder vor seinem Herrn, noch vor dessen Bediensteten. Oder der Gefangenen.
Ein bösartiges Lächeln hob seine Mundwinkel.
Ja, ein Besuch in ihrer Kammer, nur wenige Türen weiter in diesem verwinkelten Kellersystem, versprach Genugtuung. Besonders heute!
Er dachte zufrieden an den mehrfach gefalteten Zettel in seiner Jackettasche, den er wohlweislich an sich genommen und extra für sie mit nach unten gebracht hatte.
Mit einem milden Lächeln begann er, das großflächige Wachspapier um die Leiche herum zusammenzufalten. Dann faltete er den Körper in der Verpackung nach und nach weiter zusammen, bis er ein kompaktes Stück Mensch von der Arbeitsfläche hob und dieses in die nebenstehende Reisekiste ablegte.
Die Köpfe machten immer Probleme. Und die Hacken. Aber mit etwas Übung umging man diese Hürden durch geschicktes Drehen des Körperpakets beim Einpassen. Man musste dabei nur vorsichtig sein, sonst riskierte man Risse im Papier. Und wer wollte schon im dümmsten Fall durch einen Holzsplitter oder eine hängen gebliebene Haarsträhne doch noch überführt werden?
Er schloss den Deckel und legte die Riegel um, die Vorhängeschlösser rasteten ein. Dann begann er mit dem Aufräumen und dem Säubern der Instrumente.
Eigentlich waren das alles Arbeitsschritte, die man genauso gut den beiden Igors im Haus anvertrauen hätte können. Das Problem daran lag allerdings im Wort selber bereits begründet: an-vertrauen! Mal ganz abgesehen davon, dass er grundsätzlich keinen Vorschuss gewährte... was die Spurenbeseitigung anging, vertraute er niemandem, außer sich selbst. Was seiner Überzeugung nach auch exakt der Grund dafür war, dass sie nach all den Jahrzehnten noch immer unbehelligt im Verborgenen agieren konnten. Trotz eines extremen Anstiegs der Verbrauchszahlen in den letzten Monaten, mit ihren jeweiligen... Vorkommnissen. Es gab nicht viele Bedienstete, die seinen Aufgabenbereich mit solch genialer Voraussicht, mit seinem fieberhaften Engagement und seiner fast sprichwörtlichen Umsicht, erfüllen hätten können! Und doch ließ Racul ihn nicht einfach gewähren, sondern schränkte seine Befugnisse mehr und mehr ein!
Der Vampir trug den bereitstehenden Eimer Wasser zum Tisch, griff nach dem Sand und streute diesen über die Tischplatte. Die kräftigen Scheuerbewegungen, mit denen er über die zerkratzte Metallfläche fuhr, ließen seine nur knapp unterdrückte Wut erahnen.
Es wurde immer schlimmer mit dem Alten! Zu Beginn der Gefangenschaft der Wächterin hatte Racul lediglich mit seichtem Unmut auf seinen... Spieltrieb reagiert. Sie beide hatten nach all den Jahrzehnten endlich ein ausgewogenes Miteinander gefunden gehabt, sie hatten einander akzeptiert oder zumindest größtmöglich ignoriert gehabt. Sie hatten zu einem fairen Geben und Nehmen gefunden gehabt. Bis die junge Frau dazwischen geraten war! Seitdem ging alles den Bach runter! Persönliche Wünsche und Vorlieben, längst etablierte Gewohnheiten... alles wurde plötzlich als unnötiges Risiko abgestempelt und ihm untersagt. Der hohe Herr hingegen...
Sebastian kämpfte gegen seinen Zorn an. Er durfte sich nicht gehen lassen!
Er legte die polierten Gerätschaften auf der frisch geschrubbten Tischplatte ab, fein säuberlich in einer Reihe nebeneinander ausgerichtet. Er rollte eine Stoffbanderole aus, strich sie glatt und begann mit andächtiger Sorgfalt, die einzelnen Instrumente in ihre jeweiligen Einschübe zurück zu stecken. Kurz zog er dabei die Taschenuhr aus seiner Weste und vergewisserte sich, dass er noch nicht in Zeitverzug geraten war.
In wenigen Stunden stand im Tempel des Om eine rituelle Feueropferung an. Die Heilige Grube dafür lag etwas abseits auf dem Gelände und die Feuer des Om brannten traditionell heiß. Er würde zwei Klackernachrichten versenden und damit bestimmte Kontakte aktivieren müssen. Aber dann sollte die Angelegenheit so gut wie erledigt sein. Noch bevor die ersten unangenehmen Gerüche entstehen konnten. Sehr gut!
"Igor!"
"Ja, Herr?"
Der bucklige Angestellte humpelte hinter Sebastian vorbei und sah erwartungsvoll zu ihm auf.
"Ich bin hier soweit fertig. Verladet die Kiste!"
"Fehr wohl, Herr."
Der Vampir sah dem Igor nach, während er sich die Ärmel runterkrempelte und die Manschetten zuknöpfte.
Als wenn er auf das eilfertige Getue hereinfallen würde! Igor und seine Frau waren allein dem Meister hörig. Dabei wäre es nur zu angemessen gewesen, wenn sie ihn, den jüngeren, als ebenbürtig anerkannt hätten! Wer kümmerte sich hier schließlich um alles? Wer sorgte dafür, dass das Geld rotierte und sie alle sich den großzügigen Lebensstil leisten konnten, der mit Raculs Ansprüchen einherging? Und unter anderen Umständen hätte er sich längst das Recht erwirkt gehabt, selber mit dem Ehrentitel der Igors angesprochen zu werden!
Er atmete tief ein. Und erinnerte sich an sein unterhaltsames Vorhaben.
"Die arme Wächterin, richtig! Ich sollte sie wirklich nicht warten lassen."
Er lief das Kellerlabyrinth ab, stieg in das geschmackvoll eingerichtete Haus hinauf und setzte sich an den Sekretär im Foyer. Die Nachrichten waren schnell geschrieben und auf den Weg gebracht. Sodann machte er sich langsam auf den Rückweg, hinab in die dunklen Gänge unter dem Haus. Je mehr er sich jenem ganz speziellen Zimmer näherte, desto federnder schien sein Gang zu werden.
Endlich blieb er vor einer unscheinbaren Tür stehen und strich wie zärtlich mit der flachen Hand über deren Holzmaserung. Er klopfte an.
Durch die Tür drang eine leise Stimme, zurückhaltend und misstrauisch, verwundert.
"Herein?"
Der Vampir beglückwünschte sich zu seiner famosen Idee. Ja, das versprach genau die richtige Art der Unterhaltung zu werden, um ihn aufzumuntern. Er zückte seinen Schlüsselbund und ließ sich Zeit dabei, die richtigen Schlüssel zu finden. Endlich öffnete er die Tür.
Die junge Menschenfrau saß in dem Sessel nahe dem Kamin. Sie hatte eine schäbige Strickdecke um sich gewickelt. Ein zerfleddertes kleines Buch lag auf ihren Knien abgelegt. Sie sah zu ihm auf und etwas in ihrer Haltung veränderte sich. Ihre Schultern strafften sich, ihr Kinn hob sich minimal. Und ihr Herz begann schneller zu schlagen!
Ah, wie er dieses Spiel liebte!
Sie runzelte ihre Stirn und er konnte beinahe ihre Gedanken lesen. Aber eben nur beinahe.
Inzwischen gab es Momente, in denen er sich nicht mehr ganz sicher war, warum er sich noch immer ihre Nähe antat. War es der Reiz des Verbotenen, der unwiderstehliche Drang, Raculs Weisungen nur gerade eben noch so, ganz knapp, zu befolgen? Lockte ihn die Gefahr, irgendwann eben nicht mehr an sich halten zu können und Raculs Rache unwiderruflich auf sich zu ziehen? War es eine rein körperliche Sache, das Provozieren physischer Reaktionen? Oder sehnte er sich wirklich nach dieser Stille, nach der Erlösung seines ruhelosen Geistes innerhalb des ihren, ganz gleich wie störend ihre lächerliche Gegenwehr bei solchen Gelegenheiten gewesen sein mochte? Kam er deswegen nicht von ihr fort und ließ sich immer wieder wie magnetisch in den Wirkradius ihrer Faszination zurückziehen? Es war so ermüdend, seinen eigenen Geist vor dem des Herrn zu schützen! So kräftezehrend, dessen Sondierungen unauffällig an sich abperlen zu lassen, dessen Misstrauen umzulenken und immer neue Gedankenwälle in Bewegung zu halten, um die wenigen verbliebenen Geheimnisse in seinem Sinn vor Raculs Zugriff zu schützen. Wie befreiend war es da gewesen, die defekte Menschenfrau als Barriere gegen seinen Herrn zu nutzen, einfach nur dadurch, dass er sie berührte und ihre verzweifelte Gegenwehr so gut wie möglich ausblendete. Oder genoss. Wie es gerade besser zu seiner Tagesstimmung passte.
Aber Raculs Anordnungen hatten ihm diese Rückzugsmöglichkeit genommen. Und sie selber war ebenfalls etwas wehrhafter geworden.
In den letzten Wochen hatte sie sich beispielsweise das Reden nahezu abgewöhnt, wie er mit einem gewissen Bedauern feststellen musste. Wenn er ihr Verhalten richtig deutete, dann hatte sie zwar eine gewisse Routine dabei entwickelt, diese geistige Barriere aufrecht zu erhalten. Doch das ganze Unterfangen schien von ihrer bewussten Willensanstrengung abzuhängen. Sie musste sich darauf konzentrieren! Und am schwersten fiel es ihr, diese Konzentration zu halten, wenn es ihm gelang, ihre Gefühle zum Wanken zu bringen. Was, logischerweise, zu seiner Lieblingsbeschäftigung geworden war. Zumal er damit nicht direkt gegen die ausformulierten Befehle seines Herrn verstieß!
Er verriegelte die Tür nach seinem Eintreten von innen und schlenderte zu dem zweiten Sessel vor dem kärglichen Kaminfeuer. Auf eine Aufforderung zum Platznehmen zu warten wäre verschwendete Geduld gewesen, weswegen er sich ungeladen niederließ. Er schlug die Beine übereinander, setzte links und rechts die Ellenbogen auf den hohen Lehnen auf und betrachtete sie.
"Nun, wie geht es uns denn heute?"
Ihre Lippen bildeten eine dünne Linie und ihr Blick schien zu verblassen. Dann nahm sie das Büchlein aus ihrem Schoß wieder auf und versenkte ihre Aufmerksamkeit demonstrativ in selbiges.
Sebastian beugte sich mit missbilligendem Schnalzen vor und legte seinen Zeigefinger auf den Buchfalz.
Sie hätte fast das Buch fallengelassen in dem panischen Versuch, eine Berührung ihrer beider Hände - und sei sie auch noch so flüchtig - zu verhindern.
Sebastian legte nach und nach auch die anderen Finger um den Buchrücken und tadelte sie mit milder Stimme, während er ihr das Buch langsam aus der Hand zog. Sie leistete kaum Widerstand, mied aber noch immer seinen Blick.
"Das ist ein sehr unhöfliches Verhalten! Haben wir nicht gelernt, dass man einander anschaut, wenn man miteinander redet? Sind wir heute vielleicht ein wenig bockig, kann das sein?"
Ihr Rückrat drückte sich etwas aufrechter durch und nach kurzem Zögern erwiderte sie seinen Blick. Ihre ungewöhnlichen grauen Augen sahen ihn unnachgiebig an, wirkten dabei aber nahezu leblos. Von Emotionen keine Spur.
Das Lächeln auf seinen Zügen verbreiterte sich in Anbetracht dieser Herausforderung.
"So so! Wir sind heute wieder einmal ganz ausgeglichen und beherrscht. Stur und egoistisch. Du möchtest mir keine kleine Freude machen? Schade eigentlich. Als du noch etwas redseliger warst, war es deutlich unterhaltsamer. Kannst du dich noch daran erinnern, wie du mich regelmäßig verflucht hast? Meine Güte! Das waren noch Zeiten!"
Sie zog sich die Decke enger um die Schultern und hielt sie mit einer Hand vor ihrer Brust zusammen. Ihr Blick bekam diese seltsam konzentrierte Qualität, bei der ihn irgendwann immer das Gefühl beschlich, sie würde in sein Innerstes sehen - oder einfach durch ihn hindurch. Und dann wurde ihr Herzschlag wieder ruhiger, richtiggehend langsam, als wenn sie die Frechheit besäße, ihn vollständig auszublenden oder gar zu vergessen!
Sebastian griff tief in seine Jackettasche und zog den kleingefalteten Zettel heraus. Seine Stimme wurde weich von falschem Mitgefühl.
"Aber, wenn du mir keine Freude machen möchtest, heißt das ja noch lange nicht, dass ich dir keine machen dürfte, richtig? Mal sehen, was haben wir denn hier?" Er entfaltete sorgsam das kleine Blatt Papier, strich es notdürftig glatt und hielt es sich so vor das Gesicht, dass er die Abbildung darauf mit ihrem Aussehen vergleichen konnte.
"Hmmm... ich weiß ja nicht... wenn man sich das Haar anders vorstellt..." Er strich leicht mit seinen Fingerspitzen durch ihr Deckhaar und zupfte es um ihr Gesicht herum zurecht. Und endlich spürte er auch eine angemessene Reaktion, was ihn innerlich frohlocken ließ.
Ihr Puls schnellte in die Höhe, ihr Atem wurde unregelmäßiger und in ihrem plötzlich unsteten Blick flackerten die eisern zurückgehaltenen Emotionen wie Flammen eines frisch entfachten Feuers. Natürlich war ihm bewusst, wie weit er die Grenzen, die ihm seitens Raculs gesetzt waren, damit strapazierte. Aber solange sie ihre instinktive Reaktion niederkämpfte, seine Hand nämlich einfach fortzuschlagen, solange würde es auch nicht zu einem direkten Haut- und damit Gedankenkontakt zwischen ihnen kommen. Sie wusste das ebenso wie er. Immerhin hatten sie in den frühen Anfängen ihrer besonderen Beziehung viel Freude daran gehabt, die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Gabe auszutesten. Nun, zumindest er hatte diese Zeit genossen.
Ihre Hand krampfte sich um die Decke.
Er lächelte süffisant.
"Nein", beschied er. "Selbst so ist da nicht mehr viel Ähnlichkeit zu finden. Hmmm, was meinst du? Würden sie dich noch erkennen?"
Und dann wendete er den Zettel in ihre Richtung, so dass sie den Suchaufruf mit ihrem eigenen Abbild darauf sehen konnte.
Sie sog erschrocken die Luft ein und ließ die Decke achtlos hinabgleiten, als ihre gesunde Hand sich automatisch dem Zettel entgegenstreckte. Ihre Wimpern flatterten regelrecht, so mühsam hielt sie die aufbrandenden Gefühle zurück. Sie musste schwer schlucken, bevor sie flüsterte: "Woher..."
Er lehnte sich überaus zufrieden zurück und winkte leicht mit dem Wisch.
"Von einer Hauswand in den Schatten. Und es ist nicht der einzige. Aber du kannst ganz beruhigt sein: Diese Aktion ist das Fanal einer nutzlosen Quest. Das unrühmliche Ende einer gemeinschaftlichen Verzweiflungstat. Der Punkt ohne Wiederkehr."
Sie atmete schwer.
"Wie ist das..."
"Du bist inzwischen zu lange fort, meine Liebe."
Sie wollte fragen, wie lange. Das war ihr deutlich anzusehen, er hätte es aus ihren Augen herauslesen können, selbst ohne sie aufgrund seiner früheren Streifzüge durch ihren Geist so gut zu kennen, wie er dies inzwischen tat. Doch er wusste, dass sie ebenfalls in seine Gedanken gesehen hatte, in den vielen Malen zuvor, bei denen sich ihre inneren Wege gekreuzt hatten. Es war ein offenes Geheimnis zwischen ihnen, dass er nichts unversucht lassen würde, sie in diesem Punkt aus reinem Eigennutz in die Irre zu führen. Zumal er in all der Zeit misstrauischer als sein Vorgesetzter geblieben war, was ihre, nun nicht mehr so leicht zugänglichen, Fluchtpläne betraf. Es war ihm alles recht, was ihre Hoffnungen auf Flucht oder Rettung zermürben konnte!
Er ließ es sich nicht nehmen, ihren Zweifel zu schüren.
"So viele Jahre sind seit deinem überstürzten Verschwinden aus den engen Wachhausmauern vergangen! Das kann man wirklich von niemandem erwarten, so lange zu Warten, findest du nicht auch?"
Dem grauen Flackern in ihrem Blick gesellten sich Trotz und Verzweiflung hinzu. Sie wich schnell seinem Blick aus, konzentrierte sich nun voll und ganz auf das Kaminfeuer. Er konnte spüren, wie sie ihren Atem zu kontrollieren versuchte, wie sie sich dazu zwang, einen inneren Rhythmus auszuzählen. Er behielt sie genau im Blick, als er sein heimliches Ass aus dem Ärmel zog.
"Du wirst froh sein, das zu hören: Deine Schwester hatte zu dieser Plakatierungsaktion aufgerufen, allerdings mit den Worten, das sei ein letzter Versuch. Sie gibt dich auf! Sie werden auch dieses Mal nichts erfahren und dann wird dein Verschwinden zu den Akten gelegt werden. Endgültig. Keine weiteren Suchen, keine Fragen. Sie werden noch ein wenig trauern und dann werden sie dich vergessen, während sie ihrem normalen Alltagstrott verfallen. Du brauchst dir also keine Sorgen mehr darum machen, dass sie uns in den Weg und damit in Gefahr geraten könnten. Ist das nicht schön?"
Die Wächterin schlug sich die Hand vor den Mund, schloss die Augen und wandte ihr Gesicht von ihm ab. Ihr Herzschlag ging inzwischen so schnell und unregelmäßig, dass Sebastian sich eingestand, dass Racul selbst in seinem derzeit sehr abgelenkten und generell eher desinteressierten Zustand davon Wind bekommen mochte. Konnte sie ihre Barriere noch aufrecht erhalten? Er selber konnte das ironischerweise ohne direkten Hautkontakt nicht beurteilen. Etwas, was er trotz seiner brennenden Neugier nicht riskieren würde.
So oder so, weiter konnte er derzeit nicht gehen, um sie spüren zu lassen, dass er immer noch das Sagen hatte, ganz gleich mit welchen Formalia der alte Mann ihn eindecken mochte. Dieser Besuch konnte als voller Erfolg gewertet werden.
"Vorsicht, Ophelia! Nicht schludrig werden! Schön brav die Gedankenmauer festhalten! Oder hast du deinen Gastgeber so sehr vermisst, dass das eine Einladung in deinen Sinn an ihn werden soll? Du weißt: Ein Fehltritt und es mag sein, dass er dieses warme, helle Zimmer hier als zu komfortabel für eine widerspenstige Leibeigene betrachtet und mir gestattet, dich wieder angemessener unterzubringen. Dieser Anschein von Gefügigkeit, den du dir neuerlich gibst, kann mich nicht von deiner grundsätzlichen Aufrührerstimmung ablenken. Ich betrachte die Nutzung dieses luxuriösen Raumes und seiner Privilegien durch dich daher nur als vorübergehend. Du kannst dich nicht ewig verstellen. Und dann... Es wird mir ein Vergnügen sein, dich zur Käfig-Kammer zurück zu geleiten..."
Betont gelassen legte er das Faltblatt wieder zusammen und steckte es in die Jacketttasche zurück.
Ihr Ringen um Fassung füllte den Raum. Der unstete Schlag eines verzweifelten Herzens... Er hätte dieses klassische Solo gegen keinen noch so prunkvollen Konzertabend in der Oper eingetauscht.
Sebastian gestattete sich bevor er ging noch einen letzten, überaus zufriedenen Blick auf sein Lieblingsspielzeug.

12.02.2017 7: 57

Araghast Breguyar

Wie jede Woche tobte die Schlacht von Koomtal auf dem Küchentisch der Breguyars. Mit gezogenen Waffen stürmten Zwerge und Trolle aufeinander zu um in den gegnerischen Schlachtreihen ein blutiges Gemetzel anzurichten.
Araghast hatte keine Ahnung, wer die Schlacht von Koomtal damals eigentlich gewonnen hatte, ob es noch einen anderen Auslöser gegeben hatte, außer dass Zwerge und Trolle sich nun einmal hassten, und ob es nicht eigentlich mehrere Schlachten gewesen waren. Er war sich allerdings sicher, dass die Anzahl der Schlachten von Koomtal, die sein Küchentisch gesehen hatte, bereits in den hohen dreistelligen Bereich ging. Wären sie real gewesen, hätten die beiden begeisterten Koomtal-Hobbygeneräle Leonata Breguyar und Raistan Quetschkorn die beiden beteiligten Spezies sicherlich schon längst ausgerottet.
Obwohl er selbst gerade einmal die Grundregeln des Spiels beherrschte, liebte er die regelmäßigen Klonk-Abende, an denen die ganze Familie versammelt war. Das Muster war immer das gleiche. Zuerst gab es Abendessen, anschließend brachte er Antonia ins Bett, während Leonata und Raistan das Spielbrett aufbauten und Nyria mehr oder weniger grummelnd den Abwasch erledigte. Wenn er seine Tochter mit einer Gute-Nacht-Geschichte zum Schlafen gebracht hatte, war die erbitterte Schlacht meistens schon in vollem Gange.
"Sag mal," flüsterte ihm Nyria von der Seite ins Ohr, "Stellst du dir eigentlich auch immer vor, dass es der IA-Agent ist, wenn ein Zwerg geschlagen wird?"
"Hm?" Abrupt aus seinen blutigen Gedanken gerissen runzelte der Kommandeur die Stirn.
"Na, wenn Opal ihn mit seiner Keule erwischen würde, wäre er bestimmt Mus." Nyria stieß ihn in die Rippen.
"Gute Idee." brummte Araghast und sah zu, wie ein weiterer Troll von den schlanken Fingern seiner Frau in Position geschoben wurde. "Obwohl im Moment wäre mir ein Schlag-den-Flanellfuß-Spiel lieber. Der Agent ist gerade wirklich das geringere Problem und außerdem weiß ich, woran ich bei ihm bin. Rach Flanellfuß allerdings - der Kerl ist schlüpfrig wie ein Aal und was er nun genau will, entgeht mir irgendwie."
"Ist doch klar." Nyria ließ sich von der Arbeitsplatte gleiten, auf der sie eben gesessen hatte, zog sich einen Stuhl verkehrt herum heran, ließ sich darauf nieder und verschränkte die Arme auf der Lehne. "Inspizieren, wie effizient wir sind."
"So viel ist mir auch klar," brummte Araghast. "Aber wie effizient ist dem Patrizier effizient genug?" Er atmete tief durch. "Ich bin mir sicher, dass Vetinari eine effiziente Wache haben will. Aber manchmal habe ich den Verdacht, dass sie, wenn sie zu geschmiert läuft, in seinen Augen wieder etwas destabilisiert werden sollte, damit in seinem Machtgefüge alles ausgeglichen bleibt und so weiter. Deshalb hat er uns Flanellfuß auf den Hals geschickt. Um uns nervös zu machen."
Nyria grinste breit.
"Kein Wunder, dass du Leute als Strafmaßnahme gerne dazu verdonnerst, mit ihm Streife zu gehen."
"Immerhin sind die Berichte meistens sehr unterhaltsam. Der von Rabbe war es ganz besonders."
"Wenn es wirklich zu Kürzungen kommt," Leonata hielt in ihrem Zug inne und sah zu den beiden pazifistischen Zuschauern herüber. "Glaubst du, dass er auch die Kantinenmannschaft, Aglaranna und mich wegrationalisieren wird? Immerhin bekommen wir auch als zivile Angestellte den üblichen Mannschaftsgrad-Soldsatz."
"Selbst er muss zugeben, dass die Buchhaltung der Wache zum ersten Mal seit vor Kommandeur Rince funktioniert, nachdem du sie übernommen hast." Araghast trat hinter seine Frau und legte seine Hände auf ihre Schultern. "Und seitdem sich Aglaranna um die Berichtkorrektur kümmert, landen wesentlich weniger unlesbare Katastrophen auf meinem Schreibtisch."
"Als ob du wirklich alle Berichte lesen würdest." bemerkte Raistan, der das Gespräch bisher schweigend verfolgt hatte, trocken.
"Ich nicht. Aber falls ein Fall irgendwann später doch noch mal wieder aufgerollt wird, sind alle froh, dass sich die Akte auch ohne fortgeschrittene Kommex-Decodierfähigkeiten entziffern lässt." Araghast seufzte tief. "Aber egal wie oft ich Flanellfuß auf Streife schicke oder ihn andere GRUND-Aufgaben erledigen lasse, er wird nie verstehen, was es wirklich bedeutet, ein Wächter zu sein. Wenn er das jemals täte, würde er aufhören, sich mit sinnlosen Effizienzüberprüfungen und dem Ausquetschen diverser Streifenwächter zu beschäftigen, sondern sich um das kümmern, was wirklich wichtig ist."
"Und die Buchhaltung ist wichtig." Leonata drückte seine Hand und ein hinterhältiges Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. "Wer weiß, wenn da nicht mehr alles so funktioniert wie es soll, dann kann es durchaus sein, dass ein gewisser Gefreiter seinen Sold nicht mehr pünktlich ausgezahlt bekommt."

Während Zwerge und Trolle ihren Kampf wieder aufnahmen, ging Araghast der Name Rach Flanellfuß wieder einmal nicht aus dem Kopf. Nachdem sich das Ziegenberger-Problem auf seine eigene Weise gelöst hatte, hätte das Wacheleben ohne diesen verdammten Inspektor wieder so schön sein können. Manchmal fragte sich der Kommandeur, ob Vetinari es für einen besonders guten Witz gehalten hatte, von allen potentiellen Inspektoren ausgerechnet dem Geliebten Ophelia Ziegenbergers die Aufgabe zu geben.
Araghast sah nachdenklich zu, wie eine Gruppe von Zwergen einen Troll ins zeitweilige Jenseits beförderte. Ophelia Ziegenberger. Das wohl insgesamt größte Problem seiner gesamten Zeit in der Wache. Er hatte immer gedacht, dass der Fall Dreimal Glücklicher Fischimbiss, das Komplott von Robin Picardo und seine Ernennung zum Kommandeur die Tiefpunkte seines Lebens darstellt hatten, bis er herausfand, dass Ophelia Ziegenberger das Vertrauen, das er ihr als ihr Püschologe geschenkt hatte, auf das Gnadenloseste missbraucht hatte. Sie hatte ihn, den eigentlich erfahrenen Püschologen, mit Halbwahrheiten und Platitüden um den Finger gewickelt, während sie insgeheim ihre eigenen Pläne gehegt hatte. Und dann kam das Gedankenleck. Vampire konnten ihre Gedanken lesen, und umgekehrt, was sich als fatal für die Wachesicherheit herausgestellt hatte.
Und damit nicht genug. Sein vampirisches Erbe hatte dafür gesorgt, dass Ophelia auch auf seine Gedanken unbeschränkten Zugriff hatte, sobald sie sich im gleichen Raum aufhielten. Nicht zu denken, wenn Ophelia auf diese Weise zufällig die Wahrheit über den Fall Dreimal Glücklicher Fischimbiss erfahren und irgendein zufällig vorbeischlendernder informationsgieriger Vampir dieses Wissen aus ihrem Gedächtnis ausgelesen und meistbietend verkauft hätte, wie es schon mit diversen sensiblen Informationen von RUM geschehen war, von denen Ophelia gewusst hatte...
Deshalb war er bereit gewesen, alles zu tun, damit dieses verdammte Gedankenleck ein Ende hatte. Für die Wache. Für sein eigenes Überleben. Und, wie er sich selbst in seinen dunkelsten Stunden eingestand, weil er sich, trotz alldem was sie getan hatte, immer noch für Ophelia verantwortlich fühlte.
Verdammter Kommandeursposten. Als Abteilungsleiter von FROG hatte er Gevatter Tod mehr als nur einmal ins Auge geblickt und so manches Abteilungsmitglied verloren. Aber irgendwie hatte er, so traurig wie der Tod eines Kameraden auch war, bis auf die Charlotta-Situation letztendlich immer damit leben können. Sie waren, egal wie die anderen auch lästern mochten, die Elite-Kampfeinheit der Wache, diejenigen, die den Kopf hinhielten, wenn es sonst niemand tat.
Aber Ophelia war immer anders gewesen. Sie war eine Tochter aus gutem Hause, die sich in der Wache beweisen wollte und die sich richtig eingesetzt durchaus als nützlich erwiesen hatte. Er hatte gesehen, wie sie Einsatz für Einsatz eine püschische Verwundung nach der anderen davongetragen hatte. Und selbst nachdem sie ihn belogen und betrogen hatte, war sie immer noch seine Verantwortung gewesen. Denn letztendlich war sie unter seinem Kommando in diese Situation geraten und es war seine Pflicht und Schuldigkeit einem seiner Wächter gegenüber, alles für ihn oder sie zu tun.
Aber letztendlich hatte ihm das Schicksal in die Hände gespielt. Ohne dass er etwas dagegen hätte tun können, war Ophelia Ziegenberger spurlos verschwunden und die einzigen Spur war ein angeblicher Brief von Rach Flanellfuß und die Abdrücke einer Kutsche im Schlamm gewesen.
"Zehn Cent für deine Gedanken, Herr Kommandeur." Nyria winkte ihm von ihrem Sitzplatz aus zu.
Araghast verzog das Gesicht.
"Nur Ophelia Ziegenberger. Ihr Fall ist so einer, den man nicht so schnell vergisst."
Nyria zuckte mit den Schultern.
"Sie ist weg. Du betonst immer wieder, dass sie nun nicht mehr dein Problem ist."
"Weißt du, die allermeisten verschwundenen Wächter tauchen irgendwann wieder auf." Araghast hob die Hand und begann mit den Fingern abzuzählen. "Allein in den letzten Jahren Bürstenkinn, von Grantick, Schneidgut und Schraubenndrehr. Zwar nicht immer unbedingt mit dem gleichen Vitalitätsstatus, aber sie kommen wieder. Und wenn Ophelia Ziegenberger wieder erscheint, dann kann sie was erleben."
"Ich dachte, du weigerst dich, dich mit ihr im gleichen Raum aufzuhalten." warf Raistan ein.
"Dann halt schriftlich per Rohrpost," grummelte Araghast.
"Und was sagst du, wenn sich herausstellt, dass sie gar nicht freiwillig verschwunden ist?" Nyria hob vielsagend eine Augenbraue.
"Wieso, was soll denn schon passiert sein?" Araghast schnaubte durch die Nase. "Sie kannte Flanellfuß' Handschrift, hat den Brief gefälscht und ist stiften gegangen. Ich falle auf ihre unschuldige Fassade nicht mehr herein. Nicht noch mal."
Nyria beugte sich vor.
"Was hältst du von einer kleinen Wette? Falls deine Faustregel stimmt und sie wirklich irgendwann wieder auftaucht - wer von uns allen mit seinem Tipp für den Grund am nächsten dran liegt, bekommt von den anderen ne Flasche mit was Leckeren."
"Also gut." Araghast lehnte sich an das Spülbecken und hob die Stimme. "Dann geben alle bitte jetzt ihre Vermutungen ab, was mit Oberfeldwebel Ophelia Ziegenberger passiert sein könnte. Ich bleibe dabei, dass sie verduftet ist. Leonata?"
Seine Frau warf ihm einen langen Blick über den Rand ihrer Brille zu.
"Ich persönlich bin ja immer noch nicht davon überzeugt, dass sie das wirklich allein getan hat. Irgendwie steckt Flanellfuß da mit drin. Immerhin liebt er sie und wollte ihr vielleicht nur helfen."
Araghast nickte. "Nyria?"
"Wie schon gesagt, was ist, wenn sie wirklich nicht freiwillig verschwunden ist? Jemand der großes Interesse daran hätte, dass sie nicht weiter Informationen an alle möglichen Vampire verteilt, wäre zum Beispiel Lord Vetinari. Er hätte die Mittel und das Personal, eine Botschaft zu fälschen und sie dann so gekonnt zu verschleppen, dass es keine verfolgbaren Spuren gibt. Wer weiß, vielleicht sitzt sie längst in einer entfernten Provinz des Achatenen Reiches oder liegt mit einem Anker an den Füßen auf dem Grund des Runden Meers. Ich traue Vetinari zu, dass er da nicht zimperlich ist, wenn die Sicherheit der Stadt auf dem Spiel steht."
"Interessante Theorie. Aber warum sollte er das tun? Alles, was sie hätte verraten können, hatte sie schon längst verraten, als sie verschwunden ist. Raistan, was meinst du?"
Der junge Zauberer schwieg eine Weile, während seine knochigen Finger mit einer Zwergenfigur spielten.
"Mir will bei diesem Fall immer noch eine Sache nicht aus dem Kopf." sagte er schließlich. "Wie mein Experiment gezeigt hat, scheint das Fräulein Ziegenberger eine starke Anziehungskraft auf Vampire zu haben. Mir ist bisher noch kein einziger Mensch begegnet, an dessen Verstand sich neun verschiedene Vampire vergriffen haben, ganz zu schweigen davon, dass es eine offene Verbindung zu einem von ihnen gab. Ich habe noch einige Folgeexperimente an anderen Opfern von Vampirbissen durchgeführt, aber so etwas habe ich bei keinem von ihnen gesehen. Sie ist ein einmaliger Fall mit diesem Gedankenleck, was vermutlich auch die Vampirgemeinschaft irgendwann begriffen hatte. Und da es ja auch umgekehrt funktioniert, wie Bregs leidvoll feststellen musste, und Vampire nicht unbedingt zu den Spezies gehören, die ihre Geheimnisse in die Welt hinausposaunen - Es wäre durchaus möglich, dass Vampire sie haben verschwinden lassen, damit sie keinen Schaden mehr anrichten kann. Ich kenne mich mit Vampiren nicht besonders gut aus, aber ich denke, dass auch sie über die nötigen Mittel verfügen, so einen Coup durchzuziehen."
Araghast sah von Nyria zu Raistan und wieder zurück.
"Und dann sagen alle, ich wäre der große Verschwörungstheoretiker hier." bemerkte er. "Aber gut. Die Wette gilt. Mal sehen, wer sich am Ende über ein Geschenk freuen darf."
Während sich Leonata und Raistan wieder dem Schlachtfeld widmeten, trat Nyria an Araghast heran.
"Wusstest du, dass Chief-Korporal von Nachtschatten immer noch ermittelt?" flüsterte sie ihm ins Ohr. "Der Kantinentratsch treibt da manchmal was an meine Ohren."
"Ich habe ihr die Akte gegeben, als sie mich darum gebeten hat." gab Araghast ebenso leise zurück. "Solange sie es in ihrer Freizeit tut, kann sie meinetwegen ermitteln so viel sie will. Jeder braucht ein Hobby, aber falls es Spuren gegeben hat, sind sie mittlerweile kälter als das Zukunftsschweinefleischlager."
Auf dem Küchentisch stellten sich die überlebenden Zwerge und Trolle zum letzten Gefecht auf. Araghast griff in den Küchenschrank und schenkte sich ein Glas Rum ein. Der Patrizier und Vampire - auf was für einen Blödsinn das Jungvolk immer kam. Er würde sich von seinem Wettgewinn eine schöne Flasche zwergischen Einzelmalz wünschen, den er dann irgendwann an einem gemütlichen Abend mit Romulus und Fred teilen wollte. Irgendwann würde Ophelia Ziegenberger zurückkommen, dem war er sich sicher. Und dann konnte sie sich auf ein Donnerwetter gefasst machen, das seinesgleichen suchte. Sie hatte ihn zum letzten Mal hintergangen, verdammt noch mal.


13.02.2017 6: 41

Mina von Nachtschatten

Das Leben ging weiter. In gewisser Weise konnte einem das unfair erscheinen: Egal, was geschah, egal, wie einschneidend ein Ereignis für bestimmte Personen auch sein mochte - das große Ganze kümmerte es nicht. Die gewaltigen, ewig mahlenden Zahnräder der Stadt interessierten sich nicht für einzelne Sandkörnchen im Getriebe. Und wenn man sich die Schwachheit erlaubte, sich über einem solchen Korn selbst zu vergessen, dann wurde man niedergewalzt, so einfach war das. Das Leben ging weiter, da musste man mit. Das Leben... oder was es daneben noch so gab.
Mina befestigte eine Stecknadel mit blauem Köpfchen an einer Straßenkreuzung auf dem großformatigen Stadtplan vor sich und notierte darunter das Tagesdatum, sowie eine Uhrzeit. Nach kurzem Zögern spannte sie noch einen dünnen Wollfaden zwischen dieser Nadel und einer anderen, grünen, und versah die Verbindung mit einem kurzen Symbol. Dann trat sie zurück, um das Gesamtbild zu betrachten. Es war... unübersichtlich. Zumindest, wenn man das System dahinter nicht kannte. Doch selbst mit diesem Wissen hatten sich die vielen Markierungen in verschiedenen Farben bisher als nicht wirklich hilfreich erwiesen. Sie hatte gehofft, dass, wenn sie nur genug derartiger Anhaltspunkte sammelte, sich irgendwann ein Bild ergeben würde, zusammen mit den Notizen, Ikonografien, Kopien von Berichten und anderen schriftlich festgehaltenen Indizien, welche den Plan links und rechts einrahmten. Ein Hinweis, dem man nachgehen konnte. Wenigstens ein ungefährer Suchradius, der eben nicht die ganze Stadt einschloss. Das war der Grund gewesen, aus dem sie sich diese dreiteilige Klapptafel aus ausgemusterten Fallbrettern zusammenmontiert hatte - Hoffnung. Dass das hier nicht so enden würde wie einer dieser Fälle, die aus Mangel an Indizien in irgendeiner Schublade verschwanden, nur um später archiviert und vergessen zu werden.
Mina seufzte. Viel Zeit war vergangen, seit Ophelia so plötzlich und unerwartet aus dem Wachhaus verschwunden war. Und trotzdem glaubte die Vampirin dann und wann, die Kollegin in der Stadt wahrzunehmen - sei es durch den beinahe unmerklichen Hauch einer fremden Emotion oder eine unerklärliche Gefühlsschwankung ihrerseits. Sie war freilich nicht sehr gut in solchen Dingen, generell gesprochen, und so wirklich zuverlässig war die Methode auch nicht. Vielleicht war sie durch die vormalige ständige emotionale Beschallung auch nur sensibler geworden, was solche Dinge an sich anging, wer wusste das schon so genau? Aber die gefühlsmäßige Verbindung zu Ophelia war zum Ende hin derart stark gewesen, dass die Vampirin sich sicher war, sie würde etwas bemerken, sollte sie sich in der Nähe der Anderen befinden. Nahm sie also etwas wahr, irgendetwas, wurde der Ort auf der Karte markiert und mit allen relevanten Informationen versehen. So befand sie sich faktisch immer mit dem "mentalen Ohr" an der Straße, wenn sie sich durch Ankh-Morpork bewegte. Es war eine der wenigen Optionen, welche ihr noch zur Verfügung standen. Und schließlich konnte man ja nie wissen... Daneben gab es natürlich noch die dicke Ophelia-Akte, welche nach wie vor auf ihrem Schreibtisch lag, jederzeit auf den neuesten Stand aktualisiert. Sämtliche ihr bekannte Fakten in Griffweite. Doch diese wieder und wieder durchzuarbeiten brachte irgendwann auch nichts mehr.
Mina schloss die Tafel und kehrte zu ihrem Arbeitsplatz zurück. Eigentlich hatte sie zu tun, mehr als genug. Aber schon nach wenigen Minuten ertappte sie sich - und das nicht zum ersten Mal - dabei, wie sie den kaum zu erahnenden Schatten neben der Tür ihres Büros anstarrte. Es hatte mehrere Schichten weißer Farbe benötigt, bevor man die bereits angetrockneten rostroten Reste des blutigen Handabdrucks nicht mehr gesehen hatte und wenn jemand Unvoreingenommenes den Raum in Augenschein genommen hätte, so wäre ihm höchst wahrscheinlich an dieser Stelle rein gar nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Doch ganz genau das war ja das Problem: Sie war nicht unvoreingenommen - eher das genaue Gegenteil! Sie wusste ganz genau, was sich dort einmal befunden hatte... und wie es dahin gekommen war. Man vergaß es nicht so leicht, wenn einem eine befreundete Person einen Holzpflock in die Seite gerammt hatte...
Lass es! Du weißt ganz genau, dass das nicht Ophelia selbst war, sondern... er.
Jaaa, dieser ominöse "er", wer auch immer er sein mochte, dieses Phantom, dass sich schon von Anfang an außerhalb jeder Reichweite befunden zu haben schien! Rückblickend betrachtet hatten sie nicht wirklich eine Chance gehabt - die Entführung Ophelias war besorgniserregend professionell eingefädelt gewesen und wer danach seine Spuren verwischt hatte wusste offensichtlich, was er tat. Und wie zahlreiche Beispiele aus der eigenen Berufserfahrung zeigten, war es selten die treibende Kraft, welche die konkrete Tat schließlich auch ausführte - gerade, wenn es sich um eine größere Sache handelte. Ein leises Knirschen lenkte die Aufmerksamkeit der Vampirin auf die Tatsache, dass sie dabei war, die Spitze eines Stiftes in der Tischplatte zu versenken. Schon wieder. Immer, wenn sie mit ihren Überlegungen an diesem Punkt angekommen war, kochte die Frustration in ihr ganz besonders hoch. Und es war wohl besser, diese an einem toten Gegenstand, als an etwas anderem auszulassen. Dennoch legte sie das Schreibgerät bedächtig beiseite. Sie musste sich im Griff haben, das war bei ihrer Spezieszugehörigkeit wichtiger als bei anderen. Dass sie aber auch so gar keine konkrete Spur gefunden hatten, es war dermaßen desillusionierend! Oder anders gefragt, warum waren sie einfach nicht in der Lage gewesen, die Sache in Ordnung zu bringen bevor sie eskalierte? So gesehen war die Entführung ja nur die Spitze des versunkenen klatschianischen Tempels gewesen.
Wahrscheinlich war genau dies der Grund, warum es so schien, als ob den Großteil der Wächterschaft die Angelegenheit nicht mehr interessierte - man war einfach nur froh, dass dieses Kapitel vorbei war. Auf der anderen Seite konnte man es den Kollegen im Wachhaus aber auch nicht verübeln, sich nicht übermäßig in einer stagnierenden, offenbar hoffnungslosen Sache engagieren zu wollen, wenn es die dafür eingesetzte Zeit und Kraft an anderer Stelle dringender brauchte. Das war ja auch vollkommen vernünftig und richtig so. Dennoch, nicht selten fragte sich Mina, ob sie mittlerweile wohl die einzige war, die dem Verschwinden Ophelias noch nachging. Abgesehen von Rach natürlich. Hin und wieder setzten sie sich zusammen, in der irrigen Hoffnung, der andere hätte das eine Puzzlestück gefunden, welches der Suche wieder Auftrieb geben konnte. Aber dann saßen sie ja doch nur wieder da und starrten auf Notizen, deren Papier schon anfing, zu vergilben. Der arme Kerl! Er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen aber im Innern musste es ihn beinahe umbringen. Wenn man wusste, was ihn mit Ophelia verband, dann war es sogar mehr als offensichtlich. Da war sie wieder, diese Sache mit dem "wissen"... Alles in allem, unter gewissen Umständen musste Ahnungslosigkeit doch ein wahrer Segen sein. Glückliche, glückliche Sandkörnchen!
Mina schnaubte unwillig und unternahm einen erneute Versuch, ihr Aufmerksamkeit auf die vor ihr liegende Arbeit zu zwingen. Es war schließlich auch niemandem damit geholfen, erging sie sich in ziellosen Spekulationen, welche ihr das ganze deprimierende Ausmaß der Angelegenheit einmal mehr zu bewusst machten. Egal wie die Dinge lagen, sie durfte darüber ihren eigentlichen Tschob nicht vernachlässigen: Während der Dienstzeit war sie schließlich immer noch stellvertretende Abteilungsleiterin und musste persönliche Befindlichkeiten hintenan stellen. So schwer das auch manchmal fiel. Das war keine Resignation, sondern Notwendigkeit. Und bis es soweit war, bis zu jenem Tag, an dem es endlich gelingen würde, Licht ins Dunkel zu bringen, durch welchen Zufall auch immer - bis dahin musste man einfach weitermachen.

14.02.2017 12: 29

Senray Rattenfaenger

"Hast du alles verstanden, Senray?"
Glum sah die Angesprochene prüfend an. Diese nickte.
"Ja, Sör. Unauffällig Auffälligkeiten ausfindig machen, dabei jedem noch so kleinen Hinweis nachgehen aber bloß nicht, nun, verzweifelt oder gar, hm, ineffizient wirken. Der Inspäktor ist, also, überall."
"Ganz genau. Ich lasse mir nicht unsere Zweigstelle wegrationalisieren! Überlege dir das einmal, Obergefreite! Hier arbeiten tüchtige Wächter, viele davon in gehobenen Diensträngen, jeden Tag hart daran in unserer Stadt das fragile Gleichgewicht zwischen den verschiedenen legalen wie illegalen Organisationen aufrecht zu erhalten. Und dann wird überlegt unsere Abteilung mit den anderen zusammenzufassen, um effizienter zu werden! In meiner Jugend wurde man für seine harte Arbeit noch ordentlich belohnt! Und jetzt? Jetzt soll sie uns aberkannt werden, nur weil wir vor lauter Arbeit keine ausreichend ausführlichen Berichte mehr an das Hauptwachhaus schicken. Als ob die jemals gelesen worden wären! Seien wir doch mal ehrlich Senray, bis dieser Inspektor vom Patrizier kam ..."
Ab dieser Stelle hörte Senray nur noch mit halbem Ohr zu. Wenn Glum nicht jedes Mal leicht unterschiedliche Variationen des Gesagten verwenden würde, könnte sie den Teil des Monologes wohl schon auswendig mitsprechen. Aber es stimmte, was der Korporal sagte: Seit Rach Flanellfuß der Wache beigetreten war, um diese auf ihre Effizienz zu überprüfen, hatte sich einiges geändert und es schien noch weniger Zeit für die Arbeit da zu sein. Andererseits ...
Andererseits hatte sich davor auch schon einiges verändert und es war insgesamt eine ... ereignisreiche Zeit gewesen. Zu ihrem Rattentraining mit Mimosa war ihr "Selbstkontrolle"-Training mit Magane gekommen. Bei diesem neuen Training sollte es darum gehen, herauszufinden, durch was sie in Ophelia Ziegenbergers Nähe Feuer entfachen und quasi unlöschbar machen konnte und natürlich, wie man dies verhindern oder eben kontrollieren konnte. Nach einigen Experimenten hatte sich der Fokus jedoch mehr darauf verlegt, ihr beizubringen, wie sie ihre Emotionen kontrollieren konnte, so dass die Flammen wenigstens ruhig und ungefährlich brannten. Und eigentlich hätte nach Ophelias Verschwinden das Training wieder abgesetzt werden können. Ressourcen der beiden Abteilungen sparen, wieder Zeit für die Arbeit gewinnen, dergleichen. Eigentlich. Allerdings hatte Magane auf Senrays Bitte das Training fortzuführen, zugestimmt und so ging es weiter.
Dies sorgte dafür, dass die DOG ihre Nachmittage oft im Boucherie Rouge verbrachte, mal mit Mimosa, mal mit Magane. Öfter auf jeden Fall als es ihrer Arbeit als Verdeckte Ermittlerin gut tat. Ihre Einsätze musste sie jetzt morgens vor besagten Training oder danach bis in die Nacht absolvieren – und selten hatte sie wenn sie davon zurück kam noch die Konzentration und Kraft übrig, die geforderten Berichte zu schreiben. Außerdem ...
"Nun, sei es drum. Zu meiner Zeit wäre das jedenfalls anders geregelt worden, aber wir werden uns wohl damit abfinden müssen und zeigen, wie Effizient wir sind. Ich hoffe, du hast deine Korrespondenz mit dem jungen Mann endlich aufgegeben oder nutzt wenigstens nicht mehr deine Diensttaube dafür?"
Senray war erleichtert, dass sie offensichtlich ab dem richtigen Moment wieder zugehört hatte. Dennoch zögerte sie mit ihrer Antwort einen Moment.
"Nun, Sör, ich ... also, ich ..."
Der Zwerg seufzte. Seine Miene veränderte sich, sie wirkte einerseits viel müder – aber auch milder.
"Wenn der Inspektor mich fragen sollte, werde ich ihm erklären, dass jede unserer Diensttauben ausschließlich für dienstliche Zwecke benutzt und für diese dringend gebraucht wird. Ich empfehle dir also, dich entsprechend zu verhalten, Obergefreite. Am besten schreibst du diesem jungen Mann, dass er von nun an eine der Posttauben zahlen muss. Oder ihr trefft euch persönlich statt euch nur zu schreiben, so haben wir das in meiner Jugend gemacht. Aber ich werde dir da sicher nicht rein reden."
Der kommissarische Abteilungsleiter der DOG hielt kurz inne, dann fügte er hinzu: "Und jetzt zurück an die Arbeit."
"Ja, Sör. Danke, Sör."
Die Obergefreite nickte, fasste die ernüchternd dünne Mappe mit Informationen für ihren neuen Einsatz fester und verließ Glums Büro.
In ihrem eigenen Büro angekommen hielt sie kurz inne und betrachtete das fast schon systematische Chaos. Auch hier hatte sich viel verändert und betrachtete man die Aktenstapel könnte man fast meinen, das kahrmesinrothe Ritherzimmer wäre von ihrem Büro in ein eigenes kleines Archiv umgewandelt worden. Fast fühlte es sich auch so an, dachte Senray.
Sie legte die Mappe auf einen der Stapel und ging zum Fenster. Dort saß Mistvieh und hielt ihr bereitwillig ihr Bein hin, an dem die Nachrichtenkapsel befestigt war. Routiniert löste die Obergefreite dieses, gab dem Vogel etwas Futter in eine Schale und öffnete die Nachricht.
Eigentlich hätte sie schon lange keine Hoffnung mehr dabei spüren dürfen, aber es versetzte ihr doch jedes Mal einen kleinen enttäuschten Stich, wenn sie feststellen musste, das es immer noch nur ihre eigene Botschaft war, die sie löste. Keine Nachricht von ihr. Kein Hinweis, nichts. Sie würde bald eine ihrer neuen Ideen ausprobieren müssen, vielleicht war die erfolgreicher.
Die Obergefreite musste an Glums Worte denken. ‚Oder ihr trefft euch persönlich‘. Ein kleiner, bitterer Lacher entfuhr ihr. Wie gerne sie das tun würde! Aber genau darum ging es ja – irgendwie mussten sie und Mistvieh Ophelia finden und dann würde Senray sehen, ob sie freiwillig dort war, wo auch immer sie war, oder nicht. Und in letzterem Fall, den Senray mit jedem Tag der verstrich mehr fürchtete und gleichzeitig von Anfang an für viel wahrscheinlicher hielt, musste sie sehen, wie man sie von dort befreien konnte. Aber dafür musste man sie erst finden.
"Tja, tut mir Leid Mistvieh, wir müssen heute Nacht nochmal raus. Wir probieren eine neue Route. Die Stadt ist ja groß genug."
Sie warf der Taube noch einige Körner hin. Und wie in letzter Zeit jedes Mal an diesem Punkt kam die nagende Frage in ihr hoch, die Frage mit der sie sich nicht beschäftigen wollte. Was war, wenn Ophelia Ziegenberger gar nicht mehr in Ankh-Morpork war? Oder ... wenn sie es war, aber ...
Senray schüttelte den Kopf, als könne sie so den Gedanken vertreiben. Sie ging zurück zum Aktenstapel und packte die Neueste, die sie gerade erst von Glum erhalten hatte. Es lag zu viel Arbeit vor ihr, um solchen Gedanken nachzugehen.


15.02.2017 10: 18

Nyria Maior

Abendstreife - Route 1 - G Nyria Maior und G Rach Flanellfuß verkündete der Streifenplan in Rea Dubiatas sorgfältiger Handschrift.
Na wunderbar. Nyria bedachte den Plan mit einem missmutigen Blick und schlurfte zurück in Richtung ihres Büros. Was hatte sie dieses Mal ausgefressen, dass man ihr Streife mit Flanellfuß aufgebrummt hatte? Lag es daran, dass sie den Bericht über die Schmuggleraktivitäten an den Morpork-Docks erst nach zweimaligem Nachfragen seitens der Hexe abgegeben hatte? Hatte die Abteilungsleiterin spitzgekriegt, dass sie Jargon überredet hatte, die letzte gemeinsame Streife ohne vorherige Rücksprache auf vier Pfoten zu gehen? Oder war sie einfach nur mal wieder dran, weil eigentlich niemand der SEALS freiwillig mit dem selbsternannten Inspektor Streife gehen wollte und die Hexe seine Streifepartner deshalb nach dem Losprinzip bestimmte?
Kein überflüssiges Wort. Das war die Taktik, auf die sie sich mit Cim Bürstenkinn geeinigt hatte, wenn es um Streife mit Flanellfuß ging. Wer schwieg, konnte auch nichts ausplaudern, das der Inspektor eventuell gegen die Wache verwenden konnte. Aber anders als bei Cim, mit dem sie sich wunderbar anschweigen konnte, hatte die Stille zwischen Flanellfuß und ihr immer etwas Verkrampftes. Er wusste vermutlich, dass sie seine Gesellschaft nicht sonderlich schätzte, und was er von ihr als Person hielt, war ihr herzlich egal.
In ihrem Büro angekommen, begann Nyria, sich anzukleiden. Zuerst das Kettenhemd, dann der trotz aller Politurbemühungen ständig rostende Brustharnisch. Bei dem Gedanken, dass sich der sonst immer so geschniegelte Flanellfuß gerade andernorts in die gleiche heruntergekommene Ausrüstung zwängte, ließ sie unwillkürlich grinsen. In voller Streifemontur wirkte Rach Flanellfuß wie ein klatschianisches Rennpferd, das vor einen Ackerpflug gespannt worden war. Aus ihm würde definitiv nie ein echter SEALS-Wächter werden.
Mit diesem erhebenden Gedanken stülpte sich Nyria eine Bundhaube und ihren ebenfalls angerosteten Tellerhelm auf den Kopf und klebte sich die falsche Warze, die sie zur Tarnung gerne trug, ans Kinn. Auch wenn sie die wohl langfristigste Gefreite der Wache war - Im Streife gehen machte ihr so schnell niemand etwas vor, schon gar nicht so ein Schnösel aus dem Patrizierpalast. Ihre Hand schloss sich um den Stiel ihrer Dienstpike. Wer auf den Straßen von Ankh-Morpork bestehen wollte, brauchte mehr als Bildung, feines Benehmen und sorgfältig gebügelte Anzüge.

Während sie schweigend in der Abenddämmerung nebeneinander den Breiten Weg entlang marschierten und Nyria die erste von vielen Zigaretten rauchte, beobachtete sie den Gefreiten Flanellfuß unauffällig von der Seite. Ob es wirklich stimmte, dass er seine Finger im Verschwinden von Ophelia Ziegenberger hatte? Die Gefreite suchte in ihrer Erinnerung nach einem klaren Bild von der Verschwundenen. Doch die einzigen auffälligen Merkmale, an die sie sich mit Sicherheit erinnern konnte, waren langes, rotes Haar und ein Geruch, der eine distinktive Teenote enthielt. Sie hatten während ihrer gemeinsamen Zeit in der Wache nie viel miteinander zu tun gehabt und das Verschwinden des Oberfeldwebels hatte sie, ganz im Gegensatz zu Jargons Entführung einige Zeit später, persönlich relativ kalt gelassen. Nur Bregs schien trotz all seiner Beteuerungen immer noch daran zu knabbern. Würde er sonst so oft und deutlich betonen, dass Ophelia Ziegenberger nun nicht mehr sein Problem sei? Erst kürzlich hatte er beim Klonk-Abend wieder damit angefangen.
Nyria nahm einen letzten Zug von ihrer Zigarette und schnippte den Stummel in den Rinnstein. Der Patrizier oder möglicherweise auch Vampire - irgendjemand hatte Oberfeldwebel Ziegenberger und damit auch ihr Gedankenleck mit Sicherheit aus dem Weg geräumt. So funktionierte Ankh-Morpork nun einmal. Verärgerte man genug einflussreiche und zahlungskräftige Personen, war man weg vom Fenster. In Muffiakreisen hieß so etwas 'Jemandem die Zementschuhe anziehen und zu den Fischen schicken' und in der Brekzie 'Geröll draus machen'.
Vor ihnen wichen die Häuser zurück und machten der Messingbrücke Platz. Nachdenklich musterte Nyria die Kruste des Flusses. Falls die verdeckte Ermittlerin tatsächlich dort unten ihre letzte Ruhestätte gefunden hatte, würde es vermutlich nie Indizien geben. Und ein Indiz für ihr Ableben war das, worauf Nyria insgeheim hoffte. Vielleicht kam Bregs' latentes schlechtes Gewissen, doch nicht alles zur Lösung des Ziegenberger-Problems getan zu haben, dann endlich mal zur Ruhe.

Vor dem Patrizierpalast schlichteten sie einen Vorfahrtsstreit zwischen zwei Eselskarrenlenkern und bogen anschließend in die Filigranstraße ein. Nyria riss im Vorbeigehen ein Streichholz an einer Hauswand an und entzündete die nächste Zigarette. Rach Flanellfuß schritt in aufrechter Haltung neben ihr her und behielt den Verkehrsfluss und die Passanten im Auge. Selbst Nyria musste zugeben, dass er sich, was seine Beobachtungsgabe betraf, gar nicht schlecht anstellte. Details entgingen ihm nur selten. Noch ein Grund aufzupassen, was man in seiner Gegenwart sagt, ging ihr durch den Kopf.

Der Marsch durch die Filigranstraße verlief ereignislos und Nyria begann sich zu langweilen. Was nützte einem ein Streifenpartner, mit dem man nicht reden oder vielleicht einen schnellen Abstecher in eine auf dem Weg gelegene Schenke machen konnte um sich zu überzeugen, dass beim Ausschank alles seinen geregelten Gang ging? Mit einem Seitenblick musterte Nyria den Eingang der Geflickten Trommel, ihre dritte oder vierte Heimat in der Stadt. Der Zerreißertroll lungerte gelangweilt neben der Tür herum und Nyria begab sich trotz ihrer Tarnung unauffällig auf Rachs von der Taverne abgewandte Seite. Sie hatte sich mühsam einen Ruf als Stammgast aufgebaut, den sie auf keinen Fall durch ein Erkennen als Wächterin aufs Spiel setzen wollte. Zwar war der alte Fluorit auch bei tiefen Temperaturen dumm wie Bohnenstroh, aber sicher war sicher. Nyria verkniff sich ein Grinsen. Sie konnte sich Rach Flanellfuß beim besten Willen nicht in einem Etablissement wie der Trommel vorstellen. In seinem üblichen piekfeinen Zwirn fiel er dort zwischen der Stammkundschaft auf wie ein Klatschianer in Nichtsfjord und es dauerte garantiert nicht lange, bis sich die ersten Halunken für den Inhalt seiner Geldbörse zu interessieren begannen.

Die schummerig erleuchteten Fenster der Geflickten Trommel verschwanden hinter den beiden Wächtern und Nyria begann in Gedanken bereits, den unausweichlichen Bericht zu formulieren. Streifenroute vorschriftsmäßig patrouilliert. Keine besonderen Vorkommnisse außer den üblichen Verkehrsproblemen auf dem Breiten Weg. Langweilig. Langweiliger. Am Langweiligsten. Noch langweiliger als nach Spuren von Oberfeldwebel Ziegenberger zu suchen. Eine weitere Zigarette wanderte zwischen die Lippen der Szenekennerin. Kälter als der Zukunftsschweinefleischlager, hatte Bregs gesagt. Nyria musterte Rach erneut von der Seite. Sein Gesichtsausdruck war völlig neutral. Nur seine braunen Augen schweiften wie immer umher, um jedes noch so kleine Detail der Umgebung in sich aufzunehmen. Was er wohl gerade denken mochte?
Streife mit Gefreiter Maior. Gefreite zeigt sich unkooperativ, was Auskünfte über ihre Meinung zum Wacheprozedere betrifft. Ich fürchte, hier komme ich bei der Informationssammlung nicht weiter, formulierte sie in Gedanken. Muss mir eine vielversprechendere Quelle suchen.
Nyria stieß eine Rauchwolke aus. Vielleicht war es an der Zeit, dem guten Herrn Inspektor mal eine Runde auf den Zahn zu fühlen. Sie hatte schließlich eine Wette zu gewinnen.
"Weißt du, Flanellfuß," begann sie gedehnt und nahm einen tiefen Zug des kratzigen Tabaks. "Es gibt da so eine Wette die mir, wenn ich sie gewinne, eine Flasche erstklassigen Fusel einbringt."
Für einen Augenblick trat ein überraschter Ausdruck auf das Gesicht des Inspektors, bevor er sich wieder unter Kontrolle hatte. Wahrscheinlich hatte er nicht damit gerechnet, dass sie von sich aus ein Gespräch beginnen würde.
"Aha." In seiner Stimme schwang Desinteresse mit. "Und was hat das mit mir zu tun?"
"Sehr viel." Nyria machte eine kleine Pause um sich wieder ihrer Zigarette zu widmen. "Denn wenn sich herausstellen sollte, dass du doch etwas mit dem Verschwinden von Oberfeldwebel Ziegenberger zu tun hast, gewinne ich den zwergischen Whisky nicht."
Sie musste zugeben, dass Rach Flanellfuß über eine außerordentlich gute Selbstbeherrschung verfügte. Hätte sie keine Werwolfsnase besessen, wäre ihr seine plötzliche Erregung völlig entgangen. Haha, dachte sie. Hab ich dich.
"Und du hältst dagegen?" erkundigte sich der Inspektor kühl.
Nyria tippte sich wissend gegen die falsche Warze. "Das heißt, du hast wirklich nichts mit ihrem Verschwinden zu tun?"
"Im Ernst, ich wünschte, ich hätte es..." Die Szenekennerin glaubte, einen Hauch von Verletztheit aus seiner Stimme herauszuhören, doch auch wie sein Gesicht gehorchte sein Tonfall beinahe sofort wieder dem Diktat der neutralen Maske. "Und es ist interessant zu hören, was für Wetten im Wachhaus so abgeschlossen werden."
Leonata Null, alle anderen Eins. Auch wenn Nyria Rach Flanellfuß ziemlich viel zutraute, in diesem Moment vertraute sie ihren Instinkten und glaubte ihm.
"Und, willst du wissen, was ich nun eigentlich gewettet habe?" Mit einer geübten Lippenbewegung beförderte sie ihre Zigarette in den Mundwinkel setzt ihr verschwörerischstes Lächeln auf.
"Na, dann bin ich mal gespannt." kam die äußerst distanzierte Antwort.
Oh ja, das bist du, dachte Nyria. Und zwar sehr.
"Mein Theorie ist, dass Oberfeldwebel Ziegenberger und ihr Gedankenleck Lord Vetinari zu viel Risiko waren." begann sie. "Und was macht man mit solchen Leuten in dieser schönen Stadt? Man lässt sie spurlos verschwinden. Da du ja auch für den Palast arbeitest, war es bestimmt einfach, an deine Handschrift zu kommen und den Brief zu fälschen. Und da Lord Vetinari nicht für halbe Sachen bekannt ist, befindet sie sich nun mittlerweile auf der anderen Seite der Scheibenwelt oder hat Zementschuhe verpasst bekommen und wurde zu den Fischen geschickt, wenn du verstehst, was ich meine."
Flanellfuß zeigte keine äußerliche Regung, doch eine scharfe Schweißnote stieg in Nyrias Nase. Ihre Worte waren ihm alles anderen als gleichgültig, auch wenn er es sie glauben machen wollte.
"Du hast eine blühende Fantasie, Gefreite." antwortete er ihr ruhig. "Aber vielleicht ist das in dieser Situation nicht das schlechteste. Was gibt es denn sonst noch für Wetteinsätze, außer dass ich oder der Patrizier schuld sein sollen?"
"Ein Kandidat wettet, dass der Oberfeldwebel die Sache allein eingefädelt hat und verduftet ist, und dass sie irgendwann schon wieder auftauchen wird." Im Vorbeigehen musterte Nyria den Übergang von der Filigransraße zur Willkommensseife routiniert auf Aktivitäten die ein Einschreiten der Wache erfordern könnten. "Ein weiterer Kandidat ist der Meinung, dass die Vampire schuld sind, die ihr regelmäßig den Verstand geröstet haben."
"Vampire?" Wieder fiel die Maske für den Bruchteil einer Sekunde.
Nyria fingerte eine weitere Zigarette aus ihrem Tabaksbeutel und zündete sie am Rest der alten an.
"Vampire." sagte sie schließlich. "Du erinnerst dich an das Experiment in der Unsichtbaren Universität?"
Flanellfuß nickte.
"Das Ergebnis ist in die Akte gewandert, die der Kommandeur Chief-Korporal von Nachtschatten nach dem Abschluss der offiziellen Ermittlungen gegeben hat. Ich weiß nicht, ob du mal reingeschaut hast, aber es kam raus, dass Ophelia Ziegenberger nicht weniger als neun verschiedene Ebenen von Vampireinfluss in ihrem Kopf hat, davon eine sogar aktiv offen. Und dass Vampire ihre Gedanken einfach auslesen konnten, und umgekehrt, war ja erst der Grund dafür, dass sie Wachhausarrest bekommen hat." Nyria hielt im Streifenschlenderschritt inne und lehnte sich gegen eine Hauswand. "Besagter Kandidat wettet," eine Rauchwolke machte die berühmte morporkianische Luft noch etwas stickiger als sie es ohnehin schon war, "dass irgendwelche Vampire die Nase von einem solchen Eindringling in ihren Kopf voll hatten und sie deshalb entweder verschleppt oder, was ich für wahrscheinlicher halte, endgültig aus dem Weg geräumt haben."
Flanellfuß' Mimik blieb unlesbar, doch sein Geruch sprach Bände.
"Und wer sind diese ganzen geheimnisvollen Wettkandidaten, die anscheinend so gut Bescheid wissen?" erkundigte er sich.
Nyria lächelte ihr bestes zahniges Werwolfslächeln.
"Nur eine kleine Wette unter Freunden, während sich Zwerge und Trolle auf dem Schlachtfeld von Koomtal zerfleischten."
Rach Flanellfuß schwieg und ihre Blicke trafen sich. Braun gegen Smaragdgrün. Nyria konzentrierte sich. Wenn er einen Starrwettbewerb haben wollte, dann konnte er ihn haben. Sie hatte das Starren von mehreren Meistern ihres Fachs gelernt.
"Ich weiß, dass du als Werwolf es riechen kannst, wenn jemand extrem reagiert." sagte er, immer noch ihren Blick haltend. "Auch hinter alle Selbstbeherrschung."
"Was glaubst du, warum ich ständig rauche?" antwortet sie. "Ankh-Morpork ist für einen Werwolf ein Alptraum für die Nase. Aber ja. Ich rieche zum Beispiel, dass du keine Schuld an Oberfeldwebel Ziegenbergers Verschwinden hast."
"Das freut mich aber." kam die kühle Antwort, in der ein Hauch Verbitterung mitschwang. "Bringt dich das deiner heiß erwetteten Whiskyflasche näher?"
Nyria brach den Blickkontakt ab und widmete sich ihrer Zigarette. Vielleicht hatte sie mit ihren Provokationen tatsächlich eine Grenze überschritten.
"Du liebst sie wirklich über alles, oder?" fragte sie.
Rach Flanellfuß schwieg, doch sein Schweigen und sein Geruch schrieen lauter Ja! als Worte es je hätten ausdrücken können.
Tiefe, romantische Liebe. Ein Konzept, das Nyria bisher fremd gewesen war. Zwar hatte sie so manches Techtelmechtel sowohl mit Männern als auch mit Frauen gehabt, doch nichts war von Dauer gewesen. Nichts, das sie dazu veranlasst hätte, auch einen hoffnungslosen Fall wie Ophelia Ziegenberger nicht aufzugeben... Sie hielt in ihren Gedanken inne. Doch, sie wusste, was es bedeutete. Nur dachte sie in ganz falschen Bahnen. Es war keine Liebe im romantischen Sinn. Es war ein natürliches Gefühl, zu jemandem zu gehören. Sie war ein Werwolf. Und in jedem noch so stolzen Wolf steckte etwas von dem, das einige seiner Artgenossen im Laufe vieler Jahrhunderte zu Hunden gemacht hatte. Und ein Hund brauchte ein Herrchen. Aber ein Werwolf akzeptierte im Gegensatz zu einem gewöhnlichen Köter nicht mit einem Schwanzwedeln jeden hoffnungsvollen Idioten der ihm ein Halsband und einen vollen Futternapf anbot. Nein, Ein Werwolf hatte seinen Stolz. Es musste die richtige Person sein, jemand, der es würdig war, beschützt zu werden. Ein Werwolf wusste instinktiv, wann er diese Person getroffen hatte. Genau wie Nyria wusste, dass jeder, der es wagte, Raistan auch nur ein Haar zu krümmen, für immer und ewig ihren geballten Zorn zu spüren bekommen würde...
Tief in ihrem Inneren regte sich ein leises Mitleid mit Rach Flanellfuß. Auch wenn er ein arroganter Schnösel war, er konnte nichts dafür, dass jemand seine große Liebe unschädlich gemacht hatte, und sie verstand, dass er die unausweichliche Wahrheit einfach immer noch nicht wahr haben wollte. Ihr würde es an seiner Stelle ebenso ergehen.
Eine Idee begann, in ihrem Kopf zu reifen. Das erste Experiment hatte geklappt. Ob auch ein zweites, ähnliches Experiment wieder klappen konnte? Es würde jedenfalls sehr interessant werden. Auch ohne den Hintergrund, am Ende eine Flasche zwergischen Whisky zu gewinnen. Und vielleicht gab ihr das ja die Gelegenheit, dem Inspektor noch weiter auf den Zahn zu fühlen. Der heutige Streifegang hatte sich schon als sehr aufschlussreich erwiesen.
Nyria traf eine Entscheidung, ließ den Zigarettenstummel fallen und beugte sich vor.
"Hör zu. Ich kann dich nicht leiden, Rach Flanellfuß. Das weißt du sehr wahrscheinlich schon. Aber wenn ich spiele, dann spiele ich zumindest meistens fair. Du liebst Ophelia Ziegenberger und würdest wahrscheinlich alles für sie tun. Der einzige Riss in der Maske des untadeligen Inspektors. Und ich weiß genau wie es ist, eine sich absolut richtig anfühlende Bindung zu jemandem zu haben, auch wenn es in meinem Fall nicht romantischer Natur ist. Wenn jemand es wagen würde..." Sie atmete tief durch. "Was ich sagen wollte: Ich habe ein gewisses Verständnis dafür, was gerade los ist. Und es gab da dieses Experiment. Neun vampirische Spuren in ihrem Kopf. Eine davon aktiv und offen. Ganz egal, was wirklich mit Ophelia Ziegenberger passiert ist - Ich muss noch Rücksprache halten, aber vielleicht gibt es eine Möglichkeit, dem Inhaber der offenen Spur so richtig weh zu tun. Einfach weil wir es können. Was meinst du - eine Flasche zwergischer Einzelmalz, dass es klappt?"

16.02.2017 10: 21

Rach Flanellfuß

Auf gewisse Weise war es befreiend, wenn er sich im selben Moment nicht so nackt fühlen würde. Als Werwolf hatte sie ihn natürlich sofort durchschaut und er fragte sich noch immer, warum er überhaupt versuchte, die Fassade des kühlen Inspektors aufrecht zu erhalten. Das Wissen um die Wette nahm ihn deutlich mit. Die Ironie war kaum auszuhalten. Wenn es ihn nicht direkt beträfe, er hätte sofort gefragt, ob er noch mit einsteigen könne. Wenn Nyria wüsste, was er schon hatte durchmachen müssen, eben weil der Patritzier tatsächlich Pläne gehabt hatte, Ophelia verschwinden zu lassen! Allerdings hatte er auch schon dafür gesorgt, dass eben für genau diese Theorie die Quoten eher schlecht standen. Trotz aller Klauseln und Paragraphen war nach ihrem plötzlichen Verschwinden auch dies sein erster Gedanke gewesen und er hatte alles unternommen gehabt, um sich Klarheit zu verschaffen. Lord Vetinari hatte nichts mit Ophelias Verschwinden zu tun. Genauso wenig wie er selber. Doch Wette hin oder her, der eigentliche Knüller war ihre Idee, den Vampir zu attackieren. Er wollte alles darüber wissen!
"Wenn ich ehrlich bin, könnte ich jetzt einen Schluck vertragen.", entgegnete er schließlich und sie sah ihn skeptisch an. "Natürlich nur, um nach dem Rechten zu sehen, wie man in der Wache so schön sagt."
"Ha, sieh an! Vielleicht wird aus dir ja doch noch ein Wächter", stichelte sie zurück und er salutierte lässig.
Sie waren gerade in die Sirupminenstraße eingebogen und Nyria steuerte geradewegs auf das "Helm und Schild" an der Ecke zum Fischbeinweg zu. In dieser Kneipe waren Wächter natürlich gerne gesehen und fielen bei dem Dekor auch nicht weiter auf. Um diese Zeit waren außer ihnen nur der Wirt und ein weiterer Gast anwesend, der so aussah, als würde er noch vom Vortag dort sitzen. Vielleicht gehörte er auch schon zum Inventar. Sie begaben sich direkt an die Theke.
"Was kann ich für die wehrten Wächter tun?", fragte der Schankwirt, während er mit einem Lappen ein Glas polierte. Rach seufzte innerlich, als er das Tuch oder eher gesagt den Lumpen betrachtete und die Schlieren im Glas mehr, statt weniger, wurden.
"Bier, bitte!", sagte Nyria und schielte zu ihm rüber.
"Zwei, bitte.", sagte er und legte das Geld auf die Theke. "Und du bist natürlich eingeladen, Gefreite."
"Na, da sag ich nicht Nein", entgegnete sie mit einem breiten Grinsen.
Er machte sich keine Illusionen. Sie konnte ihn nicht leiden und daran würde wahrscheinlich auch ein Freibier nichts ändern. Er hingegen nutze die unverhoffte Gelegenheit, die sonst so verschlossene Wächterin besser kennen zu lernen. Seine Aufgabe in der Wache war vielen ein Dorn im Auge und deswegen nur umso schwieriger, da die meisten Wächter ihn lieber sabotierten, statt zu kooperieren. Oft genug bekam er erst auf Nachfrage Informationen, die er schon vor Tagen angefordert hatte oder man ging ihm gleich ganz aus dem Weg. Nyria gehörte eindeutig zur letzteren Fraktion. Der Streifendienst führte sie ab und an zusammen aber er hatte schon nach dem ersten Mal aufgegeben ein Gespräch zu führen, da sie beharrlich schwieg oder damit konterte, dass er alles Wichtige in ihrem Bericht nachlesen könne. Bei genauerer Überlegung war der einzige Grund dafür, ausgerechnet ihm von der ominösen Wette zu erzählen, ihn aus der Fassung zu bringen. Was ihr beinahe gelungen wäre! In der Hinsicht hatte die Therapie sich wohl tatsächlich gelohnt. Er würde bei der nächsten Sitzung von einem Erfolgserlebnis berichten können. Was Doktor Sorgenfrei allerdings nicht gefiele, war, dass er sich nach so langer Zeit an den nächsten Strohhalm der Verzweiflung klammern würde. Die offene Vampirspur war in den Ermittlungen schnell zu einer Sackgasse geworden. Doch Nyria schien fest entschlossen, dies zu ändern. Und er war ebenso entschlossen, sich diese Gelegenheit nicht entgehen zu lassen.
Mit dem Bier zogen sie sich an einen der Tische zurück und legten endlich ihre Helme ab. Er strich sich durch die plattgedrückten Haare und versuchte vergeblich seiner Frisur wieder Form zu geben. Während Nyria schon fleißig aus ihrem Humpen trank, war Rach noch damit beschäftigt, den Rand des seinen mit einem Taschentuch zu säubern, gab aber nach nur kurzer Zeit entnervt auf.
"Nun gut", sagte er schließlich und beugte sich vor. "Wie, um es mit deinen Worten zu sagen, können wir dem Vampir so richtig wehtun?"
"Erinnerst du dich an das Experiment, das damals mit Oberfeldwebel Ziegenberger in der UU gemacht wurde?"
Rach nickte. Natürlich erinnerte er sich daran und er hatte noch immer ein schlechtes Gewissen, dass er ausgerechnet zu der Zeit wegen eines Auftrags nicht in der Stadt war. Seit Ophelias Verschwinden hatte er den dazu gehörigen Bericht schon viel zu oft gelesen.
"Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, es zu wiederholen. Nur ohne den Oberfeldwebel."
Er hob überrascht die Brauen und seine Gedanken begannen zu rotieren.
Warum gab es diese Möglichkeit erst jetzt? Wie sollte das möglich sein? Wer sollte das durchführen? Etwa wieder dieser Raistan Quetschkorn?
Allein bei dem Gedanken, diesen Zauberer bei der eventuell anstehenden Gelegenheit kennenzulernen... Er brach den Gedanken schnell ab. Die aufkochende Wut war der Werwolfnase dennoch nicht entgangen.
Tief durchatmen und ruhig bleiben. Noch hatte er zu wenig Informationen und könnte daher nur voreilige Schlüsse ziehen.
"Wie soll das möglich sein?"
"Wie gesagt, ich muss erst Rücksprache halten. Aber vielleicht können wir die offene Spur direkt kontaktieren und somit diesem Ascher ordentlich eine brezeln."
Sie prostete ihm zu und widerwillig erhob er sein Glas und nippte daran. Der fahle Geschmack des Bieres und die Überreste des Getränkes davor, waren nichts im Vergleich zum bitteren Geschmack der Erkenntnis. Der Fall um Ophelias Verschwinden barg so viele Informationen und direkt vor sich hatte er den Beweis dafür, dass diese nicht im Umlauf waren. Tauschte Mina sich überhaupt mit jemanden außer ihm aus?
"Hab ich was Falsches gesagt?", hakte die Gefreite nach und er versuchte sich vorzustellen, welche Geruchsnote sie wohl wahrnahm, dass sie sich zu dieser Aussage hinreißen lies.
"Ascher ist eine Sackgasse", entgegnete er und Nyria runzelte die Stirn. "Er ist tot."
Ihr überraschter Gesichtsausdruck war beinahe schon amüsant anzusehen und tatsächlich eine willkommene Abwechslung. Dennoch hätte er die Wächterin gerne unter anderen Umständen besser kennengelernt.
"Auch schon als das Experiment durchgeführt wurde?", fragte sie schon beinahe aufgeregt und er nickte ihr zu. "Ist das sicher? Ich meine, woher weißt Du, dass er tot ist."
"Vielleicht solltest du dazu Chief-Korporal von Nachtschatten befragen." Oder Oberfeldwebel Feinstich, fügte er in Gedanken hinzu. Doch die Igorina würde ihm sicher den Hals umdrehen, wenn er sie offen mit Ascher in Verbindung brächte.
"Verdammt! Das heißt, es ist ein anderer Blutsauger! Irgendeine Ahnung, wer es sein könnte?"
Dieses Mal schüttelte er den Kopf. Auch wenn es Theorien gab... er wollte Nyrias Sensationslust nicht weiter anstacheln.
"Ich denke, wir sollten unsere Streife fortführen, Gefreite."
"Da ist er wieder, der Herr Spielverderber", brummte sie und leerte den Rest ihres Glases in einem Zug. "Trinkst du das nicht?"
Sein Blick glitt zu dem abgestandenen Bier vor ihm und er bot es ihr mit einer Handbewegung an.
"Sicher?", fragte sie und sah ihn dabei an, als witterte sie eine Falle.
"Bedien dich! Ist nicht mein Geschmack", sagte er und bemerkte ihr Zögern. "Und, nein, ich habe nicht vor, dies in einem Bericht zu erwähnen oder dem Agenten davon zu erzählen. Falls dir das Sorgen machen sollte."
"Gut", sagte sie und zog das Glas zu sich. "Ich wollte dich noch was fragen."
"Ich höre."
"Wie hast du Ophelia überhaupt kennen gelernt?"
Sie wartete gebannt auf seine Reaktionen. Würde er abblocken, wäre sie in ihrer Meinung über ihn bestätigt. Er seufzte vernehmlich.
"Das", sagte er langsam, "erzähle ich dir bei einem Kaffee im Wachhaus."
Er wusste nicht mal, ob er dazu überhaupt in der Lage war. Doch er würde es rausfinden.
"Abgemacht!"
Nyria konnte überraschend redselig sein, wenn sie mal aufgetaut war. Allerdings hatte er sie nicht für so frech ihm gegenüber gehalten. Man lernte nie aus.

Jules war es gewohnt, dass Rach, seit er die Inspektion der Wache durchführte, vor ihm zu Hause war und meistens sogar schon das Abendessen vorbereitete. Umso verwunderter war er, als er eine leere Wohnung vorfand. Hatte sein Freund etwa doch Nachtdienst? War etwas passiert? Er versuchte die Sorge direkt wieder abzuschütteln. Rach hatte sich inzwischen im Griff. Kurz nach Ophelias Verschwinden wäre das etwas ganz anderes gewesen, doch sein Freund war bei Doktor Sorgenfrei in guten Händen. Nach allem, was sie gemeinsam durchgemacht hatten, war es trotzdem nicht einfach, abzuschalten. Er schüttelte über sich selbst den Kopf. Er hatte sich definitiv zu sehr an den neuen Zeitplan gewöhnt. Sein Magen stimmte ihm mit einem Knurren zu. In der Küche fand er glücklicherweise noch ein paar Reste von gestern und machte sich darüber her. Gerade als er den letzten Bissen runterschluckte, hörte er das Schloss klacken und im selben Moment war er erleichtert und bereute zugleich, dass er schon was gegessen hatte.
"Ist was passiert", fragte er, als Rach soweit die Wohnung betreten hatte, dass er ihn von der Küchenzeile aus sehen konnte. Sein Mitbewohner war noch immer in Uniform. Ohne Brustharnisch und Helm, dennoch war es ungewöhnlich ihn nicht im Anzug anzutreffen. Hatte er ihn überhaupt schon mal in Uniform gesehen?
"Noch nicht", entgegnete sein Freund und sprintete nach oben zu seinem Zimmer.
Jules ging verwundert hinterher. Die Tür zu Rachs Raum stand offen und er hörte, wie mehrere Schubladen geöffnet und wieder geschlossen wurden.
"Würdest du mir bitte erzählen, was los ist?"
Jules stand ihm Türrahmen und beobachtete, wie Rach mehrere Akten aus einer Schublade zog.
"Gleich, Jules! Aber erst mal muss ich mein Gedächtnis auffrischen."
Triumphierend hielt sein Mitbewohner eine Akte hoch und Jules erkannte die Kopie des Berichts aus der Unsichtbaren Universität. Das verrückte Experiment, dessen Ergebnisse ihn selbst mehr verwirrten, als dass sie aufschlussreich gewesen wären. Ausgerechnet!
"Kennst du die nicht schon auswendig?"
"Das war einmal", entgegnete Rach und ging an ihm vorbei, nur um es sich unten im Wohnzimmer in seinem Sessel bequem zu machen.
"Ich dachte, wir hätten das endlich hinter uns. Meinst du nicht, du solltest dieses Kapitel endlich abschließen?"
Rach so zu sehen war wie ein böser Traum. Nur zu gut erinnerte er sich daran, wie sie zusammen Akten und Berichte durchgegangen waren. Wie eine Spur nach der anderen im Sande verlaufen war. Rach nahm jedes kleinste Detail unter die Lupe, was es nur umso schlimmer machte, wenn er immer und immer wieder in die selbe Sackgasse rannte.
"Was willst du damit sagen, Jules?"
"Ok, wie sag ich das jetzt?", setzte er an. "Versteh mich nicht falsch. Aber glaubst du nicht, nach so langer Zeit... also... hast du jemals daran gedacht, dass sie tot sein könnte?"
"Ich will das nicht hören!"
Rach blockte wie erwartet ab.
"Ich weiß! Aber ich fürchte, du musst es in Betracht ziehen."
"Jules, bitte lass es gut sein!"
Er gab einen resignierten Seufzer von sich, um seinem Protest weiter Ausdruck zu verleihen.
"Tee oder Kaffee?", fragte er und begab sich in die Küche.
"Tee. Und Jules?", entgegnete Rach und sah zu ihm auf. "Danke!"
Er zuckte nur mit den Schultern. Er wusste, wann eine Schlacht verloren war. Allerdings konnte er sich nicht daran erinnern, wann er seinen Freund das letzte Mal so erlebt hatte. Routiniert setzte er das Wasser auf und bereitete die Tassen vor. Vielleicht fand er auch noch den einen oder anderen Snack? Eine warme Mahlzeit würde es heute sicher nicht mehr geben.
Aus dem Wohnzimmer drang schließlich ein entnervter Seufzer.
"Alles in Ordnung?", fragte er vorsichtig.
"Nein. Ich kann mich einfach nicht konzentrieren! Ich lese die gleichen Sätze immer und immer wieder und nichts davon bleibt mir im Gedächtnis haften!"
Jules goss ihre Getränke mit der unbewussten Eleganz eines Assassinen auf, kein Tropfen des heißen Wassers ging daneben und aromatischer Duft wand sich durch den Raum. Er blickte nicht von seiner Tätigkeit auf, als er die frustrierte Aussage des Freundes kommentierte.
"Wundert dich das? Du schläfst zu wenig. Deutlich zu wenig!"
"Ich schlafe genug.", war die bockige Antwort.
So etwas wie Spott schlich sich in Jules Stimme, als er die dampfenden Tassen klackend auf ein kleines Tablett lud und es vorsichtig zu der Sitzgruppe balancierte.
"Sagst du das, weil es den Tatsachen entspricht? Oder weil du dir die Tatsachen damit schönreden willst? Nur als gut gemeinter Hinweis: Ab einer Woche Schlafentzug wird die Sache mit dem Urteilsvermögen definitiv kritisch."
Rachs Mundwinkel zuckte. Mehr als das erhielt er allerdings nicht zur Antwort.
Jules setzte das Tablett mit leisem Klirren auf dem niedrigen Tisch vor seinem Mitbewohner auf und ließ sich schließlich auf die Couch fallen.
"Ich meine es nur gut mit dir.", sagte er schließlich, bevor Rach sich wieder der Akte zuwenden konnte.
"Das ist mir bewusst."
"Dann lass dir verdammt noch mal endlich helfen und sag mir was los ist!"

17.02.2017 12: 54

Wilhelm Schneider

Wenn er ehrlich war zu sich selbst, so hatte er sich das Leben als Wächter deutlich aufregender vorgestellt. Natürlich gab es vereinzelt Momente, die das Potential in sich bargen, den Puls schneller schlagen zu lassen – wenn man denn einen besäße. Einen flüchtigen Straftäter zu verfolgen beispielsweise, abverlangte auch einem Vampir einen gewissen Energieaufwand. Und hatte man einen Troll auf Entzug vor sich, so galt es, die Aggressionsschübe mit durchdachtem Kraftaufwand zu kontern und sich darauf zu konzentrieren, die eigenen Reflexe nicht zu überschätzen. Aber den Großteil der täglichen Routinen machte eben der Papierkram aus. Und dafür hätte er nicht zur Stadtwache gehen müssen! Er hatte sich in den ruhigen Momenten auf Streife inzwischen mehrmals dabei ertappt, wie er an seinen Laden dachte! Dabei kamen seine beiden Angestellten auch ganz hervorragend ohne ihn zurecht, solange er nur zwischendurch das Verhandeln mit den Stammkunden und das Werben von Neukunden übernahm. Anspruchsvolle Einzelstücke fertigte er noch immer selbst, neuerdings eben in den freien Nächten zwischen seinen Schichten. Ohne das permanente Bedürfnis nach Schlaf, wie dies seine menschlichen Kollegen regelmäßig nieder knechtete, war das nicht nur möglich, sondern auch eine außerordentlich zufrieden stellende Lösung. Gerade die freien Zeiten zwischen den Verpflichtungen eines Daseins, das nach menschlichen Gesichtspunkten gegliedert war, hatten ihn mit Langeweile konfrontiert und unzufrieden gemacht. So gesehen war die aktuelle Situation tatsächlich immer noch besser. Ein Umstand, den er sich stets von Neuem vor Augen führen musste, wenn ihn die Unzufriedenheit darüber einholte, dass... ja, dass das Leben im und um das Wachhaus herum eben genau jene Aufgeregtheit eingebüßt hatte, die ihn dereinst zu seinem Entschluss verlockt hatte, sich einzuschreiben.
Wilhelm seufzte bedauernd.
Er war auf gewisse Weise zu spät auf die Idee gekommen. Er hätte auf sein Gespür vertrauen sollen! Wo er doch schon damals, bei den Spaziergängen um den Pseudopolisplatz herum, ahnte, dass sie ihn nicht bewusst wahrgenommen hatte! Nach allem, was er inzwischen hinter vorgehaltener Hand gehört hatte, war er sich fast sicher, dass er es geschafft hätte, Persönliches vor ihr zu verbergen. Warum das dem damaligen Kollegen Van Varwald nicht gelungen war, der offenbar keinerlei degenerativen Einschränkungen unterlag, wie dies beispielsweise auf die bemitleidenswerte Kollegin der Abteilung für Raub und Mord zuzutreffen schien, konnte Wilhelm nicht nachvollziehen.
Er bemühte sich noch immer darum, den ehemaligen "Rettungszirkel", wie er dessen personelle Zusammensetzung ihrem Sinn entnommen hatte, im Auge zu behalten. Es wäre einfach zu schade gewesen, irgendein Kapitel dieser mysteriösen Geschichte zu verpassen, falls sich doch noch irgendwas in der Angelegenheit ergeben sollte. Aber viel Hoffnung hegte er dahingehend nicht mehr. Die Kollegen schienen mehr und mehr von beruflichen und privaten Fragen vereinnahmt zu werden, die vom Verschwinden der Menschenfrau fortführten. Und miteinander zu reden, schienen sie auch nicht mehr. Was die Suche nach der Verschwundenen anging, wirkte noch der Inspektor seiner Lordschaft am ambitioniertesten auf ihn. Aber das war auch kein Wunder. Etwas Motivierenderes, als den Wunsch nach ehelicher Bindung an eine ganz bestimmte Person mochte es kaum geben. Schade nur, dass die Wirkung dieser Motivation auf den jungen Mann eher etwas Zerstörerisches hatte.
Zu Beginn war Wilhelm sehr neugierig auf den Flanellfuß-Sproß gewesen. Eine so legendäre Familie, alteingesessen, ehrwürdig, politisch bedeutsam! Die Abordnung des Flanellfuß-Jungen aus dem Palast in den neuen, rangniedrigeren Tätigkeitsbereich, hatte in Adelskreisen reichlich Anlass zu Spekulationen gegeben. Die Gerüchte, die es bis zu Wilhelm geschafft hatten, flüsterten von einem gewissen Unmut des Patriziers. Doch konnte man von der korrekten Schlichtheit dieser Vermutung ausgehen? Oder steckte mehr dahinter? Man war sich nicht einig. In aller Köpfe hatte sich der Gedanke festgesetzt, dass dem wichtigsten Mann in der Stadt Pläne in den Plänen zusagten. Alles was Wilhelm wusste, war, dass seine anfängliche Neugier Rach Flanellfuߒ Suche und seinem Verhalten gegenüber, verblasst war und einer gewissen Enttäuschung Platz gemacht hatte. Der ehemalige Sekretär benahm sich seit Monaten wie von Sinnen. Es schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, wann seine angeschlagene Gesundheit unter den Belastungen des ersichtlich eklatanten Schlafmangels zusammenbrechen würde. Über dessen fraglichen Geisteszustand spräche man dabei noch nicht einmal! Es war ein trauriges Schauspiel, dessen fatales Ende er keinesfalls zu beobachten gedächte. Was die rätselhafte Verlobte wohl davon halten würde, wie ihr Versprochener sich in ihrer Abwesenheit aufgab? Dass sie entsetzt darüber wäre, das stand wohl fest. Gefühle wie Mitgefühl und Zuneigung würden mit hineinspielen.
Der Vampir erinnerte sich ihrer sorgenvollen Präsenz. Selbst in ihren letzten Wochen des Hausarrests noch, in denen vor allem Kummer und Schuldgefühle ihre Gedanken dominierten, hatte sie der Personen um sich herum im Guten gedacht. Er hatte, so weit er sich zurück erinnern konnte, niemals zuvor mit jemandem Kontakt gehabt, der trotz widrigster Umstände, schlicht aus der Tiefe eines reichen Herzens heraus, so verständnisvoll und freundlich auf andere zugegangen wäre! Er hatte den Nachhall der körperlichen Schmerzen in ihr gespürt, den sie zum Schluss immerzu klaglos in sich trug. Die Tests und Versuche an ihr hatten eine kritische Grenze erreicht gehabt, das war sogar ihr selbst klar geworden. Bei der Teilnahme an diesen Experimenten ging es ihr natürlich auch um sich selbst, um die Hoffnung auf Erlösung aus der untragbaren Situation, in der sie sich befand. Aber das war nicht ihre Hauptantriebsfeder gewesen! Sie hegte den ehrlich empfundenen Wunsch, alles zum Guten zu wenden, niemandem zur Last zu fallen...
Wilhelm löste sich mit einem verhaltenen Räuspern aus seiner Versunkenheit. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er die nächtliche Schicht am Wachetresen bald hinter sich hätte. Und ein Blick auf den schlafenden Kollegen bestätigte ihm zusätzlich, dass keinem seine ungewöhnlich sentimentale Stimmung auffallen würde.
Es lag vermutlich am Wachhaus. Er hatte vor einiger Zeit seiner neugierigen Neigung nachgegeben und sich in das Büro oben geschlichen gehabt, in dem sie zuvor untergebracht gewesen war. Sicher, ihre Sachen waren längst ausgeräumt worden und es standen wieder normale Büromöbel in dem Eckraum. Das karge Bild, das sich ihm dort bot, unterschied sich krass von dem aus ihrem Sinn. Keine dünnen Gardinen an den Fenstern schützen mehr vor den Blicken, aus dem Besprechungsraum gegenüber. Keine persönlichen Gegenstände gaukelten Privatsphäre vor, keine Blumenvase auf dem Tisch spendete farbenfrohen Trost. Das Zimmer wirkte seltsam leer und abwartend und die einzige Überlappung der Eindrücke bestand in dem verkohlten Schutzkreis am Boden, der sich tiefschwarz in die abgewetzten Dielen eingebrannt hatte. Je länger Wilhelm im Türrahmen gestanden und das Büro auf sich wirken lassen hatte, desto mehr verstand er, warum es trotz des allgegenwärtigen Platzmangels im Wachhaus gemieden und nicht wirklich genutzt wurde. Alles darin, von der scheinbar willkürlichen Anordnung der wenigen Möbel, die an keinem Punkt die verkohlten Bodenmarkierungen auch nur berührten, über den trüben Lichteinfall in die bewegungslos schwebenden Staubpartikel hinein, bis hin zu der unnatürlich wirkenden Stille, vermittelte das Gefühl von Tragödie. Von einem Unglück, an dem man sich ansteckend konnte, so man es unvorsichtigerweise streifen würde. Wilhelm war niemals schicksalsgläubig gewesen und hatte auch nicht vor, es zu werden. Aber als der dunkle Ring auf den Dielen unter seinen Blicken Schwärze in sich zu sammeln schien und etwas wie Taubheit sich allmählich auf seine Ohren zu legen begann, da war er schnell aus dem Zugang zurück getreten und hatte die Tür nachdrücklich von außen geschlossen. Er vermutete, dass sich ein Fluch so anfühlen musste.
Wilhelm betrachtete seine bleiche Hand auf dem Holz des Tresens, einfach, um etwas im Hier und Jetzt zu fixieren. Und um damit das lästig schwermütige Gefühl zu verdrängen, dass sich seiner zu bemächtigen drohte. Das war so gar nicht seins! Er war kein Träumer und auch kein brotloser Künstler mit tiefgründigen Emotionen. Nein, er war bekannt für gelassenen Spott und eine grundsätzliche Gemütshaltung, die eher als gleichgültig beschrieben werden konnte, denn als mitfühlend. Was also war neuerdings los mit ihm?
Der Anblick seiner Hand verblasste zusehends vor seinen Augen, als er sich der niederschmetternden Selbsterkenntnis stellte: Er vermisste diese Ophelia Ziegenberger, die menschliche Wächterin, die er nie zuvor von Angesicht zu Angesicht kennen gelernt hatte! Ja, verdammt! Ihre Ängste und Zweifel hatten ihn genervt. Und selbst von Empathie konnte man als unbeteiligter Dritter nur eine bedingte Menge vertragen! Ihre überschwängliche Sehnsucht nach dem Kollegen Flanellfuß hatte phasenweise Wellen von sich abwechselnder Euphorie und Übelkeit bei ihm verursacht. Diese Zeiten hatten ihn zu Umwegen gezwungen, um den Platz rund um das Wachhaus großräumig zu meiden. Aber auf der Habenseite... da hatte es ihre freundliche Art gegeben. War es nicht eine vorbildliche Attitüde seinerseits, dass man ihm zumindest nicht vorwerfen konnte, sich von Äußerlichkeiten ablenken zu lassen? Ihm war ihr Aussehen nicht nur gleichgültig gewesen, er kannte es nicht mal! Nur ihr Inneres zählte und dieses hatte er bewundert! Irgendwie zwar auch belächelt, aufgrund ihrer offenherzigen Verletzlichkeit aber... doch, ja, er vermisste ihre grundsätzliche Hilfsbereitschaft, ihren unverstellten Blick auf die Seele der Dinge. Und damit meinte er nicht die mentalen Möglichkeiten, die der Defekt in ihrem Kopf ihr eröffnet hatte, sondern ihre Angewohnheit, fast vorurteilsfrei auf die Welt um sie her zuzugehen. Sie hatte Etwas an sich gehabt, auf das man gewiss selten stieß und das kostbar war. Ihr Wesen war so weit von all dem entfernt gewesen, was seine persönliche Welt ausmachte, dass die Abende, die er an den Mauern des Opernhauses angelehnt verbracht hatte, zu einer lieben Angewohnheit geworden waren. Das Äquivalent lauschiger Nächte vor einem wärmenden Kaminfeuer – ein gutes Buch vor sich, um darin zu lesen und in dessen fremde Seiten einzutauchen, eine Realität fern der eigenen zu erkunden und sie zu genießen.
Natürlich hätte ihr seine Sicht der Dinge nicht zugesagt. Aber er war ja auch nicht die freundliche Person von ihnen beiden.

18.02.2017 0: 06

Magane

Archivieren war nach all der Zeit noch immer das lästigste an den Fällen. Sie vergammelten nach Abschluss noch eine Weile auf den Schreibtischen der zuständigen Vorgesetzten und irgendwann, wenn der Stapel zu kipplig wurde, nahm sich der betreffende vorgesetzte Wächter einen Teil davon und trug ihn runter ins Archiv.
Maganes auslösendes Ereignis für einen solchen Gang in den Keller war heute, dass es ihr beim besten Willen nicht mehr gelang, eine weitere Akte hinzuzufügen. Die Arme waren eindeutig zu kurz. Also war sie auf ihren Schreibtisch gestiegen, hatte die obersten Akten vom Stapel genommen und beiseite gelegt und dann begonnen den verbliebenen Stapel durchzusortieren.
Gefühlte Stunden später hatte sie einen grade noch tragbaren Stapel bestehend aus altem Kram, der eh keinen mehr interessierte - also Archivalien - beisammen und schleppte diesen die Treppen herunter. Eindeutig eine Arbeit für Untergebene, aber komischerweise war von denen grade mal wieder keiner greifbar. Außerdem konnten viele der infrage kommenden Wächter mit dem Archivsystem nicht genug anfangen... wahrscheinlich konnte das kaum einer. Böse Zungen behaupteten, dass das 'System' sich darauf beschränkte einfach alles zeitnah zum Vergessen verschwinden zu lassen. Als Eingeweihter allerdings erkannte man eine chronologisch-alphabetische Ordnung mit chaotischen Wucherungen. Jedenfalls wusste Mag seit ihrer 'Verbannung' damals ziemlich genau was wo hingehörte.
Da eine große Ansammlung von Archivalien die Zeit krümmt, ließ sich unmöglich feststellen, wie lange es dauerte, bis sie bei der letzten Akte angekommen war. Ein kaffeefleckiger Hefter mit den bluttriefenden Ereignissen rund um die letztjährige Ornithologenkonferenz, bei der einer der Vogler, Bertholt Zilpzalp, die Hälfte der Preisrichter niedergemetzelt hatte. Eindeutig einzuordnen unter 2016-Zilpzalp. Magane vermied es, die Akte aufzuschlagen. Dieser Fall war ihr nur allzudeutlich vor Augen und lief leider auch grade wieder in ihrem Gedächnis ab, wie ein Horrorklicker. Während sie im Halbdunkel der Gänge nach der richtigen Stelle im Regal suchte, achtete sie kaum auf ihre Füße. Was sollte hier schon auf dem Boden sein? Ein Gedanke, den sie kurz darauf bereute, als sie der Länge nach im Gang lag und leise fluchend feststellte, dass sie erstens falsch lag und zweitens in diesem Regal Zi ganz unten war. So gesehen war die Kiste sogar an der richtigen Stelle, denn die Kiste, die nach ihrer Beschriftung zu urteilen Ophelia Ziegenbergers Privatbesitz enthielt, gehörte zweifelsfrei hier ins Regal... oder... eigentlich war ja die Frage, ob dieser Fall tatsächlich schon zu den Archivalien gehörte...
Magane stellte die Akte an ihren Platz und rappelte sich leise fluchend auf. Danach schnappte sie sich die Kiste und verließ das Archiv ohne jemandem zu begegnen und ging dann zügigen Schrittes wieder rauf in ihr Büro. Sie hatte eine Idee und war sich relativ sicher, dass das noch keiner versucht hatte. Zum einen, weil die andern beteiligten Hexen seit dem Dornröschenvorfall nicht mehr wirklich aktiv dabei waren und zum anderen, weil es äußerst unwahrscheinlich war, dass eine von den anderen im letzten Urlaub einen magischen Lehrgang mit dem Titel 'Suchen und Finden für Fortgeschrittene' in den Bergen gemacht hatte. Der Lehrgang selber hatte sie zutiefst enttäuscht - vorallem, weil es hauptsächlich um Partnersuche für junge Hexen ging - aber immerhin war sie mit einer neuen Niemals wieder-Erfahrung und einem hübschen, recht teuren Pendel, bestehend aus einer langen silbernen Kette mit einem großen Bergkristall, zurück gekommen.
Das Pendel ruhte seit einiger Zeit in ihrer Schreibtischschublade. Sie hatte es zwar anfangs zuhause zum Auffinden verschollener Socken benutzt, musste dann aber leider feststellen, dass die Methode dazu etwas zu ungenau war. Die letzten Monate hatte es jedenfalls bei den anderen nutzlosen Dingen und Verbrauchsmaterialien geschlummert und auf seinen ersten wirklich sinnvollen Einsatz gewartet.
Magane öffnete die Kiste in der Hoffnung, sie würde irgendein Kleidungsstück oder etwas anderes sehr Persönliches enthalten. Sie wurde enttäuscht. Hier war sehr gründlich sortiert worden. Obwohl Ophelia längere Zeit im Wachhaus eingesperrt gewesen war, war in der Kiste hauptsächlich Bürozeug gelandet, das zwar sicherlich ihr gehörte, aber wohl kaum persönlich genug war um sie - oder ihre Überreste - aufzuspüren. Relativ weit unten stieß sie auf Ophelias RUM-Abzeichen. Das war vielleicht persönlich genug, damit könnte man es versuchen. Jetzt musste sie dann nur noch den Stadtplan von der Wand nehmen, ihren Geist leeren und dann mit dem Abzeichen in der einen Hand und dem Pendel in der anderen Hand über der Karte stehend die Energie fließen lassen.
Nach einiger Zeit wurde der ausgestreckte Arm taub, während das Pendel muntere Kreise über dem gesamten Stadtgebiet drehte. Vor ihrem inneren Auge in ihrem eigentlich geleerten Geist tollten Bilder von sehr kleinen Leichenteilen, die über das gesamte Stadtgebiet verstreut waren, herum. Sie machte eine Pause und kochte sich einen Tee. Vielleicht stimmte die Alles-wird-gut-Mischung sie etwas optimistischer. Beim nächsten Versuch spürte sie dann wirklich, dass das Pendel in eine Richtung zog und gab dem Zug nach.
Es zeigte auf das Hauptwachhaus.

19.02.2017 8: 29

Rogi Feinstich

Rogi Feinstich genoss die Stille nur für einen Augenblick, bevor sie noch mal den Ausbildungsplan für nächste Woche durchging. Nicht, dass sich daran je viel ändern würde, allerdings herrschte schon seit einer Weile Rekrutenmangel und es war vermutlich an der Zeit, mit Araghast über neue Plakate oder andere Werbemaßnahmen zu verhandeln. Denn eines stand fest: Sie brauchten wieder Nachschub! Niemand wollte Geld für die Rekrutierung ausgeben, das Budget war schon knapp genug. Aber seit Rach Flanellfuß die Wache unter die Lupe nahm, war jedem Wächter sehr bewusst, dass sie unter Personalmangel litten. Der Posten des Ausbildungsleiters war somit Fluch und Segen zugleich. Fluch, weil es zu wenig Nachwuchs gab, um die Wache wieder auf Vordermann zu bringen. Segen, weil der Mangel an Rekruten ihr persönlich durchaus willkommen war. Doch dann gab es natürlich auch noch Herrschaften wie Wilhelm Schneider! Nicht zu vergessen, dass sie Rachs Ausbildung immer noch betreute. In gewisser Weise. Glücklicherweise hatte Ettark Bergig seinen Spaß daran gefunden, den Inspektor selbst auszubilden. Doch inzwischen konnte Rach als Gefreiter sich den meisten Anweisungen entziehen. Doch Wilhelm Schneider hatte sie ganz allein an der Backe. Er war ausgerechnet von der Sorte Vampir, deren größter Antrieb Neugierde und Langeweile waren. Sie konnte nur hoffen, dass er des Dienstes in der Wache bald überdrüssig würde. Sonst schub sie Dienst wie immer. In den letzten Wochen fühlte sie sich wesentlich ausgeglichener als sonst. Sie hatte mehr Zeit, sich um die Taubenschläge zu kümmern, sowohl im Hauptwachhaus, als auch in der Kröselstraße und im Boucherie.
Die Tauben waren auch der der heutige Grund gewesen, warum sie die Berichte in ihrer Zelle am Pseudopolis durchging. Inzwischen hatte sich mehr Arbeit im Hauptwachhaus angesammelt und so langsam ging ihr der Platz aus. Vielleicht war es an der Zeit, alte Akten, die sie noch hier lagerte, endlich zu versiegeln und ins Archiv zu bringen? Dabei glitt wie von selbst ihr Blick zur Schublade mit den Krankenakten. Einen Moment später sah sie schuldbewusst auf ihre zitternden Hände. Sie hatte es schon lange aufgegeben, die Symptome zu bekämpfen, denn das einzige was helfen würde, war keine Option. Ihr Beruhigungsmittel hatte schon zu viel Unheil angerichtet.
Die Igorina seufzte letztlich und öffnete die Kladde. In Gedanken glitten ihre Finger wie von selbst über die Register. Schließlich nahm sie mit einer Hand gleich mehrere Akten heraus und lud sie auf ihren Schoss. Und in dem Moment fiel ihr auch gleich auf, wie viele der Akten Wächter betrafen, die entweder schon lange nicht mehr zum Dienst erschienen oder tot waren. Mit einem Seufzen bildete sie zwei Stapel auf dem Obduktionstisch vor sich, den sie zum Schreibtisch umfunktioniert hatte. So nahm sie einen Stapel nach dem anderen aus der Schublade und wiederholte den Vorgang. Manchmal stöberte sie in der einen oder anderen Akte, um ihr Gedächtnis aufzufrischen, bevor sie dann doch zum Archivstapel wanderte. Bei der nächsten Akte stockte sie allerdings.
Natürlich war ihr klar, dass die Akte noch existierte. Doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie beim Anblick von Ophelia Ziegebergers Akte so heftig reagieren würde. Sie musste die Mappe nicht mal aufschlagen.
Die Erinnerungen an die Nächte in denen sie Ophelia nach dem Ascher-Fall umsorgte, suchten sie von alleine heim. Viel schlimmer jedoch war die Situation in der sich Ophelia derzeit befand. Der Käfig... Racul... die Igors. Und sie selbst war nicht imstande etwas dagegen zu unternehmen! Zum Einen band sie der Kodex. Und zum Anderen... der alte Vampir war zu mächtig. Allein die Vorstellung, sich Rach oder Mina anzuvertrauen, bereitete ihr Kopfschmerzen. Es war aussichtlos, das war ihr bei dem Zusammentreffen mit Racul nur zu deutlich geworden. Und sie würde sicher nicht das Leben anderer in Gefahr bringen. Es war ein aussichtsloser Kampf und sie wusste, wann es an der Zeit war, aufzugeben.
Ihr Fäuste ballten sich von alleine bei dem Eingeständnis, als würde ihr Körper sich dem widersetzen, was sie von Herzen glaubte. Sie seufzte und rieb sich mit der Hand über die Stirn. Immerhin an dem Käfig hatte sich etwas geändert. Zumindest waren das die letzten Informationen gewesen, die ihr die Igorina freiwillig ausgehändigt hatte.
Es war an sich schon schwierig genug, den Kontakt zu Raculs treuer Igorina unauffällig aufrecht zu erhalten. Doch Rogis Wunsch auf dem Laufenden zu bleiben, schien ihre Verwandte als Gelegenheit zu sehen, das Schwarze Schaf der Familie wieder auf den rechten Pfad zu führen. Ihr war jedes Mittel recht. Somit war Ophelia auf gewisse Weise nun ihre gemeinsame Patientin.
Auch wenn sie sich nicht persönlich kümmern konnte - es tat gut, Ophelia in der Hinsicht in guten Händen zu wissen.

20.02.2017 8: 41

Senray Rattenfaenger

Nächtliche Gassen, vertraute Stille. Nun ja, soweit man auf das nächtliche Ankh Morpork das Wort "Stille" überhaupt anwenden konnte.
Senray schlenderte mit der Laterne in der Hand durch die Straße. War sie irgendwo falsch abgebogen? Tatsächlich kam ihr kaum etwas vertraut vor. Andererseits war sie hier in der Gegend sowieso selten und erst recht nicht nachts unterwegs – und wenn dann normalerweise nicht in, sondern über den Straßen.
Tatsächlich bereitete es der Wächterin ein gewisses Unbehagen, nicht auf einem sicheren Dach zu sein. Allerdings hatte einer von DOGs wenigen verbliebenen Informanten ihnen gesagt, es gäbe eine ungenehmigte "Außendienststelle" der Diebe. Nichts großes, nichts auffälliges, sie zahlten ihre Gildenabgaben brav und wohl sogar sehr großzügig an die Diebesgilde – weswegen sie geduldet wurden. Auch wenn vielleicht nicht bei jedem Überfall eine gültige Quittung übergeben wurde.
Senray seufzte. Viel mehr Informationen waren auch nicht in der Akte gewesen, die Glum ihr gegeben hatte. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ohne weitere Hinweise als den ungefähren Block diesen Stützpunkt der Diebe finden würde, schätzte sie selbst als nicht sehr hoch ein. Allerdings musste sie es dennoch versuchen. Da es den professionellen Dieben allerdings höchstwahrscheinlich aufgefallen wäre, wenn sich jemand unverhältnismäßig oft auf ihren Dächern herumgetrieben hätte ohne wenigstens in ein Haus einzusteigen, lief sie jetzt unten durch die Straßen. Als Köder, als potentielles Opfer.
Sie ging weiter und betrachtete im Licht ihrer eigenen kleinen Laterne sowie der allgemein eher schlechten Straßenbeleuchtung die Häuser. Nichts Auffälliges. Was hatte sie auch erwartet? Wenn sie jedoch nicht bald einen bekannten Punkt finden würde, musste sie dringend umdrehen. Im Zweifelsfall musste sie tagsüber nochmal her kommen, sich die Gegend einprägen und es erst dann nachts wieder versuchen. Sie konnte Glum unmöglich erklären, dass sie zwar das Diebesnest gefunden hatte, den Ort selbst aber aufgrund ihrer Orientierungslosigkeit nicht wiederfinden würde.
Während sie darüber nachdachte starrte sie eine vollkommen dunkle Fassade an, als könnte diese ihr sagen, wo sie sich befand. Vielleicht wenn sie näher zur Tür ginge und den Eingang beleuchtete? Plötzlich hörte Senray den Hall von Schritten.
Sie merkte, wie sie sich versteifte. Waren das die Diebe? Hatte sie Glück? Oder ... andere dunkle Gestalten, denen sie wirklich nicht begegnen wollte?
Die verdeckte Ermittlerin atmete einmal tief durch um sich zu sammeln und ging dann gemütlich weiter. Dabei hielt sie Ausschau nach der Quelle des Geräusches.
Es war ein junges Paar, die verliebt entlangliefen und leise lachten. Wahrscheinlich brachte er sie nach einer Verabredung Heim. Senray entspannte sich. Normale Passanten. Keine dunklen Schreckensgestalten, keine Verbrecher. Einfach nur Stadtbewohner, die ihr Leben lebten. Das Paar lief in ihre Richtung und schien sie nicht einmal zu bemerken. Nach kurzem Zögern ging Senray ebenfalls weiter und der Obergefreiten wurde auf negative Art bewusst, dass "normale Passanten" wohl die einzige Option war, die sie nicht in Erwägung gezogen hatte.
Vielleicht ... brauche ich Urlaub.
Als sie schon fast auf gleicher Höhe mit dem Paar war, betrachtete Senray die beiden genauer. Er sah – sah man von dem entsetzlichen Schnauzer einmal ab – relativ gut aus. Und sie –
Senray blieb vor Überraschung und Schreck stehen. Das war nicht möglich!
"Ophelia?", brach es aus ihr heraus. Jedoch war ihre Stimme schwach, mehr ein leises Krächzen als ein Ruf. Dann deutlicher: "Ophelia!"
Doch die Frau reagierte nicht. Sollte sie den Ruf mitbekommen haben, so ignorierte sie ihn, ignorierte sie Senray. Diese hatte sich im Laufen umgedreht und sah dem Paar hinterher, während sie selbst aus ihrer Bewegung heraus einige wenige Schritte weiter rückwärts machte – als es passierte.
Die Flamme ihrer Laterne reagierte. Erst war es nur ein unscheinbares Flackern, als wäre ein Wind durch das Glas gefahren. Doch im selben Moment, in dem Senray die Bewegung bewusst wurde, verstärkte sich der Wind zu einem Sturm und die Flamme kämpfte in der kleinen Laterne gegen unsichtbare Feinde.
"Was .. nein! Das ist unmöglich!" Panik stieg in Senray hoch, dann – Hoffnung. War die Frau doch Ophelia? Hatte sie sie nur nicht erkannt? Vielleicht hatte der Mann irgendetwas mit ihr gemacht, ihr Gedächtnis gelöscht!
Plötzlich wild entschlossen rannte die junge Wächterin dem Paar hinterher, griff die Frau von hinten an der Schulter und drehte sie zu sich.
"Ophelia, erkennst du mi-" Weiter kam sie nicht. Das Gesicht, das sie jetzt im Schein der immer noch flackernden Kerze sah, war sicher nicht das von Ophelia Ziegenberger.
Das Paar gab irgendetwas von sich, doch Senray konnte sie nur mit vor Entsetzen geweiteten Augen anstarren. Als der Mann die Hand zur Faust geballt in Richtung ihres Gesichtes streckte und damit wedelte, ergriff sie rückwärts die Flucht. Erst zwei Abbiegungen weiter blieb sie stehen, leicht außer Atem, verwirrt und ärgerlich auf sich selbst.
Ich fange schon an Gespenster zu sehen... Ich brauche definitiv Urlaub. Wahrscheinlich war die Tür der Laterne einfach nicht ganz zu und ich mache Panik um nichts. Typisch.
Noch während sie das dachte richtete sie sich wieder auf und hob die Laterne an, um die Tür zu schließen. Die Flamme wirkte dunkel, verloren auf dem Docht und brannte flackernd.
Kein Wunder nachdem ich gerade gerannt bin, jetzt nur nicht wieder in Panik verfallen.
Doch die Tür der Laterne war fest verschlossen, kein Wind sollte die Flamme von außen stören können. Senray schloss verzweifelt die Augen und merkte wie nun doch die Panik erneut hochstieg. Es wurde nicht besser, als sie sie wieder öffnete und die Flamme wie verrückt tanzen sehen konnte, dunkel, verunsichert, verzweifelt kämpfend.
Das kann nicht sein! Das kann einfach nicht sein! Das war nicht Ophelia und ohne sie ... das kann nicht sein!
Ohne groß darüber nachzudenken lief sie los und bei der ersten sich bietenden Gelegenheit kletterte sie auf das nächste Haus und bewegte sich über die Dächer.
Wieso passiert das? Das kann einfach nicht sein! Ohne Ophelia kann so etwas ... darf so etwas nicht möglich sein!
Senray merkte wie sie immer panischer wurde und fasst durch einen losen Ziegel abgerutscht wäre. Unter ihr hörte sie den Aufschlag und das erste Fluchen von einem der Hausbewohner, der wohl geweckt worden war. Sie musste hier weg. Irgendwohin.
Warum passiert das? Heißt das ... heißt das ich verliere die Kontrolle? Heißt das ich ... ich werde ...
Der Gedanke schnürte ihr fast die Luft ab und sie musste darum kämpfen, weiter zu kommen.
Zum Wachhaus! Ich muss zu Maggie, sie wird sicher wissen, was das heißt, sie wird mir helfen können! Ich darf nicht ... ich will nicht ...
Auf den Dächern funktionierte ihre Orientierung besser, sie konnte die Lichtpunkte des Klackernetzwerkes als Zuordnungspunkte nutzen und fand fasst automatisch zum Pseudopolisplatz. Sie war in den letzten Wochen sooft hier gewesen, hatte von verschiedenen Dächern aus Mistvieh beobachtet und auf sie gewartet. Ihre Gedanken drehten sich jetzt jedoch im Kreis, die alles beherrschende Angst lies keine Vernunft mehr zu, derartige Erinnerungen wurden in den Hintergrund gedrängt genauso wie ihre Gefühle dem Hauptwachhaus gegenüber.
Ansonsten hätte sie wahrscheinlich gezögert, es zu betreten. Wie sie es eigentlich immer tat, wenn es sich nicht vermeiden lies, dass sie hier her kam. Oder sie hätte wenigstens den Haupteingang genommen und nicht das Dach und den Taubenschlag.
So jedoch verschaffte sie sich kletternd Zugang und wurde von aufgebrachten Gurren und Flügelschlag empfangen. Doch während sie nach unten hetzte um in den ersten Stock zu Maganes Büro zu kommen, scherte es Senray nicht, wer sie hörte oder sah. Sie wollte einfach nur mit dem Feldwebel reden, wollte hören, dass alles gut war. Dass sie nicht dabei war die Kontrolle zu verlieren.
Dass sie nicht dabei war, verrückt zu werden.
Wie sie in das Büro eindrang, nahm sie selbst kaum war. Ihre Sicht hatte begonnen, durch einen Tränenschleier zu verschwimmen, ihr Magen war kaum mehr als eine harte Kugel und ihr Herz wurde mit jedem Schlag schwerer.
Sie ist nicht da.
Natürlich war sie nicht da, es war mitten in der Nacht. Warum hätte Feldwebel Magane auch zu dieser Stunde hier sein sollen? Senray stand in der Mitte des Zimmers, vor sich den Schreibtisch, dessen Konturen nur durch das schwache Licht vom Flur und den Fenster beleuchtet wurden. Die verdeckte Ermittlerin merkte, wie sie langsam die Kraft verlies.
Senray sank auf ihre Knie, dann auf ihre Hände und schließlich rollte sie sich zusammen und versteckte den Kopf unter den Armen, die Beine angezogen und ebenfalls umschlungen. Die junge Frau lies den Tränen freien Lauf, lies sich von der Angst übernehmen und schluchzte stumm in sich hinein. Nach kurzer Zeit versiegten ihre Tränen und die Erschöpfung übermannte sie, so dass sie einschlief wo sie war. Zusammengerollt auf dem Boden von Maganes Büro im Wachhaus am Pseudopolisplatz.

21.02.2017 14: 36

Magane

Nach einigen Versuchen mit verschiedenen Gegenständen aus der Kiste, die alle zum Wachhaus geführt hatten, war Magane für ein paar Stunden Schlaf heimgegangen. Der nächste Tag versprach zwar nicht unbedingt besser zu werden, aber immerhin war es nicht mehr Nacht. Als sie zu ihrem Büro kam wunderte sie sich als erstes über die einen Spalt breit offenstehende Tür. Normalerweise schloss sie nachts ihr Büro ab, aber die letzte Nacht war nicht unbedingt normal verlaufen, vielleicht hatte sie es vergessen, aber das war noch lange kein Grund dafür, dass sie offen stand. Auf alles gefasst stubste sie die Tür auf und sah sich keiner Gefahr gegenüber.
Dass sich Senray den Fußboden ihres Büros zum schlafen ausgesucht hatte war zwar ungewöhnlich, aber zunächst einmal nicht gefährlich, Mag breitete eine Decke über die Obergefreite und setzte erstmal Teewasser auf.
Der pfeifende Teekessel weckte Senray auf, Magane bemerkte dies zwar, zog es aber vor abzuwarten bis sie etwas sagte. Irgendetwas musste die junge Kollegin extrem erschreckt haben, wahrscheinlich was es besser sie vorerst in Ruhe zu lassen. Senray richtete sich langsam auf und reckte sich. Sie sah sich leicht verwirrt um, der Feldwebel goss den Tee auf und stellte dann zwei Tassen neben die Keksdose auf dem kleinen Besprechungstisch.
"Glaubst du Ophelia lebt noch?"
"Ich gehe davon aus", Magane trug die Teekanne zum Tisch und setzte sich auf einen der Sessel.
"Meinst du sie ist in der Nähe?"
"Ich bin fest davon überzeugt", sie goss Tee in die Tassen und öffnete die Keksdose, "steh auf, setz dich zu mir und erzähl mir was passiert ist."

22.02.2017 8: 40

Wilhelm Schneider

Es war früh, die Morgenschicht trudelte allmählich ins Wachhaus ein, um die Kollegen der Nachtschicht abzulösen. Kaffeeduft zog durch das Treppenhaus und ab und an hörte man unten das müde Schlurfen schwerer Stiefel zu den Unterkünften in Richtung Hof. Aber Wilhelm wusste, dass sie bereits da war. Ein letztes Mal zögerte er. Die Bürotür der Stellvertretenden Abteilungsleiterin von 'Raub und Mord' stand ihm vor Augen und die Maserung des Holzes schien ihn zu verspotten.
War er sich wirklich sicher, dass alles besser wäre, als diese Stagnation?
Er wollte Aufregung! Und der legendäre Ziegenberger-Rettungszirkel drohte allmählich in seine Bestandteile zu zerfallen! Sie hatten sich festgefahren, vollkommen. Nach so langer Zeit gab es keine neuen Hinweise, keine lohnenden Spuren mehr. Nicht, dass er selber da Abhilfe hätte schaffen können! Gleichgültig, wie oft er sich das wenige echte Faktenwissen durch den Kopf gehen ließ, welches er aus der Erinnerung heraus zusammentragen konnte, richtig weiter brachte es einen, seiner Meinung nach, nicht. Er riskierte, dass sie ihn hassen würden. Schon allein deswegen, weil er sich nicht an gewisse menschliche Konventionen gehalten hatte. Da brauchte er sich nichts vorzumachen. Das würde ganz schlecht ankommen. Und verheimlichen ließ sich dies voraussichtlich auch nicht. In dem Moment, in dem er ihre Türschwelle überschritt, würde es kein Zurück mehr geben. War es das wert?
Wilhelm straffte die Schultern.
Diese Ungewissheit nervte ihn unsäglich! Ebenso wie die damit verbundene Untätigkeit. Es gab nichts mehr zum Beobachten, weil kaum noch einer das Bedürfnis zu verspüren schien, in dieser Angelegenheit tätig zu werden! Nein, das Risiko, sich einem gewissen Spott oder gar Anfeindungen der Kollegen auszusetzen, war es wert, wenn er im Gegenzug dafür Bewegung in die verfahrene Situation bringen konnte. Ihr Verschwinden ließ ihm einfach keine Ruhe, auch nach so vielen Monaten nicht. Das hatte nichts mit einer naiven Anwandlung rührseliger Anhänglichkeit zu tun, sondern schlichtweg mit der Unzufriedenheit über ein noch nicht abgeschlossenes Projekt. Genau!
Er klopfte an.
Und ignorierte dabei den leise im Hinterkopf nagenden Gedanken daran, dass er damit auch im Begriff stand, seinen üblicherweise vorsichtigen Beobachterposten aufzugeben und nach vorne zu treten, ins Scheinwerferlicht. Was in mehr als nur einer Hinsicht gefährlich sein mochte...
"Ja?"
Seine hochrangige Artgenossin warf ihm nur einen beiläufigen Blick zu, ehe sie ihm mit einer Handbewegung einen Besucherstuhl anbot. Während er sich dankend und mit einer gewissen Zurückhaltung setzte, schlug sie die bearbeitete Akte zu und schaute ihn fragend an.
"Nun denn, was kann ich für dich tun?"
"Schneider mein Name, Rekrut Wilhelm Schneider. Ich komme in einer... ungewöhnlichen Angelegenheit zu dir, Ma’am." Er suchte nach den richtigen Worten und der Moment des daraus resultierenden Zögerns entging ihr sicher nicht. "Wo soll ich anfangen? Sagen wir es so... die Problematik begann nicht erst vor einem oder zwei Jahren."
Sie forderte ihn mit einer Geste auf, weiter zu sprechen.
Wilhelm nickte langsam zu der gut sichtbaren, zugeklappten Planwand hinter ihr, von der jeder im Wachhaus wusste. Die Wand mit den unzähligen Nadeln, den Notizen, Berichten und Zeichnungen, die eindeutige Indizien der hartnäckigen Suche der Ermittlerin darstellten. Er ergänzte das vorangegangene Gesagte mit den Worten: "Und... es endet vermutlich auch nicht an dieser Stelle, wenn ich raten dürfte."
Die Stellvertretende folgte seinem Blick – und hielt inne. Ihre Augen richteten sich fast emotionslos auf ihn.
"So, vermutest du das? Und worauf möchtest du mit dieser Vermutung genau hinaus?"
Er beobachtete sie genau.
"Es ist kein Geheimnis, dass die Nachforschungen zu der verschwundenen Kollegin dir ein großes Anliegen sind. Und, dass sie ins Stocken geraten sind. Vorsichtig formuliert. Andererseits... " Er lächelte schief. "Es gibt viele Gerüchte, die in der Sache kursieren. Und ich dachte mir... vielleicht kann ich helfen?"
Mina von Nachtschatten hatte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurückgelehnt und die Arme verschränkt. Ihre Miene verriet nichts. Sie ließ sich Zeit mit der Antwort.
"Mit Verlaub, Rekrut Schneider, dein Angebot in allen Ehren. Aber wenn du mir die Frage gestattest: Wie kommt das? Und gerade jetzt? Denn wie du selbst richtig festgestellt hast, existiert das Problem nicht erst seit gestern."
"Nun... ich bin niemand, der sich unnötig aufdrängt. Bisher hatte ich gedacht, dass meine Hilfe vielleicht nicht benötigt würde. Inzwischen bin ich mir da einfach nicht mehr sicher. Ich möchte mich auch jetzt nicht aufdrängen. Es ist nur ein Angebot. Wenn du der Meinung bist, alles im Griff zu haben... dann bin ich vermutlich überflüssig?"
Ihre Skepsis war beinahe greifbar. Er spielte mit dem Gedanken, die Idee zu verwerfen und einfach aufzustehen und zu gehen. Als sie ihn doch noch aufhielt.
"Wie hast du dir diese Hilfe konkret vorgestellt?"
Er grinste. "Konkret? Konkrete Vorstellungen würden davon abhängen, dass man bereits helfen durfte und daher weiß, was schon getan wurde und welche Möglichkeiten dementsprechend noch offen stünden." Er hob entschuldigend beide Hände, ehe er sie locker im Schoss zusammenfallen ließ. "Ich bin da ganz offen. Ich würde helfen, an welcher Stelle und in welcher Art meine Hilfe gebraucht würde. Sind vier Augen nicht besser als zwei, wenn man etwas sucht?"
Mina von Nachtschatten rang mit sich. Es war offensichtlich, dass sie einen Haken witterte. Sie betrachtete ihn und konnte einen misstrauischen Unterton nicht ganz verbergen, als sie antwortete:
"Ich will gar nicht behaupten, dass Unterstützung nicht willkommen wäre. Zumal die Bemühungen doch etwas eingeschlafen sind..." Sie hielt kurz inne. "Aber du hast mir immer noch nicht gesagt, warum dich die Sache derart zu interessieren scheint."
"Eine verschwundene Kollegin... das berührt einen doch, oder nicht?"
"Und weiter?"
Wilhelm zögerte merklich. Er versuchte diese Mina einzuschätzen. Er rieb die flachen Hände beim Nachdenken aneinander. Dann hielt er inne und zuckte leicht mit den Schultern, ehe er kurz lächelte.
"Gut, die Frage ist berechtigt, nehme ich an. Es ist so: Ich bin... auf gewisse Weise... betroffen. Nicht in besonders direkter Weise. Wobei... selbst das ist vermutlich eine Frage der Perspektive..." Er suchte wieder ihren Blick, als er vorsichtig fortfuhr. "Ich bin ihr nie von Angesicht zu Angesicht begegnet. Aber... auf andere Weise sehr wohl."
Sie nickte langsam. Langsam und verstehend.
"Dann nehme ich an, dass du relativ gut mit den Einzelheiten vertraut bist?"
"Ich denke schon, ja. Zumindest mit den Einzelheiten, die es bis zu ihrem Verschwinden gab."
Sie musterte ihn nachdenklich. "Wann ist es dir zum ersten Mal aufgefallen?"
Er zögerte. Dann gab er sich jedoch einen Ruck. "Als sie unter Hausarrest gestellt wurde."
Die von Nachtschatten hob eine Augenbraue. "Das ist nicht eben eine kurze Zeitspanne. Was mich doch noch einmal zu der Frage zurückführt, warum du nicht eher etwas hast verlauten lassen. Immerhin hätte es ja somit auch in deinem Interesse gelegen, eine rasche Lösung zu finden."
Wilhelm seufzte. "Die Antwort wird dir nicht gefallen, Ma'am."
Sie seufzte ebenso. "Es gibt eine ganze Menge, was mir an diesem Fall nicht gefällt, Rekrut Schneider, glaub mir. Aber das ganze Bild ist immer noch hilfreicher, als Einzelteile."
Wilhelm grinste schief, als er gedehnt antwortete. "Man sucht gewöhnlicherweise nur dann nach einer Lösung, wenn man etwas als Problem empfindet, Ma'am."
Die Stellvertretende Abteilungsleiterin brauchte einen Moment, bis sie sich der eigentlichen Bedeutung dessen, was er ihr damit zu verstehen gab, ganz sicher sein konnte. Dabei versteinerte ihr Gesicht zusehends. "Du..." Sie unterdrückte sichtlich den Impuls, ihn anzuschreien. Ihre Selbstbeherrschung bröckelte dennoch. "Du willst mir hier allen Ernstes erzählen, dass du..."
Wilhelm verbiss sich jetzt doch lieber das Grinsen und wurde ernst. Da war er, der Moment der Wahrheit! Sein Verstoß gegen die allseits so geliebten Regeln!
Die Vorgesetzte schob ruckartig ihren Stuhl zurück, ging steifbeinig zum Fenster und starrte eine Weile wortlos in das langsame Abklingen des kitschig roten Sonnenaufgangs. Sie brauchte den Moment, um sich zu fassen, um ihre Gedanken zu sortieren. Dann: "In Ordnung." Sie wandte sich ihm wieder zu. "Ich nehme an, mittlerweile ist es sehr wohl zu einem Problem geworden? Oder wie soll ich mir diesen Sinneswandel sonst erklären?" Ihre Stimme war dabei vollkommen emotionslos.
Wilhelm nahm mit einem gewissen Erstaunen zur Kenntnis, dass die eisige Stimmung, die ihm nun seitens der Kollegin entgegen schlug, tatsächlich unangenehm war. War das ein Schamgefühl? Reue? Natürlich nicht! Aber irgendwas...
Er musste ihrem Blick ausweichen, als er ihr eingestand: "Also... auch diese Antwort wird nicht unbedingt zu Begeisterungsstürmen beitragen, nehme ich an. Aber... ich vermisse sie?" Er beeilte sich, anzufügen: "Was nicht heißt, dass ich es darauf anlegen würde... also... falls sie noch leben sollte! Du weißt, was ich meine, Ma’am! Nur... es ist nicht richtig, was ihr widerfahren ist. Meiner Meinung nach. Und je länger sie weg ist, desto mehr beschäftigt mich das. Ich würde zwar nicht behaupten, dass es mir den Schlaf raubt. Aber..."
Ihre Stimme klang scharfkantig. "Du vermisst sie. Ja natürlich, was frage ich auch? Du vermisst sozusagen dein... Unterhaltungsprogramm?"
Wilhelm schaute missbilligend auf und seine Brauen schoben sich zusammen.
"Was nur immer diese Vorwürfe sollen! Es ist schließlich nicht so, dass ich irgendein Gesetz gebrochen hätte! Ich spreche hier mit einem Hilfsangebot vor, nicht, weil ich auf das Aburteilen meiner Person Wert legen würde!"
Sie legte kurz die Hände an ihre Schläfen und verzog das Gesicht. "Ich hätte nicht übel Lust... aber angesichts der Tatsache, dass es dumm wäre, einen gereichten Strohhalm in einer derartigen Situation auszuschlagen..." Sie kehrte kopfschüttelnd zu ihrem Platz zurück.
Wilhelm schaute sie erwartungsvoll an.
Sie wirkte beinahe angewidert von ihm, als sie betont würdevoll um seine Unterstützung bat.
"Wir werden sehen, was sich daraus machen lässt. Wärest du vielleicht jetzt bereit, ein paar deiner konkreteren Überlegungen zu teilen?"
Wilhelm wusste, dass er im übertragenen Sinne mit dem Feuer spielte. Aber er musste es einfach wissen. "Werde ich dann auch zum legendären Rettungszirkel gezählt, wenn ich mit euch zusammenarbeite?"
Die Vampirin starrte ihn nur sekundenlang an, ehe sie wie in Zeitlupe die Stirn runzelte. "Ich bitte dich hiermit ausdrücklich – und auch nur dieses eine und letzte Mal – darum, die Angelegenheit ernst zu nehmen." Sie ließ ihre Worte schweigend nachwirken und Wilhelm rang das dringende Bedürfnis nieder, die Aussage interpretierend auseinanderzupflücken. Glücklicherweise sprach sie weiter, ehe er diesen Kampf verlor. "Abgesehen davon... es wäre zu viel gesagt aktuell von einem ‚euch’ zu sprechen."
Er räusperte sich dezent. "Ja, der Eindruck hat sich mir allerdings auch aufgedrängt. Ihr redet nicht mehr wirklich miteinander, oder? Dabei könnte ich darauf wetten, dass zumindest die Igorina mehr weiß, als sie preisgibt."
"Nein, das lässt sich nicht leugnen. Der... Enthusiasmus hat tatsächlich auf allen Seiten ein wenig oder auch ein wenig mehr nachgelassen." Sie stutzte. "Rogi?"
Er nickte. "Sie benimmt sich meiner Meinung nach seltsam. Wobei... wer weiß schon immer so genau, was in deren Köpfen vor sich geht?"
"Inwiefern seltsam?"
"Sie wollte mich schlagen! Dabei habe ich ihr nur etwas auf den Zahn fühlen wollen!"
Er sah dem Zucken in ihrem Mundwinkel an, dass sie diesen Gedanken unangemessen erheiternd fand.
Die Vampirin schmunzelte beinahe. "Lass mich raten: Du hast ihr in etwa das Gleiche erzählt, wie mir?"
"Bei weitem nicht so viel. Aber es wird doch wohl erlaubt sein, einige Fragen zu stellen."
Sie murmelte etwas – zweifellos Beleidigendes – vor sich hin, ehe sie in normaler Lautstärke nachfragte: "Einmal abgesehen von Oberfeldwebel Feinstichs nicht eben freundschaftlichen Gefühlen dir gegenüber - gibt es noch etwas Anderes, das dich annehmen lässt, sie würde nützliche Informationen zurückhalten?"
"Ich meine ja nur. Ophelia hat einiges für die Igorina auf sich genommen. Einiges! Und ich werde jetzt nicht mit Rumgetratsche anfangen, denn das ist wirklich kein guter Stil. Letztlich ging das nur sie beide etwas an. Aber irgendwie... Monatelang investiert die Igorina jede freie Minute in die Suche nach dem Oberfeldwebel. Und dann plötzlich... nichts mehr! Und ihre fast feindselige Haltung, wenn es um eine weitere Suche nach Ophelia geht, passt da einfach nicht richtig dazu, oder?"
Mina überlegte, wie sie eine zufrieden stellende Antwort formulierte, ohne zu viel zu sagen. "Die Beziehung zwischen Rogi und Ophelia ist... kompliziert. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich selbst alle Einzelheiten kenne. Aber so wie ich den Oberfeldwebel einschätze, würde sie nichts absichtlich tun, was der Suche nach Ophelia abträglich wäre."
Wilhelm lehnte sich vor und stützte sich mit den Ellenbögen auf seinen Knien ab. Er schaute Mina intensiv an, ohne dass er sich dessen bewusst war. "Es gibt da etwas..." Er schaute nervös auf seine Hände.
"Ja?"
"Ich bin mir nicht sicher, inwiefern das etwas mit den späteren Ereignissen zu tun hat. Aber für einen Zufall scheint es mir zu bedeutungsvoll gewesen zu sein."
Die Vampirin schaute ihn fast schon leicht spöttisch an. "Raus mit der Sprache Rekrut, du bist doch auch sonst unverblümt in dem, was du zu sagen hast."
Wilhelm presste seine Handflächen aneinander. "Ophelia wurde... von einem Schatten bedroht."
Mina merkte auf. "Geht das genauer?"
Wilhelm lachte leise, nahezu humorlos. "Nicht wirklich." Er hob abwehrend die Hand. "Schon gut, ich will es versuchen." Er konzentrierte sich und fasste so gut wie möglich das zusammen, was ihm schon so oft durch den Sinn gegangen war. "Ich gehe davon aus, dass er ein Vampir war. Ein ziemlich machtvoller, vermutlich alter Vampir. Und männlich, das auch. Ja, ein Mann. Viel mehr habe ich aber nicht mitbekommen. Sie hatte panische Angst davor, auch nur an seinen Namen zu denken. Er hat mit ihr geredet, nicht nur einmal, sondern regelmäßig."
Die Stellvertretende schenkte ihm endlich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, sie wirkte plötzlich deutlich aufgeschlossener auf ihn. Sie nickte. "Das deckt sich mit einer ganzen Menge von dem, was wir bereits in Erfahrung bringen konnten."
Wilhelm gestikulierte vage mit einer Hand. "Ich weiß, dass ihr irgendwann bewusst wurde, dass er eine Gefahr für euch alle darstellte, für Kollegen und Familie gleichermaßen, insofern irgendwer sein Inkognito lüften würde. Wenn ich das richtig verstanden habe, drohte er ihr damit, Mitwisser auszuschalten, so sie nicht alle Informationen zu ihm für sich behalten würde. Ob er das direkt so gesagt hat, weiß ich nicht. Aber der Gedanke war ganz klar präsent."
Sein Gegenüber sah nachdenklich an ihm vorbei, als sie sich zu erinnern schien. "Was erklären würde, warum Ophelia zuletzt etwas zögerlich in ihrer Kooperation war, was ganz bestimmte Aspekte anbelangte..." Sie runzelte die Stirn und ihre Gesichtszüge verdüsterten sich zusehends. Ihre Lippen pressten sich grimmig aufeinander, ehe sie wie zu sich selbst flüsterte: "Ach verdammt!"
Wilhelm war in diesem Moment kurzzeitig in Versuchung, nach ihren Gedanken zu tasten. Woran erinnerte sie sich gerade? Dann aber riss er sich zusammen. Sie war ohnehin nicht sonderlich gut auf ihn zu sprechen. Wenn sie dann davon etwas mitbekäme, riskierte er jeden bis hierhin erreichten Zwischenstand. Nein, Gelegenheiten dazu, sich über die laut geäußerten Informationen hinaus auf den neuesten Stand zu bringen, würde es noch reichlich geben – wenn... ja, wenn er sich hier und jetzt hilfsbereit, ehrlich und auch sonst vorbildlich zeigte. Er musste sie von seiner Nützlichkeit überzeugen! Vielleicht, wenn er das eine oder andere Detail feilbot?
"Ich weiß noch, dass sie an einem Abend von einem Lauscher überrascht wurde, der tatsächlich mehrmals vor dem Wachhaus lauerte, um aus ihren Gedanken Wacheinterna abzuschöpfen. Er rieb ihr süffisant unter die Nase, wie viel er dafür in bestimmten Kreisen bekommen hatte. Jedenfalls... der Lauscher war damit noch nicht zufrieden. Er hatte, genauso wie ich kurz zuvor, in ihrem Bewusstsein offenbar die Spur zu dem Alten gefunden. Nur, im Gegensatz zu mir dachte er sich wohl, dass er daraus Kapital schlagen könne. Er hat versucht, der Spur zu folgen, um dem Alten dahinter mit Erpressung zu drohen."
Mina von Nachtschatten beugte sich interessiert vor und ließ ihn nicht mehr aus dem Blick.
"Ich bin jedenfalls immer noch froh, dass ich an dem Tag nicht in ihrer Nähe war! Ihre Erinnerungen haben vollauf ausgereicht." Er konnte nicht anders, als selbst jetzt noch zu frösteln. "Der Alte, er hat einfach beide gegrillt!"
Die von Nachtschatten sah ihn mit plötzlich unsagbar dunklen Augen an. Ihre Pupillen schienen sich in tiefschwarze Seen aufzulösen. Er beeilte sich, zu erklären.
"Was ich meine ist... er hat Ophelia offenbar damals als eine Art Blitzableiter genutzt, um den Lauscher in seine Schranken zu verweisen. Und danach hat er sie... abgeschaltet. Ich kann es nicht besser erklären. Der Lauscher ist jedenfalls nie wieder aufgetaucht."
Die von Nachtschatten lehnte sich schwer zurück und rieb sich die Augen. Sie holte tief Luft. "Und genau da liegt das Problem! Diese Quelle entzieht sich unserem Zugriff! Was wir brauchen sind konkrete Identitäten. Oder wenigstens Hinweise darauf, die nicht wieder in einer Sackgasse enden."
Wilhelm entging das versehentlich in ihre Formulierung gerutschte ‚wir’ keinesfalls. Er schaute sie erwartungsvoll an.
"Das, was du mir erzählt hast, ergibt Sinn, es passt zu den bekannten Fakten, bestätigt vieles, erweitert anderes."
Wilhelm lächelte zögerlich.
"Aber einen konkreten Punkt, an dem man mit einer Ermittlung ansetzen könnte..." Sie schüttelte den Kopf und sein hoffnungsvolles Lächeln verschwand ebenso schnell wieder.
"Wir können nicht einfach alle alten Vampire der Stadt unter Generalverdacht stellen. Zumal diese es mit ihrer Privatsphäre mitunter sehr genau nehmen. Allein alle potenziell Verdächtigen aufzuspüren könnte Monate dauern!"
Wilhelm sah zu Boden, als er einem inneren Drang nachgab und leise einwarf: "Ich muss gestehen, dass ich mir fast sicher bin, dass sie inzwischen tot sein muss. Der Alte wirkte nie sonderlich geduldig. Und auf ihre ganz eigene Art, hat sie ihm recht häufig die Stirn geboten. Falls er also wirklich dahinter steckt... wird das vermutlich nicht lange gut gegangen sein."
Dieser Einwand schien sie zu treffen, denn ein kurzes Zusammenzucken durchfuhr ihren Körper. Sie atmete noch einmal tief durch. Ihre Stimme bekam einen sanfteren Klang. "Aufgeben wäre der einfache Weg. Das ist ein Luxus, den ich mir verbiete."


22.02.2017 9: 58

Nyria Maior

Der Himmel war bedeckt und ein kalter Wind wehte durch das Fußballstadion, als Nyria die Treppe zur Südtribüne hinaufstieg. Wie immer, wenn ein Spiel der Unsichtbaren Akademiker anstand, war sie in Zivil gekleidet und trug ihren Fan-Schal um den Hals geschlungen. Unter ihrem Arm klemmte ihre übliche Fußball-Ausrüstung: Ein Sitzkissen für die harte Holzbank der Fankurve und eine Flasche Winkels Besonders Altes Bier für ihre vom Anfeuern 'ihrer' Mannschaft trockene Kehle.
Trotz des trüben Wetters war sie gut gelaunt. Der FC Sirupminen war ein leichter Gegner für die Unsichtbaren Akademiker, die Ermittlungen im Fall des unlizenzierten Einbruchs in die 'Weintraube' machten Fortschritte und sie hatte in einer einzigen Stunde mehr Informationen aus Inspektor Rach Flanellfuß herausbekommen als Bregs in einem ganzen Jahr. Abwesend winkte sie zwei Bekannten zu, die ebenfalls auf dem Weg zu ihren Stammplätzen waren.
Flanellfuß' Auftritt in der Kneipe war nur zu typisch für den eingebildeten Palastschnösel gewesen, der er nun mal war. Aber immerhin - er hatte sich dazu herabgelassen, die Kneipe überhaupt zu betreten, auch wenn sie vermutete, dass er es nur getan hatte, um sie auszuhorchen. Nyria grinste breit. Allein für die beiden Freibier hatte sich der Abstecher gelohnt.
Raistan lehnte an der Tribünenbrüstung und ließ seinen Blick über das Spielfeld schweifen. Er hatte sich in seinen warmen Winterumhang gehüllt und um seinen Hals hing ebenfalls ein Schal in den Farben der Unsichtbaren Universität.
"Hey!" Nyria trat neben ihn und stupste ihn mit dem Ellenbogen an.
"Hey." Der junge Zauberer nickte ihr zu. "Was ist los? Du grinst so breit, dass dir gleich der Kiefer abfällt."
Nyria richtete sich zu ihrer vollen Größe von hundertzweiundsechzig Zentimetern auf.
"Weißt du, egal wie das Spiel heute ausgeht, wir haben trotzdem schon mal gewonnen. Leonata ist aus der Ziegenberger-Wette raus."
"Interessant." Raistan hob eine Augenbraue. "Und wie hast du das herausgefunden?"
Nyrias Grinsen wuchs noch weiter in die Breite.
"Ich hatte neulich Streifendienst mit Rach Flanellfuß. Da habe ich ihm mal etwas auf den Zahn gefühlt."
"Ich dachte, bei euren Streifen wäre immer eisiges Schweigen angesagt."
"Eigentlich schon. Aber unsere Wette um die Ziegenberger-Geschichte hat mir keine Ruhe gelassen. Sollen wir warten, bis der Oberfeldwebel vielleicht irgendwann mal so ganz zufällig wieder auftaucht, egal ob lebendig, von noch einem Vampir ausgelutscht oder in Einzelteilen unter der Ankh-Kruste?" Ein lautes 'Plopp' ertönte, als Nyria den Bügelverschluss ihrer Bierflasche öffnete. "Und auch wenn er ein eingebildeter Palastschnösel ist, irgendwie tat er mir leid, nachdem ich ihn aus der Reserve gelockt hatte. Ophelia Ziegenberger ist seine große Liebe. Wenn ich mir vorstelle, dass irgendein Schwein jemanden, der mir wichtig ist, verschwinden lässt, mir dann auch noch die Schuld dafür in die Schuhe schieben will und es keine Möglichkeit gibt, dieser unbekannten Person in den Ort an dem die Sonne nicht scheint zu treten..." Sie nahm einen großen Schluck.
Raistan nickte nur und Nyria braucht keine Worte um zu verstehen, was er sagen wollte. Sie beide wussten, was Rache bedeutete. Sie beide hatten schon aus Rache getötet. Nyrias Tante, die Marquise Beatrice L'Etranger, die die Auslöschung aller, die ihre Kindheit und Jugend geprägt hatten, zu verantworten hatte. Die Erinnerung, wie sich ihr Wolfsgebiss in eine Kehle bohrte, gab ihr auch nach all den Jahren noch eine gewisse Befriedigung. Turisas Lin-Isthar, die Seele eines über 800 Jahre alten verrückten Zauberers, der durch sein Ränkespiele Raistans Zwillingsbruder auf dem Gewissen hatte. Der Baron von Offlerberg, der Nyrias Vater verraten und zu einer Existenz als gesuchter Verbrecher verdammt hatte. Sie alle hatten am Ende für ihre Taten bezahlt.
"Deshalb..." Nyria stellte ihr Fußballbier neben ihren Füßen ab und schob sich eine Zigarette in den Mundwinkel. "habe ich ihm angeboten, mal meine Nase auf die Straße zu halten. Und dabei ist mir eine Idee gekommen."
"Wie du das Ziegenberger-Problem lösen kannst nachdem selbst die von Nachtschatten schon seit vielen Monaten im Kreis läuft?" Auch die zweite Augenbraue des jungen Zauberers wanderte nach oben und Skepsis schwang in seiner Stimme mit.
Nyria grinste schief. "Nicht lösen. Wo die Leiche nun verbuddelt oder versenkt wurde, dürfte schwer rauszukriegen sein. Aber zumindest kann man noch dafür sorgen, dass jemand bekommt, was er verdient." Sie zog an ihrer Zigarette. "Und zwar nicht nur wegen Flanellfuß. Auch wegen Bregs. Ophelia Ziegenberger lässt ihm letztendlich doch keine Ruhe und je öfter er genau das Gegenteil behauptet, desto weniger glaube ich ihm."
"Er hat sich, was sie betrifft, in etwas verrannt." sagte Raistan nachdenklich. "Sie hat ihn angelogen, und das nimmt er extrem persönlich und dichtet ihr nun alle möglichen Schlechtigkeiten an. Ich habe sie kennen gelernt und ich glaube nicht, dass sie so abgrundtief verdorben ist, wie er sie darstellt. Sehr emotional und ein wenig hysterisch, ja. Aber nicht absichtlich böswillig. Sie hatte höchstwahrscheinlich einfach ein Geheimnis, das sie schützen wollte, genau wie Bregs und ich die Wahrheit im Fall Dreimal Glücklicher Fischimbiss. Nur ist das leider schief gegangen, sie hat ungeschickt reagiert und seitdem traut unser Oberverschwörungstheoretiker ihr nicht mehr."
"Und eben deshalb könnten wir seinem Seelenfrieden etwas nachhelfen, weitere Klarheit über unsere Wette gewinnen und einem armen gequälten Inspektor zumindest etwas Genugtuung verschaffen, was das Schicksal seiner Geliebten betrifft."
"Und wie soll das funktionieren?" Raistan klang immer noch nicht überzeugt. "Hast du plötzlich eine Spur erschnüffelt die bei der Suche übersehen wurde?"
"Gewissermaßen ja." Nyria klemmte die Zigarette zwischen ihre Finger und suchte Raistans Blick. "Du hattest herausgefunden, dass es einen offenen Gedankenaustausch zwischen Ophelia und einem Vampir gibt."
"Ja. Parsival Ascher, der Kerl, der sie angeheuert hatte bevor sie gebissen wurde und der sie laut Bregs danach immer noch beeinflusst hat. Unser Kommandeur wurde sehr deutlich wenn es darum ging, was er von Ascher und seiner Sippschaft hält."
Mit einem wissenden Lächeln schüttelte Nyria den Kopf.
"Parsival Ascher ist tot. Und er war es schon als du das Experiment mit dem Oberfeldwebel durchgeführt hast."
"Woher weißt du das ?"
Nyria schnippte Asche über die Brüstung der Tribüne.
"Wie schon gesagt, Rach Flanellfuß war sehr gesprächig, nachdem ich ihn am Haken hatte."
"Aber wenn es nicht Ascher ist, wer ist es dann?" Raistan wandte sich von der Brüstung ab und ließ sich auf seinem eigenen Sitzkissen nieder.
Nyria zuckte mit den Schultern. "Das ist die große Frage. Die du helfen könntest zu klären. Du hast die Daten der offenen Verbindung zwischen Ophelia Ziegenberger und Person X. Gibt es irgend eine Möglichkeit, sie anzuzapfen, selbst wenn der Oberfeldwebel tot ist?"
Raistan schwieg den ganzen Rest der Zigarettenlänge. Um sie herum füllte sich die Tribüne mit Zauberern, Bewohnern der Viertel um die Unsichtbare Universität und anderen treuen Anhängern der Mannschaft der Unsichtbaren Akademiker. Nyria begrüßte einige bekannte Gesichter mit einem freundlichen Nicken.
"Ja." sagte Raistan plötzlich.
Nyria horchte auf.
"Es kann funktionieren. Ich brauche dafür zwar mindestens zwei Stunden exklusive Hex-Zeit und muss den thaumaturgischen Code vorbereiten, der nicht einfach werden wird. Fortgeschrittene Beeinflussungszauber sind nicht gerade mein Fachgebiet." Die stahlgrauen Augen des jungen Zauberers funkelten und ein Lächeln spielte um sein schmalen Lippen. In diesem Moment wusste Nyria, dass sie ihn überzeugt hatte. "Es ist zwar ein gewisses Risiko, aber der erste zu sein, der es schaffen könnte, auf magische Weise und ohne eigene telepathische Kräfte in den Verstand eines Vampirs einzudringen - Das ist es wert! Erst recht, wenn es auch noch Bregs hilft, das Ziegenberger-Problem endlich auch gefühlsmäßig zu den Akten zu legen. In der Hinsicht schulde ich ihm sowieso seit langem noch was."
Nyria warf ihr Sitzkissen auf den Platz neben Raistan, setzte sich und legte ihren Arm um seine mageren Schultern.
"Wir alle schulden ihm was." sage sie leise. "Selbst wenn es bedeutet, dass er die Wette verliert und wir ihm die Wahrheit mit aller Wucht um die Ohren schlagen müssen. Wenn er damals nicht darauf bestanden hätte, dass ich der Wache beitrete, wer weiß, was mittlerweile aus mir geworden wäre. Aber mittlerweile bin ich wirklich gern Wächterin. Es hätte schlimmer kommen können."
"Für Bregs." Raistans knochige Finger schlossen sich um Nyrias Hand und sein Miene wurde ernst. "Und für Ophelia Ziegenberger und ihr Andenken. Und auch für den berüchtigten Inspektor Rach Flanellfuß, selbst wenn ich ihn nicht kenne und Bregs nur über ihn schimpft. Wenn es ihm hilft, endlich so etwas wie Frieden zu finden, um so besser." Seine eh schon nicht sonderlich kräftige Stimme senkte sich zu einem Flüstern. "Das einzige, was mich in den Wochen nach Kameruns Tod immer noch hat durchhalten lassen war das Wissen, dass ich ihn angemessen gerächt hatte."
Nyria drückte sein Hand.
"Ich glaube, Rache ist ein Geschäft in dem wir sehr gut sind."


23.02.2017 10: 19

Ophelia Ziegenberger

Sture Hexe!
Natürlich war er sich dessen bewusst, dass die Igorina ihrer eigenen Profession nachging. Ebenso, wie ihm klar war, dass er dieses vernarbte Kräuterweib noch so sehr verfluchen mochte - sie würde auf ihrem Standtpunkt beharren. Sie wich seinem Blick keinen Milimeter aus, auch wenn sie es nicht wagen würde, Anzeichen von Überheblichkeit oder gar Triumph zu zeigen. Was die Überzeugung, sich in einer von oben sanktioniert stärkeren Position zu befinden, doch alles bewirken konnte!
"Du bleibst also dabei?"
Sie nickte bedächtig, beeilte sich dann aber, auch laut vernehmbar zu ihrer Entscheidung zu stehen. "Ja, Herr. Allef andere wäre leichtfinnig und rifkant. Um nicht zu fagen, obendrein unnötig. Fie hält fich an die Regeln."
Sebastian hätte der Igorina am liebsten den Kopf abgerissen - nicht nur sprichwörtlich. Doch er riss stattdessen sich zusammen und achtete darauf, ihr möglichst keine Anzeichen seiner Wut zu zeigen. Das hätte schließlich bedeutet, einen strategischen Vorteil aufzugeben! Er räusperte sich leise und strich mit dem Finger wie geistesabwesend über eine Regalleiste, ehe er imaginären Staub wegschnippte.
"Meine Hinweise sind gut gemeint, Igorina. Ich fürchte, dass ihr alle euch zu leicht von Ophelia um den Finger wickeln lasst. Nur, weil sie derzeit eine minimale Selbstkontrolle hinbekommt, heißt das noch lange nicht, dass sie ihre Fluchtpläne aufgegeben hätte. Glaube mir, sie würde es versuchen! Sie im Roten Zimmer unterzubringen, ist langfristig gesehen sehr viel leichtsinniger, als das winzig kleine Risiko einzugehen, sie mit einer Rückverlegung zu verstören. Sie hat schließlich auch ihre anfängliche Unterbingung dort gut überstanden. Sie würde sich ein zweites Mal arrangieren können. Genauso, wie sie ihre emotionale Reaktion auf solch eine Enttäuschung wieder in den Griff bekäme. Dahingegen... eine einzige Vergesslichkeit beim Roten Zimmer... vielleicht eine nicht wieder versperrte Tür? Sie würde es wagen! Etwas, das beim Käfig nicht passieren könnte! Ihre jetzige Unterkunft verlockt sie doch geradezu dazu, sich auf eine Flucht vorzubereiten! Sie tut dort immerhin nichts anderes, als Kräfte zu tanken! Im Käfig hingegen... Es geht hier um eine simple Aneinanderreihung von Bedürfnissen, die aufeinander aufbauen. Gut, Nahrung benötigt sie unabdingbar zum Überleben, darin sind wir uns wohl einig. Aber alles darüber hinaus... Je mehr sie sich um Grundlegendes sorgen muss, je mehr ihre Gedanken um das Allernötigste kreisen, desto weniger Ressourcen verbleiben ihr, zum Rebellieren. Das ist doch logisch, oder nicht?" Er lächelte vorsichtshalber an dieser Stelle seiner Argumentation, auch wenn es sich anfühlte, als wenn er dafür erst stählerne Muskeln in den Wangen verbiegen müsste. Einen winzig kleinen Seitenhieb konnte er nicht unterlassen. "Dein Mann zumindest scheint mit mir einer Meinung zu sein, hatte ich den Eindruck."
Die Igorina atmete tief ein und runzelte die Stirn. "Mein Mann," sagte sie in strengem Tonfall, "Mein Mann ift ein Perfektionist, waf feine Arbeitseinftellung angeht. Und ein Enthufiast. Er läfft fich leicht von seiner Begeifterung hinreiffen. Nichtfdeftotrotz... wo ef in eurer Verantwortung liegt, ihren Finn ruhig fu halten, fo liegt ef in meiner Verantwortung, ihre Körperfunktionalität fu gewährleisten."
Er zog in gespieltem Erstaunen beide Brauen in die Höhe. "Und du meinst wirklich, dass sie so schwach ist, dass sie ein und dasselbe Erlebnis nicht zweimal verkraften würde?"
Die Igorina schüttelte genervt den Kopf. "Darum geht ef doch nicht, Herr. Ef wäre einfach ein unnötigef Risiko! Wofu sollte ef gut fein, fie noch mehr unter Druck fu fetzen, wenn fie doch ohnehin bereits allef fo macht, wie der Meifter ef wünft? Fie könnte genaufogut auf einem Inftinkt heraus in die Verteidigung gehen! Und waf dann?"
Dann wäre dieses langwierige Projekt endlich wieder lohnend, endlich wieder unterhaltsam!, dachte er. Nach Außen hin aber zuckte er nur scheinbar gelassen mit den Schultern.
"Nun gut. Vielleicht läge ich mit meiner Einschätzung ja wirklich daneben? Wer weiß das schon?" Es war klar, dass er bei der Igorina nichts ausrichten konnte. Seine Apelle perlten an ihr ab, wie heißes Öl von einer neuen Pfanne. Er verschwendete seine Zeit! "Ich werde mich deiner Einschätzung beugen." Einen Teufel werde ich! Er wandte sich zum Gehen. Am Türrahmen blieb er noch einmal kurz stehen. "Hoffen wir, dass du mit deinen Überzeugungen richtig liegst. Falls du jedoch irgendwann einmal zu einem anderen Schluss kommen solltest, dann sage mir bitte Bescheid!"
Sie beeilte sich, ihm mit einem kleinen Erleichterungsseufzer zu antworten. "Natürlich, Herr!"
Er schloss die Tür hinter sich und eilte entschlossen durch das Haus.
Dann eben Plan B!
Das Tageszimmer der Dame, in deren Haus sie residierten, stand sperrangelweit offen. Die Türflügel lehnten beidseitig an den Wänden und die Vorhänge waren vollständig zurückgezogen worden, so dass die Sonne zu den hohen Fenstern hinein leuchtete. Die zartgliedrige ältere Dame lag wie immer vor sich hin dösend inmitten der büttenweißen Laken.
Er trat an ihr Bett heran und gerade, als sie die Augen aufschlug, strich er ihr sanft mit dem eigenen Handrücken über die Stirn.
Sie riss die Augen auf. Ihr Blick irrte haltlos umher, panisch krallten ihre dürren Finger in die Bettdecke. Doch kein Laut drang aus ihrem Mund.
Sebastian lächelte überheblich auf sie herab. Dann überließ er das klapprige Gestell seinem Schicksal. Der Herzschlag der alten Dame setzte immer wieder aus, während er sich in Anbetracht der grausamen Visionen hinter ihrer Stirn, die sich wie blutige Gewitterwolken in ihr zusammenballten, selber zu überholen versuchte. Die verfallene Menschenfrau schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen, als er sie hinter sich ließ und gelassen die Treppen durch das Haus erklomm. Er setzte sich an seinen Schreibtisch im oberen Stockwerk und legte alles so zurecht, wie er es in den nächsten Stunden brauchen würde. Im unteren Teil des Hauses setzte hecktisches Rumoren ein.
Das hast du nun davon, dass du mir unbedingt widersprechen musstest, Igorina! Nicht nur, dass du deine ehrgeizigen Ziele mit Frau Pospiechs Lebensdauer nun leider nicht erreichen wirst, nein. Du wirst die nächsten Tage auch vollauf damit beschäftigt sein, nach dem bedauerlichen Ableben ihrer Ladyschaft deren Nachlass zu regeln. Und dich um das Nachrücken der Folgekandidatin zu kümmern. Und ich weiß ja, wie sehr du dieses Prozedere schätzt. Tja, so spielt das Leben!

24.02.2017 13: 54

Mina von Nachtschatten

Das Gespräch ging ihr einfach nicht aus dem Kopf, vollkommen egal, was sie anstellte! Entsprechend hatte Mina es nach dem Verschwinden des Rekruten Schneider aus ihrem Büro relativ schnell aufgegeben, sich auf irgendetwas anderes konzentrieren zu wollen und beschlossen, eine kleinen Runde um den Pseudopolisplatz zu drehen. Vielleicht auch eine etwas größere. Egal, RUM würde daran schon nicht zugrunde gehen. Außerdem war frische Luft - oder eben das Ankh-Morpork-Pendant dazu - gelegentlich ganz hilfreich, auch wenn man den Sauerstoff eigentlich nicht benötigte.
Wilhelm Schneider... war ihr der Name vorher lediglich in einem Bericht Rabbes aufgefallen, so hatte der kurze morgendliche Austausch vollkommen gereicht, um ein ziemlich klares Bild des anderen Wächters zu hinterlassen.
"Man sucht gewöhnlicherweise nur dann nach einer Lösung, wenn man etwas als Problem empfindet, Ma'am."
Zunächst den Uneigennützigen zu mimen, nur um ihr dann diese Erklärung vor die Nase zu setzen, ohne auch nur den Anflug eines Schuldgefühls oder eines leisen Bedauerns! Es kam selten vor, dass Mina tatsächlich ernsthaft mit Aggressionen zu kämpfen hatte - doch das war ein solcher Moment gewesen. Dieser Kerl... er hatte einfach nur zugeschaut, zu seiner eigenen Belustigung beobachtet, wie Ophelia Schritt für Schritt weiter und immer weiter in ihr Unglück lief, bis sie sich den Konsequenzen letztendlich nicht mehr hatte entziehen können. Mina war es schwer gefallen, ihn an diesem Punkt nicht einfach aus dem Büro zu werfen. Lediglich der Gedanke, der kleine Funken Hoffnung, er könne vielleicht doch etwas Nützliches wissen, hatte sie die Beherrschung wahren und ihn fortfahren lassen. Denn es war und bleib ein Hilfsangebot - wenn auch von zweifelhafter Motivation. Das konnte man nicht so ohne Weiteres von sich weisen, besonders in einer derart verfahrenen Situation. Und dann war da natürlich noch die leise Stimme im Hinterkopf, welche zur Vorsicht mahnte und darauf hinwies, dass es wohl besser wäre, Wilhelm Schneider im Auge zu behalten. Denn warum hatte er erst jetzt mit der Sprache herausgerückt, so lange nach Ophelias Verschwinden? Warum war er manchen Fragen derart ausgewichen - beinahe routiniert mochte man sagen - wenn es ihm doch angeblich ein Anliegen war, zu helfen? Auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert war das Problem und damit Ophelias Verhängnis ein vampirisches. Wilhelm war ein Vampir, noch dazu einer, der sich nur schwer in die Karten schauen ließ. Kurzum: Wer konnte schon so genau sagen, ob er nicht noch ganz andere Interessen verfolgte? Ob da nicht noch jemand im Hintergrund lauerte, der ein offenes Ohr für wacheinterne Informationen in diesem Zusammenhang hatte?
Mina verzog das Gesicht. Es gefiel ihr nicht, einem Kollegen etwas derartiges auch nur ansatzweise zu unterstellen, doch auf der anderen Seite konnte man aus naivem Vertrauen heraus auch kein Risiko eingehen. Nein, den Vertrauensvorschuss würde er sich zunächst verdienen müssen. Sowie es sich erst noch zeigen würde, inwieweit er tatsächlich hilfreich sein konnte.
Immerhin, die Information hinsichtlich des alten Vampirs war schon einmal nicht uninteressant gewesen. Insofern sie zutraf, verstand sich. Sollte er tatsächlich ein eigenes Ziel verfolgen, dann wäre es für Wilhelm ein Leichtes gewesen, die sicheren Fakten, welche er aus Ophelias Geist abgeschöpft hatte mit Erfundenem zu mischen, um diesem wiederum den Anschein von Glaubwürdigkeit zu verleihen... Die Vampirin seufzte schwer. Ja, das mit dem Vertrauen würde eine ziemlich heikle Angelegenheit werden.
Auf jeden Fall musste sie zeitnah mit Rach darüber sprechen. Eine zweite Meinung einholen und ihn auf den neuesten Stand bringen. Denn gesetzt den Fall, bei ihrem unbekannten Gegner handelte es sich tatsächlich um einen der Alten, bekam die gesamte Problematik an sich noch einmal eine ganz andere Dimension. Es war nicht schwer sich vorzustellen, dass Mitwisserschaft dann mit Lebensgefahr einherging. Als ob die Angelegenheit noch nicht kompliziert genug wäre!
Aber anders gefragt: War überhaupt zu erahnen, wie viele Vampire oder andere für mentale Kommunikation sensible Personen da draußen Details kannten, welche ein potenzielles Risiko darstellten? Wilhelm Schneider, der Lauscher, das waren ja nur Einzelbeispiele, bei denen war es ganz gewiss nicht geblieben. Oder noch einmal anders: Der Fundus an eventuell entscheidenden Informationen in den Köpfen Einzelner konnte immens sein. Bloß, wie sollte man da heran kommen? Selbst wenn sie nur vorsichtig an der Oberfläche kratzen wollten, benötigten sie dafür Zugang zu ganz bestimmten Kreisen... und den hatten sie schlichtweg nicht.
Es war eine Thematik, welche Mina nicht zum ersten Mal beschäftigte, die ihr aber bedingt durch das Gespräch mit Wilhelm Schneider neuerlich unangenehm aufgestoßen war: Wie viel einfacher ihre Suche doch hätte sein können, würde sie über ein paar adäquate Kontakte zu ihren eigenen Leuten verfügen. Mit einiger Sicherheit kursierten zumindest ein paar Gerüchte, denen man hätte nachgehen können und daneben gab es immer jemanden, der die Klappe selbst hinsichtlich konkreter Informationen nicht halten konnte - einfach, um sich selbst zu profilieren. Denn im Gegensatz zu ihrer Verschlossenheit nach außen, dem vornehmen Getue und der allgemein anerkannten Konvention, dass man sich vorrangig um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern hatte, waren Vampire Tratschtanten; Getuschel hinter vorgehaltener Hand, ein kleiner Skandal, eine gute Intrige, alles, was von der Tristesse der Ewigkeit ablenken konnte war stets willkommen. Und sei es nur für einen kurzen Moment, bevor der jeweilige Gegenstand seinen Reiz verlor und schon die nächste Affäre in Aussicht stand. Dies mochte Aussenstehenden in gewisser Weise als Paradoxon erscheinen - doch das kümmerte keinen. Es waren Vampire, da erübrigte sich jede weitere Frage. Es gab eben nur einen Haken: Man musste dazugehören, um besagte Gerüchteküche anzapfen zu können. Und dazugehören hieß in diesem Fall sich einen Platz innerhalb der Vampirgemeinschaft Ankh-Morporks gesichert zu haben, was an ich auch nicht schwierig zu bewerkstelligen war. Aber nein, eine gewisse Person hatte ja unbedingt auf stur schalten und die Nische außerhalb bevorzugen müssen! Seit sie damals in der Stadt angekommen war, hatte sich Mina aus all dem herausgehalten, es wann immer es ging vermieden, sich in dieser Gesellschaft zu bewegen. Schlechte Erfahrungen aus der Vergangenheit und der Unwille, sich jedes Mal erneut für gewisse Dinge rechtfertigen zu müssen. Dass ihr das einmal auf die Füße fallen konnte, daran hatte sie zu keiner Zeit einen Gedanken verschwendet gehabt.
Die verdeckte Ermittlerin beschleunigte ihren Schritt, als könne sie allein durch eine Erhöhung des Tempos den nagenden Selbstvorwürfen entkommen. Allerdings befand sie sich auch bereits an der Ecke Zimperlichgasse und Billige Straße, viel zu weit vom Wachhaus entfernt, sie würde sich mit dem Rückweg ohnehin beeilen müssen.
Es war ja nicht so, dass sie über gar keine Kontakte verfügte. Jedoch war die Liste geradezu beklagenswert kurz und diejenigen, die darauf standen, im aktuellen Fall nicht besonders hilfreich: Oskar Koskaja und Charlotte von Bechtelstein, beides recht junge Mitglieder der Liga der Enthaltsamkeit und ebenso harmlos wie unbedarft. Die Vrriyowitschs, welche zum einen immer noch verschwunden und zum anderen wohl auch nicht sonderlich gut auf sie zu sprechen waren. Ihre eigene Großmutter. Die wohl unpassendste Ansprechpartnerin überhaupt. Ansonsten... Breda Krulock! Der Name stand ihr plötzlich so glasklar vor Augen, dass Mina abrupt innehielt und ein hinter ihr gehender Bäckergeselle nur knapp mit seinem Handkarren voller Ware ausweichen konnte. Sie ignorierte das Fluchen des Mannes. Natürlich, warum war ihr das nicht schon viel eher eingefallen? Breda zu fragen war nicht nur eine absolut naheliegende Wahl, aufgrund der Vorgeschichte der anderen Vampirin mit Ophelia standen die Chancen vielleicht gar nicht schlecht, sie hilfsbereit vorzufinden. Einfach unglaublich, wie vernagelt man manchmal sein konnte! Natürlich würde sie zuallererst feststellen müssen, ob Breda sich überhaupt noch in der Stadt aufhielt; seitdem die ehemalige DOG Abteilungsleiterin vor ein paar Jahren die Wache verlassen hatte hatte man nichts mehr von ihr gehört. Aber das würde sich doch wohl irgendwie ermitteln lassen! Die alte Adresse aus der Personalakte war ganz bestimmt ein guter Anfang...

Kurz vor dem Wachhaus ergab sich jedoch zunächst die Gelegenheit, ein anderes Vorhaben in die Tat umzusetzen.
"Rach!"
Der Inspektor hielt wenige Schritte vor dem Haupteingang inne und wandte sich ihr zu. Kurz schien es, als ob er dabei leicht schwanken würde, dann straffte sich seine Gestalt und die Müdigkeit auf seinen Zügen wurde von aufmerksamem Interesse verdrängt. Oder besser: Er gab sich zumindest alle Mühe, seine übliche nonchalante Gelassenheit an den Tag zu legen. Mit mäßigem Erfolg: Ophelias Verlobter sah denkbar schlecht aus, übernächtigt, leichenblass, und wenn man ganz genau hinhörte verrieten Herzschlag und Atmung, dass hier ein Kreislauf an der Grenze der Belastbarkeit lief. Aber erfahrungsgemäß hatte es wenig Sinn ihn darauf hinzuweisen, dass er sich unvernünftig verhielt und solche Sachen wie Schlaf nicht nur eine Vergeudung von Zeit waren. Entsprechend beschied sich Mina damit ihn einmal kritisch von oben bis unten zu mustern und dann festzustellen:
"Du siehst aus, als bräuchtest du wirklich dringend einen Kaffee."
Rach sackte ein paar Millimeter in sich zusammen.
"Den vierten", nickte er dann.
"Komm mit."
Während Minas Kaffeedämon mit Begeisterung seiner Tätigkeit nachging[1] erzählte die Vampirin ausführlich von den Ereignissen des Morgens, den damit verbundenen Möglichkeiten aber auch Bedenken ihrerseits, wobei sie versuchte, die Episode mit Wilhelm möglichst sachlich abzuhandeln. Dennoch hatte sich Rach zum Ende ihrer Ausführungen hin sichtlich im Stuhl verkrampft und rührte mit derartigem Nachdruck in seiner Tasse, als trüge das Getränk darin die alleinige Schuld an sämtlichem Unbill.
"Ich habe also nach wie vor keine Ahnung, was von Wilhelm Schneider zu halten ist", schloss Mina schließlich ihren Bericht und schüttelte den Kopf, als sie gegenüber des anderen Wächters Platz nahm. "Aber vielleicht bin ich auch einfach nur zu empfindlich, da es um Ophelia geht."
Rach schüttelte den Kopf.
"Ganz bestimmt nicht", knurrte er. "Wenn dieser... Parvenü versucht hätte mir auf diese Art zu kommen, dann wäre das Gespräch wesentlich früher zu Ende gewesen. Und auch viel entschiedener."
"Ehrlich gesagt bin ich mittlerweile an dem Punkt angelangt, an dem ich dem Ganzen zumindest eine Chance geben würde."
Ihr Gegenüber nickte widerstrebend.
"Natürlich. Aber besser wäre es, er übt sich dabei mir gegenüber in Zurückhaltung. Besser für ihn." Er leerte in einem letzten Zug seine Tasse und stellte sie mit Bedacht vor sich auf den Tisch.
"Da wir gerade von verzweifelten Maßnahmen reden", fuhr Rach fort, "Hältst du es wirklich für eine gute Idee, diese Krulock einzuweihen? Du hast selbst gesagt, dass wir eigentlich keine Ahnung haben, ob überhaupt einem Vampir zu trauen ist, Anwesende einmal ausgenommen."
Mina ließ sich einen Moment Zeit, bevor sie antwortete:
"Die Wahrscheinlichkeit, dass Breda in die Sache verwickelt ist oder gar etwas ausplaudern würde halte ich für ein sehr überschaubares Risiko. Ophelia und sie... sie standen sich einmal sehr nahe, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Breda unsere Bemühungen sabotieren würde. Im ungünstigsten Fall wird sie wohl einfach nichts beizutragen haben. Mehr, als ein paar Fragen zu stellen, habe ich ohnehin nicht vor. Aber wenn ich vor der Wahl Wilhelm oder Breda stehe, dann vertraue ich ihr wesentlich mehr als ihm."
"Ãœberzeugt." Rachs Miene zeigte so etwas wie grimmige Zufriedenheit, dann wurde er wieder nachdenklich. "Wann gehst du zu ihr?"
"Ich muss sie zunächst einmal aufspüren."
"In der Zwischenzeit... ich frage mich, ob das nicht ein guter Zeitpunkt wäre, den alten Zirkel wieder ins Spiel zu bringen. Da sich nun doch einiges Neues ergeben hat wäre es vielleicht keine schlechte Idee, dieses von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Wer weiß, vielleicht haben wir ja diesmal Glück?" Seine Stimme bekam einen hoffnungsvollen Klang, den Mina bei ihm schon lange nicht mehr gehört hatte. Kurz zögerte sie, ob sie dieses Aufkeimen von Zuversicht durch Zweifel dämpfen sollte, entschied sich aber schließlich dafür. Der Fall für Rach sollte nicht tiefer sein als nötig, wenn sich auch dieser neue Plan zerschlug.
"Ich bin mir nicht ganz sicher, inwiefern die anderen überhaupt noch... zugänglich dafür sind. Zumal wir jetzt wissen, dass sich die Gefährdungssituation mit jeder neuen Information nur noch verschärfen dürfte."
"Aber sie stecken doch ohnehin schon mit drin!" Der Inspektor zuckte mit den Schultern. "Und abgesehen davon glaube ich nicht, dass wir das für sie entscheiden sollten."
Das war ein Punkt. Ein sehr guter sogar. Denn es war Ophelia selbst gewesen, die genau das schon einmal gemacht hatte, die sie mit ihrem Schweigen alle hatte schützen wollen - und das war auch nicht gut ausgegangen.
"Wir können ja bei sich bietender Gelegenheit einmal vorsichtig nachfragen", gab Mina nach.
"Sehr gut", Rach erhob sich von seinem Platz. "Gibt es sonst noch etwas?"
"Nein, von meiner Seite wäre das alles."
"In Ordnung." An der Bürotür zögerte er kurz und schien noch etwas hinzufügen zu wollen - doch der Impuls war offensichtlich nicht stark genug, um ihm nachzugeben. "Danke für den Kaffee", meinte er lediglich, bevor er den Raum verließ.

25.02.2017 11: 26

Rach Flanellfuß

Rach hatte sich nach dem Gespräch mit Mina in sein Büro zurückgezogen. Eine Sache an die er sich tatsächlich gut gewöhnen konnte. Ein eigenes Büro hatte durchaus seine Vorzüge. Natürlich hatte Breguyar ihn, auf seine Nachfrage hin, auf den Dachboden verbannt - direkt gegenüber vom IA Agenten. Doch statt seinen überfälligen Bericht für den Patritzier zu schreiben, kritzelte er auf dem Papier herum und dachte sowohl über Minas Zusammentreffen mit diesem Wilhelm, als auch über Nyrias Idee ein weiteres Experiment durchzuführen, nach. Ihm war ganz und gar nicht wohl bei der Sache. Was, wenn diese Verbindung Ophelia gefährden konnte? Wenn das Anliegen der Gefreiten, dem Vampir weh zu tun, auch seine Verlobte treffen würde? Allein die Vorstellung war grauenhaft. Wenn sie denn noch lebte!
Er knirschte bei dem Gedanken mit den Zähnen.
Warum musste Jules ausgerecht darauf pochen? Er wusste selber, dass es nach so langer Zeit kaum noch Hoffnung gab. Aber das kleine Etwas, was noch an Hoffnung bestand, daran klammerte er sich nur zu gerne.
Er seufzte laut, ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken und versuchte sich wieder auf das vielleicht bevorstehende Experiment zu besinnen. Noch stand es nicht fest und er wusste nicht, ob er hoffen sollte, dass es nicht stattfand oder ob es bei einer Durchführung endlich mal neue Informationen zu diesem ominösen Vampir ergeben würde. Das einzig Konkrete bisher war diese Gedankenfrequenz, wie der Zauberer Raistan Quetschkorn sie in seinem Bericht beschrieb. Dank Rogi hatte er selber sogar passend dazu einen Namen! Nur konnte er mit beiden Informationen herzlich wenig anfangen. Als die Igorina ihn damals aufgesucht hatte und den Namen Racul erwähnte, wollte er noch nichts davon wissen. Ophelia stand zu der Zeit noch nicht unter Hausarrest. Er wusste damals nur von der Verbindung zu einem Vampir. Sie waren beide zu der Übereinkunft gekommen, deswegen nicht über die Arbeit zu reden. Rogi wurde noch für tot gehalten und er selber war noch dunkler Sekretär im Dienste des Patriziers gewesen. Nun, er war es noch immer. Allerdings in Persona des Inspektors der Wache. Dies jedoch schon so lange, dass er sich dessen selbst nicht mehr sicher war. Nach Ophelias Verschwinden war ihm der Name des Vampirs natürlich wieder in den Sinn gekommen. Doch es war kaum zu glauben, wie viele Raculs mit der entsprechenden Spezies-Zugehörigkeit in der Stadt lebten. Sein Fachgebiet war Informationsbeschaffung und er hatte wirklich alles versucht! Doch keinem der Vampire konnte er eine Verbindung zu Ophelia nachweisen, noch gab es irgendetwas Verdächtiges, was seine Aufmerksamkeit erregt hätte. Die Igorina hatte ihm zu dem Zeitpunkt versichert gehabt, ebenfalls nicht mehr zu wissen und auf der Suche zu sein. Etwas, was dieser Wilhelm anscheinend mitverfolgt hatte. Wilhelm Schneider - Was bezweckte er mit seinem Angebot wirklich? Viel Informationen hatte er nicht geboten. Einer der Alten, wie Mina die Worte des Vampirs wiedergegeben hatte, solle eventuell verantwortlich gewesen sein.
Rach richtete sich wieder auf und rieb sich die müden Augen.
Racul, die offene Vampirspur und einer der Alten, was auch immer dies genau in der Vampirgesellschaft bedeuten mochte. Der Inspektor runzelte die Stirn. All diese Informationen waren so eng miteinander verknüpft, dass ein Zufall ausgeschlossen war. Dennoch hatte er Mina gegenüber nichts davon erwähnt. Weder von dem Namen des Vampirs, noch von Nyrias Idee, einer Idee um ein Experiment, das vielleicht nie zustande kommen würde. Er war aufgewühlt genug, warum also Mina damit ebenfalls belasten? Und was den Namen betraf: Dieser war in seinen Augen so nutzlos, das Wissen darum eher frustrierend! Nach all seinen Recherchen, glaubte er selber nicht mehr daran, dass dieser Vampir überhaupt existierte. Noch dazu bekam er die Namens-Information von Rogi zu einem Zeitpunkt, in welchem er in die Geschehnisse rund um deren Wiederbelebung verwickelt war. Er hatte wirklich nicht vor, das erklären zu müssen! Rogi hatte sich nicht ohne Grund zu GRUND zurückgezogen.
Er lächelte kurz bei dem unfreiwillig komischen Gedanken – nicht ohne Grund zu GRUND.
Oder war es doch möglich, dass die Igorina mehr wusste? Hatte sie jemanden gefunden und ihn nicht darüber informiert?
Der Gedanke behagte ihm ganz und gar nicht, dass sie ihm so etwas verschweigen könnte. Er teilte ihre Geheimnisse, hatte ihr bei ihrer Rückkehr zur Wache geholfen, auch wenn das nicht unbedingt im Sinne seiner Lordschaft gewesen sein mochte. Doch warum nicht die Quoten zum eigenen Vorteil manipulieren, wenn man die Möglichkeit dazu hatte? Er war allerdings nicht der einzige, der mehr über die Vergangenheit der Igorina wusste, als gut für ihn war. Magane hatte ihn zu diesem Zeitpunkt mehr als überrascht. Und soweit er wusste, hatte sie nie ein Wort darüber verloren, noch war sie auf ihn zugekommen, als er der Wache beigetreten war. Wenn er wirklich alle wieder zusammentrommeln wollte, vielleicht sollte er Magane dann als erste kontaktieren? Ihr Ansatz Ophelias Problem zu beheben, oder wenigstens zu mildern, war von allen Versuchen noch der gnädigste gewesen. Alle anderen Experimente, die folgten, stellten einen einzigen Alptraum dar.
Er seufzte und betrachtete wieder das Papier vor ihm. Das Gekritzel darauf spiegelte wohl ziemlich genau seine derzeitigen Gedanken wieder – ein einziges Wirrwarr das keinen Sinn ergab.

26.02.2017 12: 12

Nyria Maior

Der fast volle Mond schien durch das Bürofenster und hinterließ eine silberige Spur auf dem Boden. Nyria rieb sich das Kinn um das unangenehme Ziehen im Kiefer zu vertreiben. Morgen war wieder eine Nacht auf vier Pfoten angesagt, ob sie wollte oder nicht.
Im Schein einer Petroleumlampe starrte die Gefreite auf die mit zahlreichen Anmerkungen in Raistans schwungvoller Handschrift versehenen Blätter, die sowohl ihre als auch Menélaos' Hälfte des Schreibtischs bedeckten. Das war sie also, die berühmt-berüchtigte Akte Ziegenberger. Oder zumindest der Teil, den Bregs dem Zauberer damals zur Vorbereitung des Experiments als Abschrift hatte zukommen lassen.
Die Lektüre hatte sich vom Standpunkt einer Ermittlung als recht deprimierend erwiesen. Ein Fehlschlag folgte auf den nächsten. Und was nicht alles versucht worden war! Die Enormität des Unterfangens, Ophelia Ziegenbergers Zustand zu verbessern, beeindruckte Nyria jetzt, wo sie das Große Ganze vor sich hatte, in seiner Gesamtheit tief. Kein Wunder, dass Bregs über die Monate immer verzweifelter nach einer Lösung gesucht hatte.
Nachdenklich spielte Nyria mit einem Notizzettel, den sie zwischen den Blättern gefunden hatte und von dem sie vermutete, dass er zufällig dorthin geraten war. Name für den einzigartigen Zustand? hatte Raistan dort notiert. Vampiriose? Gedankenleck-Paradoxon? Krankheiten werden normalerweise nach erstem Patienten benannt --> Ziegenberger-Paradoxon? Ophelia-Komplex? Ophelia-Syndrom?
Nyria legte den Zettel zurück und schmunzelte. Der letzte Namensvorschlag war nur allzu zutreffend. Allerdings nicht auf die Verschollene selbst, sondern auf Rach Flanellfuß, Chief-Korporal von Nachtschatten und in geringem Umfang auch den Kommandeur. Sie litten alle am Ophelia-Syndrom. Selbst Jargon Schneidgut hatte Ophelia Ziegenberger und ihr Verschwinden auf den gemeinsamen Streifegängen oder in der Kantine immer mal wieder erwähnt. Vielleicht gehörte der Begriff in ein Püschologiebuch mit einer Erklärung wie 'Etwas einfach nicht zur Ruhe kommen lassen, auch wenn man schon lange nur noch ein totes Pferd reitet'.
Während die Glocken der Stadt nach und nach Mitternacht schlugen, räumte Nyria die Aktenblätter wieder zusammen. Nachdem sie nun voll im Bilde über all die Ereignisse und Maßnahmen war, verstand sie Bregs' Standpunkt und seine manchmal hart erscheinenden Entscheidungen wesentlich besser. Nicht auszudenken, wenn diese Gefreite Rattenjäger oder wie sie auch immer hieß mit ihrer komischen Gabe tatsächlich das Wachhaus in Brand gesetzt hätte! Da war es doch wesentlich entspannter, einfach einmal im Monat zum Wolf zu werden, als befürchten zu müssen, dass um einen herum die Hütte abbrannte, nur weil jemand in der Nähe ein Gedankenleck hatte.
Mit einem Knall schloss Nyria die Akte und zündete sich eine Zigarette an. Nachdenklich beobachtete sie, wie der Rauch in einer sich zerfasernden Säule zur Decke des Büros aufstieg und vom Mondlicht in feine, weiße Nebelschwaden verwandelt wurde. Sie streckte eine Hand in den Rauch und sah zu, wie ihre Finger die Schlieren zu chaotischen Mustern verwirbelten. Nyria lächelte. Immerhin eine positive Sache war bei ihrer eigenen Herumstocherei im Nebel des Falls Ophelia Ziegenberger herausgekommen - Der Kommandeur hatte sich eindeutig erfreut über die Nachricht von Parsival Aschers Ableben gezeigt. Aber warum hatte Chief-Korporal von Nachtschatten die Information nicht weitergegeben? Und wie viele weitere unterschlagene Informationen, die vielleicht für Raistan nützlich sein mochten, befanden sich noch in von Nachtschattens Besitz? Kurz überlegte Nyria, dem Chief-Korporal unter einem Vorwand einen Besuch abzustatten und dann das Gespräch unauffällig auf die Ziegenberger zu lenken, verwarf den Gedanken jedoch gleich wieder. Wenn Mina von Nachtschatten jemanden hätte über ihre Ermittlungsergebnisse informieren wollen, hätte sie es getan. Stattdessen hatte sie geschwiegen, warum auch immer.
Nyria schnippte Asche in ihren überquellenden Aschenbecher. Glücklicherweise gab es noch andere Wege der Informationsbeschaffung. Wozu beinhaltete das Szenekennertraining schließlich den Umgang mit allerlei Einbruchswerkzeug?

Wenig später befand sich die Gefreite auf dem Weg in den zweiten Stock, in der Hand eine abgeblendete Laterne und in der Westentasche eine Auswahl von Dietrichen. Von unten drang lautstarkes Schnarchen, das wie eine kleine Lawine klang, zu ihr herauf. Nyria gestattete sich ein Schmunzeln. Opal war wieder mal während der Tresen-Nachtschicht eingeschlafen.
Der zweite Stock wirkte wie ausgestorben und nur eine vereinzelte Laterne hing neben dem Treppenhaus an einem Wandhaken, aber Nyria wusste, dass sich die Bereitschaftsschicht von FROG irgendwo herumtrieb. Auf leisen Sohlen schlich sie sich an die Tür von Büro 211 heran. Kein Lichtschein drang unter der Tür hervor, doch bei Vampiren musste das nichts heißen. Nyria legte ihr Ohr an die Ritze zwischen Tür und Rahmen und lauschte. Drinnen war alles still. Die Gefreite atmete tief durch und klopfte leise an. Für den Fall, dass die stellvertretende Abteilungsleiterin von RUM wider Erwarten tatsächlich noch anwesend war, hatte sie sich eine zumindest nicht ganz abwegige Ausrede zurecht gelegt.
Auch nachdem Nyria im Kopf bis fünfzig gezählt hatte kam keine Reaktion von innen. Also gut. Nächster Schritt. Die Gefreite drückte die Türklinke herunter und schob. Abgeschlossen. Dann also auf die harte Tour. Sie sah sich ein letztes Mal im spärlich beleuchteten Korridor um, stellte die Laterne ab und zog die Dietriche aus der Tasche. Ihr Herz schlug kräftig gegen ihre Rippen. Zwar hatte sie alles Recht der Scheibenwelt, sich hier herumzutreiben, aber in flagranti beim Einbrechen in ein das Büro der stellvertretenden Abteilungsleiterin von RUM überrascht zu werden war etwas, das sie lieber vermeiden wollte.
Die meisten Türschlösser im Wachhaus waren alt und nicht besonders komplex und so brauchte Nyria nur einige Atemzüge um mit dem Schloss von Mina von Nachtschattens Bürotür kurzen Prozess zu machen. Sie atmete erleichtert auf, als das charakteristische Klicken zurückschnellender Federn ertönte. Schnell griff sie nach der Laterne, schlüpfte in das Büro und zog die Tür hinter sich zu.
Absolute Finsternis legte sich um sie wie ein schwarzer Samtmantel und Nyria atmete tief ein, um die olfaktorischen Komponenten des Zimmers auf sich wirken zu lassen. Vorherrschend war ein typisch vampirischer Grundgeruch der Unterklasse Schwarzbandler, nur ohne die leichte Kakaonote. Darum herum wanden sich die Gerüche von Papier, Tinte und Tee sowie ein Hauch jener Muffigkeit, die Nyria sofort mit dem Archiv in Verbindung brachte.
So roch also Mina von Nachtschatten. Nyria nahm eine letzte tiefe bewusste Nase voll, speicherte die Information in ihrer Erinnerung ab und öffnete die Abblendklappe ihrer Laterne.
Das kleine Ein-Personen-Büro war zu gleichen Teilen zweckmäßig und elegant eingerichtet und der zentimetergenau eingepasste Schreibtisch definitiv kein Standard-Wache-Modell. Beinahe bodenlange dunkelblaue Vorhänge verhüllten das Fenster, was erklärte, weshalb nicht einmal die Lichter der nächtlichen Stadt das Büro bei Nyrias Eintreten erhellt hatten. Ein großes Regal war bis obenhin mit Papierkram gefüllt. An der gegenüberliegenden Wand, über einem halbhohen Unterschrank, hing eine große zusammengeklappte Korktafel, wie sie für Übersichts-Materialsammlungen bei komplizierten Fällen genutzt wurde.
Nyria seufzte als sie die Laterne auf dem Schreibtisch abstellte. Bei dem ganzen Papierkram der hier herumflog konnte es den ganzen Rest der Nacht dauern, bis sie die Ziegenberger-Akte fand. Sorgfältig darauf achtend, keine verräterischen Spuren zu hinterlassen, machte sich die Gefreite an die Durchsuchung der Papiere auf dem Schreibtisch und war überrascht, das gesuchte Objekt bereits nach kurzer Zeit offen sichtbar zu ihrer Linken zu finden. Das war beinahe zu einfach. Nyria setzte sich auf den Schreibtischstuhl, zog die Akte zu sich heran und musterte den Deckel genau. Ragten fast unsichtbare Papierschnipsel oder andere Markierungen, an denen sich ein unbefugtes Öffnen erkennen ließ, darunter hervor? Doch auch eine genaue Untersuchung ergab keine Hinweise auf einen versteckten Sicherheitsmechanismus. Nyria ließ ihre Fingerknöchel knacken. Ohne Risiko kein Wettgewinn. Und keine Rache.
Eins musste sie dem Chief-Korporal lassen. Von Schönschrift verstand sie etwas. In sauberen und etwas altmodisch anmutenden Buchstaben reihten sich Daten, Orte und Beschreibungen von Gefühlen aneinander wie Perlen an einer mit Tinte geknüpften Schnur. Verweise auf verschiedene Farben, Koordinaten und Symbole, die Nyria nichts sagten. Sie hob alle Blätter die diese verwirrende Liste enthielten ab, bis sie auf den ersten tatsächlichen Bericht stieß. Er war von Hauptfeldwebel Sillybos unterzeichnet und beschäftigte sich mit Kutschen- und Hufspuren hinter dem Wachhaus. Ein weiterer SuSi-Bericht, dieses Mal von Huitztli Pochtli aus dem Labor, ging ausführlich auf den angeblich von Rach Flanellfuß verfassten Brief ein, der in einer Tüte beigeheftet war. Nyria nickte bei der Lektüre anerkennend. Wer auch immer diesen Brief gefälscht hatte, musste wirklich gut gewesen sein. Es gab keine Unterschiede zu einer von Flanellfuß freiwillig abgegebenen Schriftprobe. Allerdings hatte der Täter in ihren Augen einen entscheidenden Fehler gemacht. Auch wenn Flanellfuß' Schrift eins zu eins getroffen worden war, sowohl Ophelia Ziegenberger als auch Mina von Nachtschatten hatten den Brief vor ihm in der Hand gehabt. Warum hätte der Inspektor beim Schreiben eines offensichtlich von ihm stammenden Briefs auf das Vertuschen seiner Fingerabdrücke achten sollen?
Vorsichtig befreite Nyria das ziemlich mitgenommen aussehende Schriftstück aus seiner Tüte und schnupperte daran. Doch die Zeit hatte alle potentiell auffälligen Gerüche getilgt. Mit einem Schulterzucken schon die Gefreite den Brief zurück und griff nach dem nächsten Blatt. Was sie dort las, ließ sie aufgeregt den Atem anhalten. Anscheinend war Oberfeldwebel Ziegenberger kurz vor ihrem Verschwinden aus unbekannten Gründen durchgedreht und hatte Mina von Nachtschatten mit einem Pflock angegriffen. Der Chief-Korporal hatte auf eine IA-Anzeige verzichtet. Das war interessant. Nyria erinnerte sich an Raistans Kommentar über die Emotionalität der Ziegenberger und ihre Neigung zur Hysterie. Aber was auch immer dort genau vorgefallen sein mochte, die Akte gab keine Antworten bis auf eine von Mina von Nachtschatten hinzugefügte Notiz. In Abwehr einer Fremdeinwirkung von außen.
Ha, dachte Nyria. Immerhin etwas. Neun Lagen von Vampireinfluss, eine davon aktiv. Hatte Mina von Nachtschatten an etwas gerührt, dass das Verschwinden Ophelia Ziegenbergers ausgelöst hatte? Und verschwieg der Chief-Korporal die gesammelten Erkenntnisse vielleicht um nicht ein ähnliches Schicksal zu erleiden? Auch diese Information legte Nyria zu ihren mentalen Akten. Wem auch immer sie mit Experiment Nummer zwei in den Hintern treten würden, hatte es immer mehr verdient.
Alles weitere waren Berichte verschiedener Abteilungen über vergebliche Suchaktionen. Die einzige interessante Notiz, wieder in Chief-Korporal von Nachtschattens Handschrift war die Toterklärung der Ascher-Spur. Tot im wahrsten Sinne des Wortes dachte Nyria, als sie das Blatt in die Akte zurücklegte. Auch hier hatte Mina von Nachtschatten wieder nicht die ganze Wahrheit zu Papier gebracht.
Sorgfältig legte sie Papier auf Papier und gab sich große Mühe, beim Verschließen des Bandes wieder alles so hinzubekommen wie es vorher gewesen war. Wenn sie doch nur aus der ominösen, zuoberst liegenden Liste schlau werden konnte...
Koordinaten. Wie auf einer Karte. Nyria legte die Akte an ihren Ort zurück, griff nach der Laterne und näherte sich der zusammengeklappten Korktafel. Ein komplizierter, unlösbar erscheinender Fall. Konnte Mina von Nachtschatten tatsächlich...? Sie stellte die Laterne auf den Unterschrank und klappte die Korkflügel mit Schwung auseinander.
"Elfmeter, versenkt ins linke obere Eck." murmelte sie leise, als sie der mit zahlreichen Nadeln gespickten Karte der Stadt Ankh-Morpork ansichtig wurde. In einem komplizierten System markierten verschiedenfarbige, teilweise mit Fäden verbundene Nadeln Punkte in der Stadt. Punkte an denen Mina von Nachtschatten geglaubt hatte, Gefühle im Zusammenhang mit Ophelia Ziegenberger zu verspüren? Jede Nadel war mit ein paar knappen Notizen und Symbolen versehen. Eine Legende war am Rand der Karte festgesteckt, zusammen mit Kopien von Berichten, die sie bereits aus der Akte kannte, sowie anderen willkürlich zusammengewürfelten Fragmenten. Nyria erkannte sogar einen ihrer eigenen Berichte, den sie nach einer vierbeinigen Streife mit Goldie Beifuß vor etwa vier Monaten angefertigt hatte. Damals hatte es in den Schatten an einer Stelle, an der vor ein paar Tagen eine junge Frau verschwunden war, verdächtig nach Vampir gerochen. Allerdings war der Täter, ein äußerst verwirrter Zugewanderter, ein paar Tage später gestellt worden.
So lange sie auch auf die Karte starrte, falls es irgendein System in den Markierungen gab, erschloss es sich Nyria nicht. Alle Stecknadelkopffarben waren in sämtlichen Vierteln bunt gemischt. Leonata hätte vielleicht mehr damit anfangen können, ging der Gefreiten durch den Kopf. Als Mathematikerin kannte sie sich mit chaotischen Systemen aus, doch Nyria hatte keine Ahnung, wie sie ihre Schwägerin zweiten Grades ungesehen hierher schaffen konnte. Und vielleicht waren all die Markierungen auch tatsächlich nicht mehr als das, was sie zu sein schienen. Chaos. Das trotzige Reiten eines toten Pferdes.
Gerade als Nyria die Tafel wieder schließen wollte, stieß ihre Fußspitze gegen etwas, das ein leises, metallisches Klirren verursachte. Die Gefreite nahm ihre Laterne wieder an sich und ging in die Hocke. Eine einzelne Stecknadel mit grünem Glaskopf lag auf dem Boden. Unbemerkt von ihr musste sie beim Aufklappen aus dem Stadtplan gefallen sein. Nyria hob die Nadel auf und musterte die billig gedruckten Straßen Ankh-Morporks gründlich, doch sie konnte beim besten Willen nicht erkennen, wo genau sich die Nadel verabschiedet hatte.
Ach, ist doch auch egal, dachte sie und rammte die Nadel in die Mitte der Straße Schlauer Kunsthandwerker. In dem Chaos fällt das eh nicht auf.
Vorsichtig, um nicht aus Versehen noch weitere Nadeln zu verlieren, klappte Nyria die Tafel wieder zu. Auch wenn sie nichts über das endgültige Schicksal Ophelia Ziegenbergers erfahren hatte, war der heimliche Besuch in Mina von Nachtschattens Büro sehr aufschlussreich gewesen. So hatte sie zumindest den berühmten, angeblich von Rach Flanellfuß verfassten Brief im Original bewundern können, und die Randnotiz über eine mögliche Fremdeinwirkung auf Ophelia Ziegenbergers Handlungen dürfte Raistan sehr interessieren.
Nyria blendete die Laterne ab und lauschte an der Bürotür auf verdächtige Geräusche auf dem Korridor, bevor sie sich wieder aus dem Büro stahl. Mit ihren Dietrichen machte sie sich daran, die Bürotür wieder abzuschließen, und brauchte drei Anläufe dafür. Eine Tür auf Diebesart zu öffnen war einfach. Sie auf die gleiche Weise wieder zu verschließen war wesentlich schwieriger.
Opals geradezu tektonisches Schnarchen erfüllte immer noch das Treppenhaus, als Nyria nach getaner Arbeit in ihr eigenes Büro zurückkehrte. Sie steckte sich eine Zigarette an und begann, eine Nachricht an Raistan zu verfassen. Sie hatte gerade die Anschrift zu Papier gebracht, als sie inne hielt und die Mondspur betrachtete, die mittlerweile ein gutes Stück durch das Zimmer gewandert war. Sie hatte soeben einen Einbruch bei ihrer eigenen Kollegin begangen, einzig aus dem tief empfundenen Gefühl, damit dafür zu sorgen, dass einige Leute endlich bekamen, was sie verdienten. Verdacht auf Fremdeinwirkung. Dieser Gedanke ließ sie nicht los. Wahrscheinlich war es für Chief-Korporal von Nachtschatten nicht sonderlich angenehm gewesen, gepfählt zu werden, genau wie jeder Kontakt mit Silber sich für sie selbst als äußerst schmerzhaft gestaltete. Ein unbekannter Vampir verdiente eindeutig eine Faust in die Reißzähne. Bregs verdiente endlich eine Sorge weniger in seinem Leben. Und vielleicht verdiente die ganze Wache und vor allem alle, die immer noch vergeblich auf ein Lebenszeichen von Ophelia Ziegenberger hofften, endlich Klarheit und möglicherweise auch einen Hinweis darauf, wo die Leiche vergraben war.
Ein Tintentropfen löste sich von Nyrias Schreibfeder und zerplatzte in einem Klecks auf dem Papier. Die Gefreite steckte die Feder zurück in das Tintenfass, legte die Füße auf die Schreibtischplatte und inhalierte genüsslich den billigen, starken Tabak. Vielleicht sollte sie es sich einfach eingestehen. In dem Moment, in dem sie in der Küche der Breguyars jene spontane Wette vorgeschlagen hatte, hatte sie sich selbst mit dem Ophelia-Syndrom infiziert.

27.02.2017 6: 43

Magane

Inzwischen hatte Magane es wirklich mit jedem Gegenstand aus der Kiste versucht und so langsam schlichen sich Wut und Frustration in ihren sorgfältig geleerten Geist. Dieser Kram mochte zwar aus Ophelias Besitz stammen, aber jeder einzelne Gegenstand war felsenfest davon überzeugt genau hier her zu gehören, alles führte das Pendel, wenn es überhaupt reagierte, nur zum Wachhaus. Sie brauchte dringend eine Pause. Vielleicht war ja trotz der inzwischen sehr vorgerückten Stunde noch ein freundliches Wesen am Tresen oder in der Kantine, jemand mit dem man unverbindlich quatschen, oder ein kleines Spielchen wagen konnte. Mag schlenderte die Treppen herunter. Wieder kam ihr niemand entgegen - War das auch eine Folge des Personalmangels? Früher hatte man im Wachhaus keinen Schritt tun können ohne jemandem auf die Füße zu treten. Sie kam zum Tresen. Der diensthabende Rekrut schlief tief und fest. Der Wächter war dem Feldwebel unbekannt und sie hatte auch nicht vor diesen Umstand zu ändern, sollte doch irgendjemand anderes den Jungen aus seinen Träumen reißen und zur Schnecke machen.Sie warf einen Blick auf den Streifenplan - Goldie war auch nicht da, die Werhündin lief grade mit Nyria die Schattenrunde, was nach wirklich viel Spaß aussah... Schade, damit kam eine kurze Trainigseinheit auf dem Hof auch nicht in Frage. Ihr Blick fiel auf den Kauknochen, den die Gefreite unter dem Tresen hatte liegen lassen. Vielleicht war es an der Zeit zu testen ob das Pendeln überhaupt funktionierte. Magane hob den Kauknochen auf, hinterließ aus einem Tütchen, das sie in der Tasche ihres Uniformhemdes hatte, eine kleine Spur ihrer Lieblingsteemischung, damit Goldie wusste wen sie fragen musste und kehrte dann mit ihrer Beute leise zurück in den ersten Stock.
Die Hexe leerte ihren Geist, sie genoss diese Übung inzwischen wirklich, auch wenn es ihr anfangs extrem schwer gefallen war. Dann nahm sie den Kauknochen in die rechte Hand und das Pendel in die Linke, nahm die richtige Position über der Karte ein und streckte die Linke genau über dem Zentrum aus. Mit geschlossenen Augen erfühlte sie die Restenergie der Besitzerin an dem Knochen, sie war als deutliche Spur zu erkennen, fast so deutlich wie die Zahnabdrücke. Sie stellte die Verbindung zwischen dem Pendel und dem Kauknochen her und das Pendel begann nahezu augenblicklich zu ziehen. Sie gab nach und als sie nur wenige Augenblicke später die Augen aufschlug zeigte das Pendel genau auf eine Kreuzung auf der Schattenrunde, wo kein menschlicher Wächter sich nachts freiwillig aufhalten würde. Demnach funktionierte es. Wenn sie also nun davon ausging, dass Ophelia am Leben und in der Stadt war, musste die Sache auf diese Art eigentlich erfolgversprechend sein. Sie brauchte jetzt nur noch einen wirklich persönlichen Gegenstand, etwas was nur der Verschwundenen gehörte. Sicherlich war es zu früh sich an die anderen zu wenden, das würde nur falsche Hoffnungen wecken und am Ende wäre es doch nur ein weiterer Fehlschlag und würde Wunden aufreißen, die sich grade zu schließen begannen. Nein, sie brauchte handfeste Hinweise bevor sie zu Mina oder Rach ging. Wer könnte einen persönlichen Gegenstand haben... wer hatte engen Kontakt zu Ophelia... wer würde ihr etwas geben? Mina und Rach hatten sicherlich etwas was in Frage käme, aber die beiden würden nachfragen und dazu war es noch zu früh. Ophelias Familie hatte wahrscheinlich auch genug, aber die kannten sie nicht und würden ihr ohne vernünftige Erklärung sicher nicht helfen. Blieb eigentlich nur noch Rogi. Der Igorina brauchte sie wenigstens nicht erklären, dass Aufgeben für sie keine Option darstellte, aber Fragen stellen würde diese auch. Außer sie war gar nicht da... Rogi war schließlich auch nicht immer in ihrer Zelle, sie war noch immer Ausbildungsleiterin und als solche war sie sehr häufig in der Kröselstraße, oder mit Rekruten unterwegs, oder sie kümmerte sich um die Taubenschläge in beiden Wachhausern... genügend Zeit um sich die Zelle der Igorina einmal intensiver anzusehen. Magane öffnete die unterste Schublade ihres Schreibtisches und nahm ein kleines zusammengerolltes Samtetui heraus. Früher war das einmal ihr wichtigstes Werkzeug gewesen, aber jetzt waren die Dietriche schon lange nicht mehr zum Einsatz gekommen.
Sie ging hinunter in den Keller um nach Saugi zu sehen - der Geier fühlte sich immer so einsam, wenn grade kein Mordfall untersucht wurde. Auf dem Weg in die Pathologie überprüfte sie mit einem Klopfen ob Rogi sich in der Zelle aufhielt. Hinter der Tür blieb es still, trotzdem ging sie zunächst weiter um dem Geier ein paar Fleischstücke zu geben, die sie in einem der Kühlfächer für ihn frisch hielt. Der Feldwebel ließ dabei die Tür offen und lauschte konzentriert auf Bewegungen im Flur, aber draußen rührte sich nichts. Anscheinend war sie allein im Keller, wenn man von Saugi einmal absah. Sie tätschelte dem hässlichen Vogel seinen besonders hässlichen Kopf und schlich sich dann zurück auf den Flur. Der Geier verabschiedete sie mit einem widerlichen Glucksen.
An Rogis Zelle angekommen zögerte Magane kurz, es war falsch und es blieb falsch. Eigentlich sollte sie einfach die anderen offen fragen, sie mit ins Boot holen. Aber was wenn es dann doch nicht funktionierte... Zweifel waren sonst nicht unbedingt ein Teil ihrer Persönlichkeit, aber es hatte in dieser Geschichte schon zu viele magische Fehlschläge gegeben. Während sie noch über die Alternativen nachdachte - dabei die negativen Konsequenzen des Einbruchs sorgfältig ignorierte und die Möglichkeit erwischt zu werden komplett ausklammerte - taten ihre Hände was sie als Jugendliche gelernt hatte, sie öffneten die zuvor verschlossene Tür. Das funktionierte tatsächlich ohne das man darüber nachdachte immer noch am besten. Sie zog die Tür hinter sich, bis auf einen kleinen Spalt, wieder zu, entzündete eine kleine Lampe und sah sich in der trotzdem düsteren Büro-Zelle um. Obwohl sie die Igorina seit vielen Jahren kannte und sie schon viel zusammen erlebt hatten, war Magane nicht oft hier unten gewesen und sie verband auch nicht unbedingt die angenehmsten Erinnerungen mit diesem Raum.
Wo würde Rogi ein Andenken an Ophelia verstecken? Ihr Blick fiel auf die Eistruhe. Sie schauderte. Nein, da würde sie erst hineinsehen wenn es sich nicht mehr vermeiden ließ. Rogis Schreibtisch sah - wenn man mal davon absah, dass es sich um einen ehemaligen Sektionstisch handelte und nicht um das Standartexemplar aus Holz - ihrem verblüffend ähnlich. Die gleiche Menge an alten und aktuellen Akten, die gleichen Spuren von Arbeit, sogar die Tasse stand an etwa der gleichen Stelle. Aber auf dem Schreibtisch würde sie nichts finden, so offen sichtbar, das wäre sicher sogar für die leidensfähige Igorina zu quälend. Blieben die Aktenschränke unter dem Schreibtisch, der Apothekerschrank und die Eistruhe. Die Aktenschränke enthielten wie Magane mit wenigen schnellen Blicken feststellen konnte tatsächlich Akten, unter anderen Umständen wären diese vielleicht eine interessante Lektüre gewesen, aber jetzt konnte sie sich damit nun wirklich nicht beschäftigen. Sie ging hinüber zum Apothekerschrank, der das deutlich vielversprechendere Objekt war. Wahllos zog sie eine Schublade auf, die das übliche Gerümpel aus Büroutensilien enthielt, in der nächsten war KommEx-Kram, dann kam eine die verschiedene Schlüssel enthielt. In der daneben befanden sich stapelweise Todesanzeigen. Eine Reihe darunter weiter links waren igorspezifische Dinge, wie teilweise kaputtes OP-Besteck und Dinge, die man sich lieber nicht zu genau ansah. Was auch dank der teils abgebrochenen Skalpelle nicht unbedingt ungefährlich war. Der Feldwebel untersuchte ihre Hände sicherheitshalber auf Schnittwunden. Magane trat einen Schritt zurück und sah sich ratlos um, für eine systematische Suche würde die Zeit nicht reichen, mit jeder Minute hier drin stieg die Gefahr erwischt zu werden. Also brauchte sie schnell einen Geistesblitz. Sie atmete tief aus und brachte damit die Lampe zum Flackern. Durch das Flackern blinkte etwas auf. Was Glänzendes hier in dieser Umgebung mit liebevoll gezüchteten Spinnen, die geschmackvolle Netze spannen, flauschigen Staubschichten und kunstvoll patinierten Metallteilen. Merkwürdig, dass ihr das vorher nicht aufgefallen war, sie bückte sich, das Glänzende war einer der unteren Schubladenknäufe. Rogi musste diese Schublade sehr häufig benutzen, oder sie hatte sie besonders häufig benutzt und die Patina nicht erneuert. Das hatte sicherlich einen Grund. Sie zog die Schublade auf. Magane erkannte sofort was sie hier vor Augen hatte, es handelte sich um eins der dunkelsten - wenn nicht sogar das dunkelste - Kapitel in Rogis Leben, das Betäubungsmittel, von dem sie abhängig war und mit dem sie sich sogar umgebracht hatte. Hier gab es eine klare Verbindung zu Ophelia, sie hatten in der Zeit zusammen gelebt und soweit sie wusste hatte Ophelia sogar versucht sie von dem Zeug wegzubringen. Unter dem Spritzbesteck lag etwas weißes, wie ein Tuch. So etwas gehörte nicht hier her, sie nahm es heraus und betrachtete es. Es handelte sich tatsächlich um ein Taschentuch mit einer hübschen Monogrammstickerei in der Ecke - OZ - na, wenn das kein persönlicher Gegenstand war, dann wusste sie auch nicht weiter. Magane steckte das Taschentuch ein, nahm sich einen Stift und einen Zettel aus einer der oberen Schubladen und schrieb eine kurze Notiz, die sie anstelle des Taschentuchs unter das Spritzbesteck legte. Zeit zu verschwinden, sie schob die noch offenstehenden Schubladen wieder zu und ging leise zur Tür, damit sie lauschen konnte ob die Luft auf dem Gang rein war. Dann schlüpfte sie aus der Bürozelle und schloss diese mit dem Dietrich wieder zu, das dauerte zwar einen Moment länger als das Aufschließen ging aber ebenfalls recht zügig.
Auf dem Weg zurück in ihr eigenes Büro beeilte sich Magane nicht besonders, das wäre nur verdächtig und schließlich gab es genügend Gründe für die Leiterin der Abteilung Suchen und Sichern sich zwischen dem Wachhauskeller und ihrem Büro hin und her zu bewegen.
In ihrem Büro breitete sie die Karte wieder auf dem Boden aus. Bedauerlicherweise waren dort noch immer keine Markierungen drauf, weil Senray nachdem sie sich beruhigt hatte zwar von einer sehr interessanten Wahrnehmung hatte berichten können aber leider keinen Ort dazu benennen konnte. Magane leerte ihren Geist und stellte sich in Position, langsam bekam sie darin richtig Übung. Dann nahm sie das Taschentuch in die rechte und das Pendel in die linke Hand, beruhigte ihre Atmung und streckte ihre mentalen Fühler in Richtung des Taschentuches aus. Das Tuch wusste sehr genau wem es gehörte, sie konnte sogar beinahe ein Bild von Ophelia vor ihrem geistigen Auge sehen, so stark war die Restenergie. Die Hexe stellte die Verbindung zu dem, bis dahin reglos hängenden, Pendel her und spürte beinahe sofort einen Zug in eine Richtung. Leider klopfte es genau in diesem Moment an der Tür und der Feldwebel sagte automatisch "Herein", ohne sich darüber im klaren zu sein, dass sie dann erstmal würde erklären müssen was sie da tat.

28.02.2017 8: 01

Rach Flanellfuß

Nachdem sie ihn hereingebeten hatte, blieb er sogleich verwundert in der Tür stehen. Magane saß nicht an ihrem Schreibtisch, sondern stand direkt vor ihm. Sie hatte die Augen geschlossen und wirkte alles andere als anwesend. Die Wächterin hatte die Stadtkarte vor sich auf dem Boden ausgebreitet und ... pendelte? Natürlich, sie war eine Hexe, dies war ihm durchaus bewusst, dennoch... selbst nach allem was er schon erlebt hatte, war alles was mit Hexerei einherging etwas, das normalerweise auf dem Land, weit weg von Ankh-Morpork, passierte.
"Komme ich ungelegen?", fragte er vorsichtig und ihre Augenlieder flatterten.
Ihre Hand schloss sich fester um den Stofffetzen in der einen, während die andere langsam das Pendel sinken ließ. Er schloss schnell die Tür hinter sich und trat etwas näher, als sie schließlich die lange Kette fallen ließ und diese sich zu einem Haufen um den Kristall auf der Karte bildete.
"Alles in Ordnung?", hakte er nach und schließlich sah sie ihn an.
"Tut mir Leid, ich war nicht ganz da.", entgegnete sie, als wäre nichts weiter passiert. "Was kann ich für dich tun?"
Er stand direkt vor der Karte, noch immer darüber verwundert, dass das Pendeln zu Maganes Repertoire gehörte. Er war versucht sie zu fragen, doch es ging ihn zum einen nichts an und er gehörte wirklich nicht zu der Sorte, die sich für so etwas interessierte oder gar daran glaubte.
"Nun um gleich auf den Punkt zu kommen", setzte er an und atmete noch einmal tief ein. "Es hat sich etwas ergeben und ich dachte mir, es wäre gut, wieder alle zusammen zu trommeln, die an der Suche nach... Ophelia beteiligt waren."
Dass er bei dem Namen seiner Verlobten stockte, war seinem Gegenüber sicher nicht entgangen und er seufzte innerlich. Sie sah zur Karte und schielte nur kurz zum Pendel, bevor sie sich zu ihrem Schreibtisch begab, dabei hatte sie die Hand noch immer fest um den Stoff geschlossen. Sie deutete mit der freien Hand auf einen der Sessel ihr gegenüber und setzte sich. Er trat an der Karte vorbei und setzte sich zu ihr, während sie die Hände auf dem Tisch zusammenfaltete. Er runzelte die Stirn. Irgendetwas entging ihm hier! Er strich sich durch die Haare und schloss für einen kurzen Augenblick die Augen um sich wieder auf Magane zu konzentrieren, allerdings stand die Welt plötzlich still, als ihm bewusst wurde was er die ganze Zeit vor Augen hatte.
Es war nicht irgendein Stofffetzten! Es war Ophelias Taschentuch! Er hatte das Monogramm nur für einen Augenblick gesehen, doch er war sich absolut sicher, dass es sich um eines ihrer Tücher handeln musste. Alles in ihm krampfte sich zusammen und er atmete mehrfach tief durch, im kläglichen Versuch, nicht die Fassung zu verlieren. Doch er konnte nicht, er wollte nicht. Er musste fast jeden Tag den selben Kampf ausfechten. Das Wachhaus war ein Ort voller Erinnerungen an Ophelia und er schien inzwischen für alles gewappnet. Doch ausgerechnet hier einen persönlichen Gestand zu sehen, hatte er nicht erwartet. Seine Reaktion war so heftig, dass sein ganzer Körper bebte. Sein Herz schlug schneller und er hörte nur noch das Rauschen seines Blutes in den Ohren. Er ballte die Fäuste in einem verzweifelten Versuch, wieder Herr seiner selbst zu werden, doch schließlich gab er auf und ließ den Tränen freien Lauf. Magane redete beruhigend auf ihn ein, doch er konnte weder antworten, noch blieben ihre Worte in seinem Sinn. Wieso hatte sie eines von Ophelias Taschentüchern? Wieso pendelte sie damit? Es ergab keinen Sinn, nicht den geringsten! Seine Gedanken drehten sich im Kreis und er kam zu keinem vernünftigen Schluss. Alles war nebensächlich und die Welt um ihn herum nicht vorhanden.
Es klapperte Geschirr und er roch Tee. Ihm wurde eine Tasse bestimmt in die Hand gedrückt und er blinzelte. Maganes Gesicht war direkt vor ihm und sie sah ihn freundlich an, während sie ihn dazu brachte, zu trinken. Nach ein paar Schlucken fühlte er sich tatsächlich besser. Die wohlige Wärme und das Aroma waren herrlich und er hatte das Gefühl, die Welt wäre nicht mehr so düster, wie einen Augenblick zuvor. Er wischte sich über die Augen und schniefte dabei. Sie schien zufrieden und zog sich wieder auf ihren Platz zurück. Vor ihm auf dem Schreibtisch war nicht nur ein Tablett mit einer Teekanne, sondern auch ein Teller mit Keksen platziert worden. Nichts davon hatte er mitbekommen!
"Tut mir leid ich... es..."
Er verstummte wieder. Es war sinnlos auch nur versuchen zu wollen, sich zu erklären. Seine Nerven lagen blank, er schlief kaum. Er konnte vermutlich froh sein, dass er den Zusammenbruch nicht in der Kantine oder auf Streife gehabt hatte. Er seufzte und sank beschämt weiter in den Sessel, bevor er einen weiteren Schluck trank.
"Schon gut, ich sag‘ s bestimmt niemandem", sagte sie und er zweifelte nicht daran. Allerdings war ihm durchaus bewusst, dass das Gerede um ihn zugenommen hatte. "Erzähl mir einfach was los ist."
"Was los ist? Oh, ich glaube, du weißt sehr genau was los ist.", sagte er und stellte die Tasse schließlich vor sich ab. "Die Frage ist: Was machst du mit Ophelias Taschentuch?"
Er wusste selbst nicht so genau, warum er in die Offensive ging. Er war noch immer aufgewühlt von der Situation und alles war besser als wieder die Nerven zu verlieren - selbst unbegründete Wut.
Sie verzog für einen kurzen Augenblick ihre Mundwinkel, während er seinen Blick schweifen lies, doch besagter Gegenstand war nicht mehr zu sehen. Sie musste ihn sofort verstaut haben, als sich die Gelegenheit dazu ergab.
"Rach, du bist nicht der einzige der noch Hoffnung hat, Ophelia zu finden. Ich suche sie und ich..."
Er schlug mit der Faust auf den Tisch und sein Gegenüber zuckte erschrocken zusammen. Gut so! Sie klang so zuversichtlich und doch war ihm gerade jetzt nicht danach sich diesen Mist anzuhören. Die Karte, das Pendel und Ophelias Taschentuch. Er verstand nichts von Hexerei aber er war kein Idiot. Wenn sie wirklich glaubte mit diesem Humbug Erfolg zu haben, dann war sie damit bei ihm an der falschen Adresse. Warum ausgerechnet jetzt? Wäre es noch kurz nach Ophelias Verschwinden gewesen, hätte er den Unsinn vielleicht noch gestattet.
"Du willst Ophelia durch das Pendel finden, nach so langer Zeit?", presste er zwischen den Lippen hervor und sie nickte ihm zu.
"Rach, hör zu..."
"Nein!", brachte er sie bestimmt zum Schweigen und stand auf. "Ich weiß wirklich nicht was du bezweckst. Glaubst du wirklich, jetzt noch damit Erfolg zu haben? Dann hör auf, bevor du in eine Sackgasse nach der anderen rennst. Sieh mich an! Willst du so enden? Halt dich nicht selbst zum Narren! Pendeln... bist du dir sicher, dass dein Unterbewusstsein nicht deine Hand lenkt, dir Hoffnung machen will? Nein, nicht mit mir!"
Er schnaubte abfällig und machte auf dem Absatz kehrt. Die Tür fiel mit einem lauten Knall hinter ihm ins Schloss und er verließ auf dem schnellsten Weg das Wachhaus. Weg von allen Erinnerungen. Es war ihm egal was Magane zu sagen hatte. Er konnte keinen weiteren Hoffnungsschimmer ertragen! Erst Nyria, dann Wilhelm und jetzt das! Hoffnung brachte ihn langsam aber sicher um den Verstand. Was er brauchte war Gewissheit.

01.03.2017 8: 17

Ophelia Ziegenberger

Es gab verschiedene. Alte, junge, freundliche, bösartige, solche die Blut tranken und solche, die...
Racul schlug unvermittelt seine Augen auf, nur um in der tiefschwarzen Finsternis seines Sarkophags an die Unterseite des steinernen Deckels zu starren.
Das waren ihre Gedanken, nicht die seinen!
Ein schnelles, wenn auch überaus vorsichtiges mentales Tasten in Richtung seiner Gefangenen bestätigte dem greisen Vampir seine Befürchtungen: Die junge Frau "sendete" wieder!
Von seinen Lippen löste sich ein Fluch.
So lange hatte sie an sich halten und ihren ersten Erfolg vor einigen Wochen aufrechterhalten können. Etwas, das er ihr zu diesem Zeitpunkt noch nicht gänzlich zugetraut hatte. Aber sie hatte ihn überrascht, ausnahmsweise sogar positiv. Sein Illusionstrick damals schien sie dermaßen geschockt und aufgewühlt zu haben, dass er neue Energien in ihr zutage gefördert hatte. So, wie Erdbeben verborgene Schätze aus tieferen Ebenen aufwerfen konnten, so hatte sein Eingreifen dazu geführt gehabt, dass sie damals in nur einer Sekunde mit all ihren Wesensaspekten zugleich den längst überfälligen Entschluss traf, sich ihm vollständig zu verschließen und ihr Inneres vor ihm zu verbergen. Eine so intuitive und ganzheitliche Reaktion war dadurch zustande gekommen, dass es allen Ärger zuvor wert gewesen war – weil es endlich Erfolg zeitigte! Ihm war das nur recht gewesen. Es war eine Erholung, sich nicht mehr um eine zusätzliche Abschirmung ihres Geistes zur Außenwelt hin bemühen zu müssen. Eine Erholung, an die er sich anscheinend zu schnell gewöhnt hatte!
Er schloss mit genervtem Seufzen die Augen und fügte sich der unerwarteten Notwendigkeit, die geistigen Barrieren um sein unterirdisches Labyrinth neu zu ziehen, ihre wirren Gedanken wieder darin zu umfangen und zu verbergen.
Was für ein unnötiger Aufwand! Wo die Frau es doch endlich verstanden hatte, wie die geistigen Wände um ihren Sinn zu errichten waren! Wollte sie sich an ihm rächen? Er würde Sebastian zu ihr schicken müssen, um seinem Missfallen durch neuerliche Sanktionen Ausdruck verleihen zu lassen.
Etwas irritierte ihn. Ihre Gedanken wirkten unstrukturierter als sonst, ihre Gefühle konturlos, verwaschen, verschwommen? Etwas war anders, als zuvor! Ganz anders!
Eine Ahnung befiel ihn. Und mit dieser stieg Sorge in ihm auf, ebenso wie erster Groll.
Sollte es möglich sein, dass seine Igors etwa ihre Pflichten vernachlässigt hatten?
"Igor!"
Außerhalb seines kalten Behältnisses erklang eilfertig die Stimme des gerufenen Dieners.
"Ja, Herr?"
"Öffne meine Schlafstätte!"
Der Diener tat, wie ihm geheißen und nur einen Augenblick später stach dem alten Vampir flackernder Kerzenschein in die Pupillen. Er beeilte sich, den Schmerz fortzublinzeln und sich nichts anmerken zu lassen. Scheinbar ungerührt erhob er sich. Sein langer Umhang schliff schwer über den Rand des großen Steinsarges, als er diesen verließ.
Ein leises Murmeln setzte in seinem Kopf ein, wie die verträumte Stimme einer klatschianischen Märchenerzählerin.
Er war sich inzwischen fast sicher, was sich als Ursache für Ophelias neuerlichen Ausfall herausstellen würde. Dies hatte weder mit ihren leicht zu identifizierenden Träumen zu tun, diesen sanft duftenden Bildern ihres schlaftrunkenen Geistes, noch mit der melancholisch-schwungvollen Wirkung irgendwelcher Drogen auf sie. Dies war viel ernster.
Racul holte mit einer Hand zum Schlag aus und der bucklige Diener flog mit ungebremster Wucht gegen die Wand. Dort rappelte er sich hastig auf, der Inbegriff Verzeihung heischender Unwissenheit.
"Herr! Waf habe ich getan? Waf ift ef, waf euch erzürnt hat? Ich will allef wieder gut machen!"
Die Stimme des alten Herrn und Gebieters kochte vor Zorn, ungewohnt tief und fest, wenn auch immer noch vergleichsweise leise.
"Ihr habt meine Weisungen vernachlässigt! Wie konntet ihr es wagen? Die Wächterin! Wann war das letzte Mal jemand bei ihr? Wer hat nach ihr gesehen?"
Der Igor erblasste und noch bevor er etwas erwidern konnte, wusste der Vampir, welcher Fehler ihm unterlaufen war – ihnen allen.
Er hatte ihn unterschätzt! Wieder einmal!
"Sebastian? Er ist die letzten Male zu ihr gegangen, um ihr die Mahlzeiten zu bringen? Und ihr habt ihn dabei nicht abgelöst?"
Die Stimme des Bediensteten zitterte nun und er krümmte sich regelrecht vor Gram, als er zu erklären versuchte, wie es dazu hatte kommen können.
"Herr, bitte! Ef tut mir unfagbar leid! Frau Pofpichf Beerdigung und deren Nachlaffverwaltung haben unf fehr eingefpannt. Wir mufften doch ftändig im Hauf anfutreffen fein und allerhand Dinge klären! Ein Kommen und Gehen, daf Hauf voller Menfen und wir mittendrin. Ef durfte doch auch niemand unbeobachtet bleiben, fallf herumgefnüffelt würde! Und der Herr Febaftian bot fich freiwillig an, die Routine fu übernehmen, nur für ein oder fwei Tage..."
Racul hob zürnend seine Krallen bewährte, knochige Hand.
"Schweig! Er hat es mit seiner Fürsorge offenbar schon in nur wenigen Tagen geschafft, ernsthaftes Unheil anzurichten. Kümmert euch um sie, sofort!"
"Jawohl, Herr, fofort, Herr!"
Der Igor stürmte fort von ihm, aus der Gruft und in das verwinkelte Labyrinth, bereits im Hinauseilen darum bemüht, seine Frau hinzuzuziehen.
Der Vampir folgte ihm gemesseneren Schrittes. Er war nicht erpicht darauf, die Nähe seiner Gefangenen zu suchen. Aber er musste sich direkt davon überzeugen, wie es um sie stand.
Als er die offen stehende Tür ihrer Wohnkammer erreichte, fand er seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Das geschäftige Treiben seiner beiden Igors wurde durch ihre nervösen Stimmen noch unterstrichen. Und über all dem schwebte ein kränklicher Geruch wie von brakigem, entzündungsgesättigtem Blut, sowie ihre fiebrige Präsenz.
Racul hielt mit gekreuzten Armen im Türrahmen inne.
"Nun?"
Igorina richtete sich neben dem Bett auf und blickte ihm mit gerunzelter Stirn entgegen.
"Er hatte fie wieder in der Kammer untergebracht, ohne unf davon fu berichten, Herr. Ohne Decken. Fie hat vor allem hohe Temperatur, sehr hohe. Und Fwierigkeiten mit dem Atmen. Ef ift ihre Lunge. Ihr Fustand ist kritif, daf will ich gar nicht leugnen. Aber daf bekommen wir wieder hin, Herr, ganf gewiff. Wir haben fon kräftig Holz nachgelegt, fo daf hier ordentlich eingeheizt wird. Ef kommen gleich Decken dafu. Und heife Brühe, die ich ihr eintrichtern werde. Kühle Wickel. Wir rühren fieberfenkende Falben und Dämpfe an. Wirklich, Herr, wir korrigieren daf, feid unbeforgt!"
Igor, der sich soeben darum bemüht hatte, die junge Menschenfrau mit einem eilig zusammen getragenen Kissenberg im Rücken zu stützen und ihr dabei Wasser in winzigen Schlucken einzutrichtern, nickte heftig.
"Herr, wir kümmern unf um fie, vertraut unf!"
Einen Moment lang ließ er sein Augenmerk auf ihr ruhen.
Ophelia schien nicht viel von dem mitzubekommen, was mit ihr geschah. Zwar blickte sie aus halb geschlossenen Lidern in seine Richtung, doch sie sah ihn nicht wirklich. Ihre Pupillen wirkten verschleiert, das Haar umrahmte ihr bleiches Gesicht wie verschwitzt klebende dunkle Ranken, ihre Wangen waren zwar gerötet aber das auf höchst ungesunde Weise. Und ihr zusammenhangloses Fabulieren schwappte enervierend gegen die Ränder seines Bewusstseins.
"Gebt ihr von der Teemischung!"
Die beiden Igors sahen zugleich alarmiert auf und wechselten einen schnellen Blick miteinander, ehe sein buckliger Diener vorsichtig einwandte: "Herr, erinnert ihr euch, waf wir beim letzten Mal anmerkten? Ef ift nicht mehr viel übrig. Nur noch eine Notfall-Ration, fozufagen. Mit viel Glück können wir die Portion vielleicht etwaf ftrecken aber..."
Seine Stimmung verfinsterte sich zusehends. "Umso schlimmer, dass ihr noch immer keine Lösung dafür gefunden habt! Meine Anweisung behält aber Bestand! Es ist schon unter normalen Umständen schwer genug, ihren Gedanken zuvorzukommen, um sie abzufangen. Aber in diesem Zustand... sie ist völlig unberechenbar! Ich kann nicht jedem einzelnen Gedanken hinterherjagen und dabei meine Abschirmung aufrecht erhalten, das ist nicht möglich. Sie strahlt in alle Richtungen zugleich aus!"
Die Igors blickten betreten zu Boden. Diesmal antwortete sie mit bedauerndem Tonfall. "Ef hamdelt fich nicht um eine normale Kräutermifung, Herr. Die Hexe hat Magie einfliefen laffen. Unf ift ef nicht möglich, den Herftellungfprozess furückfuverfolgen und ef ihr nachfumachen."
Er runzelte unwillig die Stirn. "Wir werden uns mit der Problematik auseinander setzen. Doch erst mal..." Er deutete mit anklagender Geste auf die Halb-Besinnungslose. "Trichtert ihr das Zeug zur Not mit Gewalt ein! Und ich erwarte von euch, dass ihr sie in spätestens zwei Stunden wieder in einen stabilen Zustand gebracht habt! Habt ihr mich verstanden?"
Die beiden nickten synchron.
Racul löste sich mit einem Ruck vom Rahmen.
Er hatte ihr Wort, also würden sie seine Erwartungen auch erfüllen. Sie wussten schließlich, wie viel von ihnen abhing. Es war nicht nötig, sie weiter zu beaufsichtigen. Stattdessen würde er sich um etwas anderes Wichtiges kümmern müssen. Um jemand anderes!
Diese falsche Schlange hat meine Geduld mit ihm einmal zu oft ausgereizt. Es wird Zeit für nachhaltige Konsequenzen.

Kühle Finger strichen das Haar beiseite und ein feuchtes Tuch wurde immer wieder über ihre Stirn getupft, plätschernd in einer Wasserschüssel gespült und erneut an den Konturen ihres Gesichtes entlang geführt. Es lag eine nahezu intime Vertrautheit in der Art und Weise, wie sich jemand um sie sorgte, wie dieser Jemand schweigend an ihrer Seite saß. Die dunkel-fiebrige Welt hinter ihren geschlossenen Augenlidern wurde durch die allgegenwärtigen Kräutergerüche, die wie feine Bänder alle Ebenen durchwehten, mit der Welt davor verknüpft. Sie war sich dessen bewusst, dass es ihr nicht gut ging. Gleichzeitig fühlte sie sich tröstend umsorgt. Die Worte schlichen sich von selbst von ihren spröden Lippen:
"Danke... Rogi!"
Das Tuch verharrte einen Augenblick bewegungslos, ehe es verschwand. Der Moment zog sich in die Länge, bis sie aufschreckte und leicht zusammenzuckte. Sie war kurz weggetreten gewesen. Hatte sie gedöst? Oder war sie ohnmächtig geworden? Sie wusste nicht, wie viel Zeit seit ihrem letzten klaren Gedanken vergangen war. Andererseits... Zeit war ohnehin bedeutungslos geworden.
Ihr Kopf kippte seitlich weg, blieb mit der Wange auf einem ausgeschüttelten Kissen liegen.
Das Kissen roch ganz frisch. War sie nicht mehr im Käfig? Nein, das war das Zimmer, das gute, mit der Feuerstelle. War sie fügsam genug gewesen, um diese Unterbringung zu verdienen?
Ein Gedanke manifestierte sich kurz und schreckte sie auf: Die Gedankenmauer! Hatte sie sie aufrechterhalten können oder... sie versuchte, sich zu konzentrieren. Aber ihre Gedanken zerfaserten wie zerkochende Fleischbrocken in brodelnder Brühe. Zumindest nahm sie nichts Fremdes in sich wahr. Racul umfing ihr Wesen offenbar wieder mit seinen eigenen Wällen, hielt alles auf, was von ihr fortzustreben gedachte. Er würde rasen vor Wut, nicht wahr?
Der Gedanke verflog.
Eine schlanke Hand fasste sie routiniert im Nacken und eine weitere schob sich hinter ihre Schulterblätter, ein Nachgreifen, ein schwindelerregendes Umrangieren ihres Oberkörpers, dann ein Nachlassen der Drehungen. Der innere Kompass kam wieder zur Ruhe. Die Hände der schweigsamen Person strichen das Bettdeck über ihr glatt.
Da war eine namenlose Angst in ihr, die sie nicht losließ.
Sie leckte sich die trockenen Lippen und flüsterte matt:
"Hat er überlebt? Ist er hinter mir her? Oder... ist er tot?"
Die Igorina an ihrer Seite hielt inne, antwortete aber nicht. Vermutlich wollte sie sie schonen.
"Sag' es mir, ist er? Da war so viel Blut im Wasser... das kann Karakost unmöglich überlebt haben. Oder? Rogi, bitte! Sags mir!"
Der Lappen strich sanft über ihre Stirn und lenkte sie ab. Woran hatte sie noch mal gedacht gehabt? Genau! Sie hatte sich entschuldigen wollen! Hatte sie das bereits getan? Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Aber es konnte auch nichts schaden. Es war so wichtig, zur Not hätte sie sich eben zweimal entschuldigt, besser einmal zu viel, als einmal zu wenig, immerhin waren sie Freundinnen, oder? Waren sie das?
"Ich wollte das nicht, Rogi. Es tut mir so leid! Ich wollte dich nicht schlagen..."
Die Stille neben ihr manifestierte sich fast und die Ablehnung, die sie daraus heraus las, tat ihr weh. Ihre Stimme wurde regelrecht kraftlos vor Kummer. Oder dämmerte sie fort?
"Ich wollte dir nur helfen... aber ich habe alles falsch gemacht... ich tue dir nie wieder was an, versprochen! GlaubÂ’ mir!"
Wasser tröpfelte über ihre Lippen und ließ sie zusammenzucken, nach Luft ringen. Sie hustete, erst aus dem Schrecken heraus, dann tiefer, von den Lungen her, bis der reißende Schmerz sie sich zusammenkrampfen und wimmern ließ. Die Hand der vertrauten Pflegenden strich ihr immer und immer wieder kräftig über den Rücken, bis sich die Wärme der Reibung in sie senkte und ihr Körper sich wieder zu entspannen und zu lockern begann. Ihre Erinnerungen zeigten ihr das Bild Rogis, betrachtet durch lethargisch schmale Augenschlitze, wie diese sich neben sie auf die schmale Pritsche zwängte, während sie eine neue Spritze mit dem Beruhigungsmittel aufzog, um ihr die alptraumhaften Nächte zu erleichtern. War das eine Erinnerung? Sie versuchte, sich zu konzentrieren, um Rogi zu beruhigen.
"Das ist nicht nötig... ich bin über ihn hinweg, Rogi. Parsival... er kann mir nicht mehr wehtun... er ist nicht so ein starker Vampir, wie er denkt. Ich habe... was gemacht... irgendwie... ich weiß selber nicht genau wie aber... er ist jetzt weg, glaube ich... keine Angst, du brauchst dir keine Sorgen mehr um mich zu machen..."
Sie blinzelte und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie, jemand anderer würde an ihrer Seite sitzen und ungerührt auf sie hinab sehen. Eine unbekannte Igorina? Die Augen fielen ihr zu und sie bemühte sich, richtig zu atmen. Eine fremde Igorina? Was für ein Unfug, vermutlich halluzinierte sie. Es wäre ja nicht das erste Mal gewesen.
Frostige Luft strich über ihre Haut. Ihr war kalt bis in die Knochen und sie zitterte so stark, dass ihre Zähne leicht aufeinander schlugen.
Die resolute Stimme ihrer Mutter, wie aus weiter Ferne. "Ophelia! Was hast du dir nur wieder dabei gedacht? Habe ich dir nicht schon tausend Mal gesagt, dass du nicht draußen im Regen rumlaufen sollst? Kommst pitschnass nach Hause, durchweicht bis auf die Unterkleider, triefend und unansehnlich wie eines dieser unsäglichen Nachbarskinder..."
Ein kühler Handrücken auf ihrer Stirn. Ein leiser Seufzer.
"...Nichts als Sorgen hat man mit dir, mein Schatz! Es könnte alles so viel einfacher sein, wenn du nur mal auf mich hören würdest! Aber nein, die junge Dame muss ja unbedingt auf eigene Faust hinunter und draußen herumtollen... Nimm dir ein Beispiel an Dschosie, mein Liebling, wirklich! Wärest du mehr wie deine große Schwester, dann müsstest du jetzt nicht so leiden, das ist dir klar, oder?"
Ihr Hals schmerzte und sie musste schwer schlucken. "Es tut mir leid..." Sie wollte ihre Mutter beruhigen. "Ich werde... ich werde artig sein... alles richtig machen... heiraten... niemandem zur Last fallen...", flüsterte sie.
Wieder die starken, schlanken Frauenhände, die sie fest ergriffen und ohne zu zögern verlagerten. Sie spürte die nahe Bettkante, den Abgrund daneben. Warmer Wasserdampf benetzte ihr Gesicht. Die nahe Bettkante, den Abgrund daneben, wieder... oder immer noch? Wärme spülte über ihren Schopf. Hände strichen über ihr Haar und schoben dabei wiederholt das Wasser in eine kleine Schüssel neben ihr, welches ihr mit einem voll gesogenen Schwamm aufgetragen wurde. Irgendwoher... nicht genau gleich aber doch ähnlich...
Rogis Hände in ihrem Haar, die sanft wiegende Bewegung, die sie auf dem Stuhl schwanken ließ, als die Igorina ihr das Haar flocht, ihr einvernehmliches Schweigen...
Ein gewärmtes Tuch wurde um ihren Kopf geschlungen, ein wollener Schal um ihren Oberkörper drapiert. Dankbarkeit füllte jeden Winkel ihrer Seele aus.
"Lass sie reden, Rogi... du bist eine gute Igorina... du tust so viel für mich... für alle... wer was anderes sagt, kennt dich einfach nicht..."
Eine Stimme antwortete ihr leise, doch es war nicht Rogis: "Daf ftimmt wohl. Fürsorglicher, alf ef ihr gut tut. Aber du beftätigst mich nur in meinen Vermutungen: eine fehlgeleitete gute Feele, hart im Nehmen, unnachgiebig fich felbft gegenüber, dienftbar und aufmerkfam. Alle Vorauffetzungen sind da. Fie muff nur noch Refpekt verinnerlichen."
Ophelia öffnete unter größten Anstrengungen die Augen und brauchte lange, um zu verstehen. Nichts hatte sich geändert!


01.03.2017 11: 00

Rogi Feinstich

Sie wollte eigentlich nur ihre Tasse aus ihrem Büro holen und es sich, mit einem Kaffee und ihrer Lieblings Sparte aus der Times, in der Kantine gemütlich machen. Doch als sie ihr Büro am Hauptwachhaus betrat, war alles durcheinander! Jemand war hier gewesen! Nun, niemand sonst würde einen Unterschied bemerken. Doch Rogi sah es so deutlich vor sich, dass sie beinahe den Weg des Eindringlings verfolgen konnte. Der Staub zog Bahnen durch ihre Zelle, wo er sonst gleichmäßig verteilt gewesen war. Es war ein heilloses Durcheinander! Eine Wollmaus saß unter ihrem Schreibtisch und schien sie zu verspotten. Die Igorina atmete mehrfach tief durch und versuchte, an Ort und Stelle zu ergründen, was hier geschehen war.
Jemand war am Aktenschrank gewesen und an der Apothekerkommode. Sonst schien alles unberührt. Sie betrat schließlich die Zelle und verschloss hinter sich die Tür. Beim umfunktionierten Obduktionstisch legte die Igorina die Zeitung ab und kontrollierte zuerst die Aktenschränke. Doch alles schien normal und sonst war ihr Schreibtisch anscheinend nicht angerührt worden. Jemand, der etwas von Schlössern verstand, war hier eingedrungen. Traf dies auf einen ihrer Rekruten zu, handelte es sich etwa um einen dummen Streich? Oder vielleicht Wilhelm Schneider? Als Vampir hatte er andere Möglichkeiten. Er hätte sich nicht mit einer abgeschlossenen Tür abgeben müssen, wenn er dies nicht gewollt hätte.
Sie ballte ihre Fäuste bei dem Gedanken, versuche sich aber im gleichen Moment wieder zu entspannen. Es wäre nicht hilfreich, voreilige Schlüsse zu ziehen. Sie musste erst herausfinden, was hier passiert war.
Sie zog die erste Reihe der Schubladen der Apothekerkommode auf, doch es schien nichts zu fehlen. Wer mochte auch etwas mit ihrem alten Operationsbesteck oder Verbandsrollen anfangen? Wer so etwas benötigte, könnte sich leichter im Lazarett bedienen. Sie seufzte und schloss die Schubladen wieder, nur um den Vorgang mit der nächsten Reihe zu wiederholen. Auch hier nichts, was auffällig gewesen wäre und sie fragte sich, ob sie überhaupt merken würde, wenn etwas fehlte. Bei dem Gedanken fiel ihr Blick auf eine der unteren Schubladen.
Bitte nicht! Bitte alles nur das nicht!
Rogi zog, ihrer Eingebung folgend, schnell die Schublade auf und starrte auf das Beruhigungsmittel. Das war alles, was noch von ihrem persönlichen Medikament übrig war. Oder viel mehr ihrer Droge. Es war alles da und sie war für einen kurzen Moment erleichtert, als ihr auffiel, was hier nicht stimmte. Sie griff nach dem Zettel, der an der Stelle lag, an dem sie Ophelias Taschentuch abgelegt hatte. Das Taschentuch, das als Mahnmal diente. Selbst, wenn der Frust zu groß war und sie alles tun wollte, um das Zittern ihrer Hände zu unterbinden - der Anblick des Tuches ließ sie jedes Mal wieder die Schublade schließen.
Ihre Hände schienen noch zittriger als sonst, als sie die Nachricht las. Ein Wechselbad der Gefühle begann. Wut und Angst vermischten sich und sie las die Nachricht ein weiteres Mal.
Nicht aufregen! Komm zu mir, ich glaube sie finden zu können. Magane.
Nicht aufregen. Ha, leichter gesagt als getan! Was glaubte Magane mit dem Taschentuch erreichen zu können? Und viel wichtiger: Was sollte sie selbst dagegen tun? Was, wenn ihre Kollegin tatsächlich Ophelia finden könnte? Sollte sie die Igorina warnen? Ein Treffen mit ihrer Verwandten stand zumindest bald an. Sollte sie wirklich zu Magane gehen und sie aushorchen? Oder doch die Nachricht ignorieren und abwarten was passierte? Frustriert steckte sie die Nachricht wieder zurück, wo sie sie gefunden hatte. Der Tag begann alles andere als angenehm. Sie beschloss, dem Morgen wieder etwas von seiner Routine zurück zu geben, um auf andere Gedanken zu kommen.
Mit ihrer Tasse, sowie der Zeitung unterm Arm, begab sie sich in die Kantine.
Die Igorina und der Kaffeedämon beschimpften sich eine Weile gegenseitig, bis der Kaffee endlich rausgerückt wurde.
"Haft du auch ordentlich reingespuckt?", fragte sie und der Dämon verschränkte die Arme. "Komm fon... du zierft dich doch sonst nicht!"
"So macht das wirklich keinen Spaß mehr!", entgegnete er mit seiner schrillen Stimme und schloss die Klappe zu seinem Gehäuse.
Die Igorina gab mit einem Seufzer auf und setzte sich an einen der Tische. Sie lehnte sich zurück und versuchte, den Einbruch fürs Erste zu vergessen. Als sie die Sparte mit den Todesanzeigen aufschlug stach ihr etwas ins Auge, das ihre volle Aufmerksamkeit erforderte. Auch das noch!

Frau Amalda Pospiech
17 Februar
im
❦ Jahr der rückblickenden Artischocke ❦

...und wir glaubten, wir hätten noch so viel Zeit.


Frau Pospiech – eben jene alte Dame, um die sich Raculs Igorpaar bisher gekümmert hatte! Der Einbruch rückte immer mehr in den Hintergrund, als sie sich auszumalen versuchte, was im Hause Racul nun vorgehen mochte.

06.03.2017 22: 36

Senray Rattenfaenger

Senray tigerte unruhig in ihrem Büro auf und ab. Nicht gerade die beste Grundbedingung dafür, dass sie gleich wieder mit Magane üben sollte, ihre Emotionen unter Kontrolle zu behalten. Andererseits war sie genau deswegen so unruhig.
Es war das erste Training, seit Senray nach ihrem nächtlichen Einsatz in das Büro der Kollegin eingedrungen und dort zusammengebrochen war. Seitdem gingen der DOG die Ereignisse jenes Abends und das Gespräch am nächsten Morgen nicht mehr aus dem Kopf. Magane hatte noch Hoffnung. Sie schloss nicht aus, dass Senray wirklich auf Ophelia reagiert hatte. Sie hatten also vielleicht eine echte Chance die Kollegin zu finden!
Allerdings...
Senray blieb vor ihrem Fenster stehen und betrachtete das trübe Panorama. Sie hatte Maggie nicht sagen können, wo genau sie die Feuerreaktion bemerkt hatte. Und der ungefähre Umkreis, den sie angedeutet hatte, umfasste gefühlt die halbe Stadt! Zwar hatte ihr die ältere Kollegin keinen Vorwurf gemacht – aber Senray hatte das kurze Aufblitzen der Hoffnung und der sofortigen Enttäuschung doch bemerkt. Und selbst wenn sie es sich eingebildet hatte, die DOG war selbst enttäuscht von sich. So lange suchte sie schon, so lange hatte sie nutzlose Runden mit Mistvieh gedreht. Und kaum war ein Funken Hoffnung in der allgemeinen Dunkelheit zu sehen, floh sie, verkroch sich und machte jeden Erfolg zunichte.
Bevor sie sich jedoch weiter in Selbstvorwürfen ergehen konnte, klopfte es.
"Komm rein!" Senray drehte sich um und ein schwaches Lächeln trat auf ihr Gesicht, als sie Maggie sah.
"Ich hab schon alles vorbereitet." Sie deutete auf die Kissen am Boden, die Kerze in der Mitte und eine Kanne mit heißem Wasser, sowie den zwei bereitgestellten Tassen. Und dem unauffällig bereitstehenden Eimer mit kaltem Wasser, falls etwas schief gehen sollte.
Die SUSI schloss die Tür hinter sich und musterte sie anschließend. "Wie geht es dir, Senray?"
"Ich...", die junge Frau überlegte kurz, dann schüttelte sie den Kopf. "Ich bin... aufgewühlt. Und frustriert. Und... ich... ich habe die letzten Abende auf Einsätzen verbracht, in dem... in dem Gebiet, in dem die Flamme reagiert hatte. Und, also, du hattest Recht." Sie schloss kurz die Augen und holte tief Luft. Als sie die Augen wieder öffnete wirkte sie etwas gefasster, aber dennoch bebte die junge Frau fast vor Aufregung, einem gefährlichem Cocktail aus Hoffnung und Angst. "Das Feuer hat wieder reagiert! Es war nicht nur... es war nicht, weil ich...", sie schien kurz abzudriften, dann schüttelte sie den Kopf und konzentrierte sich wieder. "Aber es... es scheint quasi... überall zu reagieren. Ich habe diesmal eine Karte mitgenommen und markiert, wo ich war, ich kann dir die Orte zeigen, ich kann..."
Magane nickte zwar, machte jedoch gleichzeitig eine beschwichtigende Geste. "Nachher, Senray. Ich habe genug Zeit mitgebracht. Erst einmal sollten wir unsere Übungen fortführen."
Senray nickte zögerlich. "Ja, sicher. Es ist nur... ich konnte keinen einzelnen Ort zuordnen, ich kann nicht sagen wo sie ist. Und ich... ich habe Angst... Angst, dass ich zu lange brauche. Sie ist jetzt schon so lange weg. Was, wenn..." Senrays Stimme starb.

Magane hielt kurz inne – sie war dabei gewesen, einige ausgewählte Kräuter in das bereitgestellte heiße Wasser zu geben. Heute war sie sich nicht sicher, dass der beruhigende Tee reichen würde um der Kollegin zu helfen, den Frieden in sich selbst zu finden. Senray war oft aufgewühlt, ängstlich auch frustriert. Aber heute war es mehr, schlimmer. Schuld. Reue. Als wäre es ganz allein ihre Verantwortung, wenn Ophelia nicht rechtzeitig gefunden würde. Es musste ihr viel mehr zu schaffen machen, dass sie den Ort nicht hatte benennen können und dadurch Zeit verloren ging, als Magane vermutet hatte. Nun fing sie zwar an, Ophelias Radius wiederzufinden aber machte sich immer noch Sorgen, das das nicht reichte. Dabei war es gerade für den Fall, dass Senray näher an Ophelias Aufenthaltsort kam, essentiell, dass sie ihre Emotionen unter Kontrolle behielt! Wer konnte schon sagen, was sonst passieren könnte?
Aber diese Last wollte die Abteilungsleiterin der SuSen der ohnehin schon aufgewühlten jungen Frau vor sich nicht auch noch aufbürden. Sie musste schnell wieder ins Gleichgewicht kommen, nicht noch mehr ins Straucheln geraten.
"Mach dir keine Sorgen.", sagte sie deswegen und legte ihre eigene Hand auf Senrays, so dass diese sie ansah. "Wir werden sie finden. Ich habe auch noch eine Idee, was wir zu gegebener Zeit ausprobieren können. Eventuell könnte uns das weiter bringen."
Sie sah, wie Senray dazu ansetzte nachzufragen, und winkte sanft ab. "Zu gegebener Zeit, Senray. Und bis dahin versuchst du am Besten, die Ränder des Reaktionsradius' ausfindig zu machen. Lauf von einer Stelle, an der die Flammen reagieren, solange in eine Richtung, bis keine Reaktion mehr erkennbar ist. Und markiere die Stelle gesondert auf der Karte. Vielleicht kannst du so eine Art Umkreis um den Ort, an dem Ophelia ist, ablaufen? Das würde uns sehr helfen, ihren genauen Aufenthaltsort einzugrenzen."
Senray nickte und schien voller Tatendrang zu sein, wollte ihr wahrscheinlich doch gleich die Karte zeigen und sie am liebsten zu der Stelle führen. Allerdings war es zu wichtig, dass die junge Frau vor ihr sich unter Kontrolle hatte. Deswegen beschwichtigte Magane sie erneut sanft.
"Jetzt konzentrieren wir uns erst mal auf unsere Aufgabe hier." Damit deutete sie auf die noch nicht brennende Kerze vor sich.
Senray zögerte kurz, dann nickte sie. Sie ließ sich im Schneidersitz auf eines der Kissen nieder und versuchte offensichtlich, in eine angenehme Position zu kommen. Nachdem Magane sich auch hingesetzt hatte, atmete die DOG noch einmal tief durch. Bedächtig nahm sie die Packung Streichhölzer vor sich, entzündete eines und damit die Kerze. Sie löschte das Streichholz, lockerte ihre Haltung etwas und konzentrierte sich auf die Flamme. Sie schloss ihre Augen nicht, um in sich zu gehen – im Gegenteil fixierte sie die Kerze mit ihrem Blick. Und sie schien mit jedem Mal etwas mehr aus sich herauszutreten und in die Flammen überzugehen.
Solange Ophelia nicht in der Nähe war oder Senray die Flammen direkt berührte, reagierten diese scheinbar nicht auf sie. Magane hatte jedoch mit der Zeit gelernt, die kleinen Veränderungen im Flammenbild wahrzunehmen. Ob Senray es ahnte oder nicht, wenn sie es wollte, sich konzentrierte und ausreichend übte, konnte die Wächterin wahrscheinlich jedes Feuer manipulieren.
Magane nahm einen kleinen Schluck Tee und betrachtete weiter Flamme und Frau vor sich. Sie würden nach dieser "Aufwärmübung" wieder mehr auf Atmungskontrolle und gezieltes Ausblenden der Emotionen übergehen müssen. Das erschien in der aktuellen Situation am Sinnvollsten. Dann würde sie sich Senrays Reaktionspunkte auf der Karte ansehen und notieren. Wenn sie erst einmal erste "Außenpunkte" hatten, so dass klar war, in welcher Richtung Ophelia sein könnte, würde es leichter werden. Zumindest hoffte Magane das.
Und auch wenn sie Senray von ihren aktuellen Emotionen abgelenkt hatte, indem sie ihre ‚Idee‘ erwähnte, war die Hexe entschlossen, diese der anderen nur im äußersten Bedarfsfall mitzuteilen, geschweige denn auszuführen. Seit sie während des Trainings herausgefunden hatte, dass es nicht Senray an sich war, die diese Fähigkeit in Bezug auf das Feuer besaß, sondern eine andere, unklare Entität mit im Spiel war, war ihr auch klar, dass man diese nicht als Lösung dafür ansehen konnte und durfte, das ‚Feuerproblem‘ zu beheben. Jeder Handel mit so einem Wesen hatte seinen Preis – und es war nie nur der, den es einem nannte. Es also zu fragen, ob es Ophelias Präsenz erspüren könnte... Erst, wenn es nicht mehr vermeidbar war, würde Magane es der anderen vorschlagen. Und selbst dann, da war sich die Hexe sicher, würde der Preis, den Senray zahlen müsste, zu hoch sein.

09.03.2017 10: 37

Rogi Feinstich

Rogis Geduld war langsam erschöpft. Sie kannte die Auslage von Olivanders Igordrom inzwischen auswendig. Selbst Stanislaus Olivander beäugte sie schon kritisch, doch der Vampir sagte nichts. Er kannte seine Stammkunden. Und Rogi gehörte nicht zu der redseligen Sorte. Also ließ er sie in Frieden. Sie entnahm, wie schon so oft heute, den Zettel aus ihrer Hosentasche und studierte ihn länger als nötig. Die Todesanzeige war schlicht und einfach gehalten. Nicht zu auffällig. Dennoch in einer Sparte untergebracht, die einiges kostete. Sie sagte ihr klar und deutlich: ‚reich und ohne Familie‘. Nichts was sie nicht auch so schon gewusst hätte, allerdings lies ihr die Anzeige keine Ruhe mehr. Die beiden Igors waren sicherlich vollauf beschäftigt, doch Rogis Mitleid hielt sich in Grenzen. Ihre Verwandten genossen wahrscheinlich den Großteil der Arbeit, die dadurch anstand. Schließlich war es das Privileg der Igors, den Verstorbenen in ihrer Obhut für die Beisetzung vorzubereiten. Wenn dabei das eine oder andere Organ oder Körperteil noch brauchbar war, umso besser. Rogis Sorge war vielmehr, dass sich Raculs Dienerin nicht mehr auf Ophelia fokussieren mochte. Und nun, da diese zu spät kam, schien diese Sorge nicht unberechtigt. Sie überlegte, ihrer Verwandten eine Nachricht zu hinterlassen, als endlich das unverkennbare Quietschen der Tür einsetzte. Keine Türglocke konnte dies ersetzten! Nicht zu vergessen, dass es keinen Igor gab, der daran etwas auszusetzten gehabt hätte. Endlich! Ihre Großtante [2] war doch noch aufgetaucht!
"Entfuldige die Verspätung, Igorina", wurde Rogi sogleich begrüßt. "Laff mich nur schnell meine..."
"Fon erledigt", kam die Wächterin der älteren Igorina zuvor und überreichte ihre eine ihrer Papiertüten. "Ich habe mir erlaubt, daf in die Hand fu nehmen... Ich hoffe, daf ift in Ordnung?"
Die Igorina sah sie überrascht an. Sie nahm dankbar die Tüte entgegnen und betrachtete schließlich ihre Einkaufsliste.
"Ich fürchte, ich brauche noch etwas mehr alf fonft", antworte die Ältere und begab sich an den Verkaufstresen.
Ihre Verwandte deutete auf getrocknete Kräuterbündel, Ingredienzien für Salben und Öle. Rogis Augenbrauen verengten sich, während Stanislaus das gewünschte zusammensuchte. Die Wächterin hatte unbewusst die Arme verschränkt, als die Igorina ihre Besorgungen abschloss und sich letztlich wieder ihr zuwandte.
"Ich hoffe, ef ift nicht daf, wonach ef auffieht", sagte Rogi und ihr Gegenüber senkte leicht den Blick.
"Laff unf wonaderf darüber reden, ja?"
Das ließ sie sich bestimmt nicht zweimal sagen. Sonst war ihr Gegenüber eher kurz angebunden und wickelte diese Treffen schnellstmöglich ab. Normalerweise immer mit der Versicherung, dass es Ophelia gut ginge. Und natürlich blieb der ein oder andere Seitenhieb nie aus - Rogi solle sich eine andere Beschäftigung suchen oder zumindest mal um eine Degradierung ersuchen. In seltenen Fällen wurde ihr nur ein Brief mit den neuesten Entwicklungen überreicht, Dinge, über die die Igorina sie informieren aber nicht sprechen wollte. So oder so, es hatte sich eine gewisse Routine eingespielt, die heute durchbrochen wurde.
Rogi nickte schnell und sie traten beide nach draußen. Die Ältere schien angespannt und Rogi war klar, dass sie diesmal endlich die Gelegenheit für ein Gespräch unter vier Augen haben würde.
"Wir gehen am beften fu mir", sagte Rogi nur und führte ihre Verwandte in die Blutgasse. Nicht viele wussten, dass sie dort wohnte und es war allemal besser als ein Cafe oder gar eine Spelunke aufzusuchen. Die Ältere folgte ihr zögerlich und Rogi wagte es nicht, auch nur ein einziges Wort während des Weges an sie zu richten. Die Unruhe der Älteren schien sie regelrecht anzustecken und Rogi schüttelte den Kopf, als könne sie so ihre Gedanken abschütteln.
Eines war sicher: Ophelia lebte noch! Zumindest, wenn die Kopplung immer noch bestand. Schließlich bedeutete Ophelias Tod auch Raculs Ende und anders herum. Und wäre er nicht mehr am Leben, bräuchte sich seine Dienerin nicht weiter zurückhalten. Dennoch war etwas nicht in Ordnung, ansonsten konnte sie sich das Verhalten ihrer Großtante nicht erklären.

"Da find wir."
Rogi schloss die Tür zu dem Gebäude auf und ging nach oben. Ihre Verwandte folgte ihr schweigend und sie beide wurden nur von dem Geräusch der knarzenden Holzbohlen der Treppe begleitet. Sie öffnete die Tür zur Dachkammer und die Ältere nickte ihr anerkennend zu, als sie das Quietschen der Tür beim Eintreten beurteilte. Rogi schloss schnell die Tür und stellte ihre eigenen Einkäufe daneben ab. Ihre Großtante sah sich in dem Labor um und schien sichtlich beeindruckt.
Sie achtete nicht weiter darauf, sondern beäugte kritisch die Dachluke und seufzte innerlich. Sie war mit ihrer Reparatur immer noch nicht zufrieden. Der Wind pfiff durch die Ritzen zwischen den Metallplatten, seit Racul die Dachkammer regelrecht auseinandergenommen hatte.
"Oh, das ist ja grandios hier, sogar eine Hebebühne!", sagte die Igorina erfreut und schlenderte durch den Raum. "Der Hebel... grandiose Auswahl!"
Rogi war beinahe schon amüsiert und die Ältere wirkte wesentlich jünger als zuvor. [3]
"Sind wir hier wirklich unter uns? Was, wenn Igor zurück kommt. Ich meine..."
Ihre Großtante hatte sich erschrocken zu ihr gedreht und war genauso nervös wie zuvor. Natürlich dachte ihre Verwandte, dass dieses Labor einem Igor gehörte und damit lag sie nicht mal falsch.
"Darüber brauchft du dir keine Gedanken machen...", sagte die Wächterin. Doch die alte Igorina schien nicht überzeugt. Rogi seufzte. "Ich bin Witwe... er wurde an die Lotterie gegeben."
"Oh", brachte ihre Verwandte hervor. "Haft du ein Lof bekommen?"
"Ich will wirklich nicht darüber reden", entgegnete sie bestimmt, "Sag mir lieber wie ef um Ophelia steht."
"Zuerft", setzte ihr Gegenüber an und atmete tief ein, "möchte ich betonen, dass ef nicht meine Schuld ift! Der Nachlass... wir hatten fo viel zu tun..."
"Waf ist paffiert?"
Rogi ballte die Fäuste nur für einen kurzen Augenblick, als könnte sie so ihren Geduldsfaden vor dem Zereissen bewahren.
"Er hat die Gelegenheit genutzt und fich um sie gekümmert. Wollte unf etwas Arbeit abnehmen. Doch ftattdeffen hat er sich dem Herrn wiedersetzt und fie wieder in den Käfig gesteckt. Obwohl ich ihm gefagt habe, dass das nicht nur unnötig, fondern sogar rifkant ist!"
"Waf?", brachte die Wächterin nur hervor und biss sich sogleich auf die Zunge.
"Ef tut mir leid, ich hätte es kommen sehen müffen. Diefe Plage macht nur Ärger."
Rogi runzelte die Stirn und presste die geballte Faust gegen die Stirn. Sie hatte geahnt, dass Racul nicht nur die beiden Igors beschäftige, doch nun hatte sie Gewissheit.
"Um ef auf den Punkt fu bringen: Ophelia war fehr krank. Ef hat nicht mehr viel gefehlt und...", die Ältere stockte nur für einen kurzen Moment, doch Rogi befürchtete das Schlimmste. "Nun, fie ift wieder ftabil, das ift die Hauptsache. Allerdingf hat sie im Fieber von dir gefprochen, falls dich daf tröftet."
Trost? Sie hatte sich so oft um die Wächterin kümmern müssen, wunderte es sie da wirklich, dass Ophelia an sie dachte? Nach allem, was sie zusammen durchgemacht hatten...
"Ein Fache hat mich dann doch irritiert... fie wollte fich bei dir entschuldigen. Dafür, daf sie dich geschlagen hat? Fie war nie deine Herrin... wie kam ef dafu?"
Rogi musste lachen bei der Vorstellung, wie seltsam diese Entschuldigung in dem Moment für die so traditionelle Igorina angemutet haben musste. Wenn der Meister einen schlug, gehörte das zum alltäglichen Geschäft. Solange der gebührende Respekt gezollt wurde, war dies sogar gewünscht. Wichtigste Regel dabei war, dass der Igor dabei nicht zu irreparablem Schaden kommen durfte.
"Daf ift einfach. Ich habe fie geflagen, fie hat mich geflagen. Und fie hat sich mehr alf einmal dafür entfuldigt! Für etwaf, daf allein meine Schuld war."
Sie dachte nicht gerne an das dunkle Kapitel zurück, allein um sich nicht immer den selben Vorwurf zu machen. Immer und immer wieder der eine Gedanke - was wäre gewesen, wenn...
Wenn sie den Entzug gar nicht erst begonnen hätte? Wenn sie Michaels Leben hätte retten können? Wenn sie nicht diese verfluchte Spritze bis zum Anschlag aufgezogen hätte?
"Igorina, ift allef in Ordnung?"
Rogi blinzelte, als sie angesprochen wurde und merkte erst jetzt, dass sie weinte. Sie wischte sich schnell die Tränen aus dem Gesicht. Sie nahm ihre Tüte und huschte an ihrer Verwandten vorbei, um ihre eigenen Besorgungen zu verstauen.
"Wie lange habt ihr, haft Du, Ophelia vernachlässigt?", sagte Rogi hastig um von sich selbst abzulenken.
"Ich hätte nie geglaubt, dass er wirklich fo dreist die Gelegenheit aufnutzen würde. Bitte! Du mufft mir glauben! Ich habe alles in meiner Macht ftehende getan und mein Mann und ich, wir haben fein Vergehen wieder behoben."
"Wer ift dann verantwortlich? Ich habe Ophelia eurer Obhut überlaffen im Glauben, fie fei in Ficherheit!"
"Und das ift sie! Er wird seine Ftrafe bekommen."
Rogi lies ihre Nackenwirbel knacken. Am liebsten hätte sie ihre Verwandte hochkant rausgeschmissen. Sich diese Ausreden nicht weiter angehört. Doch es gab noch so viel mehr zu erfahren. Und vielleicht konnte sie der Igorina begreiflich machen, dass diese sich genauso in den Traditonen verannte, wie sie es einst tat?
"Genug von deinen Aufflüchten!", sagte Rogi schroffer als beabsichtigt. "Wer ift diefer er?"
Die Igorina schien zu überlegen. Immerhin. Vielleicht bekam sie ja endlich eine klare Aussgage? Um einen weiteren Igor konnte es sich wohl kaum handeln, über die Verwandtschaft sprach man im Allgemeinen anders.
"Racul hat einen Affiftenten, ef ift feine Fuld", sagte ihr Gegenüber hastig. "Doch bitte, ich habe fon zuviel gefagt."
"Er ift ein Vampir, oder?", hakte Rogi nach und die Ältere nickte zaghaft.
Sie seufzte innerlich und schloss die Augen. Ophelia schien Vampire anzuziehen, wie das Licht die Motten. Rogi zwickte sich in den Nasenrücken und versuchte, die sich automatisch einstellenden Bilder aus ihrem Kopf zu vertreiben. Doch die Vorstellung, wie eben jener Assistent sich an Ophelia vergriff, ließ sie nicht los. Racul mochte noch ein Interesse an Ophelias Wohlergehen haben, doch nach allem was sie gehört hatte, schien der zweite Vampir im Bunde genau zu wissen, wie er diese Situation ausnutzen konnte.
"Die Menschenfrau hatte Recht, alf fie von dir geredet hat."
Die Worte der Igorina machten Rogi nur deutlich, wie angespannt sie auf diese wohl wirken musste und die Wächterin versuchte, sich wieder auf das Gespräch zu besinnen, ohne dass ihr Temperament mit ihr durch ging.
"Waf hat sie denn noch gefagt?", fragte Rogi und versuchte sich dabei zu beruhigen. Doch sie kochte innerlich.
"Du bist eine gute Igorina, verfuchft jedem zu helfen. Ich bin davon ebenfalls überzeugt. Dein Leben könnte fo viel einfacher fein, wenn du..."
"Wenn ich was?!", sagte Rogi und dreht sich wütend zu ihrer Großtante um. "Wenn ich eine passendere Anstellung hätte, etwa wie du? Ich glaube langsam, wir sind gar nicht so verschieden, du und ich. Allerdings habe ich inzwischen erkannt, dass Ankh-Morpork eben nicht Überwald ift! Und das ift auch gut so!"
Rogi schnaubte und ihre Verwandte knetete verlegen ihre Hände.
Sie selber hatte sich, seit sie ihre Eltern verloren hatte, schon immer möglichst weit weg von Überwald gewünscht. Und seit sie Wächterin war, hatte sie einen Pfad beschritten, der sie immer weiter von ihrer Familie entfernte. Im Andenken an ihre Eltern, hielt sie krankhaft am Kodex und den Traditionen fest. Doch wohin hatte sie dies geführt?
Rogi betrachtete zähneknirschend ihre zittrigen Hände. Ophelia glaubte noch immer, sie würde jedem helfen, sei eine gute Igorina? Sie konnte nicht mal sich selbst helfen. Sie hatte diesen Respekt nicht verdient.
Sie hörte das Rascheln der Papiertüten. Die Ältere begab sich zum Ausgang und Rogi konnte es ihr nicht mal verdenken. Sie war zu weit gegangen, hatte ihre Verwandte und sich selbst, die Eine, auf eine Ebene gestellt. Ihre Großtante war sichtlich verunsichert.
"Warte!", sagte sie schnell und atmete tief durch. "Ef tut mir Leid... ich... vertraue dir. Doch ef fällt mir schwer, nach all der Feit, die ich mich um Ophelia gekümmert habe..."
Sie brach ab, als sie sich der Aufmerksamkeit der Älteren bewusst wurde. Was sie jetzt verlangen würde, konnte das Vertrauen der Igorina zerstören. Der Zugriff bis hierher, wenn es auch nur ein indirekter gewesen war, auf ihre gemeinsame Patientin, wäre endgültig verloren.
"Kann ich fie bitte noch einmal fehen? Mich selbst von der Fituation überzeugen? Ich kann ficherlich meinen Teil zu ihrer Genesung beitragen." Ihr Gegenüber wollte schon etwas sagen, doch Rogi hob beschwichtigend die Hände. "Ich weif es wäre gegen unfere Abmachung. Doch ef würde nichtf ändern! Ich kann weder etwaf an Ophelias Gefangenschafft ändern, noch werde ich meinen Kollegen etwas fagen, das weift du. Und wenn du ef wünscht, werde ich mich deinem Herrn freiwillig stellen und..."
"Daf wird nicht nötig fein", sagte die Ältere und Rogi sah überrascht auf.
Der Gesichtsausdruck ihrer Großtante zeigte so etwas wie grimmige Entschlossenheit und Rogi fragte sich immer mehr, in was sie da hereingeraten war.

10.03.2017 0: 44

Kanndra

Sie träumte in letzter Zeit häufig von den Sümpfen ihrer Kindheit. Keine dieser angenehmen, nostalgischen Träume – eher Alpträume, die immer damit endeten, dass sie versank. Selbst tagsüber hatte Kanndra ständig das Gefühl, in einem Sumpf zu stecken, nur dass er nicht aus Wasser und Schlick bestand, sondern aus Sorgen und Stress. Und Streit. Trotz ihrer Absicht, kürzer zu treten, brachte die Späherin es irgendwie nicht fertig, ihre Kollegen im Stich zu lassen. FROG brauchte sie, Bregs brauchte sie, die Stadt brauchte sie. Julian war jedoch nicht mehr bereit, das einfach hinzunehmen und Kanndra wusste natürlich, dass er recht hatte. Auch ihre Familie brauchte sie und musste doch viel zu oft hinten an stehen.
Andererseits lief Kristers Laden zwar recht ordentlich, die Einnahmen würde ohne ihren Sold aber nicht ausreichen, um sie alle vier zu ernähren. Ihr Mann machte jedoch keine Anstalten, seinerseits einen bezahlten Job zu suchen. Sicher, Krister war froh um die Hilfe im Laden, doch zumindest ein Halbtagsjob sollte doch wohl drin sein. Benjamin war jetzt schließlich in der Schule. Von ihrem Sohn versuchten sie, die Streitigkeiten fern zu halten, doch dieser war weder dumm noch unsensibel. Und selbst der unsensibelste Dummkopf hätte inzwischen die Spannungen im Mambosambaschen Haushalt wahrgenommen. Lange konnte es so nicht weiter gehen, sie schlug sich schon auf die Laune des Sprößlings nieder, ganz zu schweigen von der armen Krister, die zwischen allen Stühlen saß.
Deshalb war es kaum verwunderlich, dass Ophelia Ziegenberger in Kanndras bewußten Gedanken kaum noch eine Rolle spielte. Sie hatte damals, als noch eine Hexe für den Zirkel benötigt wurde, gerne geholfen. Sie hatte Ophelia bei ihrem "Ausflug" als RUM-Abteilungsleiterin als fleißige und gewissenhafte Ermittlerin kennen gelernt und auch wenn sie aufgrund ihres so verschiedenen Hintergrundes keinen rechten Zugang zu der jungen Frau gefunden hatte, teilte sie die Abneigung des Kommandeurs nicht. Dazu kam, dass es schließlich ein kleiner, aber nicht unwesentlicher Teil der Arbeit eines FROGs war, Wächter aus den Schwierigkeiten zu helfen, in die sie geraten waren, auch wenn das gewöhnlich anders aussah. Aber gewöhnlich war an diesem Fall nun wirklich nichts gewesen.
Natürlich hatte sie die Gerüchte gehört, nach denen der Oberfeldwebel nicht ganz freiwillig verschwunden war. Es war ein offenes Geheimnis, dass zumindest Mina von Nachtschatten und Rach Flanellfuß weiter ermittelten. Wenn sie die Vampirin im Wachhaus traf, hatte sie den Eindruck, dass sie noch blasser geworden war, wenn das überhaupt möglich war. Von dem Gefreiten ganz zu schweigen.
Und vielleicht waren es die Gerüchte, vielleicht die vielen Fragezeichen, die hinter dieser ganzen Angelegenheit standen, dass Kanndra nicht nur vom Versinken träumte, sondern hin und wieder auch von Ophelia Ziegenberger.
In diesen Träumen saß die Kollegin meistens hinter ihrem Schreibtisch und lächelte sie an, doch wenn sie zu ihr zu kommen versuchte, verschwand diese hinter einer meterhohen Dornenhecke. In einigen Nächten kämpfte die Traum-Kanndra vergebens gegen diese Hecke an, in anderen konnte sie sie leicht überwinden, um sich dann unvermittelt mit Ophelia in einem Käfig über einem gähnenden Abgrund wieder zu finden. An mehr konnte sie sich nicht erinnern. Sie hatte sich in ein paar müßigen Momenten schon gefragt, was diese Träume wohl bedeuten mochten, doch was sollten sie schon zu bedeuten haben? Sie hatte genug andere Probleme.

11.03.2017 15: 49

Mina von Nachtschatten

Es hatte Mina nicht wenig überrascht festzustellen, dass Bredas letzte aktenkundige Wohnung sich im Mondteichweg befand. Zum einen, weil es sich dabei um eine der besseren Gegenden der Stadt handelte und es somit mehr oder weniger unmöglich war, sich hier allein mit einem Wächtersold einzumieten. Und zum anderen, weil die Adresse nur wenige Gehminuten von ihrer eigenen Haustür entfernt lag. Was der ersten Überlegung wiederum etwas von der sie begleitenden Verwunderung nahm, denn genauso gut hätte man auch Mina selbst fragen können, wie sie an das Haus in der Teekuchenstraße gekommen war. Manchmal geschahen einfach... Dinge. Besonders in Ankh-Morpork. Wie auch immer, der Umstand hatte auf jeden Fall einen großen Vorteil - Mina konnte ohne viel Federlesen vor dem Dienst dort vorbeischauen und sich nach der ehemaligen Kollegin erkundigen. Und das war an diesem Morgen tatsächlich schneller erledigt, als angenommen.
"Nein. Also... eine Krulock? Die, die gibt es hier nicht, Fräulein. Da müssen Sie sich, äh, woanders erkundigen, ja? Guten Tag!"
Damit fiel die Tür schwungvoll ins Schloss, noch bevor Mina auch nur die Gelegenheit gehabt hatte, irgendetwas auf diese nicht eben hilfreiche Auskunft zu erwidern. Aber sowohl Tonfall als auch Miene des Mannes, der beim Anblick eines Vampirs auf seiner Türschwelle schlagartig vom Halbschlaf in einen Alarm-Zustand übergegangen war, ließen keinen Zweifel daran, dass eine weitere Nachfrage wenig Sinn gemacht hätte. Aber es wäre wohl auch zu einfach gewesen, einen Erfolg gleich beim ersten Versuch zu erzielen. Es gab ja noch nicht genug Rätsel in ihrem Leben!
Dummerweise stand die verdeckte Ermittlerin damit hinsichtlich ihrer Suche nach Breda Krulock wieder am Anfang. Umso ärgerlicher, dass von hier aus die Zahl der möglichen Ansätze recht übersichtlich war: Mina hatte Breda nicht gut genug gekannt, um auf etwaige gemeinsame Bekannte zurückgreifen zu können und Kontakte aus deren Zeit als Dobermann kamen schon aus internen Gründen nicht in Frage. Klinken putzen würde Mina also nicht weiterbringen, aber was blieb da noch? Natürlich konnte man in der überwaldischen Botschaft nachfragen, aber was sollte diese dazu veranlassen, derartige Informationen einfach so herauszurücken? Immer vorausgesetzt, dass diese dort überhaupt vorlagen... Nein, es war wohl das Beste, sich doch zunächst für die naheliegende, wenngleich vage Variante zu entscheiden, ein paar Kollegen anzusprechen. Und da war Glum Steinstiefel immer noch einer der erfolgversprechendsten Kandidaten. Der Zwerg hatte viele Jahre eng mit Breda zusammengearbeitet, am Ende sogar als ihr Stellvertreter. Natürlich lag das Boucherie nicht auf Minas Weg zum Pseudopolisplatz, aber da die Angelegenheit eine gewisse Dringlichkeit besaß waren Umweg und die damit einhergehende Verspätung durchaus im zu tolerierenden Bereich. Bei der aktuellen Lethargie in der Abteilung würde das ohnehin nicht weiter auffallen. Obwohl, sollte doch wieder Schwung in die Angelegenheit Ophelia kommen, war es vielleicht gar keine so schlechte Idee, einfach einmal eine Woche Urlaub zu nehmen...
Da zu dieser frühen Stunde noch nicht das übliche, bisweilen tumultartige Gedränge auf den Straßen Ankh-Morporks herrschte, kam Mina gut voran und erreichte nach vergleichsweise kurzer Zeit die Dienststelle der Wache in der Springstraße. Sie betrat das Gebäude, nickte Frau Palm zu, die auf einem Tischchen im Eingangsbereich einen opulenten Strauß sehr exotisch duftender Blumen arrangierte und stieg die Treppe zu den Büros der DOG hinauf.
Der erste Stock lag da wie ausgestorben; in der nahezu vollkommenen Stille hätte man wohl eine Spinne seufzen hören können. Entweder die Kollegen waren bereits alle außer Haus - oder es lag doch ein Fünkchen Wahrheit in dem, was am Pseudopolisplatz über die Arbeitsmoral der hier ansässigen Abteilung geredet wurde. Wenngleich Glum bei den regelmäßigen Abteilungsbesprechungen jedesmal im Brustton der Überzeugung von der Effizienz seiner Wächter und der "Unentbehrlichkeit ihres Aufgabenbereichs" sprach, welchen sie "ganz und gar und das auch noch hochprofessionell im Griff" hatten. Aber sie war nicht hier um sich über derlei Belange ein Urteil zu bilden. Der kommissarische Abteilungsleiter der DOG hatte Minas Wissens nach zwei Räume zur Verfügung. Als eine Anwesenheitsbekundung ihrerseits an der ersten Tür nach der Treppe keine Reaktion hervorrief, ließ sie sich von den kleinen Namensschildern an den Büros bis zum Raum der gelben Froide führen - aus welchem in diesem Moment das Klirren von zerbrechendem Porzellan, gefolgt von einem frustrierten Fluch auf Zwergisch, erklang. Offensichtlich hatte sie Glück.
"Ja, was denn?", schnarrte eine verärgerte Stimme auf ihr Anklopfen hin.
Mina steckte den Kopf durch die nur angelehnte Tür.
"Hast du einen Moment Zeit?"
Der Zwerg hob langsam den Blick von den Resten eines Tellers nebst sehr buntem Backwerk, welche sich großflächig über den Boden verteilt hatte und machte ein verkniffenes Gesicht.
"Hast du zufällig Kuchen dabei?"

Ein lautes Scheppern ließ Senray hochfahren, wobei sie sich versehentlich den Stift, welchen sie noch immer mit der rechten Hand umklammert hielt, quer über's Gesicht zog. Das damit einhergehende leichte Brennen hatte jedoch insofern sein Gutes, als dass es die Phase der Desorientierung der aus dem Schlaf Gerissenen erheblich verkürzte. Die junge Wächterin blinzelte, bewegte die steifen Schultern und versuchte vergeblich sich daran zu erinnern, was sie in dem Bericht vor ihrer Nase eigentlich hatte ändern wollen, bevor der eigene Körper ihr eine Pause verordnet hatte. Die Anspannung der letzten Zeit forderte mehr und mehr ihren Tribut. All die Sorgen, der Frust, das ständige auf-der-Hut-sein, immer begleitet von der Angst, im entscheidenden Moment könnte es ihr an Aufmerksamkeit fehlen oder sie gar die Kontrolle zu verlieren... das schlauchte. Zumal ihre Aufgaben im Zuge ihrer Spezialisierung auch nicht gerade das waren, was man als entspannend bezeichnen konnte. Immerhin, durch das Training mit Maggie hatte Senray das Gefühl, schon etwas mehr zu tun als noch ein paar Tage zuvor. Dennoch teilte sie den Optimismus, welchen die Kollegin hinsichtlich der Bekämpfung ihres "Feuerproblems" und der damit einhergehenden Suche nach Ophelia an den Tag legte, nur bedingt. Was, wenn das alles umsonst war? Was, wenn sie am Ende gar nicht auf die Verschwundene reagierte, sondern auf ganz andere Einflüsse? Und sollte es immer schlimmer werden und sie eines Tages sogar eine Gefahr für das Leben anderer darstellen, was blieb dann noch als ein abgeschiedenes Dasein, irgendwo ganz allein, bis irgendwann... Die Obergefreite schüttelte energisch den Kopf und verbot sich, in dieser Richtung weiterzudenken. Das war doch lächerlich! Sie war ganz klar übermüdet und nur darum schlug ihr Gehirn diese Kapriolen. Sie musste sich ablenken, zum Tagesgeschäft zurückkehren, ihre Mitte finden und vor allem: Ruhe bewahren! Ja, das war das A und O.
Senray unterschrieb den Bericht vor sich, sortierte die einzelnen Seiten und erhob sich von ihrem Schreibtisch, um das Schriftstück umgehend bei ihrem Abteilungsleiter abzugeben.Vorsichtig manövrierte sie sich durch die im Raum verteilten Aktenstapel bis zur Tür, atmete noch einmal tief durch und straffte dann ihre ganze Gestalt, bevor sie hinaus trat. Glum würde keinen Anhaltspunkt dafür finden, dass sie während der Arbeitszeit eingeschlafen war!
Aus dem Büro des Zwergs drangen leise Stimmen, doch sie würde ja nicht lange stören. Wenn sie mit dem Papierkram fertig war und ihr Vorgesetzter keinen weiteren Aufgaben hatte, vielleicht konnte sie dann auf's Dach steigen und ein wenig mit Mistvieh arbeiten? Wenngleich bei diesen Ausflügen nun auch immer das schlechte Gewissen mitschwang, da Glum ihr eindeutig zu verstehen gegeben hatte, dass Diensttauben eigentlich nicht für private Zwecke zu verwenden waren. Senray wollte keinesfalls riskieren, dass man ihr Mistvieh am Ende noch wegnahm, weil sie sich einer direkten Anweisung widersetzt hatte. Sie würde in Zukunft noch umsichtiger als zuvor agieren müssen.
Die Obergefreite klopfte betont schwungvoll an und das Gemurmel verstummte.
"Wer da?"
"Ich bin es, Sör, ich wollte nur ganz kurz..." Das nächste Wort blieb Senray sprichwörtlich im Halse stecken und nur mit Mühe konnte sie das Verlangen unterdrücken, auf den Gang zurückzuweichen, als sie der Gesprächspartnerin ihres Abteilungsleiters ansichtig wurde. Mina von Nachtschatten sah nicht glücklich aus, auch wenn der Grund ihres Unmutes wohl nicht in der Störung durch Senray selbst begründet lag. Bestimmt nicht. Hoffentlich.
Die Obergefreite räusperte sich.
"Also... das hier, äh..." Sie winkte kläglich mit den Seiten in ihrer Hand.
"Einen Moment, Senray, ich bin sofort für dich da", erwiderte der Zwerg, hielt dann aber inne, kniff die Augen zusammen und unterzog seine Untergebene einer sehr eingehenden Musterung.
"Was hast du da mit deinem Gesicht angestellt?", wollte er wissen.
Instinktiv wischte sich Senray mit der freien Hand über Stirn und Augen und die Röte schoss ihr in die Wangen, als sie Kohlespuren an ihren Fingern entdeckte. Bei ihrem plötzlichen Erwachen musste der Stift Spuren hinterlassen haben und jetzt hatte sie das Ganze bestimmt nur noch schlimmer gemacht! Und das ausgerechnet vor zwei ranghöheren Kollegen, von denen die eine ihr auch so schon panische Angst einjagte.
"Äh...", war alles, was sie herausbrachte.
Glum schnaubte missbilligend.
"Wenn das keine neue Art der Tarnung sein soll, dann trag diese Sorte der Bemalung doch bitte in deiner Freizeit. Im Dienst haben solche Experimente nichts verloren."
"Natürlich Sör... Verzeihung... ich habe nur..."
"Jajaja, schon gut. Diese Mannschaften heutzutage", grummelte Glum abwehrend, bevor er sich wieder seiner Besucherin zuwandte. "Aber wie ich eben schon anmerkte: Ich kann dir da wirklich nicht weiterhelfen. Leider. Mich würde auch interessieren, wo sie steckt. Aber die Stadt frisst ihre Leute auf, das weiß man ja, und wenn jemand einmal verschwunden ist... oder verschwinden wollte, so sicher kann man sich in diesem Fall ja nicht sein..." Er hob die Hände in einer ratlosen Geste. "Aber falls mir etwas zu Ohren kommt, einmal abgesehen davon, als wie unwahrscheinlich ich das erachte... ja, Senray?"
Erst jetzt fiel der Obergefreiten auf, dass sie ihren Vorgesetzten ungläubig anstarrte. Unter all der Müdigkeit und der Erschöpfung hatte es während Glums letzter Sätze angefangen zu brodeln: Wie konnte ihr Abteilungsleiter auch nur eine Sekunde davon ausgehen, Ophelia hätte absichtlich verschwinden wollen? Kannte er sie so schlecht? Schätze er sie als derart unzuverlässig ein, als in der Lage dazu, ihren Freunden und Kollegen wissentlich Kummer und Sorgen zu bereiten?
"Senray? Was ist, hast du einen Geist gesehen?"
"Sie wollte nicht verschwinden..." Hatte sie das eben tatsächlich laut gesagt? Wachsende Panik verdrängte den Ärger und sie sah hektisch von einem Vorgesetzten zu der anderen, während Erinnerungsfetzen von ihrem letzten Gespräch mit Magane vor ihrem geistigen Auge aufblitzten. Wir werden sie finden, hatte die SuSe gemeint. Von uns hatte sie gesprochen. Senray war automatisch davon ausgegangen, sie habe sich damit nur auf sie beide bezogen. Aber vielleicht... vielleicht wurde auch an anderer Stelle gesucht? Diese Möglichkeit kam Senray in diesem Augenblick zum allerersten Mal in den Sinn und ihr wurde umgehend schlecht. Hatte sie am Ende gar entscheidende Informationen vorenthalten, mit denen andere etwas hätten anfangen können? Aber hätte Maggie ihr das nicht erzählt? Beziehungsweise: Andersherum?
"Woher willst du das denn wissen?" Glums Stimme lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Hier und Jetzt. Der Zwerg hatte skeptisch die buschigen Augenbrauen gehoben. "Du kennst sie doch gar..."
"Von wem sprichst du?", mischte sich Mina von Nachtschatten an dieser Stelle in das Gespräch ein.
Senrays Atem ging stockend und sie hatte die dringende Befürchtung, soeben einen Punkt überschritten zu haben, von dem es kein Zurück mehr gab. Konnte sie einfach weglaufen und der Situation so entkommen? Aber würde sie sich danach nicht noch viel furchtbarer fühlen? Das Einzige, was ihr demnach jetzt noch blieb war die Flucht nach vorn und ihre Stimme nicht mehr als ein Wispern, als sie antwortete:
"Na, von Ophelia..."
Eine kurze irritierte Stille senkte sich über den Raum. Schließlich räusperte sich Glum.
"Senray, ich befürchte, du hast da etwas vollkommen missverstanden..."
"Was weißt du darüber?" Wieder die von Nachtschatten. Sie ignorierte das verärgerte Schnauben des DOG-Abteilungsleiters ob der Tatsache, dass sie ihn erneut unterbrochen hatte und fixierte Senray mit diesen unheimlichen grauen Augen. So musste sich das Kaninchen vor der Schlange fühlen.
"I-ich... also, also ich habe versucht... aber... Maggie hat gemeint..."
Der Chief-Korporal erhob sich.
"Glum, kann ich mir Senray mal eben ausleihen? Es dauert nicht lang."
"Sicher, wenn ich sie dann an einem Stück zurückbekomme." Der Zwerg zuckte mit den Schultern. "Obergefreite, komm im Anschluss bitte noch einmal zu mir, ich habe noch etwas mit dir zu besprechen."
Unterdessen kam die Vampirin auf Senray zu.
"Ich würde mich gern mit dir unterhalten. Am besten in deinem Büro?"
Senray nickte stumm - was blieb ihr jetzt auch anderes übrig? In ihrem Kopf drehte sich alles. Rasch wandte sie sich zum Gehen und stolperte zurück in Richtung kahrmesinrothes Ritherzimmer - sie wollte die Andere nicht länger als nötig in ihrem Rücken wissen. Erst als sie die Hand bereits nach der Klinke ausstreckte fiel ihr auf, dass sie noch immer den mittlerweile völlig zerknitterten Bericht bei sich trug.

Senray erzählte. Oder besser, sie stammelte, stotterte, unzusammenhängend, viel zu schnell, verhaspelte sich und fing Sätze noch einmal von vorn an oder brachte sie erst gar nicht zu Ende. Gleich nachdem die Tür ins Schloss gefallen war und noch bevor Mina überhaupt die Gelegenheit gehabt hatte, eine Frage zu stellen, hatte ein wahrer Redeschwall seitens der DOG-Obergefreiten eingesetzt - ein verzweifeltes Bemühen, sich zu rechtfertigen, dabei ja nichts zu vergessen und gleichzeitig zu versichern, wie leid es ihr tat, dass ihre bisherigen Anstrengungen derart sinnlos gewesen waren. Es war die Furcht, die sie dazu trieb, jede Sekunde mit den eigenen Worten zu füllen, die Furcht vor dem, was die Ranghöhere vielleicht sagen, wie ihr Urteil ausfallen würde. Diesen Moment wollte Senray so lange wie möglich hinauszögern. Ihr war nur zu bewusst, welch klägliches Bild sie dabei abgab: Ein Häufchen Elend inmitten eines vollkommen chaotischen Büros, welches mit hochrotem Kopf hastig von Sachverhalten faselte, die objektiv betrachtet in dieser Reihenfolge kaum einen Sinn ergaben. Dabei stand sie so weit von der Anderen entfernt wie der Raum es zuließ, die Augen die meiste Zeit fest auf den Boden geheftet und noch immer die blöden Seiten in den Händen knetend. Aber der Teil von ihr, dem das peinlich war, war nahezu verschwindend gering im Vergleich zu jenem, welcher sich vollauf der Angst ergeben hatte und der es gar nicht abwarten konnte, sämtliche Details und auch die eher unangenehmen Wahrheiten an die RUM-Kollegin weiterzugegeben. So breitete Senray die gesamte Palette an Misserfolgen aus, welche ihr bis dato bei der Suche nach Ophelia mithilfe ihrer Taube widerfahren waren. Hoffend, die andere würde keinen noch schlechteren Eindruck von ihr bekommen, als es ohnehin schon der Fall sein musste, nur weil sie sich gescheut hatte, ohne handfeste Anhaltspunkte von ihren verzweifelten Bemühungen zu berichten. Das musste sie doch verstehen!
"Und, also, es wäre... wenn du, also Mä'äm... wenn Glum nicht erfährt, dass ich trotz allem... ich hab's ja nur, also, gut gemeint und...", kam sie schließlich zu Ende ihres Berichts und wagte einen flehenden Blick in Richtung der Ranghöheren.
Da sich Papiere, Mappen und Notizen auf allen erdenklichen Flächen stapelten hatte Mina in Ermangelung eines Sitzplatzes gleich neben dem Eingang Position bezogen und von dort Senrays Ausführungen gelauscht - gegen die Wand gelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt. Es war absolut unmöglich aus der Miene der Vampirin Rückschlüsse darauf zu ziehen, was in ihr vorging.
"Und das ist alles?", fragte die stellvertretende Abteilungsleiterin nun langsam und es klang tatsächlich ein wenig enttäuscht.
Senray war schon drauf und dran zu nicken, als sie aus dem Augenwinkel die Kissen und die Teekanne neben dem Schreibtisch wahrnahm, welche sie für die Sitzungen zur Emotionskontrolle benutzte. Sie zögerte kurz und biss sich auf die Unterlippe.
"Senray? So es da noch etwas gibt, dann wäre das jetzt der passende Augenblick. Du hast vorhin Maggie erwähnt..."
Nun, wenn sie schon einmal dabei war, dann konnte sie auch ganz auspacken. Zumal nicht abzuschätzen war, ob eine Lüge sie später nicht teuer zu stehen kommen würde. Blieb nur zu hoffen, dass sie damit nicht auch noch die Kollegin von SUSI in eine unmögliche Situation brachte.
Senray schloss die Augen und schüttelte den Kopf.
"Nein... Mä'äm, da ist noch... also ich habe..."
Stockend begann die Obergefreite von ihrer "Feuerproblematik" zu erzählen, wie sie sich damit ihrer Kollegin Magane anvertraut hatte und sie nun gemeinsam damit umzugehen gedachten. Dass sie eine Karte erstellten, mit den Punkten, an denen Senrays Fähigkeit zu Tage getreten war. Und so weiter. Doch irgendwann war alles gesagt und Stille senkte sich über den Raum. Senray wagte einen weiteren vorsichtigen Blick in Minas Richtung. Bildete sie sich das nur ein oder hatte sich eine verstärkte Anspannung in die Haltung der Anderen geschlichen? Die Vampirin fokussierte einen Punkt irgendwo über Senrays Kopf, anscheinend völlig in ihre eigenen Gedanken versunken. Dann:
"Warum erzählt mir sowas keiner?"
Auch wenn sie nicht besonders laut gesprochen hatte, die Schärfe der Worte ließ Senray ruckartig zurückweichen und ein sattes Rauschen verriet ihr, dass sie einen der Aktentürme später würde neu errichten müssen.
"Ist dir denn nie, auch nur im Entferntesten, der Gedanke gekommen, dass mich das interessieren könnte? Dass es wichtig sein könnte? Und ich rede hier nicht nur von den letzten Monaten."
"Ich... also... ich dachte, Mä'äm, also... dass du... ich, ich hatte nicht angenommen..."
"Ich beschäftige mich mit diesem Thema nicht zum Spaß, Obergefreite. Die Sache ist kein Geheimnis. Mag sein, dass die offiziellen Ermittlungen eingestellt wurden - aber du kannst doch nicht ernsthaft angenommen haben, du seist die Einzige, welche sich noch mit der Angelegenheit befasst..."
Senray schluckte schwer. Sie konnte nichts dafür, das manche Informationen das Boucherie nicht oder nur teilweise erreichten. Doch selbst wenn es anders gewesen wäre - sie war sich nicht sicher, ob das für ihr Handeln einen Unterschied gemacht hätte. Etwas pikte in ihren Finger und erst jetzt fiel ihr auf, dass sie schon die ganze Zeit mit einem Streichholz herumspielte, welches sie unbewusst aus ihrer Tasche gepfriemelt hatte. Schnell schloss sie die Hand zu einer Faust.
"...doch wenn hier jeder nur seine eigene Suppe kocht und Informationen zurückhält und nein, ich rede hier nicht von Details sondern von wichtigem Wissen, mit dem man etwas anfangen kann... wenn es keiner für nötig befindet, solche Dinge auch nur mit einem Wort zu erwähnen und Alleingänge vorzieht, die nebenbei bemerkt in deinem Fall auch nicht ungefährlich zu sein scheinen..."
An dieser Stelle unterbrach sich Mina. Sie schüttelte frustriert den Kopf und sah Senray dann lange an. Diese starrte zurück und versuchte erfolglos, ihre nunmehr zitternden Finger unter Kontrolle zu bringen. Das Streichholz entglitt ihr. Doch das war in diesem Moment egal. Ebenso wie das, was jetzt vielleicht noch kommen mochte. Alles was Senray wollte war, dass diese Situation endlich vorüber ging. Dann konnte sie sich verkriechen, irgendwo, allein mit ihrem Elend, an einem Ort wo sie sich niemandem stellen, sich nicht rechtfertigen und am Ende doch dumm vorkommen musste! Ihre Sicht begann langsam von den Rändern her zu verschwimmen. Nein, sie würde jetzt nicht weinen, alles bloß das nicht!
Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte sie schließlich wie Mina seufzte - doch es klang nicht mehr verärgert, eher bedrückt. Und auch als die Vampirin nun weitersprach hatte ihre Stimme einen sehr viel sanfteren Tonfall angenommen:
"Gut. Es hat wohl keinen Sinn, sich über Dinge zu streiten, welche nun ohnehin nicht mehr zu ändern sind. Zumal...", sie atmete tief durch, "Zumal dahingehend wohl alle Beteiligten einmal in sich gehen sollten." Sie löste ihre bisherige Haltung auf und schickte sich an, Senrays Büro zu verlassen. "Ich möchte dich bitten, mich ab jetzt auf dem Laufenden zu halten, in Ordnung?", meinte sie noch. "Schließlich verfolgen wir ein gemeinsames Ziel."

12.03.2017 1: 18

Wilhelm Schneider

Der werwölfische Rechtsexperte der SEALS hielt die Augen offen und seine Sinne auf die Straße um sie herum ausgerichtet. Bis auf einen kurzen Stopp vor einem undeffinierbaren Müllhaufen, würde er für diese Streife wohl nichts Ungewöhnliches in das anschließende Protokoll schreiben können. Der Rekrut an seiner Seite hatte etwaigen Herzschlag innerhalb des Objektes verneint. Was sehr praktisch war. Und auf die lehrbuchmäßige Fragestellung, was sie denn hätten tun müssen, wenn sie sehr wohl ein Lebenszeichen vorgefunden hätten, antwortete er obendrein in vorbildlicher Weise mit der Aussage "Ihn schlafen lassen, Sör?" Was wirklich beruhigend war! Ein Rekrut weniger, der zu offensichtlichem Leichtsinn neigte und um den man sich folglich sorgen müsste. Überhaupt, war Rekrut Schneider ziemlich unkompliziert, wie es schien. Eigentlich mochte Jargon Vampire nicht sonderlich gern. Man konnte sie nicht gut einschätzen. Meistens schien ein gesundes Misstrauen ihnen gegenüber angebracht. Aber das musste natürlich nicht für alle gelten. Es wäre dummer Leichtsinn gewesen, eine ganze Bevölkerungsgruppe über einen Kamm zu scheren. Er selber war ein gutes Beispiel dafür. Wäre es ihm schließlich recht gewesen, wenn man einen potentiell aggressionsgesteuerten Triebtäter in ihm gesehen hätte, anstelle eines hart arbeitenden Wächters, der sich im Griff hatte?
Jargon warf einen kurzen Blick auf den schweigsamen Kollegen an seiner Seite. Just in diesem Moment seufzte jener leise aber deutlich vernehmbar. "Hm?"
Der Vampir sah auf. "Ach, nichts. Ich dachte nur eben... dieser Müllhaufen... wenn nur alles so einfach wäre, wie die Schlussfolgerung, nur aufgrund der speziellen Fähigkeit eines Wächters."
Jargon sondierte den Tolle-Schwestern-Platz, ehe er zustimmend brummte. "Ja, wäre schön."
Der Rekrut schien dem Thema ernsthaft nachzuhängen, denn nach kurzem Zögern fuhr er fort. "Wobei es vermutlich fast noch praktischer sein könnte, über deine Sinne zu verfügen. Oder? So als Wächter? Ich meine... sobald es um einen Fall geht, bei dem jemand verschwunden wäre... wenn das Opfer tot wäre, könnte ich es beispielsweise nicht mehr finden. Aber du..."
Er war inzwischen schon eine ganze Weile Wächter und konnte nicht verhindern, dass sich der typisch süßliche Geruch von vergessenen Toten in seine Erinnerung schlich. Er schüttelte sich innerlich, antwortete jedoch äußerlich gelassen. "Ja, ich könnte auch noch eine Leiche erschnüffeln. Jedenfalls, wenn ich irgendeinen Anhaltspunkt dafür hätte, wo sie sein könnte."
Der neugierige Blick des Kollegen ruhte spürbar auf seiner Haut.
"Ist sowas schon mal passiert, Sör?"
"Mir, meinst du? Bisher noch nicht. Aber ich bin ja auch keiner der klassischen Ermittler. Für solche Einsätze sind unsere Kollegen von RUM und FROG deutlich besser geeignet. Bisher bin ich ja tatsächlich eher auf die Büroarbeit spezialisiert. Ich bin weniger hier draußen als die Leute von RUM. Außer zur Streife. Da kann die Nase schon nützlich sein." Aus einem Impuls heraus witterte er, wie zum Beweis, in die Luft und schlussfogerte: "Ankh." Er musste sich räuspern, um einem Hustenreflex zuvor zu kommen.
Der Kollege an seiner Seite schmunzelte. "Vermutlich gerade weniger nützlich?"
Sie lachten.
"Richtig. Mir wurde ja nahegelegt, dass ich das Rauchen anfangen sollte, um diesen Geruch aus der Nase zu kriegen. Aber ich weiß nicht. Sobald ich aufhöre zu Rauchen, ist er ja gleich doppelt so intensiv."
Sie näherten sich mit lässigem Schlenderschritt dem Geldfallenweg und die gelöste Stimmung war angenehm. So eine langweilige Streife mit einem unaufdringlichen, humorvollen Kollegen... das war ziemlich in Ordnung. Ihr Gespräch plätscherte vor sich hin. Worüber, wenn nicht über Belanglosigkeiten, sollte man sich auch unterhalten, bei einer Pflicht wie dieser? Die Nase des Werwolfs sagte ihm noch mehr, als sein taxierender Blick, dass Wilhelm Schneider kein Raucher war. Aber dessen typischer Vampirgeruch überlagerte vieles Andere, so dass das nicht schon immer zugetroffen haben mochte. Er war neugierig. "Hast du nie geraucht?"
Der Rekrut schüttelte schnell den Kopf. "Ich? Nein, bewahre! Das verunreinigt die Lunge. Ich habe eine hoffentlich noch lange Existenz vor mir und die möchte ich nicht damit zubringen, von innen nach außen zu verrotten und mit sich ansammelnden Ausfallerscheinungen umgehen zu müssen. Das wäre lästig. Und auch nicht unbedingt gesellschaftsfähig."
Jargon spürte einen typisch ablehnden Impuls in sich aufsteigen, einen jener Sorte, die er seit seiner Wandlung zum Werwolf regelmäßig zu unterdrücken versuchte. Und natrürlich bist du die viel reinere, bessere Spezies, nicht wahr? Äh, halt. Das hat er nicht gesagt. Ich bin irrational und viel zu leicht reizbar. Für einen kurzen Moment ärgerte er sich über sich selbst. Aber nur sehr kurz. Denn die nächste Frage des Rekruten traf ihn unvorbereitet, quasi aus heiterem Himmel.
"Hmmm... weil du eben was von den Leuten von RUM sagtest... im Zusammenhang mit dem Suchen auf den Straßen... ich weiß, dass es vor meiner Zeit in der Wache eine Kollegin dort gab, die verschwunden ist. Hat damals auch ein Werwolf die Gelegenheit zur Spurensuche genutzt? Vielleicht sogar du selber, Sör, wo es doch eine so große interne Sache war?
Die Bilder der Erinnerrungsflut wirkten auf ihn ein, während der Rekrut unbedarft weiter redete.
"Immerhin haben sich die Wogen dazu ja immer noch nicht gelegt! So viel, wie man in der Kantine an Munkeleien hört?"
Er war sich irgendwo mit einem entfernten Teil seines Bewusstseins darüber im Klaren, dass sein Puls rapide angestiegen war und seinen leichten Tonfall Lügen strafen musste. Aber das war leider nicht zu ändern.
"Was, wirklich? Immer noch? Ich dachte, die meisten haben aufghört darüber zu reden?"
"Es wird nicht ständig darüber geredet. Aber es gibt jede Menge kleiner Bemerkungen, die sich nur aus der Sache damals herleiten lassen."
"Soso."
"Ich meine...", der Kollege zuckte mit unschuldigem Grinsen mit den Schultern. "Woher sollte ich sonst davon wissen?" Er schien auf eine Erwiderung zu warten. "Und? Sör? Hast du damals geholfen?"
Seine Erinnerungen eilten an der Straße in die persönliche Vergangenheit entlang, zurück, zurück, immer weiter, bis zu dem Punkt, an dem blutige Pfade sich in Finsternis kreuzten und...
"Ich war damals... wegen persönlicher Dinge... ach... weißt du eigentlich, seit wann ich Werwolf bin?"
Sein Atem ging schneller, als es für den ereignislosen Status der Streife angemessen war. Es passierte ja schließlich nichts!
Der Rekrut beobachtete ihn nun mit offensichtlicher Neugier. "Nein, Sör. Das weiß ich nicht."
"Seit etwa... naja... jedenfalls... damals sind... Dinge passiert, die mich verändert haben. Und das war nicht ganz leicht, für mich. Und dass diese Kollegin verschwunden ist, fällt in diesen Zeitraum... irgendwie..." Er versuchte, tief durchzuatmen, stieß die Luft aber gleich wieder frustriert aus. "Ach was rede ich! Natürlich habe ich gesucht. Aber es hatte keinen Zweck." Er ärgerte sich. "Ich konnte ihre Spur nicht finden, jedenfalls keine, die frisch war. Und ich war mit meiner Nase sowieso um einiges... unerfahrener, als meine Kollegen. Irgendwann musste ich... naja..." Sein Blick wanderte zu dem unauffällig lauschenden Kollegen und blieb an diesem hängen. Ein Gedanke tauchte auf und forderte hartnäckig Aufmerksamkeit ein. Was genau weiß er eigentlich? Das sollte sich leicht klären lassen!
"Was weißt du denn eigentlich über diese Sache?"
Ein flüchtiges Lächeln huschte über dessen Gesicht, ehe er gelassen antwortete. "Ach, nicht viel. Was man halt so hört. Dass die Kollegin irgendwie krank gewesen sein soll. Dass sie große Schwierigkeiten hatte. Irgendwas mit dem Kopf, weswegen sie... Hausarrest hatte? Stimmt das?"
Sie näherten sich der Esoterischen Straße, als Jargon bemerkte, dass er - von sich selbst unbemerkt - damit begonnen hatte, mit seinen werwölfischen Sinnen nach Hinweisen am Rekruten zu suchen, nach Gerüchen zu fahnden, die ihm etwas über dessen Gefühlszustand, über dessen Motive hätten verraten können. Er schaute betroffen beiseite und fühlte sich gewissermaßen ertappt. Zugleich versuchte eine innere Stimme, sein Schuldgefühl zu relativieren. Warum sollte ich nicht schnuppern? Ich bin ein Werwolf. Die tun sowas. Das laut geäußerte Gespräch tastete sich derweil ebenfalls weiter voran.
"Ja," sagt er knapp angebunden. "Das trifft zu."
Wilhelm Schneider warf ihm einen zweifelnden Blick zu, als dieser fast entschuldigend seine nächste Frage stellte. "Es heißt, dass sie sich mit dem Kommandeur angelegt hat?"
Jargon brummte missbilligend. "Naja, angelegt..."
"Vielleicht war das in Wirklichkeit der Grund dafür, warum sie im Wachhaus eingesperrt wurde? Naja, so munkelt man halt..."
Er schnupperte nun doch vorsichtig in Wilhelms Richtung, unauffällig.
"Du meinst, er hätte sie im Wachhaus eingesperrt, weil sie sich mit ihm angelegt hat? Nein, sicher nicht. Der Grund war ein anderer." Er folgte einer Eingebung und ließ sich bewusster auf das Gespräch mit dem neugierigen Rekruten ein. Irgendein undeffinierbares Etwas zupfte an seinem Gespür, ließ seine Fingerspitzen und seine Kopfhaut leicht kribbeln. "Seit wann bist denn du bei der Stadtwache?"
"Noch nicht so furchtbar lange. Ich bin kurz nach der Sache dazugekommen. Als ich hier anfing war das noch ganz frisch und alle redeten dauernd davon."
"Natürlich."
Wilhelm lachte kurz auf. "Ich weiß nicht mal, wie sie aussah!"
Der Dufthauch, der diese Reaktion begleitete, bestätigte ihm mehr als deutlich, dass der Vampir diesen Gedanken tatsächlich belustigend fand, deutlich lustiger, als Jargon es im Kontext der eher unbeteiligt wirkenden bisherigen Aussagen erwartet hätte.
"Hm..." Längst schon hatte er damit aufgehört, die Umgebung und die Passanten auf der Route einer kritischen Beobachtung zu unterziehen. Seine Gedanken kreisten nun um Ophelias Verschwinden, um die groß angelegte Suchaktion direkt danach, um die Enttäuschung innerhalb des Kollegiums... "Wer hat denn in der Kantine darüber geredet?"
"Damals? Nahezu jeder."
"Nein, ich meine, kürzlich."
"Ach..." Wilhelm Schneider winkte lässig ab. "Ich kann mir die ganzen Namen so schlecht merken. Menschen sehen ja auch alle irgendwie gleich aus."
Meint er das etwa ernst? Jargon konnte nicht verhindern, dass er den Kollegen fassungslos anstarrte. "Diese Einstellung ist eine sehr ungünstige Voraussetzung, wenn man in der Stadtwache produktive Arbeit leisten möchte. Sorge dafür, dass das besser wird!"
Der Vampir lachte mit leicht spöttischem Unterton und salutierte lässig. "Jawohl, Sör!"
Jargon merkte, wie sich verschiedene Emotionen, die sich im Laufe ihrer gemeinsamen Streife in ihm angesammelt hatten, zu einem unguten Ganzen zu verweben begannen: Entspannte Unvorsicht, aufgrund der gemeinsamen Scherzereien. Wut und Frustration aus den Erinnerungen an die erfolglose Suche. Der ständige Widerstreit seines Innersten, wenn es um instinktive Reaktionen auf äußere Reize ging. Das seltsame Misstrauen, das in ihm anstieg und sich weder erklären, noch leugnen ließ... er spürte, wie sich ein unangemessenes Grinsen auf seine Lippen schlich. Es fühlte sich ein wenig gefährlich an. Und blieb gänzlich unbemerkt seitens des Kollegen. Er räusperte sich.
"Nun, es hätte mich auf jeden Fall interessiert, zu wissen, wer über diese Sache noch redet. Außer dir, meine ich."
Und wieder fühlte sich die Antwort des sorglos schlendernden Kollegen für Jargon so an, als wenn er auf einem Untergrund gestanden hätte, den ihm jemand gerade mit einem kräftigen Ruck ein Stück weit unter den Füßen beiseite gezogen hätte.
"Hmmm... zumindest die RUM-Kollegin von Nachtschatten scheint noch nicht damit abgeschlossen zu haben, würde ich meinen."
"Ach was!"
Sie betraten den Platz der gebrochenen Monde.
Wilhelm nickte und schaute sich dabei streifemäßig um.
Der Rechtsexperte fragte gedehnt. "Ich habe nicht allzu viel Kontakt mit ihr im Moment. Es scheint, du schon eher. Verstehst du dich gut mir ihr?"
Ein geheimnisvolles Grinsen war anscheinend aus Sicht des Kollegen Antwort genug. "Was man eben so unter Kontakt versteht. Zumindest hatten wir vor ein paar Tagen einen netten Plausch. Und dabei kam unter anderem zur Sprache, dass sie noch immer nach der Kollegin sucht. Was an sich nicht überraschend ist, wenn man die Gerüchte über ihre Pinnwand zur Kenntnis genommen hat."
Unwillkürlich stand ihm das Bild Mina von Nachtschattens vor Augen. Deren gehetzter Blick in den Tagen und Wochen nach Ophelias Verschwinden, wie sie noch blasser zu werden schien, erschöpft war, kurz angebunden. Ein Dauerzustand, an dem sich seither nichts mehr geändert hatte.
"Ich gebe nicht viel auf Gerüchte... aber, ja, es ist nicht wirklich erstaunlich."
Wilhelm wirkte mit einem Mal ambivalent. Jargon hätte es schwer gefunden, diesen Eindruck mit Worten zu begründen. Aber was er instinktiv spürte, das waren zurückgehaltene winzige Muskelbewegungen, eine Art Innehalten des untoten Körpers an seiner Seite, das Äquivalent der Lautlosigkeit eines Raubtiers auf der Pirsch. Es war nicht, was der Vampir tat - es war mehr eine Ahnung davon, was er nicht tat.
"Stimmt es, dass die verschwundene Kollegin am Abend vor ihrem Untertauchen die von Nachtschatten angegriffen hat? Das ist doch total seltsam, wenn man bedenkt... also... vielleicht hing das alles ja miteinander zusammen? Hat da schon mal jemand drüber nachgedacht?"
Jargons Blick sprang schlagartig zu Wilhelm über und er starrte ihn unverhohlen an. "Du weißt mehr, als du zugibst. Woher weißt du davon? Das ist nicht einfach nur ein Gerücht, das man sich erzählt."
Der Rekrut wurde ungewöhnlich zurückhaltend. Sein Blick richtete sich fast verträumt auf seine Schuhspitzen und er blieb stehen, mit den Händen tief in seinen Hosentaschen, versunken, mitten im vorüberdrängelnden Passantenstrom.
Jargons Stimme nahm einen scharfkantigen, fordernden Ton an. "Rekrut Schneider... woher weißt du davon?"
Die Antwort klang leicht geistesabwesend und allmählich bekam die Situation etwas absurd Bedrohliches, das ihm einen Schauer über den Rücken hochjagte.
"Hmmm... es gibt verschiedene Arten von Gerüchten, Sör?"
"Nie im Leben! Es gibt nur Wenige, die das mitbekommen haben."
"Sör, es gibt solche Gerüchte, die man sich innerhalb des Wachhauses erzählt... und die anderen..."
"Von wem genau weißt du es?"
Wilhelm blinzelte verträumt. "Zumindest die verschwundene Kollegin hatte es mitbekommen... und ich habe mir sagen lassen, dass sie selber... großzügig mit Informationen umging."
"Was willst du mir damit sagen? Findest du das etwa witzig?"
Der Vampir schüttelte langsam den Kopf.
Und da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen! "Du... du hast sie schon vorher gehört! Du hast... natürlich. Als Vampir hast du es wahrscheinich die ganze Zeit über mitbekommen. Du hast mich an der Nase herumgeführt!"
Er konnte nicht verhindern, wie alles von damals sich in seinem Sinn von Neuem abzuspielen begann, wie ihm die Nacht vor Ophelias Verschwinden wieder voll gegenwärtig war. Seine innere Unruhe. Der Zwang, nach ihr zu sehen, weil damals nahezu alles, was die Routine unterbrach, irgendwie mit Ophelia zusammenhing und er fast permanent in unterschwelliger Sorge um sie war. Sein Beinahesturz auf der Treppe, als ihn Panik und Schmerz trafen. Die Schreie. Der füchtige Moment, als sie an ihm vorbeihuschte und sie seinen Versuch, sie anzusprechen und aufzuhalten, nicht einmal wahrnahm. Wie sie mitten im Rennen nach der Waffe an ihrem Bein tastete. Die Blutspuren. Minas eiskalte, gepresste Stimme. Ophelias totenbleicher Gesichtsausdruck, als sie offensichtlich im Schock an ihm vorbei flüchtete, seine Fragen ignorierend. Die unverrückbare Barriere ihrer von innen verschlossenen Bürotür. Der wechselhafte Reigen der Kollegen vor dieser Tür, die auf sie einredeten und doch Stunde um Stunde lediglich mit freundlicher Geduld und weinender Stimme abgewiesen wurden. Minas fremder Blick aus tiefschwarzen Pupillen, inmitten eines papierweißen Gesichts. Offene Fragen, ohne Antworten! Und immer wieder die Erinnerung an das Gefühl der Beklemmung im Nacken, im Kopf! Als wenn dieses Gefühl ihn seit dem nicht wieder losgelassen hätte, als wenn...
Er sah sich gehetzt um, automatisch nach Blut witternd. "Was..."
Wilhelm erwiderte seine Panik mit Arglosigkeit. "Ist alles in Ordnung, Sör?"
Ein unterschwelliges Zittern hatte seine Muskeln erfasst und die Beklemmung strich mit eisigen Fingern über seine Nerven. Er spürte, wie das Haar seiner zweiten Natur unter seiner Haut zu prickeln begann und wie es mit aller Macht danach drängte, sich nach außen zu stülpen. "Spürst du das auch? Merkst du das? Irgendwas..."
Wilhelm Schneiders Blick ruhte fast milde auf ihm. "Was meinst du, Sör?"
Der Strom der Erinnerungsbilder brach unnatürlich entzwei und schlitterte einerseits weiter an seinem inneren Auge vorüber, wie ein unaufhaltsamer Zug auf gerader Strecke in Überwald, während eine Sequenz wie herausgeschlagen, als auf der Spitze kreiselnde Scherbe, gegenwärtig blieb. Ophelias geisterhaftes Gesicht, wie sie gleich einem heruntergekommenen Gespenst aus der Höhle ihres unbeleuchteten Büroraumes stürzte, abgemagert, den Haaransatz grotesk umkränzt mit dem leuchtend bunten Farbband teilweise aufgebrochener Brandblasen. Dieser starre, entschlossene Blick, der auf gar keinen Fall zu ihr passte. Unnachgiebig. Bereit, zu töten! Ebenso wenig wie ihre eiskalte Stimme, die nur Sekunden später aus von Nachtschattens Büro erklang: "Tritt beiseite, Korporal, das ist ein Befehl!"
Jargons Blick huschte panisch umher, ohne auch nur das Geringste von der ihn umgebenden Realität wahrzunehmen. Er flüsterte entsetzt: "Es ist wieder..."
"Ja?"
"...wie damals!"
Wie von weit her die Stimme des Rekruten. "Was genau meinst Du, Sör?"
Wilhelms emotionslose Fragen. Das Bild Ophelias, welches sich immer weiter und weiter auf der Stelle drehte. Der panische Drang, einen Angriff abzuwehren.
Das bin nicht ich... Etwas war in seinem Kopf! Er starrte Wilhelm an, der diesen Blick zwar unbewegt konterte - aber einen winzigen Schritt nach hinten auswich. Er versuchte die fremde Präsenz in sich allein mit Willenskraft von sich zu schieben, hatte aber nicht das Gefühl, damit irgendwas zu ändern. "Wilhelm... bist du das?!"
"Was soll ich sein, Sör? Geht es dir nicht gut? Kann ich irgendwas für dich tun?"
Der fremde Druck in seinem Schädel ließ fast unmerklich nach. Aber nicht schnell genug für Jargons Geschmack. Und nun war er sich sicher.
Seine Hand schnellte mit Wucht vor - und traf auf Widerstand!
Der Rekrut ging blinzelnd zu Boden.
Jargon richtete seinen Blick nach innen und tastete unsicher in seinem Sinn nach der fremden Präsenz, so wie man mit der Zungenspitze nach einem Loch im Zahn suchen mochte. Nichts mehr! Womit seine Theorie wohl als korrekt angesehen werden konnte. Er blickte mit gerunzelter Stirn auf den Untergebenen herab, der sich soeben auf dem Kopfsteinpflaster aufrappelte und beinahe verblüfft zu ihm aufsah. Dessen Kieferhaltung entsprach nicht mehr der anzunehmenden Norm. Was durch ein schmerzerfülltes Zusammenzucken des Rekruten bestätigt wurde, als dieser versuchsweise nach seinem Gesicht tastete.
Sie sahen einander wortlos an.
Der Werwolf massierte seine schmerzende Hand. "Wilhelm, du warst in meinem Kopf. Ich mag das nicht."
Der Vampir am Boden hielt sich wie schützend den Kiefer, widersprach aber nicht. Ein tiefer Seufzer löste sich aus seiner Kehle.
Um sie herum bildete sich eine kleine Traube hocherfreuter Gaffer und Jargon wurde sich wieder der Umgebung bewusst. Das hier war keine gute Reklame für die Wache! Wenn es sich herumsprechen sollte, dass heute zwei Wächter auf dieser Route sich gegenseitig verprügelt hatten... Kurz sah er sich bereits vor den Kommandeur zitiert. Und eine kleine Stimme in seinem Kopf wollte ihn beschwichtigen, indem sie einwand: Macht nichts, du bist Rechtsexperte, du findest einen Weg. Aber gleichzeitig ärgerte er sich über sein ungestümes Wesen, seit der Wandlung, und war versucht, den Vorfall damit zu erklären. Sowas wäre mir doch früher nicht passiert, dass ich einfach einen Rekruten in meiner Obhut niederschlage! Oder? Das ist doch nicht richtig! Bin jetzt vielleicht sogar ich der eigentliche Schuldige?
Er hielt Wilhelm die Hand hin.
Dieser schaute ihn sehr skeptisch an. "Sör?"
"Ich will dir hochhelfen. Als eine Geste der Entschuldigung."
Wilhelm wollte ob der ungewöhnlichen Situation offenbar eines seiner schiefen Grinsen anbringen. Doch dieses geriet noch schiefer als üblich und er sog zischend die Luft ein, ehe er sie anhielt. Nach einigen Sekunden öffnete er wieder die Augen und begann, sich ganz bewusst zu entspannen. Er ergriff das dargebotene Friedensangebot und rappelte sich auf. Das bisher so erwartungsvoll der kommenden Dinge harrende Trüppchen der Schaulustigen, begann sich lustlos wieder zu zerstreuen.
Sie standen sich leicht unschlüssig mitten auf der Straße gegenüber.
"Nun denn... kannst du reden?"
"Geht so." Wilhelm hielt sich die flache Hand seitlich an den Kiefer. "Mift!"
"Was, Mist?"
"Das tut weh! Sör!"
Jargon verkniff sich den zufriedenen Gesichtsausdruck, der sich mit der aufsteigenden Genugtuung auf seinem Antlitz auszubreiten anschickte. "Macht Sinn. Ich habe etwas fester zugeschlagen, als ich wollte. Wie gesagt... ähm... was wolltest du überhaupt in meinem Kopf? Meine Erinnerungen an Ophelia ausspionieren? Was findest du so interessant an Ophelia?"
Wilhelm antwortete mit deutlich gekränktem Stolz und einer gehörigen Portion Trotz: "Ich fand alles an ihr interessant! Und jetzt?!"
Während sein Körper mit einem umfassenden Wohlbefinden darauf reagierte, jemandem eine Abreibung der altmodischen und unzivilisierten Art verpasst zu haben, breitete sich Gelassenheit in ihm aus. Die Anspannung war aus seinem Körper verschwunden, der Druck im Kopf hatte sich gelöst und die alles beherrschende Panik war schlicht und ergreifend fort. Er konnte wieder denken. Und deutlich entspannter mit dem Rekruten und dessen Gepflogenheiten umgehen. Warum nicht einfach dessen Worte auf ihren reinen Bedeutungsinhalt hin runterbrechen, anstatt eigene Vorurteile in sie hinein zu interpretieren? Er ließ sich seine Worte auf der Zunge zergehen, ob er zu ihnen stehen könnte. Aber da war nichts weiter über, als arglose Aufrichtigkeit.
"Daran ist nichts Verwerfliches." Trotzdem, er musste das klarstellen. Für die Zukunft! "Aber ich lasse mir eben nicht einfach in den Kopf schauen!"
Der Vampir hielt seinen Blick trotzig aufrecht, als er sagte: "Ich könnte mich dafür entschuldigen, Sör. Wenn es als unabdingbar nötig angesehen würde."
Jargon zog einen Mundwinkel leicht nach oben. "Nicht nötig. Ich glaube, wir sind quitt."
Wilhelm starrte ihn weiterhin unnachgiebig an. "Es würde auch nichts daran ändern, dass man - nur mit freundlichem Fragen - in diesem Fall nicht weiter kommt."
Er musterte Wilhelm interessierter. "Du suchst sie?"
Der Vampir blinzelte, noch immer leicht gekränkt. "Alle sind so verdammt verbohrt und auf ihre eigenen kleinen Befindlichkeiten fixiert! Ja, irgendwie suche ich wohl wirkich nach ihr. Auch, wenn ich damit... sehr spät dran bin. Und obendrein nicht sonderlich erfolgreich zu sein scheine. Außer darin, mir Unmut zuzuziehen."
Der Rechtsexperte schwieg kurz, dann machte er eine Handbewegung zum Verlauf der Straße hin, um damit anzudeuten, dass sie ihren ursprünglichen Streifengang wieder aufnehmen sollten. Was sie auch taten. Er seufzte. "Glaubst du denn, sie lebt noch?"
Wilhelm Schneider schaukelte nachdenklich den Kopf. Ehe er das ganz schnell wieder sein ließ. "Nach so langer Zeit? Eher nicht. Aber ich finde es absolut unbefriedigend, es nicht mit Sicherheit zu wissen." Er klang fast melancholisch, als er hinzufügte, "Sie war so freundlich..."
Jargon nickte zerknirscht. "Stimmt. Das war sie wirklich." Seine Hände zuckten. Aber ich habe es aufgegeben, sie zu suchen. Dieser Rekrut hingegen... er bleibt dran... "Du hast sie also immer miterlebt, wie? Ihre... Gedanken und so?"
Sie betraten den drehwärtigen Breiten Weg. Er fühlte sich seitens des Kollegen eindringlich beobachtet. Allerdings dieses Mal, ohne dass sein Körper Alarm schlug. Wilhelms Antwort erfolgte zögerlicher, als gewöhnlich. Als wenn er seine Worte sorgfältig auswählen würde. "Ich habe sie gut kennengelernt, sie lange Zeit über begleitet, ja."
"Man könnte auch sagen, dass du ein Spanner warst, hm? Aber ich weiß nicht... vielleicht warst du das ja auch eher unfreiwillig?" Er versuchte, den näherkommenden Ankhgeruch zu ignorieren.
Wihelm straffte die Schultern. "Ich empfinde diese Kategorien als etwas kleingeistig... Sör."
Er nickte spöttisch. "Natürlich. Pfirsichblütenstraße oder Alchimistengasse? Was sagst du, Rekrut?"
Wilhelm deutete in Richtung der Alchimistengasse und sie setzten den Weg schweigend fort, bis der Rekrut den unausgesprochenen Gedanken zwischen ihnen anscheinend nicht länger ertragen konnte. Frustriert platzte es aus ihm heraus: "Ich habe ihr nie etwas angetan, Sör!"
"Hm. Das kann ich nicht wissen." Aber ich glaube es ihm. Gewissermaßen. Er atmete tief durch. "Aber wenn du sie finden willst... kannst du es doch einfach sagen! Dann redet man vielleicht etwas offener mit dir." Der allgegenwärtige Schwarzpulverduft in dieser Straße verdeckte einen guten Teil des Akhgeruchs. Was er als Wohltat empfand.
"Ich dachte, das habe ich bereits gesagt, Sör."
"Ich meine, bevor du in meinem Kopf herumstochertest." Er bewegte ein wenig die Finger der rechten Hand und der Kollege blickte finster zu Boden. "Was willst du wissen? Ich sage dir, was ich weiß. Ich will sie auch wiederfinden!"
Der Rekrut stieß den Atem frustriert aus. "Sör, das große Problem ist, dass ich nicht weiß, wonach genau man fragen müsste, um Informationen zu finden, die weiterhelfen könnten! Ich hatte irgendwie die Hoffnung, dass in den Erinnerungsbildern versteckte Hinweise zu finden sein könnten."
Wieder richtete sich ein nachdenkliches Schweigen zwischen ihnen ein, während sie eine Weile weitergingen. Er nahm den losen Gesprächsfaden vorsichtig wieder auf. "Ich will dir schon helfen... aber ich will dich nicht in meinem Kopf wissen."
Wilhelm ging darauf ein, indem er sich ebenfalls zu erklären versuchte. Wobei er allerdings zu aufgewühlt war um zu bemerken, wie dabei die überhebliche Facette seines Aktivismus' ungeschickt zu Tage trat. "Beispielsweise hast du eben an euer Zusammentreffen im Flur des Wachhauses gedacht. Als sie sich völlig atypisch verhielt. In deinen Erinnerungen, mit deiner ureigensten Überzeugung, da hast du nicht einen Sekundenbruchteil gezögert, den Ausdruck ihrer Augen an diesem letzten Abend als mörderisch zu bezeichnen. Das passt zu nichts, von dem, wie andere sie beschreiben, wie sogar du selber sie beschreiben würdest, wenn man dich einfach nur danach fragte! Hätte ich dich einfach nur im Gespräch darauf angesprochen, dann hättest du solch eine Aussage nicht über die Lippen gebracht. Es wäre dir als Verrat an ihrer geschätzten Person vorgekommen, nicht wahr? Was ich, nebenbei gesagt, absolut verstehen kann. Diese Beobachtung ist ein Widerspruch, der sich nicht allein mit sachlich nachweisbaren Argumenten belegen ließe und der doch immer in der Luft hängen bliebe und nachwirken würde, so man ihn zu äußern wagte. Wir alle wissen, dass Worte Gewicht haben, dass sie nachwirken. Selbst wenn wir uns zu erklären versuchen und das Ausgesprochene wieder rückgängig machen möchten. Aber trotzdem! Das ist gewiss eine wichtige Information, die ich auf anderem Wege nicht erhalten hätte!"
Er war zugleich schockiert und hin und her gerissen von dem vermutlich zutreffenden Kern der Aussage. "Das... es... das ist einfach... ich meine..." Er holte tief Luft. "Trotzdem! Es könnte sein, dass du Dinge findest, die nur mich etwas angehen! Ich kenne dich kaum!"
Der Kollege klang leicht schnippisch. "Sör? Es mag dich schockieren... aber ich bin kein bisschen an dir persönlich interessiert." Er schaute bei dieser Aussage leicht arrogant und sehr vampirisch drein.
Nun war es an ihm, leicht trotzig zu klingen. "Das weiß ich. Aber möglicherweise an Dingen, die in der Stadtwache so vorgefallen sind? Vielleicht arbeitest du ja für den Patrizier? Oder... ach, was solls."
Sie überquerten die Neue Brücke und der Vampir sagte: "Eine Zusammenarbeit mit dem Patrizier stelle ich mir zwar aufregend vor. Aber vielleicht dann doch selbst für meinen Geschmack als etwas zu... nachdrücklich."
Da war er wieder, dieser Humor, den er zu Beginn an dem Rekruten als so erholsam unaufgeregt erlebt hatte! "Ha! Ja. Kannst ja den Herrn Flanellfuß fragen."
Wilhelm antwortete mit ernster Stimme. "Besagter Kollege wirkt durchaus mitgenommen. Und wer weiß, wie viel von diesem Eindruck mit... der ganzen Sache zu tun hat? Oder damit, dass er eben von sehr viel weiter Oben unter Druck gesetzt wird? Manchmal ist es besser, nicht zu nahe an einem Feuer zu sitzen, um sich zu wärmen."
"Das war auch eher ironisch gemeint."
"Oh! Entschuldigung!"
Jargon blieb an einer Hauswand stehen und dachte nach. "Und du bist dir sicher, dass du... dass DU in meinem Kopf Dinge finden könntest, die ich selber nicht sehen kann?"
Der Vampir stand im Schatten. Er runzelte die Stirn und antwortete gedehnt. "Nein... 'sicher' kann ich mir dessen nicht sein. Woher auch? Wenn es da nichts gibt, was du vielleicht mitbekommen hättest? Das eben... es war ein Versuch, etwas zu finden. Ein Versuch, mehr nicht."
"Aber es besteht... die Chance? Ich meine, was könntest du denn finden, was mir entgangen wäre? Zum Beispiel?"
Er spürte deutlich, dass der Kollege mit sich rang. Etwas ging in ihm vor sich und es hatte vermutlich damit zu tun, dass dieser sich der angedeuteten Möglichkeiten bewusst war. Und dass er diesen Möglichkeiten scheinbar mit widersprüchlichen Gefühlen gegenüber stand. Eine Mischung von Unwohlsein und Aufgeregtheit verwob sich zu einem vampirischen Geruch, der ihm in der Nase kribbelte. Wilhelm Schneider presste kurz seine Lippen zusammen, ehe er vorsichtig anhub. "Ich... ich begleitete Ophelia sehr lange Zeit über. Aber eben nicht konsequent. Nur immer wieder an den Abenden, wenn niemand sonst bei ihr war. Was gar nicht so oft der Fall war, wie ich es gerne gehabt hätte. Der Kollege Flanellfuss hat damals ja eine Menge ihrer Abende für sich beansprucht und mir kaum welche über gelassen. Ich... naja, nicht so wichtig! Es gibt jedenfalls dementsprechend viele Erinnerungen, die ich mit ihr geteilt habe. Die aber eben nur das waren. Erinnerungen! Subjektive Wahrnehmungen, kurze Blitzlichter ihrer Aufmerksamkeit, emotional geprägte und vorsortierte Bilder. Was sie als wichtig empfand und sich immer wieder vor Augen rief. Andere Dinge verdrängte sie bewusst. Sie hatte ein gewisses Geschick darin entwickelt, sich selber gedanklich abzulenken, um bestimmte Themen in ihrem Sinn zu umgehen. Sicher, wenn ich es drauf angelegt hätte, wie der eine oder andere Vampir damals, der sich an ihrem Wissen bereichern wollte, dann hätte ich an diesen Punkten ansetzen, das Verborgene aushebeln und das Ausgeblendete ans Licht bringen können. Aber..." Der Kollege blickte zur Seite und mied den Blick des Vorgesetzten. "Wie auch immer!"
Jargon war überrascht. Er konnte sich tatsächlich nur gerade eben so, ein freudiges, humorvolles Lächeln unterdrücken. Da sieh' einer an! Ein Gewissen? Taktgefühl? Wer hätte das gedacht! Vielleicht sind bei dir doch noch nicht Hopfen und Malz verloren, mein Bester?
Wilhelms Brauen zogen sich zusammen. "Den letzten Tag vor ihrem Verschwinden... da war ich nicht in der Nähe des Wachhauses. Ich weiß also nichts von ihr selber darüber, was damals passierte. Und ich dachte halt... vielleicht gab es Hinweise, die keiner gesehen hat? Das war zu nahe dran, um nichts damit zu tun gehabt zu haben. Für mein Empfinden." Der sonst so gelassen und leicht überheblich wirkende Kollege vermittelte nun tatsächlich eher einen hilflosen Gesamteindruck. Was etwas irritierte.
"Ja, verstehe ich. Und ich bin mir auch sicher, dass es etwas damit zu tun hatte. Ich kann nicht genau sagen, was du dir von Ophelia versprochen hast. Aber ich glaube, dass du ihr nichts Böses wolltest."
"Nein, sicher nicht. Ich mochte sie."
Der Werwolf straffte seine Schultern. "Ich... ich muss noch etwas nachdenken. Und mit einem Bekannten reden. Aber... vielleicht erkläre ich mich doch noch dazu bereit, meine Erinnerungen mit dir zu teilen." Der deutlich verwirrte und fast schon ängstliche Gesichtsausdruck Wilhelm Schneiders hätte ihn trotz der Dramatik seines Angebotes fast zum Lachen gebracht. Das bist du also eindeutig nicht gewohnt, dass jemand von deinen Plänen weiß und trotzdem eine Zusammenarbeit in Erwägung zieht. Tja! Das kündet dann wohl davon, dass du deutlich zu häufig einseitig agierst, hm? "Aber... ich würde dir empfehlen, zukünftig nur mit dem Einverständnis anderer Leute in ihren Kopf zu schauen. Nicht jeder ist so zurückhaltend wie ich."
Der Rekrut murmelte automatisch eine nichtssagende Zustimmung, wie sie ihm wohl täglich mehrmals von irgendeinem Vorgesetzten abverlangt wurde. Und die vermutlich ebenso schnell wieder vergessen sei würde. "Jawohl, Sör!"
Der Rechtsexperte atmete tief durch. "Machen wir die Runde fertig! Ich werde dich morgen aufsuchen und dann sehen wir weiter!"
Mit einer gewissen Ironie erinnerte er sich an den anfänglichen Gedanken ihrer gemeinsamen Streife. Keine ungewöhnlichen Vorkommnise... der Müllhaufen bleibt definitiv das Aufregendste, was im Protokoll zu heute zu finden sein wird...

Wilhelm blickte in ihre unterschiedlich farbigen Augen und hätte beinahe im Reflex die Lippen zusammengepresst. Stattdessen hielt er regungslos still in der abwartend sanften Berührung ihrer Hand um seinen Kiefer. Er gestand sich ein, dass es vielleicht nicht ganz so klug gewesen war, direkt im Anschluss an die heutige Streife mit Schneidgut zu ihr zu gehen, um sie um ihre medizinische Kunstfertigkeit zu bitten. Sie war nicht dumm. Und sie war noch immer nicht sonderlich gut auf ihn zu sprechen. So etwas wie boshafte Vorfreude funkelte tief in diesen Augen. Er räusperte sich dezent und achtete genau darauf, sich seine ansteigende Nervosität nicht anmerken zu lassen. Obendrein schoss ihm natürlich just in diesem Moment der nicht eben hilfreiche Gedanke durch den Kopf, dass alles an der Situation einfach total falsch war - eine Dienerkreatur wie sie, sollte keinen Vampir derart im Griff haben! Warum nur hatte er nicht auch daran gedacht, dass sie nicht einfach nur eine Igorina war, sondern dass sie als außergewöhnlich selbständig, tendentiell aggressiv und nachtragend galt?
Die ehemalige Sanitäterin lächelte ihn falsch an und strich wie zufällig mit einem ihrer Daumen über den bereits völlig überreizten Nerv in seiner Wange.
Er zuckte zusammen und verlor ein gut Teil seiner Konzentration, wodurch er den Anfang ihrer Frage irgendwie verpasste und erst wieder zuhören konnte, als er ein oder zwei unauffällige Tränen weggeblinzelt hatte. Elendiger Staub! Igors und ihre Macken, eine echte Zumutung! "...dir wirklich ficher, dass du in eine 'Rangelei mit beforgten Bürgern' geraten bift auf der Streife? Nichts anderef?"
Er schluckte schwer, blieb aber dabei. "Jawohl, Ma'am."
"Ich frage nur defwegen fo vehement nach, um ficher fu gehen. Nicht, dass irgendwann einer diefer 'Bürger' ebenfalls bei mir auftaucht und ich ihn ungerecht behandeln würde. Ef wäre ja nicht richtig, befonders freundlich und rückfichtsvoll mit fo jemandem umzugehen, der einen Kollegen beläftigt hätte, richtig?"
Es hatte keinen Sinn, sich etwas anderes einreden zu wollen. Sie ahnte eindeutig, was auf der Streife vorgefallen sein mochte. Auch wenn nichts davon in Schneidguts Streifenprotokoll Eingang gefunden haben mochte. Und schlimmer... sie ahnte, welches Thema der Auslöser dafür gewesen sein mochte. Ganz gleich, was er ihr antworten würde - sie war gewillt, ihrem Missfallen Ausdruck zu verleihen. Er schloss ergeben die Augen und fand sich damit ab, dass seine moralischen Alleingänge neuerdings umgehend sanktioniert wurden.
"Ich hätte bei unserem Gespräch zerknirschter wirken sollen, reuevoller, nicht wahr? Das Problem ist nur, dass mir sowas nicht liegt, Ma'am."
Er öffnete seine Augen wieder, um der Gefahr mutig die Stirn zu bieten. Und sah, dass die ihren plötzlich kleine Blitze zu beherbergen schienen, so, wie sie ihn anfunkelte.
"Kann ich gut verftehen, Rekrut. Mir liegt ef auch nicht, mich fu verstellen. Man follte schon zu seinen Ãœberzeugungen ftehen."
Und damit renkte sie ihm den Kiefer nachdrücklichst wieder ein.

12.03.2017 10: 14

Magane

Sie hatte den Nachmittag und den Abend bei ihrer Familie verbracht, mit Elisa gespielt und mit Tom die Frage diskutiert, warum auch Jungs kochen lernen sollten und dass es grundsätzlich keine reinen Männer- beziehungsweise Frauenaufgaben gab. Wahrscheinlich brachte er solche Ideen aus der Schule mit, wo sicherlich viele der Kinder aus ganz traditionellen Familien stammten, aber hier kam soetwas nicht in Frage, er würde alles lernen was ein junger Mensch zum Überleben brauchte und nicht nur Jungskram und genauso würde auch Elisa lernen mit Waffen umzugehen, wenn sie das richtige Alter hatte. Danach hatten sie gemeinsam gekocht und der noch immer störrische (beinahe-) Zwölfjährige hatte nach dem Essen zur Feier seines Widerstandes den Abwasch machen müssen. Ein ganz normaler Abend.
Als in der Raureifstraße 17 endlich Ruhe eingekehrt war, zog Magane sich schlichte dunkelblaue Kleidung an, die mit viel gutem Willen unterm Kittel für ihre Uniform gehalten werden könnte, legte eine Notiz ihren Aufenthaltsort betreffend an die übliche Stelle und verließ die Wohnung über die Dachterrasse. Sie nahm diesen Weg regelmäßig, die Dunkelheit behinderte sie dabei kaum, die zweieinhalb Stockwerke nach unten konnte man auch kaum als Training bezeichnen, da sie den Weg extrem gut kannte. Trotzdem erinnerte sie das Herumklettern auf Ankh-Morporks Dächern und Fassaden angenehm an ihre Zeit bei FROG, an ihre wilden frühen Dienstjahre. Sie vermisste das Gemeinschaftsgefühl, das unbedingte Vertrauen in die Fähigkeiten der Andern, ja sogar das harte Training unter Araghast Breguyars Führung. Im Rückblick war irgendwie alles netter, sogar der Kommandeur, der damals ja nur Abteilungsleiter gewesen war. Und heute? Heute verbrachte sie ihre Tage entweder mit dem Untersuchen von Leichen oder mit dem Abarbeiten von Papierkram und natürlich mit den Emotionskontrollübungen mit den Kolleginnen, erst mit Ophelia, dann mit Senray. Sie hatte keine Ahnung, ob sie bei Ophelia irgendwas hatte verändern können mit den Übungen, oder ob in ihrem Fall nur der Tee Linderung gebracht hatte... Mischung 42, es hatte Monate gedauert das Mittel zu entwickeln... Bei Senray halfen die Übungen wahrscheinlich tatsächlich, aber ob sie das jemals würde allein durchführen können, ohne die beruhigende Kraft der Hexe, war stark zu bezweifeln. Unterm Strich war diejenige die von den mentalen Trainingseinheiten am meisten profitierte wohl Magane selbst. Ihre mentale Stärke war inzwischen zu einer echten Macht geworden.
Sie betrat das Wachhaus auf einem Weg der nicht am Tresen vorbei führte und schlich sich in ihr Büro im ersten Stock. Es gab Tage an denen sie mit keinem Kollegen sprach, niemand kam freiwillig zu ihr in den Keller und dass die Kollegen einfach mal so auf Tee oder Kaffee und Kekse bei ihr im Büro reinschauten war auch selten geworden. Der Feldwebel bedauerte, dass sich anscheinend alle in Alleingänge vertieft hatten und niemand mehr den anderen einweihte, andererseits traf das ja auf sie genauso zu. Das musste sich ändern.
Magane entrollte die Straßenkarte der Stadt und begann die Orte, die Senray ihr per Taube geschickt hatte, mit orangefarbenen Punkten einzutragen. Es wurde ein faszinierendes Muster und viele der Punkte lagen in direkter Umgebung der blauen Kreise die Magane gezogen hatte, einige sogar darin. Das war Beweis genug, sobald die Kollegen von RUM ihren Tagdienst begannen würde sie Mina aufsuchen. Bis dahin waren aber noch einige Stunden Zeit, die sie mit ihren Akten verbringen konnte.
Gegen halb zehn machte sich die SuSi-Abteilungsleiterin mit der Karte auf den Weg in den zweiten Stock. Vor der Tür von Chief-Korporal Mina von Nachtschatten zögerte sie noch kurz, klopfte aber dann an, wartete bis sie hereingebeten wurde und öffnete dann die Tür.
"Guten Morgen Mina, hast du grad viel zu tun?"
Mina sah von dem endlosen Papierkram mit dem irgendwie alle Wächter dauernd beschäftigt waren auf und antwortete: "Es wäre schön, wenn es mal nicht so wäre, aber ich habe Zeit, komm rein."
Maggie trat ein und sah sich in Minas Büro um. Die Kollegin bot ihr einen Kaffee an und ging dann mit einer Kaffeetasse bewaffnet zum Getränkedämon hinüber. Während Mina sich mit dem Dämon stritt lehnte die Besucherin ihre zusammengerollte Karte an den Schreibtisch.
"Also", Mina kehrte mit der dampfenden Tasse zum Schreibtisch zurück, "was verschafft mir die Ehre dieses morgendlichen Besuchs?"
Magane zögerte, sie war zwar von ihren Ergebnissen überzeugt, aber aus irgendeinem Grund fand sie nicht die richtigen Worte um zu erklären was sie getan hatte. Mina stellte die Tasse auf der Besucherseite des Schreibtisches ab und forderte Maggie mit einer Geste auf sich zu setzen, sie selbst nahm hinter dem Schreibtisch platz.
maggie setzt sich
"Gut, die richtigen Worte gibt es nicht", sie setzte sich auf den angebotenen Platz und betrachtete ihre Hände, nach einem tiefen Atemzug fuhr sie fort, "also nehm ich die die da sind. Ich hab mich in den letzten Tagen viel mit Ophelia beschäftigt."
Ihr Gegenüber nickte langsam und tippte mit den Fingerspitzen sacht auf eine dicke Akte, die etwas abseits der anderen lag.
"So so... ", die vampirische Kollegin strahlte eine unterschwellige Aggression aus, die sich nicht gegen Magane im speziellen sondern ehr gegen die Situation im allgemeinen richtete. Sie sah die bereits verunsicherte Hexe direkt an und wartete auf die Erklärung.
"Ähm... also, ich hab da eine Idee gehabt... und ich denke ich könnte vielleicht einen Anhaltspunkt haben...", sie geriet wieder ins stocken, als ihr eine feindselige Welle entgegen schwappte.
"Was du nicht sagst", sie verstand die Reaktion nicht, irgendetwas lief hier falsch. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Mina so reagieren würde. Die beiden Wächterinnen sahen sich einen Moment an, dann seufzte der Chief-Korporal resigniert.
"Ich hatte kürzlich ein interessantes Gespräch mit Senray... "
"Du hast mit Senray gesprochen, sehr schön."
"Ja, auch wenn ich das eher einem Zufall verdanke", bei der Erinnerung an die unschöne Szene in der Dienststellen der DOGs durchzuckte Mina ein Anflug schlechten Gewissens, sie war zu hart zu Senray gewesen, das hatte die junge Kollegin wirklich nicht verdient.
"Also wir haben unabhängig von einander gewisse Entdeckungen gemacht", von neuem Eifer durchdrungen ergriff Maggie ihre Karte, jetzt hatte sie vielleicht endlich die Gelegenheit zu erklären was sie gefunden hatten, aber Mina war offenbar noch nicht soweit, denn sie hatte die Kartenrolle noch keines Blickes gewürdigt, sie trommelte einen langsamen Rhythmus auf der Tischplatte und sah ihre Kollegin durchdringend an.
"Hmm... Sie wäre nicht von sich aus auf mich zugekommen, weißt du?", Mina hilt inne und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, "Im Grunde entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass wir alle nebeneinander her arbeiten und uns... doch gar nichts sagen", sie sah Maggie wieder direkt an, "Aber daran ist wohl niemand ganz allein Schuld."
"Deswegen bin ich ja hier", sie straffte sich und erwiderte den durchdringenden Blick, "wir müssen dringend unsere Ergebnisse koordinieren."
"Dem stimme ich zu, es wird höchste Zeit", sie zeigte auf die Rolle, "Also, was hast du da?"
"Ich hab unsere Karte mitgebracht", Mina schaffte Platz auf dem Tisch sodass Maggie die Karte entrollen konnte, "Senrays Flammenreaktionen sind mit orangen Punkten markiert und die blauen Kreise sind meine Ergebnisse.
Die RUM-Wächterin stand auf um einen besseren Überblick zu haben, bevor sie frage: "Deine Ergebnisse?"
"Naja... wie gesagt ich hatte da eine Idee", sie sah auf ihre Hände es fühlte sich merkwürdig an darüber zu reden, beinahe war es ihr peinlich, es wirkte so kindisch "Ich habe gependelt."
Mina ließ sich diese Enthüllung einen Moment durch den Kopf gehen, bevor sie fragte: "Wie habe ich mir das denn genau vorzustellen?"
"Naja, also man stellt eine Verbindung zwischen einem persönlichen Gegenstand des Gesuchten und einem Pendel her und das Pendel reagiert auf den Besitzer des Gegenstandes", sie räusperte sich, "am zuverlässigsten funktioniert es natürlich mit Blut oder Haaren, aber ich habe nach einigen Fehlversuchen etwas gefunden was reagiert."
"Und sowas funktioniert?" Mina war skeptisch, diese Form von Magie war ihr gänzlich fremd und obwohl sie versuche allem gegenüber offen zu sein, ließen sich die Zweifel nicht ganz verdrängen, "Mit was hast du denn, also, gearbeitet?"
"Ich habe mit einem Taschentuch gearbeitet und ja, die Methode funktioniert, ich habe sie zwischendurch an jemandem getestet dessen Aufenthaltsort ich nicht kannte.
"Du hattest ein Taschentuch von Ophelia?"
Magane nickte bestätigend.
"Ich frage jetzt einfach nicht, wo du das her hast."
"Ist vielleicht besser", sie versuchte so unschuldig wie irgend möglich auszusehen.
"In Ordnung, aber so wie ich diese Karte verstehe, ist die Methode nicht zuverlässig genug, um einen genauen Punkt auszumachen, oder?"
"Nein, aber es ist ein eng umgrenztes Gebiet und viele von Senrays Treffern liegen darin."
"Warte kurz", Mina ging zu ihrer Falttafel und klappte sie auf, dann lächelte sie entschuldigend, "Das hier ist nicht ganz so umgrenzt, aber vielleicht passt es ja zusammen."
"Wahnsinn... was ist das alles?"
"Recherchen, emotionale Reaktionen auf Impulse aus fremden Quellen, der Versuch, Verbindungen dazwischen herzustellen... und eine Menge Wunschdenken", Magane versuchte ein Muster zu erkennen, diese Masse an Daten war wirklich beeindruckend, "Wenn ich in der Stadt unterwegs bin, dann achte ich darauf, ob ich etwas... empfange. Etwas, dass auf Ophelia hinweisen könnte. Es ist im Prinzip nicht ganz unähnlich euren Methoden. Nur eben über eine rein emotionale Wahrnehmung. Ich versuche eine ungefähre Richtung zu ermitteln.
Die Hexe drehte den Kopf hin und her, kniff die Augen zusammen und versuchte sich auf Details und das große Ganze gleichzeitig zu konzentrieren, "Ja, das ist umfangreicher, aber ich sehe gewisse Ähnlichkeiten."
"Ja, ich bin schon eine ganze Weile damit beschäftigt. Im Grunde seit dem Tag, als Ophelia verschwand", sie glich die beiden Karten ab, murmelte dabei vor sich hin, zeigte von einer zur anderen und dachte dabei nach.
"Was denkst du, ist das eine Spur?", Magane war sich nicht sicher, ob Mina auf ihre Ergebnisse angesprungen war, andererseits wurde die Kollegin zunehmend lebhafter.
"Das ist... gar nicht einmal so unwahrscheinlich."
"Rach lehnt Pendeln ab, was er von Senrays Feuerdämon hält weiß ich nicht, aber ich war der Meinung, dass ich wirklich was in der Hand hab", Mag begann langsam die Nerven zu verlieren.
"Zwei der stärkeren Reaktionen aus der Anfangszeit, bei denen ich mir relativ sicher war, dass es sich dabei um Ophelia handelte liegen zwar außerhalb. Aber das muss jetzt nicht so viel heißen", Mina reagierte etwas verzögert auf die neue Information, doch dann unterbrach sie sich und schaute auf, "Rach weiß auch schon davon?"
"Naja, er ist in mein Büro geplatzt, aber dann ziemlich zügig ausgerastet."
"Bei seiner momentanen Verfassung ist das auch nicht wirklich erstaunlich", Mina beschlich wiedereinmal das Gefühl, in letzter Zeit eine Menge nicht mitbekommen zu haben. Magane hatte keine Lust sich länger als nötig über Rach zu unterhalten, also kam sie auf Minas letzten Kommentar zurück: "Diese Signale von Außerhalb könnten bedeuten, dass sie anfangs woanders war", die Vampirkollegin nickte bestätigend, "wahrscheinlich haben die Entführer das gemacht um die Spuren zu verwischen", Magane sah Mina direkt in die Augen, "Also, was sagst du, holen wir die anderen wieder ins Boot?"
Der Chief-Korporal zögerte kurz.
"Ich habe schon Rach gegenüber erwähnt, dass ich mir nicht sicher bin, inwieweit in dieser Richtung noch Interesse besteht. Wobei ich froh bin, mich zumindest bei dir getäuscht zu haben. Zumal die Angelegenheit auch nicht einfacher wird", sie lehnte sich gegen ihren Schreibtisch.
"Naja, Rach, Senray, du und ich - immerhin schon mal vier die nicht aufgegeben haben und wer weiß wer noch alles weitergemacht hat", Mag versuchte mögichst viel Optimismus auszustrahlen.
Mina lächelte schwach, "Aber komplett sicher sein, ob das alles auf Ophelia hindeutet, können wir uns nach wie vor nicht. Und außerdem... "
"Nein, natürlich ist das nicht sicher, aber wir könnten uns die Ecke doch mal ansehen", Maggie erinnerte sich an die FROG-Einsätze, die sie mitgemacht hatte, früher hätten sie ein paar Tage das Gebiet beobachtet und hätten dann losgeschlagen...
"Maggie, wir haben mittlerweile guten Grund zu der Annahme, dass wir es mit einem der alten Vampire zu tun haben. Und damit kommen wir in einen hochgradig gefährlichen Bereich. Wenn ihr euch dafür entscheidet, sollte euch das Risiko, welches ihr eingeht, vollkommen klar sein", anscheinend hielt sie sie für eine blutige Anfängerin, dabei waren sie doch eigentlich schon lange genug Kolleginnen.
"Ja, ich meinte ansehen, nicht mit Fackeln und Mistgabeln losstürm..."
"Ich meine ja nur, dass wir vorsichtig sein müssen", wurde sie von Mina unterbrochen, " Rach und ich. Naja, und der Rekrut Schneider", sie verzog beim letzten Namen das Gesicht. Mag konnte jedoch mit dem Namen nicht viel anfangen und auf ihren fragenden Blick hin fuhr Mina fort: "Wilhelm Schneider, ein Vampir in der Grundausbildung. Er kam vor ein paar Tagen aus heiterem Himmel vorbei und meinte, er wolle helfen. Ich bin mir immer noch nicht sicher, was ich davon zu halten habe", sie fasste die Begegnung mit Wilhelm in knappen Worten zusammen. Magane hörte aufmerksam zu und wurde schlagartig misstrauisch, dennoch blieb sie bei ihrer Meinung: "Wir sollten uns alle zusammensetzen und herausfinden was die jeweils anderen wissen."
"Ja und zwar bald", gab die Andere ihr recht, "nur... ich denke, es wäre klüger potentielle Hoffnungen und Erwartungen klein zu halten. Rach ist mittlerweile so weit, dass er losstürmen und wahrscheinlich irgendetwas Dummes machen würde, so er nur eine winzige Möglichkeit sieht."
"Naja... nur wenn er einem glaubt..."
"Ich denke der Strohhalm ist jetzt stabil genug", Mina nickte in Richtung der Karte, "Hast du etwas dagegen, mir dein Material kurz noch hier zu lassen? Ich würde es gern in meines übertragen. Danach bringe ich dir die Karte vorbei."
"Ne, behalt sie ruhig hier", alle weiteren Durchgänge mit dem Pendel hatten nur immer wieder den gleichen Bereich auf der Karte gezeigt, diese paar Häuserblocks, die innerhalb des Kreises lagen, genauer wurde es nicht, Magane hatte nicht vor weiter zu pendeln und Senray konnte ihre Punkte genauso gut später um weitere ergänzen. Mina bedankte sich und war in Gedanken schon dabei die neuen Daten in ihre Sammlung einzugliedern.
"Also trommelst du den Rettungszirkel wieder zusammen?"
"Das kann ich gern versuchen. Bleibt nur zu hoffen, dass sie sich nicht gegenseitig an die Kehlen gehen", die Befürchtungen der RUM-Wächterin waren beinahe greifbar und egal wie viel Optimismus die Hexe in ihre Erwiderung legte "Das bekommen wir schon hin" reichte bei weitem nicht aus um ihre Zweifel zu zerstreuen.
Jede bedankte sich bei der jeweils anderen und Magane verließ das Büro. Das Gespräch mit Mina hatte regelrecht befreiend gewirkt, lächelnd schloss die Bürotür hinter sich, endlich schien die verfahrene Geschichte wieder ans Laufen zu kommen. Ohne groß auf ihre Umgebung zu achten machte sie sich wieder auf den Weg nach unten und stieß an der Treppe beinahe mit Kanndra zusammen. Die FROG-Kollegin und Voodoo-Hexe war in die magischen Lösungsansätze des sogenannten "Ziegenbergerproblems" verwickelt gewesen, vielleicht ließe sie sich jetzt auch wieder motivieren.
"Hallo Kanndra, schön, dass ich dich treffe, wie geht’s dir?"
"Wie immer, viel Stress, du kennst das ja...", Kanndra blieb bewusst vage, sie hatte nicht vor hier zwischen Tür und Angeln bei einer zufälligen Begegnung ihre Problem offen zu legen.
"Also hast du keine freien Kapazitäten um dich wieder an der Suche nach Ophelia zu beteiligen?"
"Weißt du, ich würde wirklich gerne, aber ich kann nicht noch mehr Zeit hier verbringen, meine Familie sieht mich sowieso schon so selten", die Familie, das war natürlich ein Argument, Magane spürte einen schmerzhaften Stich der Schuld, sie verbrachte auf jeden Fall zu viel Zeit im Wachhaus, nicht nur im Dienst sondern auch davor und danach, außerdem waren da auch noch die Hexenangelegenheiten, die sie auch konsequent von der Familie fern hielten und bei Kanndra war es vielleicht sogar noch schlimmer, weil sie als FROG kaum geregelte Dienstzeiten hatte.
"Ich glaube kaum, dass wir uns viel außerhalb der Dienstzeiten treffen, im Moment ist die Stadt verhältnismäßig ruhig, da bleibt auch genügend Gelegenheit sich im Dienst auszutauschen", ihr Innerstes beschimpfte sie als Lügnerin, aber davon konnte sie sich jetzt nicht ablenken lassen.
"Wieso überhaupt jetzt? Ophelia ist doch schon so lange fort, warum fangen wir jetzt wieder mit der Suche an?"
Wir, sie hatte angebissen, sonst hätte sie sich in die Frage nicht mit eingeschlossen, Magane unterdrückte ein Grinsen und beeilte sich zu antworten: "Ich vermute, dass die meisten gar nicht wirklich aufgehört haben, aber es hat eben so lange gedauert bis sich neue Spuren ergeben haben."
"Es gibt neue Spuren?", Kanndra überlegte noch kurz und traf dann eine Entscheidung: "Ich bin dabei, sag mir einfach Bescheid wann ihr euch treffen wollt."

13.03.2017 21: 40

Ophelia Ziegenberger

Letztendlich war es immer eine Frage der eigenen Wünsche und Überzeugungen. Und dessen, wie man diese geschmückt vortrug. Vieles, was auf den ersten Blick als riskant oder zumindest sehr abwegig wirkte, konnte nur Minuten später bereits, aus anderem Blickwinkel betrachtet, mit neuem Interesse bedacht und eines Versuches für würdig befunden werden. Wenn... ja, wenn der Gedanke wohlgefällig verpackt wurde! Und sie hatte sich wirklich Mühe gegeben!
Bei der Erinnerung an das Gespräch mit dem Meister lächelte Igorina grimmig. All die vorbildlich abgearbeiteten Jahrzehnte ihrer gefügigen und emsigen Dienstbarkeit in dieser Anstellung zahlten sich jetzt aus. Sie würde sich auf ihre Art an Sebastian rächen! Wollte dieser die Gefangene jeglicher Hoffnungen berauben und Stück für Stück brechen, so würde sie ihr neue Gründe für Kampfgeist und emotionale Anteilnahme bieten! Sie würde sich von ihm nicht noch eines ihrer Langzeitprojekte zerstören lassen! Nicht von diesem Furunkel! Der Meister, er vertraute ihrem Urteil! Und auch, wenn sie niemals mit eigennütziger Intention auf diesen Status hingearbeitet hatte – sie würde ihre Möglichkeiten nutzen, jetzt, da sie sich entfalteten. Und es sollte ja auch nicht zu seinem Schaden sein. Er würde seine Entscheidung gewiss nicht bereuen, dafür wollte sie schon sorgen.
Sie blickte auf die Eine an ihrer Seite und atmete tief durch. Noch etwa fünf Minuten. Dann werden wir sehen, ob das eine gute Idee war – oder nicht.
Igor zumindest war keinesfalls ihrer Meinung. Er hatte ihr zwar insoweit geholfen, dass er die Bittstellerin mit einem seiner bewundernswert präzisen Schläge schlafen schickte[4], und ihr auch dabei half, diese hier herunter zu tragen. Doch kaum hatten sie sie gemeinsam vor der Kammer abgelegt, da hatte er sie auch schon wortlos stehen gelassen. Der Vorwurf war deutlich genug: Das ist deine absurde Idee, deine Verantwortung! Wenn irgendwas an diesem haarsträubenden Plan schief gehen sollte, dann wasche ich meine Hände in Unschuld!
Die Wächterin begann, sich zu rühren. Sie blinzelte und mit einem leisen Stöhnen griff sie sich ins Genick.
Vermutlich solltest du unsere kleine Vereinbarung schon aus gesundheitlichen Gründen nicht allzu oft nutzen. Er ist zwar sehr gut darin... Aber auch zuviel des Guten könnte unter Umständen schaden?
Die Eine setzte sich langsam auf und lehnte sich dabei neben ihr an die Gangwand. Ihre Blicke trafen sich nur kurz, ehe Rogis Aufmerksamkeit fast zwanghaft zu der stabilen Tür hinter ihrem Rücken wanderte. Sie hielt sich an die Absprache und wisperte kaum hörbar. "Ist das...?"
Igorina nickte. "Ja, Daf ift ihr Raum. Bift du foweit?"
Ein eiliges Nicken folgte, obgleich die Angesprochene dabei die Fäuste zusammenkrampfte, als wenn sie Dinge aus den Kerkerdimensionen darin zerquetschen wollte.
Igorina versuchte, sich selber zu beruhigen. "Gut. Dann gehe ich jetzt zu ihr hinein und... kündige dich an. Gib mir einen Moment! Ich möchte ef ihr möglichst fonend beibringen. Und geh’ nicht weg! Bleibe fweigend vor der Tür, bif ich dich hereinrufe, hörft du?"
Sie war sich ziemlich sicher, dass die Wächterin nichts riskieren würde, was ihrer beider Vereinbarung gefährden würde. So verlockend die Aussicht, sich hier unten umzusehen, auch sein mochte. Immerhin bot sie ihr Zugang zu Ophelia! Obendrein würde die Gefangene bei der heutigen Gelegenheit nicht bewusstlos sein. Sie würden miteinander reden können. Im Austausch für die nahezu unbedeutende Winzigkeit des Schweigens der Wächterin. Etwas, womit diese sich ohnehin schon abgefunden geglaubt hatte.
Sie betonte dem Meister gegenüber, dass sie die Treffen persönlich überwachen würde und dass es ihrer Meinung nach kaum eine bessere Strategie geben mochte, der trotzigen Natur der Einen zu begegnen, als diese mit ins Boot zu nehmen. Sie mit in die Sache "reinzuziehen". Zum einen entsprachen sie damit ihrem Bedürfnis nach Informationen aus erster Hand, was deren bangende Unruhe zügeln sollte. Zum anderen aber würde die Wächterin sich durch ihr Schweigen zur willenlosen Verbündeten machen. Sie würde die bindende Bedeutung des Kodexes erst richtig verinnerlichen, das Prinzip des widerspruchslosen Dienens über einen langen Zeitraum hinweg erlernen. Nichts schulte darin besser, als Jahr um Jahr einer herausfordernden Anstellung. Ihr kämpferisches Naturell könnte mit der Zeit sicherlich umgelenkt, diese jugendliche Energie anders genutzt werden. Für die jungen Leute war es halt auch nicht so einfach, die klassischen Ideale zu leben, wo heutzutage jeder angeblich alles erreichen und werden konnte. Dass es sich bei solchen propagierten Lebensentwürfen nur um Lügen handelte, das stellten die Ärmsten meistens erst dann fest, wenn sie als Ausgestoßene in einer Gasse landeten, weil sie einem unabhängigen Traum nachgejagt waren, anstatt sich den Erwartungen zu fügen, die nun mal an einen ordentlichen Igor gestellt wurden. Ein Schicksal, das sie der Einen ersparen wollte. Respekt, das war es, was die Jüngere lernen musste! Vielleicht könnte sie ihr als Vorbild dienen, wenn sie nur genug Zeit mit ihr verbringen würde? Und wenn sie derweil den einen oder anderen leicht unstimmigen Aspekt der Konstellationen im Haus ausblenden oder wenigstens abmildern könnte. Der Assistent des Herrn war da das Paradebeispiel. Oh, wie gerne hätte sie ihn einfach ausgeblendet aus dem Alltag, diesen lästigen dritten Winkel eines Dreiecks, welches ursprünglich als einfache Linie vorgesehen war! Sebastian war das Staubkorn in einem sonst reibungslos funktionierenden Uhrwerk. Das unschöne Detail, welches den Kontrakt mit dem Meister beschmutzte! Aber, je nun! Das konnte sie wirklich nicht ändern! Man musste eben das Beste draus machen. Jedenfalls, je länger die Kooperation andauern würde, desto unwahrscheinlicher würde ein Aufbegehren der Einen werden. Denn wem würde sie dann noch eingestehen wollen, dass sie von all dem gewusst und dennoch keinen Finger gerührt hatte? An diesem Punkt ihrer Erklärung angelangt, hatte der alte Vampir abgewunken. "Daran brauchst du keinen Gedanken verschwenden. Sie wird sich nicht gegen mich wenden."
Sein überheblicher Blick und sein verachtender Tonfall dabei ließen sie noch jetzt frösteln. Sie ahnte... aber... nein! Das durfte nicht sein! Einen Igor zu schlagen, das war im traditionellen Rahmen eines Arbeitsverhältnisses nicht nur statthaft, sondern auch genau geregelt. Da gab es ehrenvolle Möglichkeiten für beide Seiten, sich auszudrücken und zu reagieren. Das Unaussprechliche jedoch, was ihr Meister mit dieser ängstigenden Leichtfertigkeit, dieser deutlich spürbaren Verachtung der Einen gegenüber andeutete... es gab Dinge, die waren tabu. Ganz gleich, ob die Eine in einem Vertragsverhältnis zu ihm stand oder nicht! Sie war Familie! Sie war eine der ihren! Das war nicht das Gleiche, als wenn es sich nur um eine der unzähligen jungen Menschenfrauen handeln würde, die Sebastian im Laufe der Jahre als Gaben mit weggetretenem Blick am Meister vorbei geschleust hätte! Die Eine war keine Mahlzeit, deren Bewusstsein betäubt und in Tücher verpackt...
Igorina verbot sich rigoros, weiter in diese Richtung zu denken. Sie konnte es nicht wissen. Der Meister hatte sich zwar, in der Nacht, die auf Rogi Feinstichs Auftauchen bei ihnen folgte, aus seinem Sarkophag erhoben gehabt und war einige Stunden fort gewesen. Was außergewöhnlich gewesen war! Zweifellos! Und er wirkte bei seiner Rückkehr auch deutlich zufriedener und entspannter, denn zuvor. Aber dass er womöglich wirklich bei der Einen gewesen sein sollte, um auf solch eine verwerfliche Art einzugreifen und... nein! Davon wollte sie nichts hören!
Er hatte seinen Gedankengang mit einem strengen Blick und den Worten vervollständigt: "Mich beschäftigt vielmehr ihre direkte Auswirkung auf Ophelia. Sorge dafür, dass Ophelia sich im Griff hat, wenn es soweit ist. Das ist alles!"
Und das hatte sie versucht. Zumindest, soweit es derzeit zu beeinflussen war. Für den Einsatz der starken Mischungen war Ophelia zu schwach. Weswegen sie nur mit einem leichten Beruhigungstee arbeiten konnte. Und mit den richtigen Worten!
Sie strich ihr grau gesträhntes Haar in den strengen Dutt zurück und wappnete sich. Ihr Schlüsselbund klapperte laut, als sie die vielen Schlösser der Tür eines nach dem anderen öffnete. Der missbilligende Blick der Einen schien ihr dabei die gekräuselten Härchen im Nacken zu versengen. Sie öffnete den Zugang zu der spärlich beleuchteten Kammer, blickte ein letztes Mal in das deutlich angespannte Gesicht ihrer jüngeren Verwandten – und schloss die Tür vor deren Augen.
Das kleine Zimmer bestand nur aus einer Feuerstelle, zwei Sesseln vor, sowie einer länglichen Ablage links von dieser. Rechterhand stand das schmale Metallgestell des Bettes. Da die Glut im Kamin momentan die einzige Lichtquelle darstellte, war es schummrig und Ophelias Gestalt von der Tür aus nur als bleicher Flecken inmitten der Laken und allgegenwärtigen Schatten auszumachen. Sie räusperte sich. "Ophelia..."
Wie zu erwarten gewesen war, wandte die Gefangene ihr nur den Kopf zu und blickte sie gleichgültig vom Kissen her an. Eine Antwort darüber hinaus erhielt sie nicht. War die Menschenfrau schon in den Monaten vor Sebastians letzter Ränke immer stiller geworden, so sprach sie, seit sie den dämmrigen Bewusstseinszustand der Lungenentzündung hinter sich gelassen hatte, sogar mit ihr nur noch das Nötigste.
Sie begann mit der immergleichen Routine ihrer Besuche bei ihr, legte Holz im Kamin nach, entzündete die drei Öllampen und drehte sie auf. Die Schäbigkeit des Raumes kam auf einmal trefflich zur Geltung. Oh, er war einst prächtig gewesen! Die Wände verkleidet mit dunkelrotem Brokat, die Umrandung der Feuerstelle ein marmornes Kunstwerk, der Boden ein filigranes Mosaik aus schwarzen und roten Kacheln mit goldenem Rankenmuster und eingerichtet mit feinsten Mahagoniemöbeln mit Samtpolstern! Aber das war lange her. Inzwischen blätterte die Tapete allerorten vom Putz. Die filigranen Säulen seitlich des Kamins waren ebenso schmierig verrußt, wie dessen Sims. Das zerbrochene Bodenmuster ließ sich längst nicht mehr sauber genug schrubben, um etwas zu erkennen. Ganz zu schweigen davon, dass es die Kälte des Untergrunds regelrecht abzustrahlen schien. Und was die wenigen Möbel hier drinnen betraf... man konnte ihnen zumindest zugute halten, dass sie robust waren.
Igorina nahm vom niedrigen Hocker neben dem Bett das Glas mit dem abgestandenen Wasser. Sie schüttete es in den Nachttopf aus. Vom Krug füllte sie frisches Wasser in das Glas.
Sie hat wieder nicht getrunken.
Sie setzte sich mit einem schweren Seufzer auf die Bettkante und hielt das Glas leicht anklagend vor das Gesicht ihrer Schutzbefohlenen.
Ophelia erwiderte ihren Blick – und schloss die Augen, wie um sie nicht mehr ansehen zu müssen.
Igorina ließ das Glas sinken und hielt es nervös zwischen ihren Händen. Sie betrachtete ihre Patientin und rang nach den richtigen Worten.
Die Eine wartet draußen. Sie wird ungeduldig werden. Wenn ich mich nicht beeile... aber andererseits... ich darf es nicht zu plump angehen!
"Du muft trinken. Daf weift du, nicht wahr?"
Ophelia wandte den Kopf ab, öffnete zwar etwas die Augen aber starrte dabei nur apathisch zu den beiden Sesseln, deren Flicken die vielen ausgefransten Risse in den Polsterungen nur dürftig verbargen.
Igorina merkte, wie ihr Zeigefinger gegen das Glas zu tippen begann. Schnell unterdrückte sie den Impuls.
"Nun gut. Ich weif nicht, wie ich ef rückfichtsvoller angehen soll. Aber, ef gibt da etwas, über daf ich mit dir reden muf."
Ophelia sah sie sofort aufmerksam an. Viel zu sehr. Der Ausdruck ihrer Augen kündete von Angst. Wovor auch immer. Natürlich, sie hätte daran denken müssen, dass auch das vielleicht kein guter Einstieg sein würde. Es gab während der bisherigen Gefangenschaft keine Neuigkeit, keinen einzigen Gesprächsanlass, der ihr Gutes eingebracht hätte.
Igorina versuchte, den Fehler wieder gut zu machen.
"Keine Forge! Ef ift nichts Flimmes. Im Gegenteil! Ef ift etwaf Gutef. Denke ich. Aber du muft ruhig bleiben, in Ordnung? Bitte, tu mir den Gefallen und höre einfach nur zu und atme ruhig durch! Kannft du daf, ja?"
Ophelia starrte sie an und nickte langsam.
"In Ordnung. Alfo... ef ift fo... Febaftian hatte kein Recht dazu, dich in den Käfig furückzubringen. Er hat fich damit etwaf heraufgenommen, waf ihm nicht zustand. Ef tut mir leid, daf ich nicht fnell genug reagiert habe, um daf zu verhindern."
Ophelia atmete plötzlich so flach, dass Igorina sich spontan zu ihr vorbeugte und an ihrem Hals nach dem Puls tastete. Sie brummelte nervös.
"Meine Güte! Wenn du fon auf eine Entfuldigung fo reagierst... wirklich, verfuche bitte, gleichmäfig zu atmen. Und deine Gedanken zufammen zu halten, damit der Meifter feinen Entschluss nicht bereut!" Sie blieb leicht zu ihrer Patientin vorgebeugt sitzen und strich ihr stattdessen ungewohnt fürsorglich das Haar aus dem Gesicht. Sie legte ihre Hand an deren Wange. "Ophelia, ich denke, wir find unf darin einig, dass du deine Fuldigkeit erfüllt und dich bewundernswert fügsam verhalten hatteft, in den letzten Wochen, vor Febaftians Entgleifung?"
Die junge Frau musste schwer schlucken, nickte aber zaghaft einmal.
"Richtig! Du hätteft ftattdeffen eine Belohnung verdient gehabt. Zumal ef dir wirklich nicht gut geht. Waf du benötigtst, daf ift Hoffnung."
Ophelia lehnte das Gesicht an ihre Handfläche, schmiegte die Wange an ihre faltige Haut. Sie schloss einmal kurz die Augen, in die nun Tränen aufschossen. Sie klärte ihre Stimmbänder mit einem verhaltenen Räuspern und flüsterte leise. "Echte Hoffnung? Oder Hoffnung um ihrer selbst Willen, damit du dir weniger Sorgen um mich machen musst?"
Das Schweigen zwischen ihnen unterstrich den messerscharfen Schluss, den die Gefangene gezogen hatte.
Igorina blickte betroffen auf die gestrickte Decke aus diversen Wollresten. Sie wollte ihre Hand fortziehen, wurde aber überraschend festgehalten.
Ophelia hielt ihre Hand mit ihrer eigenen, gesunden Hand, weiter an ihre Wange. Sie sagte: "Schon gut. Du möchtest mir, den Umständen entsprechend, etwas Gutes tun. Das werden keine Fluchtpläne sein, das habe ich verstanden. Es ist, wie es ist. Und ich... ich werde deinen guten Willen dahinter verstehen, in Ordnung? Es wird genügen."
Nun war es an der Igorina, zu schlucken. Etwas an der Situation fühlte sich bedenklich an, als wenn es aus dem Ruder liefe. Sie konnte nicht benennen, was genau das war. Aber sie spürte Ophelias fiebrige Wärme unter ihrer Hand, sah in diese grau verschatteten Augen, die sie noch nie vorwurfsvoll angeblickt hatten, die sie immer so ansahen, als wenn die Person dahinter alles daransetzen wollte, sie zu verstehen.
Ophelia umklammerte ihre Finger, als wenn allein dieser ungewöhnliche Körperkontakt ihr Trost genug hätte sein können. "Was wolltest du mir als Hoffnung oder als Belohnung präsentieren? Soll ich raten? Ein Buch vielleicht? Denn die Hoffnung darauf habe ich inzwischen fast aufgegeben." Sie versuchte sich an einem kleinen Lachen, bekam aber sofort einen dieser heftigen Hustenanfälle.
Igorina rieb ihr mit der flachen Hand solange den gekrümmten Rücken, bis sie sich wieder beruhigt und einen atemlosen Schluck Wasser getrunken hatte. Sie strich das Deckbett wieder glatt und ihr das Haar aus dem Gesicht.
"Schsch... ganz ruhig! Das wird wieder... schsch..."
Ophelia sah sie matt an.
Igorina knetete ihre Hände und sagte langsam und leise aber sehr deutlich: "Nein, es ist mehr als ein Buch. Was ich dir mitgebracht habe. Also... du hast Besuch."
Es dauerte einige Sekunden, bis ihre Reaktion sichtbar wurde. Aus dem unbeweglichen Gesichtsausdruck wich die wenige Farbe, die sie noch gehabt hatte. Ihre Augen blickten fassungslos und ihr Mund öffnete sich, ohne dass ein Ton dabei heraus kam.
Igorina beeilte sich, weiter zu sprechen. "Bitte, rege dich jetzt nicht auf, in Ordnung? Denke an deine Gedanken, damit der Meifter unf nicht zürnt! Ef ift ein Befuch, der zur Verschwiegenheit verpflichtet wurde. Ef wird kein Wort hiervon nach draußen dringen, alfo dränge auf keinen Fall dazu, irgendwen zu kontaktieren. Daf ist nicht vorgefehen, ja? Nur ein Befuch! Ihr könnt miteinander reden. Aber ich werde hier im Raum bleiben. Und ef wird keine Rettungfaktion geben, nur, dass daf klar ift. Ja?"
Ophelias Blick schnellte zur Tür und blieb daran haften. "Wer ist es?"
"Die Igorina aus dem Wachhauf, diejenige, die ihr Rogi Feinftich nennt."
Ophelias Stimme trug kaum bis zu ihr, doch die Intensität, mit der sie plötzlich sprach, war überraschend. "Steht sie etwa vor der Tür? Ach, was frage ich dich? Rogi!"
Igorina brauchte nicht hinzusehen, um zu spüren, wie der Sog hinter ihr sich auflöste und ihre jüngere Verwandte ohne die geringste Verzögerung neben sie trat. Aber das war kein Wunder. Sogar sie selber hatte den Ruf körperlich gespürt, obwohl er nicht ihr gegolten hatte, so von Herzen kam der Wunsch Ophelias, die Eine zu sehen.
"Du haft gerufen?"
Das Gesicht der Menschenfrau schien sich in Tränen aufzulösen, so sehr schluchzte diese auf, während sie gleichzeitig lachen musste. Ophelia ließ ihre bis eben noch so fest gehaltene Hand achtlos fallen und streckte sie stattdessen sehnsüchtig der Wache-Igorina entgegen. Sie versuchte sogar, sich dabei aus dem Kissen aufzurappeln, was ihr jedoch nur so halb gelang.
"Ja! Ja, das habe ich! Und ich frage mich, warum ich erst jetzt darauf komme, wenn das so einfach war? Oh, Rogi! Du, hier!"
Die Kranke ergriff Rogis Hand, sobald diese nahe genug an ihr Bett herangetreten war und zog sie zu sich herunter. Rogi ging neben dem Bett auf die Knie. Kurz darauf blickte die Wache-Igorina nervös und peinlich berührt drein, als sie sich in einer mehr als schwächlichen und arg verrenkten, aber nichtsdestotrotz unnachgiebigen Umarmung wieder fand. Sie zögerte nur kurz, ehe sie ihrerseits beide Arme um die Kollegin legte, ihre Augen schloss und die rückhaltlose Zuneigung dieses schluchzenden Bündels über sich ergehen ließ.
Igorina räusperte sich verhalten.
"Ich ftöre nur ungern aber... Ophelia? Du denkft daran, deine Gedankenwälle aufrecht zu erhalten? Fallf du daf nicht schaffen follteft, könnte daf hier nämlich ein fehr kurzes Wiederfehen werden. Du weift, der Meifter..."
Die Eine warf ihr einen bitterbösen Blick zu, doch die Gefangene hatte die Warnung verstanden und nickte mit dem verborgenen Gesicht stumm in die Schulterbeuge ihrer Besucherin. Sie lehnte sich sichtlich vertrauensvoll in Rogis Umarmung und beruhigte ihre Atmung, nur unterbrochen von dem einen oder anderen kurzen Hustenreiz. Rogi wartete still schweigend, bis Ophelia nahezu emotionslos an ihrer Schulter murmelte.
"In Ordnung. Ich habe es wieder im Griff, denke ich."
Igorina atmete erleichtert auf und erhob sich.
"Ich... ich fetze mich... dort hin. Anf Feuer. Und laffe euch... etwaf Raum."
Als sie sich mit Blick zum Bett neben den Kamin setzte, hatte Rogi bereits ihren Platz auf der Bettkante eingenommen und drückte die Kranke sanft an den Schultern in die Kissen zurück. Noch ehe Ophelia irgendetwas sagen konnte, legte sie ihr einen Finger auf die Lippen – den sie aber sofort wieder schuldbewusst zurückzog. Die Eine wirkte zerknirscht. "Ophelia... ef tut mir leid! Ef tut mir fo unsagbar leid, daf ich dir nicht wirklich helfen kann!"
Ein vorwurfsvoller Blick traf Igorina, doch sie war sich keiner Schuld bewusst. Und auch die Eine würde, mit etwas mehr Abstand zur Situation, sicherlich einsehen, dass sie ihr vielmehr zu Dank verpflichtet war.
Ophelia runzelte leicht die Stirn. Sie hatte den nonverbalen Seitenhieb wahrgenommen, hielt nun sogar ihrerseits für einige Sekunden stumme Zwiesprache mit Igorina.
Keine Sorge, die Menschenfrau versteht das vielleicht sogar besser als du.
Und wirklich sank deren Kopf leicht in die Kissen zurück. Die blasse Frau lächelte erschöpft zu der Wächterkollegin auf. "Du meinst, weil du mich nicht vor Racul retten kannst?"
Ein verbittertes Nicken war stumme Antwort.
Die Gefangene griff wieder nach Rogis Hand auf ihrer Bettdecke, hielt sie diesmal aber nur leicht, wie um die Igorina nicht zu verschrecken. Ihre Stimme klang matt. Die Aufregung hatte ihr bereits sichtlich zugesetzt. "Aber Rogi! Du bist keine Heldin, die ihr Leben einem sinnlosen Versuch opfern muss, um irgendwem irgendwas zu beweisen." Sie musste schwer schlucken und beinahe wäre Igorina aufgestanden, um ihr das bereitstehende Wasser anzureichen. Doch die Wächterin griff im selben Moment wie selbstverständlich danach, beugte sich zu der Patientin vor und brachte diese gänzlich nebenbei dazu, von der kostbaren Flüssigkeit zu trinken, während sie sich in gepresstem Tonfall zu rechtfertigen versuchte.
"Ach! Waf alle nur immer mit meinem Leben haben!" Ophelia schaffte es, sie deutlich tadelnd anzublicken, ehe die Eine sich unter dem unausgesprochenen Vorwurf zu krümmen schien. "Fon gut! Ef ift nicht fo, dass ich..."
Ein Bild, das tausendmal deutlicher als alles andere zuvor davon kündete, wie stark das Band zwischen den beiden Frauen war. Sie brauchte sie nur zu beobachten!
Igorina hätte sich am liebsten aus mehreren Gründen zugleich ergriffen ans Herz gefasst[5]. Aber sie unterdrückte jede äußerliche Reaktion, um nichts von diesem Moment zu zerstören. Zum einen war sie unsagbar froh darüber, dass es endlich jemandem gelang, der Kranken nicht nur winzige Wassertröpfchen einzuflößen. Sie trank richtig, in normalen Schlucken, in richtigen Zügen! Allein dafür würde sich der Besuch gelohnt haben, so dringend wie Ophelias Körper die Flüssigkeit brauchte! Aber dazu kam der frevlerische Gedanke: Du wirst wieder herkommen wollen! Immer, immer wieder. Du wirst diese Chance nicht riskieren. Du bist ihr in ähnlich starker Weise verbunden, wie du es einem Meister wärst. Sie ruft und du erscheinst...
Währenddessen sagte Rogi leise und mit kummervoller Stimme: "Ich habe nach dir gefucht. Fo lange! Immerfu! Und dann finde ich dich endlich und allef ift fo... hoffnungflos!"
Ophelia schien kurz mit sich zu ringen, ehe sie hauchte: "Wie lange? Wie lange bin ich schon fort, Rogi?"
Ein weiterer Blick seitens ihrer Verwandten traf sie, diesmal jedoch war er verwirrt, ehe diese zögerlich antwortete: "Mehr alf ein Jahr inzwischen."
Die Fragende schloss die Augen. "Und ich dachte..."
Die Wächterin sah zu ihr hinüber. "Igorina. Warum weif fie daf nicht?"
Sie zuckte mit den Schultern. "Nicht meine Idee. Aber ich denke, daf gehört nicht zu den Dingen, um die ef fich zu kämpfen gelohnt hätte. Meinft du nicht auch?"
"Wie...", die Liegende hatte ihre Augen nicht geöffnet und auch die Finger ihrer Hand, die sich nun um diejenigen Rogis krampften, kündeten davon, dass sie sich vor der Antwort auf ihre kommende Frage fürchtete. "Wie geht es den anderen? Wie... wie kommt Rach damit... zurecht? Damit, dass ich..."
Die Igorina konnte von ihrem Platz aus sehen, wie die Eine Ophelias Hand vorsichtig zwischen die ihren nahm und sie fest umfasst hielt. Sie zögerte lange mit ihrer Antwort und als sie doch noch zu sprechen begann, ein Zeitpunkt, an dem Ophelia bereits lautlos und wissend die Tränen aus den Augenwinkeln liefen und kaum hörbar auf das Kissen fielen, strich sie wie zur Beruhigung immer wieder mit ihren Daumen über den mageren Handrücken. Ihre Stimme war so leise geworden, dass Igorina sich tatsächlich auf das wenige Gesagte konzentrieren musste, um es noch zu verstehen.
"Fie... fuchen nach dir."
Danach... nichts!
Warum muss sie auch danach fragen? Wirklich! Die Antwort darauf war absehbar. Sie macht es ihrer Kollegin unnötig schwer.
Die Tür zum Zimmer wurde ungestüm geöffnet.
Alle atmeten erschrocken ein und drehten sich ruckartig um.
Ihr Mann stand missgelaunt in der Tür. "Letzte Warnung, feitenf def Meifterf! Entweder, fie hat ihre Gefühle gleich im Zaum. Oder unfere werte Verwandte fliegt rauf!"
Und schon fiel die Tür wieder ins Schloss.
Igorina seufzte. Das wäre nicht in dieser Weise nötig gewesen. Aber gut... der Besuch zieht sich auch schon wieder sehr in die Länge, dafür dass sie eigentlich noch zu schwach dafür ist.
"Ihr habt ef gehört! Ophelia?"
Ihrer beider Patientin schluchzte laut auf, nickte aber tapfer. Sie entzog ihre Hand der tröstenden Berührung Rogis und hielt sie sich stattdessen über die Augen. "Gleich! Ich hab’s gleich. Bitte, nicht gehen!"
Igorina erhob sich und trat neben das Bett. Rogi beobachtete mit fast schmerzhafter Intensität Ophelias Bemühungen. Nur kurz blickte sie zu ihr auf. Leise fragte sie dabei: "Fie kann ihre Gedanken alfo inzwischen felber abschirmen? Wie daf? Während def Wachhaufarrestes hatte sie allef Erdenkliche getestet und über fich ergehen laffen, um daf zu erreichen. Und nichts davon hatte Erfolg!"
Sie behielt den schwächeren ihrer selbst erwählten Schützlinge ebenfalls im Auge und antwortete gelassen: "Fie hat ef lernen müffen."
"Ja, aber wie?"
"Mit der Hilfe def Herrn und Meifters. Er hat fie perfönlich darin unterwiefen. In ihrem Kopf. Eine langwierige Angelegenheit. Ef fehlte ihr der richtige Kniff. Letztlich aber, war wohl vor allem eine... ftarke Motivation aufflaggebend. Wie man ja fieht. Fie muff willenf dazu fein. Fie muss fich darauf konzentrieren."
Ophelias Stimme klang fast verträumt, als sie sie unterbrach. "Stabil. Kann sie halten."
Igorina beugte sich zu ihr hinab, nahm die bleiche Hand vorsichtig von dem wie schlafend wirkenden Gesicht und legte sie sanft neben Ophelia auf dem Kissen ab. Sie fühlte mit ihrem eigenen Handrücken auf der freigelegten Stirn nach der Temperatur. "Es wird trotzdem Zeit, daf diefer Befuch endet. Fie braucht dringend Ruhe. Können wir?"
"Einen Moment noch! Ophelia, hörft du mich? Ich möchte ficher gehen... alfo, ich würde dich gerne noch unterfuchen. Abhorchen, wie ef um deine Lunge fteht. Wäre dir daf recht?"
Die Antwort der Patientin kam deutlich zeitverzögert. "Ja. Das kannst du machen."
Sie beobachtete, wie die Wächterin fast hektisch den Puls und die Temperatur nahm. "Naja... und jetzt die Lunge! Dazu müsstest du dich aufsetzen, Ophelia."
Igorina trat herzu und bot wortlos ihre Hilfe an. Die Eine nickte erleichtert und schlug das Bettdeck beiseite. Sie hielt inne und ihre Hände verkrampften sich in dem groben Bezug.
Sie seufzte vernehmlich, denn zum Vorschein war der deutlich abgemagerte Körper Ophelias gekommen, welcher bisher unter den trügerisch aufgebauschten Daunen verborgen gewesen war. "Glaube mir, wir verfuchen allef. Aber dass du vorhin daf Wasser in fie hineinbekommen haft, war bereits ein großer Erfolg."
"Ef ift noch flimmer geworden." Rogis Stimme klang beinahe tonlos. "Ich dachte damalf fon... aber daf!" Ihre Hände begannen deutlich zu zittern und sie konnte nur mit Mühe den aufsteigenden Zorn unterdrücken.
"Wenn du ef schaffen würdeft, fie zum Essen zu bringen, dann wäre daf eine fagenfafte Erleichterung. Wirklich! Mehr alf ein paar Tropfen Hühnerbrühe hat fie fon lange nicht mehr akzeptiert."
Ophelia schien von ihrem Gespräch nichts mehr mitzubekommen.
Rogi ließ die Zudecke achtlos fallen und raufte sich die Haare. Sie atmete mehrmals tief durch und streckte zum Schluss die Finger. Dann deutete sie nur brüsk auf Ophelia und gemeinsam brachten sie diese in eine sitzende Position.
Igorina hatte ihren linken Arm um die zerbrechlichen Schultern gelegt und stützte mit ihrer rechten Hand Ophelias Kopf, der gegen sie sank. Sie brauchte es Rogi nicht nachmachen, indem sie ein Ohr an Brust und Rücken der Patientin angelegt hätte. Die schweren Atemgeräusche vibrierten gleichsam durch ihren eigenen Körper und das fast lautlose Knistern der Lungenblässchen fräste sich durch die empfindlichen Nerven ihres Gehörs. Nein, Ophelia war noch lange nicht gänzlich über den Damm. Sie würde mindestens noch zwei Wochen brauchen, um gesundheitlich überhaupt nur wieder auf dem vorigen Stand anzukommen! Und der war schon bedenklich gewesen!
Die Eine kam sichtlich zu einem ähnlichen Schluss und rieb sich die Augen.
Vorsichtig legten sie Ophelia wieder auf ihre Bettstatt und glätteten die warmen Decken über sie.
Die Wächterin legte ihre Hand wie schützend auf die Flickendecke. Sie beugte sich noch einmal zu ihrer ehemaligen Kollegin hinab und flüsterte ihr zu: "Kann ich noch etwaf für dich tun, Ophelia?" Doch sie wartete vergebens auf eine Antwort. So klopfte sie sachte auf den Deckenberg und sagte, mit mutwilligem Blick in ihre Richtung: "Bif zum nächsten Mal!"
Als wenn sie da etwas dagegen gehabt hätte!
Mitgegangen...
Als sie leise den Raum verließen, drehte sie noch die Lampen herunter und goss das Wasserglas wieder voll.
Man wird schließlich hoffen dürfen.
Sie bemühte sich darum, die Schlösser von außen mit möglichst wenig Geklapper zu schließen. Das Schweigen in ihrem Rücken wechselte derweil von kalt und verhalten, zu zweifelnd, zaghaft.
Jaja... Emotionen! Sie machen es keinem von uns leicht."
Als sie sich der Besucherin wieder zuwandte, stand auch ihr Mann schon hinter dieser bereit. Rogi blickte kurz über ihre Schulter und runzelte die Stirn, dann aber sah sie zu ihr zurück und hob schnell die Hand.
"Moment noch!" Sie schien mit sich zu ringen. Schließlich sah sie wieder auf. "Ef... ich weif, daf diefe Art von Zusammenarbeit nicht selbstverftändlich ift. Auch nicht innerhalb der Familie. Und daf ef noch flimmer fein könnte. Gewissermafen. Defwegen... danke!"
Sie wechselte einen Blick über deren Schulter mit ihrem Mann. Er rollte lautlos mit den Augen. Und holte mit dieser traumhaften Eleganz aus. Sie musste lächeln.
"Gern gefehen!"



14.03.2017 11: 43

Nyria Maior

Die 'Hinten' genannte Gasse unweit des Ankhs barg auf den ersten Blick nichts Besonderes - einen Waffenladen, das Gildenhaus der Beschwörergilde und ein mit Brettern zugenageltes Ladenlokal, in dem sich vor einigen Jahren einmal ein Geschäft für Musikinstrumente befunden hatte. Schlüpfte man jedoch in den schmalen Weg der zur Rückseite der soeben genannten Häuser führte und unterzog die hohe Mauer, die die Rückwand dieses Pfades bildete, einer genaueren Untersuchung, stieß man früher oder später auf einige fehlende Ziegelsteine, die in einem leiterartigen Muster zur Krone der Mauer führten. Dies war der berühmt-berüchtigte Studenteneingang der Unsichtbaren Universität, ein Konzept, das auf allgemeiner Ignoranz beruhte. Studenten die sich auf einen unerlaubten abendlichen Umtrunk vom Universitätsgelände schlichen ignorierten, dass auch die Professoren, die früher selbst einmal Studenten gewesen waren, vom dem Zugang wussten. Und die Professoren, die auch in fortgeschrittenem Alter gerne mal ordentlich einen heben gingen, ignorierten geflissentlich, dass sich regelmäßig Studenten über die Mauer davon machten. Es war eines der ungeschriebenen Gesetze der Unsichtbaren Universität. Man redete nicht darüber, wen man zu welcher Uhrzeit und in welchem Stadium der Trunkenheit beim Benutzen des Studenteneingangs gesehen hatte.

An einem kalten Spätwinterabend saß die Gefreite Nyria Maior von allen vorbeikletternden Zauberern geflissentlich ignoriert auf der Mauerkrone, rauchte eine Zigarette und wartete auf den Inspektor Rach Flanellfuß. Auch wenn sie sich alle Mühe gab, nach außen hin ruhig und entspannt zu wirken, innerlich war sie angespannt. Raistan hatte ihr genau erklärt, was sie wann zu tun hatte und gemeinsam waren sie den wahrscheinlichen Ablauf mehrmals durchgegangen - Dennoch war es das erste HEX-Experiment, bei dem sie tatsächlich assistieren durfte, und sie hatte einen Heidenrespekt vor dem gewaltigen, von Ameisen angetriebenen Denkapparat.
Rach Flanellfuß war überpünktlich. Schon als die erste der Gildenglocken mit ihrem Geläut begann, sah Nyria ihn in den schmalen Weg einbiegen. Mit einem geschmeidigen Seitwärtsschritt wich er zwei Zaubereistudenten aus, die lautstark darüber diskutierten welche Taverne sie zuerst heimsuchen sollten, und kam schließlich neben der vernagelten Hintertür des Musikladens zum Stehen. Nyria musste unwillkürlich grinsen. Irgendwie war klar gewesen, dass der Palastschnösel unter 'Zivilkleidung' einen robusten, aber trotzdem eleganten maßgeschneiderten Anzug verstand. Aber es passte zu ihm. In allem anderen, wie zum Beispiel der Streifenuniform, wirkte er immer verkleidet.
Nyria drückte ihren Zigarettenstummel auf den Mauersteinen aus und ließ ihre Fingerknöchel knacken. Alle Beteiligten waren dort, wo sie zu sein hatten. Der Versuch, in den Kopf eines Mistkerls von Vampir einzudringen und ihn gehörig in den mentalen Hintern zu treten konnte beginnen.
"Hier oben!" rief die Gefreite dem Inspektor zu.
Dieser sah zu ihr auf und im schwindenden Licht bemerkte Nyria, dass er deutlich blasser als sonst war. Hastig eilte er auf die Mauer zu und erklomm sie mit einer beiläufigen Leichtigkeit, in der die Szenekennerin den erfahrenen Kletterer erkannte. Interessant, was dieser Inspektor für verborgene Talente hatte.
"Alles bereit?" fragte sie, als Flanellfuß die Mauerkrone erreicht hatte.
Der Inspektor nickte nur. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen und seine Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepresst.
Viel Schlaf scheint er in letzter Zeit nicht bekommen zu haben, überlegte Nyria, während sie einen älteren, von der Anstrengung des Kletterns stark schnaufenden Zauberer passieren ließen, der sie keines Blickes würdigte. Dann war der Weg zum Gelände der Universität frei.

Nyria führte Rach zielstrebig durch den Garten zu einer unauffälligen Tür, die Zugang zu einem Raum voller Gartengeräte gewährte.
"Bist du wirklich sicher, dass du dich hier auskennst?" Die Gefreite konnte die Skepsis in der Stimme des Inspektors deutlich hören, als er des Inneren es Schuppens ansichtig wurde.
"Vertrau mir." Sie schenkte ihm ein breites Grinsen und schob ein kaputtes Zaunstück zur Seite. "Ich bin Szenekennerin. Es ist mein Dschob, mich auszukennen, ganz besonders auf den Schleichwegen. Und ich gehe hier noch problemlos als Küchenjunge durch, aber du in deinem feinen Zwirn wirfst bestimmt einige Fragen auf. Deshalb werden wir einen kleinen Umweg machen."
Wenn du wüsstest, wie lange ich schon in der UU ein- und ausgehe... ging Nyria durch den Kopf als sie die schmale Brettertür öffnete, die sich hinter dem Zaunstück befunden hatte. Ihre Rolle als Botin des Ordens des ziemlich rosaroten Huhnes hatte sie über viele Jahre fast wöchentlich in die altehrwürdigen Gemäuer der Alma Pater geführt Im Laufe der Zeit hatte sie allein schon aus reiner Neugierde interessant aussehende Passagen erkundet und war so zufällig auf den Geheimgang zwischen dem Gartenschuppen und einem Lagerraum im Keller des Forschungstrakts für hochenergetische Magie gestoßen.
"Vorsicht," warnte sie. "Jetzt wird es ziemlich dunkel." Sie zog eine halb heruntergebrannte Kerze aus ihrer Manteltasche und entzündete sie mit einem Streichholz aus ihrem Tabaksbeutel.
"Dunkelheit macht mir nichts aus." antwortete ihr Flanellfuß gelassen.
Nyria nickte nur und atmete tief ein. Rach Flanellfuß stand dicht hinter ihr und sie hatte keine Probleme, seinen Geruch wahrzunehmen. Auch wenn er sich wieder mal hinter seiner nonchalanten Maske zu verstecken versuchte, der Inspektor ging auf dem emotionalen Zahnfleisch.
Die Gefreite führte ihn eine enge Wendeltreppe abwärts und in einen schmalen Versorgungstunnel. Mit Runen beschriftete Rohrleitungen, in denen es hin und wieder gluckerte, führten an den Wänden entlang.
"Ich habe mich ja bis zuletzt gefragt, ob du das Angebot wirklich ernst meintest oder nicht vielleicht doch nur mit mir spielen wolltest." brach Flanellfuß das Schweigen, als sie eine Abzweigung passierten, die mit einem äußerst stabilen Gitter verschlossen war.
Nyria blieb stehen und drehte sich um. Im schwachen Schein der Kerze wirkte das Gesicht des Inspektors noch kränklicher als vorhin im schwindenden Tageslicht und ein nervöses Flackern brannte in seinen braunen Augen.
Die Gefreite blickte ihn direkt an.
"Ich mag nicht immer besonders nett sein, aber hier geht es um Rache." erklärte sie. "Und Rache ist ein todernstes Geschäft. Ich habe das hier längst nicht nur für dich eingefädelt, Flanellfuß. Es gibt auch noch ein paar andere Leute dort draußen, die von diesem Versuch profitieren können. Leute die sich insgeheim fragen, ob sie nicht vielleicht doch versagt haben in ihren Versuchen, Ophelia Ziegenberger zu helfen, auch wenn sie nach außen jegliche Sorge um sie abstreiten. In den letzten Wochen ist mir eins klar geworden. Solange der Fall Ophelia Ziegenberger noch den Status 'Ungelöst' hat, werden mehrere Wächter nie so etwas wie ihren Frieden damit machen können. Und wenn ich etwas dazu beitragen kann, diesen Fall abzuschließen, um so besser." Sie grinste schief. "Dazu sind Wächter doch da, oder nicht? Wir klären Verbrechen auf."
Rach Flanellfuß schwieg eine Weile und Nyria spürte förmlich, wie es in ihm arbeitete.
"Dann...bin ich froh, dass ich bei diesem Experiment dabei sein darf." sagte er schließlich leise.
"Du hast sie wirklich und von ganzem Herzen geliebt. Deshalb hast du es verdient, dabei zu sein."
Mit diesen Worten nickte Nyria dem Inspektor noch einmal zu und setzte ihren Weg durch die Eingeweide der Unsichtbaren Universität fort.

Der Gang endete in einem Gewölbekeller, der bis obenhin mit allerlei mechanischen Komponenten vollgestellt war. Raistan hatte Nyria einmal erklärt, dass es sich um Ersatzteile für HEX handelte, doch die Gefreite hatte keinen blassen Schimmer, wozu die allermeisten chaotisch aufeinander gestapelten Gegenstände gut waren und in manchen Fällen, wie dem Rad mit den wirklich scharfen Kanten, wollte sie es auch lieber gar nicht wissen. Ein durchdringender Geruch nach Käse und Schmierfett hing in der Luft.
Die Tür des Kellers war verschlossen, doch Nyrias Dietriche machten, wie schon so oft zuvor, kurzen Prozess mit dem recht simplen Schloss. Ihr war bewusst, dass Rach Flanellfuß genau verfolgte, was sie tat, doch es war ihr egal. Sollte der Inspektor doch denken, was er wollte. Die Fähigkeit zum Knacken einfacher Schlösser gehörte immerhin ganz offiziell zur Ausbildung eines Szenekenners.
"Nach dir." Mit einer leichten Verbeugung schob sie die Tür auf und enthüllte das Treppenhaus, das dahinter lag.
Rach Flanellfuß warf ihr einen leicht irritierten Blick zu, spielte das Spiel jedoch mit. Hinter ihnen zog Nyria die Tür wieder zu und gemeinsam machten sie sich an den Aufstieg.
"Wir haben das Experiment extra auf den frühen Abend gelegt." erklärte sie dem Inspektor. "Die allermeisten Zauberer sind zur Zeit damit beschäftigt, sich im Großen Saal ausgiebig den Wanst vollzuschlagen. Das heißt, dass sich niemand groß dafür interessieren wird, was wir hier treiben."
"Aber der Versuch ist doch korrekt angemeldet, oder?" Flanellfuß klang leicht beunruhigt.
"Das schon." Nyria zuckte mit den Schultern. "Es wird nur nicht so gern gesehen, dass Nichtzauberer hier herumhängen. Deshalb, je weniger Zeugen, desto besser."
"Ich verstehe. Unbefugtes Betreten sensibler Bereiche."
"Du hast es erfasst." Die Gefreite zwinkerte ihm zu.
Auch wenn Nichtzauberern der Zutritt zum HEX-Hauptsteuerungssaal nur in dringlichen Fällen gewährt wurde, wenn Raistan den so genannten Hund seiner Schwester mitbrachte, hatte sich jedoch noch nie jemand beschwert. Und so hatte Nyria an Vollmondabenden schon viele Stunden damit verbracht auf dem alten Sofa in der Ecke zu liegen, sich von den Studenten mit Pizzaresten füttern zu lassen und mit einem Auge das geschäftige Treiben der Zauberer zu beobachten. Sie mochte das leise, monotone Geräusch der unzähligen Ameisen, die unermüdlich durch ebenso unzählige Glasröhren krochen, unterbrochen von einem gelegentlichen parp aus dem Inneren des Denkapparats und dem Kratzen der Schreibfeder der Ausgabe auf dem Papier. Es machte sie so angenehm schläfrig.
Auch wenn sie erstens eine Frau und zweitens ein Werwolf war und drittens nicht über einen Funken magisches Talent verfügte, betrachtete Nyria die Unsichtbare Universität schon seit ihrer Kindheit als Teil ihres persönlichen Reviers und sie hatte schon vor langer Zeit gewusst, dass ihr 'Herrchen' ein Zauberer werden musste. Um so frustrierter war sie gewesen als ausgerechnet Harald Alonzo Trödelgreif, der wohl größte Jammerlappen den die Scheibenwelt je hervorgebracht hatte, ein Studium an der UU begonnen hatte und es Nyrias Aufgabe im Orden wurde, den Kontakt zu halten und ein Auge auf ihn zu haben. Pflichtgetreu war sie ihren Aufgaben nachgekommen, immer in dem Bewusstsein, dass er ihren Schutz eigentlich nicht verdient hatte. Doch jener tragische Tag, der das Ende des Ordens und ihrer Familie bedeutet hatte, war auch das Ende Trödelgreifs gewesen. Sie war plötzlich frei. Und so hatte sie alle Brücken hinter sich abgebrochen, die Scheibenwelt bereist und dabei Orte gesehen, die alles in ihrer Vorstellung übertrafen. Aber am Ende hatte ihr Heimatrevier sie zurückgerufen und innerhalb weniger Tage nach ihrer Rückkehr war sie durch eine Verkettung kurioser und dramatischer Ereignisse schließlich dem Zauberer begegnet, der wirklich für sie bestimmt war.
Nyria warf einen verstohlenen Seitenblick in Richtung Rach Flanellfuß. Es war nicht zu übersehen und zu überriechen, dass der Mann auch so lange nach dem Verschwinden des Oberfeldwebels immer noch fürchterlich litt. Alle Indizien sprachen dafür, dass auch Ophelia Ziegenberger und er vom Multiversum füreinander bestimmt gewesen waren und um so ungerechter war es, dass eben selbiges Multiversum ihnen so einen brutalen Strich durch die Rechnung gemacht hatte.
Das Treppenhaus endete in einem gut beleuchteten Korridor, an dessen Ende sich eine schwere Doppeltür aus eisenbeschlagenem Holz befand.
Nyria blies ihre Kerze aus und wandte sich zu Rach Flanellfuß um.
"Das ist deine letzte Chance, es dir noch mal zu überlegen. Willst du wirklich mit reinkommen?"
Der Inspektor nickt ernst.
"Das hier ist die beste Chance, etwas über Ophelias Verbleib herauszufinden, die ich seit langem hatte. Und selbst wenn alle Hoffnung hierdurch zerstört wird, ich muss es wissen. Sonst werde ich nie..." er brach ab und Nyria glaubte, Tränen in seinen Augenwinkeln schimmern zu sehen. Schnell widmete sie ihre Aufmerksamkeit ihrer Kerze, die sie, nachdem das Wachs angetrocknet war, wieder in ihrer Manteltasche verstaute.
"Und dieser Raistan Quetschkorn kann es wirklich schaffen?" kam die mit belegter Stimme gestellte Frage. "Ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll. Einerseits hat er sie sehr brutal behandelt, was ich auf keinen Fall gutheißen kann. Andererseits... Wenn er eben dadurch die Erkenntnisse gewonnen hat, die jetzt dafür sorgen, dass..." Seine Stimme verlor sich wieder.
Nyria räusperte sich um ihre Verlegenheit zu überspielen. Je mehr Rach Flanellfuß die Nerven verlor, desto unbehaglicher fühlte sie sich. Den sonst in jeder Situation beherrschte Inspektor kurz vor dem Zusammenbruch zu sehen erschütterte irgendwie ihr Weltbild.
"Glaub mir, er weiß was er tut." versuchte sie ihn zu beschwichtigen. "Und Ophelia ist ihm alles andere als egal. Auch nach ihrem Verschwinden hat er noch weitere Versuche mit anderen Opfern von Vampirbissen durchgeführt um das Gedankenleck-Problem genauer einzugrenzen. Aber die Sache erwies sich als einzigartig." Nyria streckte ihre Hand aus und klopfte dem Inspektor auf die Schulter. "Und er weiß auch genau, was Rache bedeutet."
Mit diesen Worten trat die Szenekennerin auf das Portal zu und schob den linken Flügel auf. Es wurde wirklich dringend Zeit, einem Vampir auf den Zahn, beziehungsweise den Kopf zu fühlen, bevor sie selbst noch alle verrückt wurden.

Im Gegensatz zur üblichen Betriebsamkeit wirkte der HEX-Saal an diesem Abend geradezu gespenstisch leer. Kein hektisches Lochkartenstanzen, kein Geschraube und Gehämmer in den Tiefen des Denkapparates, keine Studenten die sich über den Belag einer klatschianischen Bestellpizza stritten. Nur Raistan stand einsam am Haupteingabepult und tippte etwas ein. Nyria fiel auf, dass der rechte Ärmel seiner schwarzen Robe und das darunter getragene helle Hemd bis zum Ellenbogen hochgekrempelt waren. Als der junge Zauberer das Geräusch der Tür hörte, drehte er sich kurz um und nickte ihnen grüßend zu.
"Und diese halbe Portion hat ihr das angetan." murmelte der Inspektor beinahe unhörbar als er seinen aufmerksamen Blick über die sich ihm darbietende Szenerie schweifen ließ.
Nyria verkniff sich ein Grinsen als ihr klar wurde, dass sowohl Raistan als auch Rach bisher fast nur Schlechtes über den jeweils anderen gehört hatten. Der gnadenlose Ophelia-Quäler und der verdammte Mistkerl der versuchte, die Struktur der Wache zu zerstören. Was Mundpropaganda nicht so alles anrichten konnte.
"Komm." Sie versetzte Rach einen aufmunternden Rippenstoß. "Falls es dich tröstet, ich bin auch ziemlich aufgeregt."
"Aufgeregt ist gut." brummte Rach als er ihr zum Hauptschaltpult folgte. "Wenn das hier wirklich..." Seine Stimme verlor sich in einem unverständlichen Knurren.
"Fertig." Raistan klappte einen Schalter um und eine große Sanduhr wurde an einer Feder über dem Eingabepult herabgelassen. "Kontakt mit der Antenne auf der Klackeranlage ist hergestellt. Jetzt müssen sich die Ameisen nur noch in die richtigen Röhren begeben und dann kann es losgehen."
Nyria räusperte sich.
"Wenn ich vorstellen darf: Rach Flanellfuß, Inspektor des Patriziers und Gefreiter der Stadtwache - Raistan Quetschkorn, Zauberer Dritter Stufe und stellvertretender Dozent für theoretische B-Raum-Forschung."
Die Gefreite beobachtete, wie die beiden Männer einander gründlich musterten.
"Sehr erfreut." Rach Flanellfuß deutete ein knappes Kopfnicken an.
"Der berühmt-berüchtigte Inspektor Flanellfuß." Ein leichtes Lächeln spielte um Raistans schmale Lippen. "Ich habe schon viel von dir gehört."
"Nichts Gutes vermutlich wenn man bedenkt, dass du für den Kommandeur als Informant arbeitest." bemerkte Rach trocken.
Raistan zuckte mit den Schultern. "Ich mache mir lieber selbst ein Bild von jemandem. Gerüchte sind nicht gerade eine verlässliche Informationsquelle."
Treffer, dachte Nyria.
"Und du hast dich wirklich aus reiner Nächstenliebe dazu überreden lassen, einen derart komplizierten Versuch durchzuführen?" bemerkte Rach.
"Ich glaube daran, dass Leute bekommen sollten, was sie verdienen." antwortete Raistan ernst. "Das gilt auch für Vampire die ihre Opfer auf geistiger Ebene misshandeln. Außerdem ist das Gedankenleck ein bisher einmaliges, höchst ungewöhnliches Phänomen. Es wäre eine Schande, der Sache nicht endgültig auf den Grund zu gehen."
"Dann ist Ophelia für dich also nur irgendein Forschungsobjekt gewesen?" schnappte Rach. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. "Eine Laborratte zum genüsslichen Sezieren im Namen der magischen Forschung?"
"Äh... so habe ich das nicht..." Raistan wich einen Schritt zurück.
"Schluss jetzt!" Nyria verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte die beiden Kontrahenten an. "Können wir uns -bitte- darauf einigen, dass bei uns allen die Nerven blank liegen und wir alle ein gemeinsames Ziel haben, nämlich einem Vampir in den Allerwertesten zu treten? Danke."
Verlegen sahen sich Zauberer und Inspektor an und wieder einmal wusste Nyria, warum sie meistens das Reden übernahm, wenn Raistan und sie zusammen unterwegs waren. Die angemessenen Worte zur richtigen Zeit waren in emotional verzwickten Situationen einfach nicht seine Stärke.
"Also gut." Rach Flanellfuß atmete tief durch und seine Hände entspannten sich. "Und wie genau funktioniert dieser Versuch nun?"
"Das Prinzip basiert auf der Annäherung von Ähnlichkeiten." Jetzt, wo Raistan sich wieder auf vertrautem Terrain befand, hatte er seine Selbstsicherheit zurückgewonnen. "Wir wissen, auf welchen Gedankenwellen die Person, die ich Vampir X genannt habe, ihre Verbindung zu Fräulein Ziegenberger hatte. Egal ob sie noch lebt oder nicht, über diese Wellenfrequenz ist er also erreichbar. Ich habe eine Antenne mit einigen weitreichenden Verständigungs- und Beeinflussungszaubern versehen, sie auf den Klackerturm der Universität gesteckt und mit HEX gekoppelt. HEX ist darauf eingestellt, die Reichweite dieser Zauber zu verstärken und auf der Wellenlänge von Vampir X nach Resonanz, das heißt nach etwas das darauf reagiert, zu suchen. Allerdings ist auch eine Apparatur wie HEX nicht in der Lage, die Feinheiten der Operation exakt durchzuführen und die Feinheiten des geistigen Kontakts mit Vampir X zu erfassen." Raistan griff nach etwas, das wie eine Mischung aus Armschiene und Foltergerät wirkte und hielt es hoch. "Und da komme ich ins Spiel."
Nyria hatte das Objekt bereits in verschiedenen Stadien seiner Entwicklung gesehen. Die Basis war eine einfache Lederarmschiene, wie sie von vielen professionellen Tavernenschlägern getragen wurde. Raistan hatte mehrere Löcher hineingebohrt und Schrauben daran befestigt, die wiederum mit Drähten an HEX gekoppelt waren.
"Hiermit werde ich mich an HEX anschließen und das Experiment von innen steuern." fuhr der junge Zauberer mit seiner Erklärung fort. HEX wird außerdem als mein Schild agieren, der mich vor der direkten mentalen Einflussnahme durch Vampir X schützen wird." Er legte die präparierte Armschiene wieder ab. "Ich gehe davon aus, dass ich zwei bis drei Minuten den Kontakt halten kann, bevor es richtig gefährlich wird."
"Was soll das heißen, richtig gefährlich?" warf Rach ein.
"Gefährlich in dem Sinne, dass es Vampir X bestimmt nicht gefallen wird, dass jemand plötzlich Zugang zu seinem Kopf hat, und er bestimmt zurückschlagen wird." Raistan wirkte ruhig doch Nyria wusste, dass auch er nervös war. "Wer meinen Bericht über das erste Experiment gelesen hat weiß, was aggressiver Vampireinfluss mit Ophelia Ziegenbergers Kopf angerichtet hat. Und ich bin auch nur ein Mensch. Theoretisch kann Vampir X mir genauso das Gehirn rösten wie er es bei ihr getan hat."
"Dann lass es mich tun." In Rachs Stimme schwang grimmige Entschlossenheit mit. "Und wenn es das Letzte ist, das ich noch für Ophelia tun kann. Für sie nehme ich jedes Risiko auf mich."
"Das verstehe ich vollkommen." Raistan presste die Lippen aufeinander und Nyria war sich sicher, dass er wieder einmal nach den richtigen Worten suchte.
"Wir würden dich gern lassen, aber es muss ein Zauberer oder jemand anderes mit magischer Begabung sein." kam die Gefreite ihrem Freund zur Hilfe. "Wenn ich es richtig verstanden habe, müssen die wirkenden Zauber während des Versuchs die ganze Zeit über aktiv gehalten werden und das kannst du nicht."
"Genau wie Nyria sagt." fügte Raistan schnell hinzu und schob sich eine Haarsträhne, die sich aus seinem lose gebundenen Pferdeschwanz gelöst hatte, hinter das Ohr. "Ich kümmere mich dann mal um die letzten Vorbereitungen."
Rach Flanellfuß schloss die Augen und atmete tief durch.
"Nun gut," sagte er schließlich. "Dann muss es wohl so sein."
Froh darüber, weitere Grabenkämpfe umschifft zu haben, nahm Nyria Rach beiseite und führte ihn zu dem alten Sofa in der Ecke, neben dem sich ein Stapel leerer Pizzakartons gefährlich neigte. Die Gefreite atmete tief ein. Es hatte Brindisianische Salami, Schinken und Pilze gegeben. Eine ihrer Lieblingssorten. Ihr Magen meldete sich mit einem lauten Knurren.
"Und er hält das wirklich durch?" erkundigte sich Rach flüsternd. "Er sieht aus als hätte er sich die Schwindsucht eingefangen."
"Es ist nicht die Schwindsucht." erklärte Nyria ebenso leise. "Er wurde als kleines Kind verflucht, und zwar auf eine ziemlich böse Weise. Den Fluch ist er zwar losgeworden, wie genau weiß keiner, aber seine Gesundheit war bereits ziemlich ruiniert. Aber keine Sorge. Er zieht die Sache bis zum bitteren Ende durch, egal was es ihn kostet. Ich sage ihm zwar immer wieder, dass er sich schonen soll, aber... Zauberer." Sie seufzte und verdrehte die Augen. "Schlimmer zu hüten als ein Sack Brindisianischer jodelnder Stabheuschrecken."
Zufrieden stellte sie fest, dass sie Rach ein schwaches Lächeln entlocken konnte.
"Tust du das oft?" erkundigte er sich.
"Was?"
"Zauberer hüten."
Nyria lehnte sich gemütlich auf dem Sofa zurück. "In der Hinsicht kann ich mich langjähriger Erfahrung rühmen. Und der da vorne ist trotz all seiner Macken immer noch der pflegeleichteste von allen."
"Nyria? Kannst du mir mal kurz helfen?" Raistan winkte ihr zu.
Als sie neben ihm stand sah sie, dass er vier mit rotbrauner Flüssigkeit bestrichene münzengroße Metallscheiben auf seinem bloßen Unterarm befestigt hatte. Der scharfe Geruch gennuanischer Chilis vermischt mit Pilzen und exotischen Gewürzen lag in der Luft. Unwillkürlich trat sie einen Schritt von dem winzigen Fläschchen zurück, das auf einem Regal neben dem Haupteingabepult stand. Mit Potzblitzsoße war selbst in geringen Mengen nicht zu spaßen.
Vorsichtig hob Nyria die modifizierte Armschiene an und legte sie um den mageren Unterarm ihres Freundes. Die Schrauben kamen genau über den aufgeklebten Metallplättchen zu liegen. Sie zog die Schnallen fest und half, die Schrauben anzuziehen.
Probeweise bewegte Raistan seine Finger und machte sich daran, die zu HEX führenden Drähte zu überprüfen.
"Ist das das gleiche Prinzip wie auch der Stuhl auf dem Ophelia sitzen musste?" Rach Flanellfuß war ebenfalls herangetreten und betrachtete die Konstruktion mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu.
"Genau. Nur kleiner und effizienter. Die Erfahrungen aus den vorherigen Versuchen haben mir erlaubt, entscheidende Verbesserungen vorzunehmen."
Rach sah aus als wollte er etwas sagen, schien es sich jedoch in letzter Sekunde anders zu überlegen.
Braver Inspektor, dachte Nyria. Je schneller sie begannen, desto besser. Sie war sich nicht sicher, ob ihre eigenen Nerven für ein weiteres Aufeinanderprallen von Raistans Forschergeist und Rachs schwerem Leiden am Ophelia-Syndrom reichten.
Als hätte HEX ihre Gedanken gehört sprang in diesem Moment die Sanduhr zurück in ihr Gehäuse.
Raistan zog die letzte Schraube an seiner Armschiene fest.
"Es ist soweit," verkündete er. "Nyria, du weißt, was du zu tun hast?"
"Jawohl, Sör!" Die Gefreite salutierte zackig um ihre aufkeimende Nervosität zu überspielen. Genau wie Rach hatte auch sie sich große Mühe gegeben, die Maske ihres üblichen Selbst spazieren zu tragen, doch je näher der Beginn des Experiments rückte, desto mulmiger wurde ihr. Man konnte es drehen und wenden wie man wollte, was Raistan im Begriff war zu tun, war wirklich gefährlich. Und sie hatte ihn dazu überredet. Wenn etwas schief ging und ihm das Hirn gegrillt wurde, war es ihre Schuld.
Sie biss die Zähne zusammen und stellte sich neben den großen Hebel mit dem roten Knauf, der aus der Seite des Hauptsteuerpults ragte. Raistan würde es im Traum nicht einfallen, zu kneifen, selbst wenn er im wahrsten Sinn des Wortes seinen Kopf riskierte. Und sie würde es auch nicht tun. Vor allem nicht vor Inspektor Rach Flanellfuß.
Währenddessen war Raistan an ein großes, blau gestrichenes Metallrad neben der Ausgabeeinheit herangetreten und drehte es mit der linken Hand auf. Das unterschwellige Summen, das selbst im Ruhemodus von HEX ausging, schwoll zu einem dumpfen Brummen an. Der von einem komplizierten System aus Metallfedern geführte Stift, mit dem der Denkapparat sich seinen Operatoren mitteilte, kratzte fleißig über die endlose Papierrolle. Nyria reckte den Kopf und sah, dass es lange Kolonnen unverständlicher Zahlen waren. Zahlen die sie in den Kopf von Ophelia Ziegenbergers potentiellem Entführer und Mörder führten.
Rach Flanellfuß starrte ebenfalls wie gebannt auf die Ausgabe und hegte vermutlich ähnliche Gedanken.
"Wie lange noch bis zum Kontakt?" fragte er mit unbewegter Stimme. Seine in die Schöße seines Anzugs gekrallten Hände straften den neutralen Tonfall Lügen.
"Bin fast da." sagte Raistan knapp. Zwischen seinen Augenbrauen stand jene steile Falte, die anzeigte, dass er sich bis zum äußersten konzentrierte.
Nyria wischte sich ihre verschwitzten Hände am Hosenboden ab und griff nach dem Knauf des Hebels.
"Null komma zwei fünf," las Raistan die von Hex ausgegebenen Werte ab und verlangsamte das Drehen des Rades. "Null komma eins sieben. Null komma eins eins. Null komma null acht."
Nyria hielt den Atem an.
"Null komma null vier. Null komma null zwei. Null komma null eins. Jetzt!"
Die leise, brüchige Stimme des jungen Zauberers hallte wie ein Peitschenknall durch den Saal.
Nyria schluckte, warf einen letzten Blick in Richtung Rach Flanellfuß und zog den Großen Beeindruckenden Hebel durch. Die am Steuerpult angebrachte Drei-Minuten-Sanduhr drehte sich mit einem lauten Klacken um. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie hatte ihnen allen die Suppe eingebrockt und hoffte, dass sie es irgendwie schaffen würden, sie auszulöffeln.

Ein Blitz durchfuhr Raistans rechten Unterarm und breitete sich von dort aus in seinem gesamten Körper aus. In seinen Ohren erklang ein wildes Rauschen wie das Krabbeln unzähliger Ameisenbeine auf Glas als sein Bewusstsein auf die gewaltige Entität namens HEX traf. Lichtbögen flackerten vor seinen Augen und verschlangen sich in einem wilden Tanz zwischen Ordnung und Chaos zu geometrisch unmöglichen Mustern. Konzepte wie Raum und Zeit drohten jegliche Bedeutung zu verlieren. Raistan nahm all seinen Willen zusammen und konzentrierte sich auf seinen Körper, der irgendwo jenseits der Eindrücke, die seine Sinne gerade überfluteten, noch existieren musste. Undeutlich fühlte er einen runden Gegenstand zwischen seinen Fingern. Das Wort Feinjustierung schwebte durch seinen Verstand wie ein Sinnloser Albatross auf den Aufwinden von Cori Celesti. Geistesgegenwärtig klammerte er sich daran fest. Die Frequenz finden. Rache. Ophelia Ziegenberger. beschwor er sich. Das war es, was er zwischen all den abertausenden von Ameisenverstanden, die gegen sein Bewusstsein brandeten, wollte. Wie durch Watte spürte er, wie seine Hand das Rad umschloss und langsam drehte. Die Frequenz finden! schrien seine Gedanken gegen das allgegenwärtige Rauschen an. Rache für Ophelia Ziegenberger! Wo bist du, du verdammter Vampir X? Zeig dich!

Irgendwie hatte Nyria sich die ganze Sache wesentlich spektakulärer vorgestellt. Ein paar sichtbare oktarine Entladungen kurz nachdem sie den Hebel gezogen hatte wären doch sicherlich drin gewesen. Woher sollte sie sonst wissen, dass irgendwas passierte, außer dass Raistan hin und wieder wie in Trance das Steuerungsrad mal in die eine, mal in die andere Richtung bewegte? Die Ameisen krabbelten durch die Glasröhren über der Haupteingabestation des magischen Rechenapparats und hin und wieder gab etwas im Inneren der Maschine ein Geräusch von sich, das wie parp klang. Sie warf einen Blick auf die Sanduhr, die unbarmherzig die Sekunden herunterzählte.
"Eine Minute." murmelte sie.

Was?
Die Antwort, die sich als weibliche Stimme manifestierte, traf Raistan völlig unerwartet. Gefühle von einer ungestümen Wucht die selbst der vorgeschaltete HEX nicht herausfiltern konnte strömten auf ihn ein. Verwirrung. Panik.
Raistan stemmte sich mit aller Kraft gegen den emotionalen Sturm und seine Hand krallte sich um das Rad, sein letzter Anker in einer Wirklichkeit die ihm weiter entfernt erschien als je. Ich... bin... ich beschwor er sich. Und... du... bist...?
Du bist nicht er! schrie die Stimme in seinem Kopf und eine weitere Flutwelle der Panik schlug über ihm zusammen. Nein! Ich hatte... Ich hatte doch gerade erst... Der Rest des Satzes ging im Rauschen der Ameisen unter und Raistan spürte das schwache Echo von Schmerz. Nach metaphorischem Atem ringend tauchte er aus dem Meer der Angst auf. Schmerzen. Das war etwas wirkliches. Etwas an das er sich klammern konnte.
Irgendwo dort draußen gab es ein Rad. Er folgte dem Schmerz, der irgendwo aus seinem Arm zu kommen schien. Nichts. Nein, der andere Arm... Metall. Unter der Hand. Drehen! befahl er sich selbst.

Nyria zuckte unwillkürlich zusammen als Raistans rechte Hand plötzlich vorschnellte und ins Leere griff.
"Äh.... muss das so sein?" erkundigte sich Rach Flanellfuß skeptisch.
"Ich weiß nicht..." Auch Nyria war beunruhigt. Ein rötliches Glühen wanderte die Drähte entlang, die Raistans Armschiene mit HEX verbanden. Das Gesicht des jungen Zauberers war vor Anstrengung verzerrt und die Knöchel seiner linken Hand traten weiß hervor, als er das Rad um ein winziges Stück drehte.
Die Sanduhr zeigte zwei Minuten an.

...warne dich!" Die schneidend kalte Männerstimme kam aus dem Nichts und kratzte an HEX' Schutzschild wie Fingernägel auf einer Schiefertafel. Ophelia! Lass das sofort sein, oder ich...
Wieder verschwamm alles in einer Kakophonie aus Rauschen und flackernden Lichtern und Raistan spürte einen weiteren dumpfen Schmerz in der Region in der sich seine Brust befinden musste, doch das war nichts gegen die Erkenntnis die ihn wie ein zwergisches Kampfbaguette traf. Ophelia Ziegenberger lebte!
Verdammt noch mal! fluchte Raistan in Gedanken. Er war dran. So nahe dran. Rad. Drehen. herrschte er seinen Körper an, der ihm so fern war. Ophelia! Komm zurück!
Ich bin es nicht! Es ist nicht meine Schuld! Ich flehe dich an! Nicht wieder der Käfig! die Stimme der Vermissten gellte durch seinen Verstand und nur Raistans Konzentration auf seine körperlichen Schmerzen war es zu verdanken, dass die Emotionen ihn nicht völlig mit sich rissen. Hilflos. Ausgeliefert. Gefangen. Panik. Angst. Fieber und Schwäche. Einsamkeit. Unendliche Einsamkeit. Und dann ein plötzliches Bild. Das Inneres eines kahlen, eisernen Käfigs im Schein einer einzelnen Kerze. Eiseskälte. Ein bodenloser Abgrund.
Wir werden sehen... flüsterte die kalte, männliche Stimme und Etwas schmetterte mit aller Macht gegen HEX.
Das Rauschen der Ameisen federte den mentalen Schlag ab, doch in das allgegenwärtige Geräusch mischte sich Chaos. Macht. Dominanz. Die Schmerzen nahmen zu und fraßen sich in seinen Körper, der sich irgendwo fast jenseits seiner Wahrnehmung im Forschungstrakt für hochenergetische Magie in der Unsichtbaren Universität befand.
Raistan nahm all seinen Willen zusammen. Der Wille, der ihn dazu gebracht hatte, es mit einem halb wahnsinnigen Stadtwächter und einem Ding aus den Kerkerdimensionen aufzunehmen. Der Wille, der dafür gesorgt hatte, dass er trotz seines schwachen Körpers nie aufgegeben hatte. Die ersten Ameisen starben unter der erdrückenden Kraft des fremden Bewusstseins. Das, was dort draußen jenseits von HEX lauerte, war uralt und besaß eine Bosheit die ein menschlicher Verstand kaum ermessen konnte. Aber mit eingezogenem Schwanz würde er, Raistan Adelmus Quetschkorn, Stellvertretender Dozent für theoretische B-Raum-Forschung und Zauberer dritter Stufe, sich nicht zurückziehen. Selbst wenn er diesen Kampf nicht gewinnen konnte, ein letzter Tritt in den Allerwertesten dieses Wesens musste sein. Dieses Ungeheuers in Vampirform, das einer jungen Frau, die für ihren Zustand nichts konnte, nun schon seit über einem Jahr entsetzliche Qualen zufügte.
Ein letztes Mal konzentrierte Raistan sich.
Fahr! Ins! Pandämonium! schrie er mit aller Kraft die ihm noch zur Verfügung stand und befahl seiner Hand, das Rad so weit herumzureißen wie nur möglich...

Zweieinhalb Minuten. Was auch immer Raistan tat war sichtbar anstrengend. Sein Atem ging schwer und feine Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Hin und wieder drehte er zögernd am Rad.
Direkt hinter dem jungen Zauberer stand Rach Flanellfuß. Seine Hände kneteten die Schöße seiner Anzugjacke.
"Warum sagt er nichts?" Die Stimme des Inspektors zitterte vor Anspannung. "Warum fragt er nicht nach Ophelia? Hat es nicht geklappt?"
"Keine Ahnung." antwortete ihm Nyria wahrheitsgemäß und fixierte mit ihren Blicken die Sandkörner, die von der oberen Hälfte der Sanduhr in die untere rieselten. Zwei Minuten, vierzig Sekunden.
Plötzlich änderte sich das Geräusch der krabbelnden Ameisen. Was zuvor ein monotones Rauschen gewesen war, geriet immer wieder ins Stocken. Nyria runzelte die Stirn. So hatte HEX in all der Zeit, die sie hier im Steuerungssaal verbracht hatte, noch nie geklungen. Irgend etwas stimmte nicht. Und das war ganz und gar nicht gut. Zwei Minuten, fünfzig Sekunden.
"Halt durch! Du schaffst das!" flüsterte sie beinahe unhörbar. "Gleich ist es vorbei!"
Plötzlich riss Raistan das Rad herum. Das letzte Sandkorn fiel durch den gläsernen Hals. Und Nyria stieß den Hebel mit aller Kraft die sie aufbringen konnte zurück in seine Ausgangsposition.
Das Rauschen der Ameisen verstummte abrupt. Nyria ließ den Hebel los und eilte zu Raistan, der völlig entkräftet auf die Knie gesunken war. Seine Lippen bewegten sich. Die Gefreite konnte nicht verstehen, was er sagte, doch urplötzlich wich sämtliche Farbe aus Rach Flanellfuß' Gesicht. Dann war sie auch schon heran und fing ihren Freund gerade noch auf als er endgültig zusammenbrach.
Vorsichtig bettete sie ihn auf den Boden, schob ihren hastig zusammengeknüllten Mantel als improvisiertes Kissen unter seinen Kopf und fühlte seinen Puls. Schwach aber gleichmäßig. Soweit schon einmal gut. Raistan hatte sie zwar vorgewarnt, dass es ihn vielleicht umhauen würde, aber in real hatte es ihr einen ziemlichen Schrecken eingejagt.
Sie wollte sich gerade an die Überprüfung seiner Atmung machen, als Rach Flanellfuß sie unwirsch beiseite schubste und den jungen Zauberer an den Schultern packte.
"Wach auf!" rief er wie von Sinnen und schüttelte den Bewusstlosen kräftig durch.
Nyria handelte sofort. Sie griff nach Flanellfuß' Handgelenken und riss sie fort.
"Lass ihn in Ruhe!" herrschte sie ihn an.
Rach starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an als wäre sie ein Ungeheuer aus den Kerkerdimensionen. Seine Arme erschlafften in ihrem Griff. Eine einzelne Träne lief quälend langsam über seine Wange und tropfte vom Kinn auf den eleganten Anzug. Nyria zögerte noch kurz, dann ließ sie ihn los. Was auch immer Raistan noch gesagt hatte bevor er das Bewusstsein verloren hatte, es waren offensichtlich keine guten Nachrichten gewesen. Auch bei sich spürte die Werwölfin einen Kloß im Hals.
Aufschluchzend sackte der Inspektor in sich zusammen und verbarg sein Gesicht in den Händen.
Nyria schluckte und konzentrierte sich darauf, den Gesundheitszustand ihres Freundes weiter zu überprüfen. Atmung mühsam aber vorhanden. Die Gefreite griff in ihre Hosentasche und zog das kleine Fläschchen mit dem Kräuterextrakt hervor, das Raistan ihr vor weniger als einer Stunde gegeben hatte. Es war sein Notfallmittel bei akuten Anfällen von Atemnot. Sie zog den Korken und hielt die Öffnung unter die Nase ihres Freundes. Während sie darauf wartete, dass ihm das Atmen leichter fiel, wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Rach Flanellfuß zu. Der Inspektor kauerte auf dem Boden vor dem HEX-Eingabepult und heulte Rotz und Wasser. Es war befremdlich, den korrekten, geschniegelten Inspektor in diesem Zustand zu sehen, doch Nyria konnte es ihm nicht verdenken. Sie strich Raistan mit ihrer freien Hand über das Haar.
"Was hast du im Kopf dieses Vampirs gesehen?" fragte sie leise.
Dann war Ophelia Ziegenberger also tot. Es war ein trauriges Gefühl, plötzlich Gewissheit zu haben. Trotz ihrer Überzeugung, dass der Oberfeldwebel endgültig mundtot gemacht worden war, hatte ein kleiner Teil tief in Nyrias Inneren irrationalerweise immer noch gehofft, dass die Kollegin noch lebte.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, doch Raistans Atmung wurde leichter. Nyria steckte das Fläschchen wieder ein. Besser, man übertrieb es nicht. Das Zeug hatte es in sich. Einmal hatte sie aus Neugier daran geschnuppert und eine halbe Stunde und fünf Zigaretten gebraucht um den Geruch halbwegs wieder aus ihrer Nase zu bekommen.
Als nächstes kümmerte sie sich um die Armschiene. Gerade löste sie die Schrauben, als ein prustendes Geräusch sie aufhorchen ließ.
Rach Flanellfuß putzte sich ausgiebig die Nase und wischte sich die Tränen ab. Dann kam er auf Händen und Füßen auf Nyria zugekrabbelt. Sein Gesicht war vom Weinen verquollen.
Die Gefreite räusperte sich. Sie war nicht gut in so etwas.
"Es tut mir wirklich leid." Schon als sie die Worte aussprach wusste sie, dass sie entsetzlich lahm klangen.
"Nein! Du versteht das falsch!" Die Bewegungen des Inspektors waren fahrig und in seinen rot geränderten Augen brannte ein fieberiges Feuer. "Begreifst du es denn nicht? Ophelia lebt! Das hat er doch gesagt bevor er umgekippt ist! Hast du es nicht gehört?" Die letzten Worte schrie er beinahe.
Nyria schüttelte den Kopf. "Es war zu leise. Was hat er denn gesagt?"
"Ophelia, lass das! Das heißt, er muss sie gehört haben!"
Nyria machte sich daran, die letzte Schraube zu lösen. Ihre Gedanken rasten. Sie hatte die Sache völlig missverstanden. Rach Flenellfuß` Tränen waren kein Ausdruck der Trauer sondern der Freude und Erleichterung gewesen. Ophelia, lass das. Hatte Raistan wirklich über die offene Verbindung Kontakt zu Ophelia Ziegenberger gehabt? Oder bildete sich Rach nur ein etwas gehört zu haben, das ihm Hoffnung gab, dass Ophelia doch noch lebte? Eines war jedoch klar. Solange Raistan außer Gefecht war, würden sie es nicht herausfinden.
Diesen Gedanken schien auch der Inspektor zu haben.
"Wir müssen ihn aufwecken." erklärte er in gehetztem Tonfall. "Und ich glaube, ich habe genau das richtige Mittel dabei." Hektisch begann er, in den Innentaschen seines Anzugs zu wühlen.
"Du gibst ihm keine Drogen." stellte Nyria klar und löste die Schnallen der Armschiene. "So schwach wie er im Moment ist, kommt das nicht in..." Sie stockte, als sie die Armschiene abzog.
Die Plättchen hatten sich an den Spitzen der Kontakte festgefressen und wo sie gesessen hatten, zierten münzengroße, blutig nässende, von Blasen umgebene Brandwunden Raistans Unterarm.
Nyria sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein und zwang sich, den metallischen Geruch zu ignorieren. Das sah wirklich schmerzhaft aus. Rach Flanellfuß hatte in seiner hektischen Suche inne gehalten und blickte wie hypnotisiert auf die Verletzungen. Blankes Entsetzen stand in seinem Gesicht geschrieben.
"Und das hat er Ophelia..." murmelte er wie zu sich selbst.
In Ermangelung professioneller Bandagen löste Nyria ihr Halstuch und verband die Wunden notdürftig. Mehr konnte sie im Moment nicht tun.
Rach Flanellfuß starrte immer noch Löcher in die Luft. Nyria streckte ihre Hand über Raistans reglosen Körper hinweg aus und klopfte ihm auf de Schulter.
"Hey." sagte sie so sanft wie ihr möglich war. "Bist du noch da?"
Der Inspektor blinzelte als hätte sie ihn aus tiefen Gedanken aufgeschreckt. "Äh... ja. Wir wollten ihn wecken!" Er wedelte mit einer kleinen Papiertüte. "Das hier ist nicht gefährlich, versprochen!" sagte er eindringlich. "Es wirkt ähnlich wie Kaffee, nur in Tablettenform!"
Nyria seufzte. Was Raistan jetzt wirklich helfen würde war ausgiebige Bettruhe. Aber Rach Flanellfuß von der fixen Idee abzubringen, ihn so schnell wie möglich aufzuwecken, würde einem Kampf gegen einen zu allem entschlossenen Troll auf Platte gleichkommen. Der Inspektor befand sich so fest in der emotionalen Mangel, dass keine vernünftigen Argumente mehr zählten. Und auch Nyria konnte nicht verhehlen, dass sie nur zu gern ein Lebenszeichen ihres Freundes hätte. Hatte sein Verstand das Experiment wirklich unbeschadet überstanden?
"Also gut." gab die Gefreite sich geschlagen. "Aber nur eine kleine Dosis. Er ist nichts härteres als Kräutertee gewöhnt."
"Leg sie ihm unter die Zunge." Mit zitternden Fingern reichte Rach ihr eine kleine, weiße Scheibe.
Nyria nahm die Tablette in Empfang und betrachtete Raistans kreidebleiches, stilles Gesicht.
Es tut mir echt leid, aber ich weiß nicht, was er sonst anstellt, dachte sie im Stillen und griff nach seinem Unterkiefer.

Danach hieß es wieder warten. Nyria nutzte die Gelegenheit um aufzustehen und Raistan in seinem Umhang einzuwickeln, den der junge Zauberer vor Beginn des Versuchs über die Lehne des Sofas gehängt hatte. Versonnen zupfte die Gefreite ein dunkelblondes Hundehaar von dem schwarzen Wollstoff. Vielleicht sollte sie als gut gemeinte Geste mal das Sofa enthaaren. Währenddessen schritt Rach Flanellfuß hektisch auf und ab und fuhr sich dabei immer wieder nervös durch sein mittlerweile ehemals sorgfältig zurechtfrisiertes Haar. Zehn Schritte vom Eingabepult zur Tür, eine abrupte Kehrtwendung und wieder zurück. Die Absätze seiner Schuhe klapperten laut auf dem steinernen Fußboden.
Wenn es ihm half, emotionalen Dampf abzulassen... Nyria nahm Raistans kalte linke Hand zwischen die ihrigen. Die ganze Situation kam ihr immer absurder vor. Über ein Jahr hatten Mina von Nachtschatten und Rach Flanellfuß vergeblich nach einem Lebenszeichen von Oberfeldwebel Ziegenberger gesucht ohne daran zu denken, dass sich die Lösung direkt in ihren Akten befunden hatte. Die Gefreite seufzte leise. Sobald es Raistan wieder gut ging würde sie mit den gewonnenen Informationen zu Chief-Korporal von Nachtschatten gehen. Das schuldete sie ihr irgendwie als Wiedergutmachung für den Einbruch und als Zeichen des Respekts für ihre unermüdliche Hartnäckigkeit.
Ein teuflisches Grinsen stahl sich auf Nyrias Gesicht. Und das Beste, das Allerbeste würde der Moment sein, in dem sie Bregs in aller Gründlichkeit unter die Nase rieb, dass die Ermittlungen längst noch nicht abgeschlossen waren.
"Tja." sagte sie zu Raistan, sich selbst und dem Multiversum im Allgemeinen. "Es sieht im Moment ganz so aus, als würde es keine leckere Belohnung für den Herrn Kommandeur geben."
Als würde er ihr antworten wollen, bohrten Raistans Fingernägel sich plötzlich schmerzhaft in ihre Handfläche. Seine Augenlider flatterten.
"Nein!" wisperte er so leise, dass Nyria es nur dank ihrer scharfen Werwolfssinne vernehmen konnte. "Nicht... der Käfig! Die Kerze... über dem Abgrund... Kälte... So schwach..."
"Was?" Nyria beugte sich vor und brachte ihr Ohr an seinen Mund, doch Raistans Stimme verlor sich in unverständlichem Gemurmel und sein Griff erschlaffte. Dann verstummte er und versank wieder in seiner Ohnmacht.
"Was ist los?" Rach Flanellfuß kam förmlich herangestürzt. "Ist er wach? Redet er?"
Nyria schüttelte den Kopf.
"So toll scheint dein Zeug nicht zu wirken. Er ist kurz zu sich gekommen, hat irgendwas über einen Käfig gemurmelt und war dann sofort wieder weg."
"Ein Käfig?" Ungläubiges Entsetzen breitete sich auf dem Gesicht des Inspektors aus. Völlig unelegant ließ er sich auf den Boden fallen und begann, mit der flachen Hand kräftig auf Raistans Wange einzuklopfen. "Komm schon!" rief er. "Was weißt du?"
"Hör auf damit!" Nyria schlug Rachs Hand beiseite.
Der Inspektor starrte sie an.
Nyria knurrte drohend und ließ ihr Gebiss aufblitzen.
"Freundliche Warnung: Wer ihn schlägt, bekommt es mit mir zu tun," sagte sie streng. Dann atmete sie tief durch. Ruhe bewahren, beschwor sie sich selbst. Du bist hier gerade die letzte Person im Raum, die noch halbwegs bei Verstand ist.
Rach Flanellfuß starrte sie immer noch an.
"Tut mir leid." Nyria machte eine beschwichtigende Geste. "Ich habe halt gewisse Instinkte."
Der Inspektor nickte wie in Trance.
"Hast du... gehört, was er genau gesagt hat?" erkundigte er sich stockend.
"Ungefähr. Er hatte anscheinend Angst vor einem Käfig." Nyria rieb mit dem Daumen über die deutlichen Abdrücke, die Raistans Fingernägel auf ihrer Hand hinterlassen hatten. "Und dann war da noch etwas mit einer Kerze, einem Abgrund, Kälte und Schwäche. Es ergab alles keinen zusammenhängenden Sinn."
An Rachs Gesichtsausdruck merkte sie sofort, dass ihre Antwort ihn ganz und gar nicht beruhigte.
"Was ist, wenn jemand sie foltert!" rief er aus und deutete mit einem zitternden Zeigefinger auf Raistans Kopf. "Irgendwas von meiner Ophelia ist da drin! Und ich komme nicht ran! Wir brauchen Hilfe!"
"Und was hast du dir da vorgestellt?" erkundigte sich Nyria.
"Mina von Nachtschatten!" Rach gestikulierte wild. "Sie kann bestimmt helfen! Sie hat nie aufgegeben!" Er sackte in sich zusammen. "Und Feldwebel Magane Schneyderin." murmelte er und fuhr sich mit der Hand durch das mittlerweile völlig zerzauste Haar. "Ich wollte ihr nicht glauben..."
Nyria stand auf, stieg über Raistan hinweg und ließ sich neben dem Inspektor nieder. Etwas linkisch legte sie einen Arm um seine Schulter.
"Wer weiß, vielleicht ist es wirklich das Beste, ihn ins Wachhaus zu bringen." sagte sie und sah ihn an. "Auch wenn der Patrizier anscheinend nicht mit uns zufrieden ist und dich deshalb geschickt hat, uns zu inspizieren - Wir mögen zwar für Außenstehende ein seltsamer Haufen sein und damit werben, wirklich jeden zu nehmen, aber wenn es hart auf hart kommt - wenn Leute gebraucht werden die wirklich unkonventionell denken können oder versteckte Talente haben - dann sind wir diejenigen, die den Dschob erledigen." Sie grinste schief. "Und es freut mich ehrlich gesagt wirklich, dass du ein paar von uns mittlerweile genug Vertrauen entgegen bringst, dir in einer, wie wir Werwölfe gern sagen, haarigen Situation zu helfen."
Rach Flanellfuß räusperte sich verlegen, sagte jedoch nichts.
Nyria drückte seine Schulter und machte sich daran, Raistan fester in seinen Umhang zu wickeln. Logisch betrachtet war das Wachhaus am Pseudopolisplatz wirklich die beste Lösung. Dort gab es als Sanitäter ausgebildete Wächter die besser wussten als sie, wie man akute Brandwunden versorgte oder vielleicht sagen konnten, ob Raistans geistige Gesundheit bei dem Versuch Schaden genommen hatte. Da draußen, auf der Straße, sind deine Kollegen deine Existenzversicherung, genau wie du die ihre bist, hatte Cim Bürstenkinn ihr während ihrer Ausbildung immer wieder eingeschärft und Nyria hatte diese Worte verinnerlicht. Was war die Wache noch wert, wenn man nicht im Zweifelsfall auf seine Kollegen zählen konnte? Tief im Inneren ihres Wolfs-Selbst fasste Nyria einen Entschluss. Sie würde ihr Herrchen denen anvertrauen die, in einem weiteren Kontext betrachtet, zu ihrem Rudel geworden waren.
"Also gut." sagte sie. "Bringen wir ihn ins Wachhaus. Aber du musst ihn tragen. Ich schaffe das nicht."
Und wenn du ihn fallen lässt, reiße ich dir die Kehle raus, fügte sie in Gedanken hinzu.

Auch wenn sie bis auf zweieinhalb Jahre ihr ganzes Unleben in Ankh-Morpork verbracht hatte war Nyria gelegentlich immer noch darüber erstaunt, womit man in dieser Stadt alles durchkam. Zwei Personen, die ein menschenförmiges Bündel auf einer aus dem Gartenschuppen der UU geklauten Schubkarre über einige der meistbenutzten Verkehrswege Ankh-Morporks transportieren, hätten doch eigentlich Verdacht erregen müssen. Aber so lautete eines der wichtigsten Straßengesetze der größten Metropole der Scheibenwelt nun einmal: Wenn du im Zweifel bist, schau lieber in die andere Richtung und stell keine Fragen. Erst recht nicht, wenn eine der beteiligten Personen einen offensichtlich maßgeschneiderten in dunklen Farben gehaltenen Anzug trägt.
Rach Flanellfuß parkte die Schubkarre in einer dunklen Nische neben dem Haupteingang des Wachhauses. Die körperliche Aktivität des Schiebens schien ihm gut getan zu haben. Er wirkte nicht mehr ganz so, als würde er aus purer Anspannung gleich schreiend im Kreis rennen. Routiniert hob er den immer noch bewusstlosen Raistan auf und trug ihn die Stufen zum Eingang hinauf. Nyria hielt ihm großzügig die Tür auf und eilte sofort weiter um auch die Klappe zwischen dem Zivilisten zugänglichen Teil der Eingangshalle und dem Rest des Wachhauses zu öffnen.
Der Tresenrekrut des Abends, ein ihr unbekannter Vampir mit sorgfältig frisiertem dunkelbraunem Haar, erhob sich von seinem Platz hinter dem Wachetresen.
"Verzeihung, aber Zivilisten ist der..." begann er.
Nyria setzte ein freundliches Lächeln auf und zog ihre Dienstmarke unter dem Hemd hervor, wo sie an einem Lederband um ihren Hals hing. Der arme Kerl konnte auch nichts dafür, dass er sie noch nicht kannte.
"Wichtige Operation in Zivil, Rekrut... Wie heißt du?" sagte sie mit all der inoffiziellen Befehlsgewalt die Mannschaftsgrade Rekruten gegenüber ausüben konnten.
"Wilhelm Schneider, Mäm." antwortete der Vampir und salutierte.
"Na dann - Weitermachen, Rekrut Schneider." Nyria ließ die Tresenklappe hinter Rach und seiner Fracht wieder zufallen. "Und sei froh, dass du die Nachtschicht erwischt hast. Die Morgenschicht und Frau Willichnicht sind echt kein Spaß."
Als sie hinter Rach Flanellfuß die Treppe hinaufstieg wurde Nyria das Gefühl nicht los, dass sich der Blick des Rekruten geradewegs durch ihren Rücken bohrte. Arme Sau. Sie selbst hatte während ihrer Grundausbildung oft genug Nachtschichten hinter dem Tresen schieben müssen um nachvollziehen zu können, wie verflucht stinklangweilig das sein konnte. Wenn zwei Wächter in Zivil einen ohnmächtigen Zivilisten an ihr vorbei geschleppt hätten, hätte sie das sicherlich auch hochgradig interessant gefunden.
Der zweite Stock des Wachhauses wirkte genauso verlassen wie an jenem Abend als Nyria in Mina von Nachtschattens Büro eingestiegen war. Unwillkürlich schielte die Gefreite in Richtung des Kommandeursbüros, unter dessen Schwelle kein Lichtschein zu sehen war. Die Dunkelheit versetzte ihr einen Stich im Herzen. Wie einfach wäre es gewesen, nun einfach zu Bregs zu gehen, ihm zu erklären, was Sache war und sich eine Flasche vom guten Stoff zu verdienen. Raistan und sie besaßen das Privileg, dass er ihnen vorbehaltlos vertraute. Aber Bregs saß mittlerweile wahrscheinlich längst mit Leonata und Antonia zuhause in der Ankertaugasse. Seine Familienzeit war ihm geradezu heilig. Und Rach Flanellfuß davon zu überzeugen, sich ausgerechnet an den Kommandeur zu wenden, der zudem glaubte, dass Ophelia einfach verduftet war, wäre vermutlich eh ein aussichtsloses Unterfangen gewesen.
Also dann doch Chief-Korporal Mina von Nachtschatten. Ein schwacher Lichtschimmer zwischen Bürotür und Fußboden zeigte an, dass die stellvertretende Abteilungsleiterin von RUM noch arbeitete.
Rach Flanellfuß deutete hektisch mit dem Kopf auf die Tür.
Nun dann. Hoffentlich konnte sie auf die Kollegen außerhalb von SEALS genauso bedingungslos zählen wie auf ihre regelmäßigen Streifenpartner.
Nyria ballte ihre rechte Hand zur Faust und klopfte energisch an.


15.03.2017 12: 13

Mina von Nachtschatten

Mina ließ die Hand sinken, welche sie gerade nach ihrem Mantel hinter der Tür ausgestreckt hatte. Wenn um diese Tageszeit mit derartigem Nachdruck bei ihr angeklopft wurde, dann verhieß das meistens nichts Gutes. Ein kurzer Moment der Konzentration verriet der Vampirin, dass sich gegenwärtig drei Personen vor dem Raum aufhielten - zwei davon mit beschleunigtem Herzschlag, was auf Aufregung, Nervosität, Angst oder Sorge hindeutet. Der dritte dagegen klang sehr viel ruhiger - beinahe schwach?
Beunruhigt wollte Mina eben selbst von innen öffnen, doch offenbar hatten bereits die wenigen Sekunden zwischen dem Anklopfen und dem Harren auf eine Reaktion die Geduld der Wartenden überstrapaziert. Die Tür flog auf und nur ein schneller Schritt nach hinten bewahrte die Wächterin davor, das Türblatt gegen den Kopf zu bekommen. Herein stolperte ein völlig aufgelöster Rach, der ein menschenförmiges, in schweren schwarzen Stoff eingewickeltes Bündel in den Armen trug. Er wankte bis in die Mitte des Raumes und sah sich hektisch um.
"Wohin?", fragte er.
Dem Inspektor folgte jemand, der auf den ersten Blick wie ein zwölf- bis vierzehnjähriger Straßenjunge wirkte und Mina zunächst nur vage bekannt vorkam. Als sich die Person dann aber umwandte und als kleine magere Frau entpuppte, deren geradezu überwältigender Geruch nach Zigaretten beinahe den nach Werwolf überdeckt hätte, meldeten sich ein paar sehr konkrete und nicht gerade angenehme Erinnerungen an einen gewissen Einsatz in den Ruinen einer alten Villa. Damals war die kleine Frau noch Rekrutin gewesen. Nur der Name fiel Mina nicht gleich ein... Anders als Flanellfuß schaffte sie es immerhin, der Vampirin zuzunicken und entschuldigend die Hände zu heben.
"Es ist nicht ganz das, wonach es aussieht", meinte sie noch, bevor sie zu Rach aufschloss.
"Und was ist es dann?"
Hatten sie die Vampirin gehört, so ignorierten sie diese geflissentlich. Die kleine Frau wies entschlossen auf die gegenüberliegende Seite des Raumes.
"Tisch", beantwortete sie Rachs vorherige Frage und half dem Anderen, seine Last auf dem glücklicherweise zum Dienstschluss bereits aufgeräumten Schreibtisch zu platzieren. Aus dem Bündel drang ein leises Stöhnen.
Mina brachte noch genug Geistesgegenwart auf, um die Bürotür auch wieder zu schließen, bevor sie sich den spätabendlichen Eindringlingen zuwandte. Da ungleiche Paar war nunmehr dazu übergegangen, ihr Mitbringsel aus dem Stoff zu schälen.
"Hättet ihr vielleicht die Freundlichkeit mir zu erklären..."
"Pass auf seinen Kopf auf!"
"Ja, dann mach es doch selbst!"
"Könntet ihr wohl..."
"Nicht so grob!"
"Wir haben keine Zeit für..."
"He!" Ob es die Mischung aus Entsetzen und mittlerweile deutlichem Ärger in ihrer Stimme gewesen war oder doch nur die normale Reaktion darauf, angeschrieen zu werden - auf jeden Fall wurde Mina nun endlich die volle Aufmerksamkeit der anderen Anwesenden zuteil. Zumindest derer, die bei Bewusstsein waren. Denn der junge Mann, welchen die Stofflagen inzwischen freigegeben hatten, sah beileibe nicht so aus, als würde er irgendetwas von dem mitbekommen, was sich um ihn herum abspielte.
"Ihr taucht hier zu nachtschlafender Stunde auf und dann... das!" Mina wies mit einer knappen Geste auf die Gestalt auf ihrem Arbeitstisch. "Da dürfte es ja wohl nicht zu viel verlangt sein zu erfahren, was hier eigentlich vorgeht."
Rach starrte sie mit rot geränderten, verquollenen Augen über den Körper des Bewusstlosen hinweg an.
"Ophelia lebt!", brachte er heiser hervor und die kleine Frau neben ihm nickte heftig.
Mit einem Schlag verpuffte sämtliche Verärgerung im Zusammenhang mit dem, was gerade geschah, egal, wie befremdlich die Vorgänge noch immer sein mochten. Natürlich, Rach war nicht auf der Höhe und bestimmt fiel es leichter, sich Hoffnungen einzureden, als sich bitteren Befürchtungen zu stellen - aber Halluzinationen hatte er gewiss keine. Und ganz bestimmt keine kollektiven. Zudem war da eine neue Überzeugung in seiner Stimme, eine felsenfeste Sicherheit, die es während der letzten Monate nicht gegeben hatte. Erwartung strahlte aus seinem Blick, der nicht mehr länger der eines verzweifelten Verlorenen ohne Ziel war und damit in krassem Gegensatz zu seiner erbarmungswürdigen körperlichen Verfassung stand.
Ein leichtes Prickeln überlief Mina und sammelte sich in der Magengegend zu einem zwar kleinen, aber nicht zu ignorierenden Flämmchen der Aufregung. Sie trat an den Tisch heran und betrachtete die zierliche, in weite Gewänder gekleidete Gestalt darauf genauer. Die Atmung des Mannes ging schwach, aber stetig. Sein feines Gesicht war ausgezehrt und kreidebleich und er trug eine Art Verband am rechten Unterarm. Aus irgendeinem Grund stieg ein leicht angesengter Geruch von ihm auf.
"Erzähl", nickte sie Rach zu. "Wer ist das, was habt ihr angestellt und wie hilft uns das weiter?"
Anstelle des Inspektors antwortete seine Begleiterin:
"Das ist ein Freund. Raistan Quetschkorn. Er hat sich bereit erklärt, die ungeklärte vampirische Verbindung zu Ophelia näher zu untersuchen."
Mina sah die junge Frau an, während sie darüber nachdachte, woher ihr der Name bekannt vorkam und warum damit erneut ein mehr als ungutes Gefühl einherging.
"Und du bist... Nyria, richtig?"
"Gefreite Nyria Maior, Mä'äm. SEALS, Mä'äm." Sie salutierte lax. "Aktuell in zivil."
"Quetschkorn... Quetschkorn? Ist das nicht der Zauberer, der damals dieses wahnwitzige Experiment an Ophelia..."
Nyria nickte ruhig.
"Ja. Aber er hat seine Buße getan, würd ich mal meinen."
Und damit streifte sie den Verband am Arm des Zauberers zur Seite. Mina sog scharf die Luft ein, als sie die üblen Brandblasen sah. Ein kleiner Funke des Mitgefühls, welches sie nur noch sehr eingeschränkt empfunden hatte, sobald klar geworden war, um wenn es sich bei dem Mann genau handelte, schlich sich in ihr Bewusstsein zurück.
Derweil begann die Gefreite in knappen Worten zusammenzufassen, wie es hatte kommen können, dass ein vollkommen entkräftetes Mitglied der Unsichtbaren Universität auf dem Schreibtisch einer stellvertretenden Abteilungsleiterin gelandet war. Dabei stand sie immer noch auf Höhe von Raistans Kopf und hatte die Hand beschützend auf dessen Schulter gelegt. Rach tigerte unterdessen vor dem Fenster auf und ab, nestelte an seinen zerknitterten Jackenschößen und stöhnte gepeinigt auf, als Nyria den Ablauf des Experiments zu schildern begann.
"Das ist doch alles vollkommen egal!", fuhr er auf und rang die Hände. "Der Zauberer konnte uns nicht alles sagen, bevor er weggeklappt ist. Er muss noch mehr wissen. Und das ist da drin! Irgendwo in seinem Kopf." Er machte Anstalten, Raistan gegen die Wange zu schlagen. "Wach auf, verdammt!"
Mit einem Zischen ging Nyria dazwischen.
"Was habe ich vorhin gesagt?", knurrte sie drohend und bleckte die Zähne.
"Ich muss es aber wissen! Ich muss wissen, was mit Ophelia ist..."
Es hätte wohl nicht mehr viel gefehlt, um Rach trotzig aufstampfen zu lassen. Tränen quollen ungehindert aus seinen Augen und der fuhr sich wie im Zwang mehrmals durch die ohnehin schon wirren Haare.
"Dann... dann geben wir ihm noch eine hiervon", sagte er und holte eine kleine Papiertüte aus seiner Tasche. "Eine hat nicht gereicht."
"Nichts da! Wir haben ihn hergebracht, um Hilfe zu suchen, nicht um ihn weiter mit irgendwelchem Zeug abzufüllen!" Die Gefreite riss ihm die Tüte aus der Hand.
Rach schien sich das im ersten Moment nicht gefallen lassen zu wollen, doch dann fuhr er unerwartet herum und packte Mina bei den Schultern.
"Mach was! Irgendwas!", verlangte er mit brechender Stimme - bevor ihm einfach die Beine wegknickten. Der Inspektor sackte in sich zusammen, aber Mina war schnell genug, um ihn aufzufangen und aufrecht zu halten.
"Gefreite, wärst du so nett?"
Nyria hatte schon verstanden, griff flink nach einem der beiden Stühle im Raum und drehte ihn in die richtige Richtung, sodass Rach problemlos hineinbugsiert werden konnte. Er schien einen kurzen Augenblick orientierungslos, dann klammerten sich seine Hände um die Armlehnen und er versuchte, wieder aufzustehen.
Das wirst du schön blieben lassen.
"Rach, hinsetzen, sitzen blieben", bemühte sich Mina um einen freundlichen und gleichzeitig bestimmten Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Normalerweise wäre das wohl vergebliche Mühe gewesen, aber in Rachs aktuellem Zustand zeigte es tatsächlich Wirkung. "Schau, so hilfst du niemandem. Beruhige dich erstmal."
Rach schluckte, nickte dann widerstrebend und begann in den Tiefen seiner Jacke nach einem Taschentuch zu fahnden.
Da sie sich um den einen nun zunächst nicht mehr sorgen musste, wandte sich Mina erneut dem Zauberer und der Werwölfin zu.
"Ich bin mir nicht ganz sicher, was ihr jetzt von mir erwartet", meinte sie langsam. "Ich bin weder in der Lage, seine Gedanken anzuzapfen, noch kenne ich mich gut genug mit menschlicher Physis aus, um sicher einschätzen zu können, was in solch einem Fall angeraten wäre."
Nyria kratzte sich am Kopf.
"Solange es ihm nicht schadet wäre ich auch für ungewöhnliche Herangehensweisen zu haben. Er ist nun schon ziemlich lange weggetreten, das kann nicht gut sein."
"Vielleicht ist es tatsächlich nur die Erschöpfung..."
"Und wenn nicht? Was, wenn der Vampir irgendwas mit seinem Hirn angestellt hat?" Ernsthafte Sorge sprach aus der Stimme der Gefreiten.
Tja, sowas sollte man bedenken, bevor man sich blind in die Köpfe potentiell tödlicher Widersacher begibt.
Mina verkniff es sich, den Gedanken laut auszusprechen. Stattdessen traf sie eine Entscheidung.
"In Ordnung, dann Folgendes: Nyria, wärst du so gut und würdest nachschauen, ob Feldwebel Magane noch im Haus ist? Erste Etage, Raum 109. Sie kennt sich mit dem Heilen aus und ist ohnehin in die ganze Sache rund um Ophelia involviert. Wenn sie nicht anzutreffen ist... ich befürchte, Rogi ist in der Kröselstraße..."
"Kurz, ich soll jemanden holen, der keine dummen Fragen stellt und der nicht nur weiß, wo sich die Halsschlagader befindet. Schon kapiert." Nyria räusperte sich, als sie ein böser Blick seitens der Vampirin traf.
"Tschuldigung, Mä'äm. Bin angespannt. Ist mir so rausgerutscht." Die Gefreite zögerte und schaute unsicher zwischen Raistan und der Tür hin und her.
"Wir rühren ihn solange nicht an, keine Sorge", versprach Mina. Sie hatte schon von dieser gelegentlich besitzergreifenden Haltung von Werwölfen gegenüber bestimmten Personen gehört und dass es besser war, diese nicht unnötig zu provozieren.
Nyria nickte, gab sich dann einen sichtbaren Ruck und huschte eilig aus dem Raum.
"Bin sofort wieder da."
Der beinahe drohende Unterton war bestimmt keine Absicht gewesen.
Jetzt, wo sie das Nötige in die Wege geleitet hatte, drang Mina auch die eigene Aufregung wieder verstärkt ins Bewusstsein. Konnten diese drei tatsächlich, nach all der langen Zeit, einen handfesten Beweis dafür gefunden haben, dass für Ophelia noch Hoffnung bestand? Einmal abgesehen vom Irrwitz der Methodik - vielleicht ließen sich die auf diese Art gewonnenen Erkenntnissen mit den anderen Ansätzen kombinieren oder es eröffnete sich ein gänzlich neuer Zugang zur Problematik. Mina sah zu Maggies Karte hinüber, welche zusammengerollt unter ihrer eigenen Falltafel lag. Die Zusammenarbeit kam spät - aber immerhin gab es nun wieder ein "gemeinsam". Wobei sich Mina mittlerweile, und spätestens seit dem Gespräch mit Senray, immer wieder bei dem Gedanken ertappte, warum sie nicht einfach von selbst schon viel eher auf andere Kollegen zugegangen war, sondern in einer im Nachhinein nur schwer erklärbaren Selbstverständlichkeit auf den begrenzten eigenen Pfaden vor sich hingearbeitet hatte. Immer in der Annahme, wenn jemand etwas herausfände würde er damit schon zu ihr kommen. Wie weit sie jetzt schon sein könnten, hätten sie doch nur eher, ja, schlicht miteinander gesprochen. Eine neue Variation eines altbekannten Schuldgefühls überfiel die Vampirin, wurde aber energisch dorthin zurück verbannt, wo es herkam. Sowas war jetzt nicht hilfreich. Das Kind war zwar in den Brunnen gefallen - aber offensichtlich noch nicht ertrunken! Viel besser konnte sie die bis zu Nyrias Rückkehr verbleibende Zeit nutzen, indem sie nach Rach sah. Wenn der sich soweit wieder gefangen hatte, dann konnte er vielleicht noch ein paar Fragen beantworten.
Der Inspektor saß mittlerweile auf der vordersten Stuhlkante, hatte das Gesicht in den Händen vergraben und die Ellenbogen auf die Knie gestützt. Mina hockte sich davor, um auf Augenhöhe zu kommen.
"Geht's wieder besser?"
Rach gab ein murrendes Geräusch von sich.
"Was soll die Frage?", murmelte er dann undeutlich zwischen den Händen hindurch.
Mina legte ihm eine Hand auf die Schulter.
"Wenn du dich vollkommen daran aufreibst bringt das weder dir noch Ophelia etwas."
"Könntet ihr nicht einfach aufhören, mir ständig Vorschriften machen zu wollen, wie ich mit mir selbst zu verfahren habe? Es ist schließlich meine Sache, was für Folgen ich in Kauf nehme."
"Rach..."
"Nein, nicht: Rach." Er schüttelte brüsk ihre Hand ab. "Was ich wirklich brauche sind konkrete Vorschläge - kein Mitleid, in Ordnung?"
"In Ordnung." Mina nickte, auch wenn sie der Meinung war, dass der Mann vor ihr eigentlich nichts so dringend brauchte wie eine Umarmung und die wiederholte Versicherung, alles würde gut werden. Aber vielleicht schätzte sie das auch falsch ein - menschliche Emotionen sowie die daraus resultierenden Reaktionen waren häufig eine widersprüchliche Angelegenheit.
"Also?" Rach hob den Blick und sah sie auffordernd an.
"Ich stimme dir in dem Punkt zu, dass wir zunächst Raistan wach bekommen müssen. Für den Moment, bevor die anderen hier sind, kannst du mir vielleicht noch erzählen, was er euch überhaupt sagen konnte, bevor er das Bewusstsein verloren hat."
Rach richtete sich ein wenig mehr auf.
"Ophelia, lass das!", zitierte er erneut Raistans Worte. "Und dann noch irgendwas von einem Käfig. Kerzen und Abgründen. Es klang wenig ermutigend und hat auch keinen wirklichen Sinn ergeben."
In diesem Moment klapperte es an der Tür und Nyria betrat, wie erhofft begleitet von Magane, das Büro.
"Mission erfolgreich", vermeldete sie und hob ein kleines weißes Bündel in die Höhe.
Mina erhob sich.
"Ihr wart schnell, sehr gut."
Der Feldwebel hielt nur kurz inne, um den Anwesenden grüßend zuzunicken, dann trat sie ohne Umschweife näher. Nyria musste sie auf dem Weg hierher bereits mit allen wichtigen Informationen versorgt haben.
"Interessanter Beginn dieser Kooperation", meinte Magane trocken, während sie aufmerksam den auf dem Tisch liegenden Zauberer betrachtete. Dann begann sie mit geübten Handgriffen Raistans Unterarm genauer zu untersuchen. "Meine Ausrüstung bitte."
Nyria eilte an ihre Seite, entrollte das Bündel und begann, Maggie auf deren Anweisung hin verschiedene Gegenstände zu reichen. Ein leicht alkoholischer Geruch machte sich im Raum breit.
"Für den Anfang werde ich die Wunden säubern und abdecken." Die Hexe tupfte vorsichtig eine besonders verschmorte Hautpartie ab. "Vielleicht ganz gut, dass er sich darüber momentan nicht beschweren kann - das wird ganz schön wehtu..."
In diesem Moment fuhr der zierliche Mann einmal kurz zusammen und wenn man ganz genau hinhörte, dann war da ein gehauchtes "Au..." zu verstehen, doch seine Augen blieben weiterhin geschlossen.
"Und danach muss ich mir etwas für seinen Kreislauf überlegen", meinte die SuSe mehr zu sich selbst, als dass sie diese Erkenntnis irgendjemandem hätte gezielt mitteilen wollen. "Aber immerhin reagiert er wenigstens auf irgendetwas, das ist schonmal nicht schlecht."
"Aber wir können ihn doch unmöglich so wach bekommen!", hob Nyria an zu protestieren.
Maggie machte eine beschwichtigende Geste.
"Nein, aber eins nach dem anderen."
Bald darauf zierte Raistans Arm ein sauberer Verband und Maggie nickte zufrieden.
"Das war das", meinte sie. "Nun zu Problem Nummer zwei." Sie wedelte mit dem Tütchen, welches Nyria zuvor Rach abgenommen hatte. "Ihr habt also das schon versucht. Und weiter?"
Erneut war es die Gefreite, die Maggie etwas reichte - diesmal ein kleines Glasfläschchen grünlichen Inhalts.
"Damit kann er besser atmen", erläuterte sie.
Maggie entkorkte das Gefäß und fächelte sich mit darüber gehaltener Hand vorsichtig etwas Luft zu. Sie zuckte zurück und nieste.
"Oha, starkes Zeug. Also wenn ihn das nicht auf die Beine bringt, es aber trotz allem eine Hau-Ruck-Medizin sein soll...", sie verschloss die Flasche sorgfältig, "dann würde ich eine einfache und vielfach bewährte Hausmethode empfehlen."
"Und die wäre?", drängelte Rach. Die nur mühsam aufrechterhaltene Beherrschung war ihm anzumerken.
Maggie blickte reihum in erwartungsvolle Gesichter.
"Ein Eimer kaltes Wasser", verkündete sie dann.
"Meinst du wirklich?" Nyria machte ein skeptisches Gesicht. "Ich hab mal gehört, dass schwache Konstitutionen solche Schocks nicht mögen oder so."
"Er hat sich gerade von einem Vampir mental k.o. schlagen lassen. Wenn er den Schock überlebt, dann auch das Wasser. Aber ich gebe ihm vorher etwas, um ihn zu stabilisieren." Sie begann eine pulvrige Substanz in ein Glas zu füllen.
"Und dann wird er wieder?", hakte die Gefreite erneut nach.
Rach seufzte entnervt im Hintergrund.
"Natürlich." Maggie nickte, ohne von ihrer Tätigkeit aufzusehen. "Ich denke, zum einen ist er einfach nur geistig und körperlich vollkommen überanstrengt, zum anderen... hmm, wie erklär ich das am besten?" Sie überlegte kurz. "Nennen wir es magisch überladen. Aber ich gehe nicht davon aus, dass er bleibende Schäden davontragen wird. Was er braucht ist ein kühler Kopf und dann ein paar Tage Ruhe."
"Worauf warten wir dann noch?" Die Werwölfin war drauf und dran, sich ein weiteres Mal auf den Weg durch's Wachhaus zu machen, doch Mina war schneller.
"Wer ihm Wasser über den Kopf schüttet, während er auf meinem Schreibtisch liegt, der wird höchstselbst vor Romulus verantworten müssen, dass die Arbeit der letzte zwei Wochen buchstäblich davongeschwommen ist!", gebot sie der eifrigen Kollegin Einhalt.
"Und außerdem ist es viel einfacher, den Zauberer zum Wasser zu bringen als das Wasser hier herauf." Magane hob leicht Raistans Kopf an und flößte ihm etwas von einer seltsam klumpigen, grün-grauen Mischung ein, welche sie vorbereitet hatte. "Alles rein pflanzlich", fügte sie sicherheitshalber hinzu. Dann fühlte sie die Stirn des Zauberers und kontrollierte seinen Puls. "In zehn Minuten können wir los."

Es war eine seltsame kleine Prozession, welche da mitten in der Nacht bei Kerzenlicht durch das Wachhaus zog: Rach und Nyria mit dem Kerzenhalter, den sie von Minas Schreibtisch geliehen hatten, eilig vornweg, lautstark die Tür öffnend und schließend, sowie sich nur mäßig gedämpft über den Sinn von mehr Beleuchtung auf den Gängen streitend. Das Flämmchen schwankte dabei mehrmals wild hin und her, wenn Rach aufgeregt gestikulierte - was den Lichtverhältnissen wiederum nicht unbedingt zugute kam. Magane und Mina folgten hinterdrein. Die Hexe hatte es sich nicht nehmen lassen, Raistan selbst zu tragen, da sie ja "die betreuende medizinische Instanz" darstellte, wie sie es ausgedrückt hatte. Mina war derweil damit beschäftigt, diejenigen Kollegen, welche Überstunden schoben und ob der ungewohnten Geräusche irritierte Blicke auf den Gang warfen, mit freundlichen Gemeinplätzen zu beruhigen und zu starke Anwandlungen von Neugier zu unterbinden. So schafften sie es tatsächlich relativ unbehelligt bis ins Erdgeschoss. Beim Zugang zum Wachetresen lugte der diensthabende Rekrut neugierig um die Ecke.
"Oh nein", entfuhr es Mina leise, als sie ihn erkannte.
"Was ist?", fragte Maggie, dankenswerter Weise mit ebenfalls gesenkter Stimme.
Die Vampirin bedeutete ihr durch eine Berührung am Ellenbogen nicht weiterzusprechen, da sie nun auf Hörweite herangekommen waren und ließ sich dann hinter die Kollegin zurückfallen.
"Rekrut Schneider", grüßte sie den anderen Vampir mit einem Nicken.
Maggie verspannte sich, setzte ihren Weg aber fort ohne innezuhalten. Rach war ein paar Stufen die Kellertreppe hinab herumgewirbelt, wurde aber von einer zunehmend ungeduldigen Werwölfin zum Weitergehen genötigt.
"Komm schon, ich denke, du hast es eilig", meinte sie.
Der Vampir war nun gänzlich vom Tresen weg getreten, die Hände hinter dem Rücken gefaltet. Mit unverhohlener Neugier musterte er die Kollegen einen nach dem anderen.
"Chief-Korporal", erwiderte er dann mit einem höflichen Lächeln. "Solch ein Betrieb und das zu dieser Stunde. Nicht, dass ich einer Ablenkung von meinen Pflichten hier nicht abgeneigt wäre..." Er legte fragend den Kopf schief.
Dieser aufdringliche Kerl hatte Mina nun gerade noch gefehlt. Jedoch war ihr vollkommen klar, dass ihn zu ignorieren sein Interesse an den Vorgängen nur befeuert hätte und sie damit lediglich das genaue Gegenteil von dem erreichen würde, was ihr vorschwebte. Also blieb sie auf seiner Höhe stehen und zwang einen neutral-kollegialen Ausdruck auf ihr Gesicht. So konnten zumindest die anderen in Ruhe weiter in den Keller hinabsteigen. Abgesehen vom ursprünglichen Vertrauensproblem dem Rekruten gegenüber - in der aktuellen Situation konnte Mina getrost auf ein erstes Aufeinandertreffen von Wilhelm und Rach verzichten, zumal absolut nicht einzuschätzen war, wie Letzterer darauf reagieren würde. Sie hatten wahrlich schon genug Drama für einen Abend erlebt! Nein, auch ganz unabhängig von ihren persönlichen Befindlichkeiten würde der Rekrut diesmal auf eine Beteiligung verzichten müssen.
"Ja, ein kleiner... Zwischenfall, um den wir uns kümmern müssen", bemerkte sie möglichst gelassen.
Wilhelm setzte zu einer Gegenbemerkung an, wurde dann aber von dem kraftlos in Maggies Armen hängenden Raistan abgelenkt. Ein Funken Gier blitzte in seinen Augen auf und noch so einiges andere, was Mina nicht gefiel. Na großartig! Jetzt würde sie ihn erst recht nicht einbinden. Hilflose Opfer und Vampire - diese Geschichte war zu alt, um das ihr zugrunde liegende narrative Prinzip ausgerechnet jetzt einem Test zu unterziehen.
Der Rekrut riss sich mühsam vom Anblick der freiliegenden Kehle los, machte sich aber nicht die Mühe, auch nur im mindesten ertappt dreinzusehen.
"Kann ich helfen?", fragte er stattdessen in einem geradezu übereifrigen Tonfall.
"Danke für das Angebot, aber wir kommen schon zurecht."
Wilhelm zog die Augenbrauen hoch.
"Daran zweifle ich nicht, nur..." Er tat so, als würde er die nächste Formulierung sehr genau abwägen. "Du erinnerst dich auch ganz bestimmt an mein Hilfsangebot, Mä'äm? Denn korrigiere mich, wenn ich falsch liege, aber aus der Besetzung wage ich den Schluss zu ziehen, dass dieser Zwischenfall, wie du es nennst, direkt mit unserem, nun ja, Fall zusammenhängt?" Er warf einen bezeichnenden Blick in Richtung Kellertreppe. "Es wäre schon ein wenig enttäuschend für mich, trotz meiner bisherigen Ehrlichkeit ausgeschlossen zu werden."
Die Erwiderungen, welche Mina spontan darauf einfielen, ließen sämtlich eine gewisse Freundlichkeit vermissen und drehten sich im Kern darum, dass es auch nicht gerade für Ehrlichkeit sprach in anderer Leute Büro einzudringen, um die eigene perfide Neugier zu befriedigen. Dummerweise fehlten ihr die konkreten Beweise, aber schon aus Mangel an anderen Verdächtigen stand Wilhelm ganz oben auf der Liste. Wer könnte auch sonst ein Interesse daran verfolgen? Es stand außer Frage, dass sich jemand vor ein paar Nächten in ihrem Arbeitsbereich umgesehen und dabei große Vorsicht hatte walten lassen. Es waren nur Kleinigkeiten gewesen, die sie stutzig gemacht hatten. Aber die Überheblichkeit anzunehmen, sie würde es nicht bemerken, wenn sich eine der Stecknadeln auf ihrer Suchkarte plötzlich an der falschen Stelle befand - die sah dem anderen Vampir ähnlich. Mit einiger Mühe schluckte Mina ihren Ärger hinunter.
"Das kann ich gut verstehen", meinte sie stattdessen, "aber..." Auf der Suche nach einem halbwegs überzeugenden Argument ließ die Vampirin den Blick durch den Raum schweifen - und fand die Lösung dann auch tatsächlich in Reichweite. Eigentlich war es ziemlich einfach. Und irgendwie auch trivial, aber sie konnte sich nicht den Luxus erlauben, wählerisch zu sein. "Aber wie ich sehe bist du für den Tresen eingeteilt und das auch noch allein", fuhr Mina fort. "Und wie gesagt, momentan kommen wir zurecht. Sollte sich das ändern gebe ich dir Bescheid."
Ein enttäuschtes Flackern glitt über Wilhelms Gesicht und er machte Anstalten, ihr den Weg zu vertreten.
"Ich denke aber doch, dass ich..."
"Am besten ohne Widerworte auf deinen Posten zurückkehrst? Gute Idee." Wenn er das Spiel unbedingt spielen wollte, dann bitte. Sie war mit ihrer Geduld am Ende. Mina erwiderte Wilhelms trotzigen Blick ohne mit der Wimper zu zucken. "Für dieses eine Mal, tu einfach was man dir sagt. Du willst dabei sein, willst, dass wir dir in der Sache vertrauen? Dann vertrau auch mir wenn ich dir sage, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist, deinen Kopf durchzusetzen. Du kannst uns gerade nicht helfen - du würdest es bestenfalls noch komplizierter machen. Ich habe schon genug mit einem bewusstlosen Zauberer und einem fahrigen Gefreiten zu tun, da kann ich nicht auch noch ein Auge auf einen Kollegen haben, der eben diesen Zauberer ansieht, als sei er sein Abendessen." Damit ließ sie ihn einfach stehen und eilte den anderen hinterher. Mochte Wilhelm doch daraus machen, was er wollte.
Aus Richtung des Waschraumes drangen ihr verärgerte Stimmen entgegen.
"...handelt sich um mein übliches Zeitfenster. Ich weiß nicht, was so dringend sein könnte, dass es unbedingt jetzt geschehen muss."
"Aber es ist mitten in der Nacht!"
"Eben. Das hat den Vorteil, dass man für gewöhnlich ungestört ist... aber doch nicht bekleidet in den Zuber!"
Vor der Tür hatte sich Hauptfeldwebel Sillybos aufgebaut und redete verärgert auf Rach ein, der keine Anstalten machte, ihn passieren zu lassen. Der Philosoph trug ein zusammengerolltes Handtuch unter dem Arm, auf dem eine kleine Gummiente thronte wie eine Galionsfigur. In der anderen Hand hielt er eine Badebürste, die er im Rhythmus seiner Rede hin und her schwang. Erst als Mina beinahe heran war, ließen ihre Schritte ihn aufhorchen und einen schnellen Blick über die Schulter werfen.
"Ah, Chief-Korporal. Sag dem Gefreiten, dass ein Bad zur Zeit meiner Wahl mein gutes Recht ist."
"Wasser läuft!", rief Nyria aus Richtung der Pumpe, während Maggie im Hintergrund bereits neben dem in einen der Zuber verfrachteten Raistan wartete.
"Mina, teile dem Hauptfeldwebel doch bitte mit, dass er meinetwegen den ganzen Tag im Wasser verbringen kann, aber unser Problem jetzt gerade Priorität hat."
Mina schob sich an dem Tatortwächter vorbei.
"Tut mir leid, Sillybos, aber wenn du vielleicht tatsächlich später wiederkommen könntest?"
"Aber ihr könnt doch nicht... Maggie, ich bitte dich. Wenigstens du. Ein fremder Mann... in seinen Kleidern." Aus irgendeinem Grund schien ihm speziell dieser Punkt besonderes Unbehagen zu bereiten.
"Der Eimer ist voll!" Blechernes Scheppern folgte, als Nyria den Kübel zu den abgetrennten Nischen im hinteren Teil des Raumes transportierte.
Magane hob entschuldigend die Schultern.
"Es ist ein Notfall."
"Das... das... nun gut." Sillybos schnaubte würdevoll. "Dann tut was ihr nicht lassen könnt. Bedenkt aber, dass ich in Erwägung ziehe, mich offiziell zu beschweren. Dies mag Konsequenzen nach sich ziehen." Er wandte sich ab und schritt von dannen, Unverständliches in seinen Bart murmelnd.
Rach schloss mit Nachdruck die Tür.
"Morgen sind wir Hausgespräch", seufzte Mina.
"Sollen sie doch", knurrte der Inspektor. Seine Nervosität hatte wieder spürbar zugenommen und diesmal waren es die Ärmelaufschläge, die dies zu spüren bekamen.
"Dann wollen wir mal", Maggie krempelte die Ärmel nach oben. "Wir müssen nur aufpassen, dass sein Verband nicht nass wird." Sie griff Raistan unter die Achseln, ihre Linke quer über seine Brust, mit der Rechten dabei den verletzten Arm senkrecht nach oben stabilisierend.
Nyria hob den Eimer an.
"Tut mir leid, Kumpel", murmelte sie und goss schwungvoll die ganze Ladung Wasser über den Kopf des Zauberers.
Es dauerte nur wenige Sekunden, dann mischte sich unter das Rauschen ein Prusten, wurde zu einem Husten und dann riss Raistan die Augen auf. Er schnappte nach Luft, schaute panisch nach oben und seinen zitternden Lippen entrang sich ein einzelner Satz:
"Nicht der Käfig!"

Sie hatten Raistan in eine Decke gewickelt und ihn mit einem heißen Kräutertee auf einen Stuhl, diesmal in Maggies Büro, gesetzt. Es dauerte eine Weile, bis seine Zähne aufhörten zu klappern und er sich in zusammenhängenden Sätzen ausdrücken konnte. Doch dann sprach der Zauberer, wenn auch mit leiser, brüchiger Stimme, so doch nachdrücklich. Das Grauen, von dem er berichtete, schien ihm dabei noch so präsent zu sein, wie zum Zeitpunkt, als er es zum ersten Mal durchlebt hatte. Niemand wagte es ihn zu unterbrechen. Raistan sprach von fremden Gefühlen, von Einsamkeit, Verzweiflung und Angst. Von Monstern, die Menschen in Käfige sperrten. Und wie sehr ihn das alles mitnahm, obwohl nicht er dieser Mensch war. Irgendwann sah er auf.
"Ich weiß nicht, ob ich mir das nach all dem anmaßen darf", krächzte er. "Aber wenn ich noch etwas mehr dazu beitragen kann, um Ophelia zu helfen - dann zögert nicht, über mich zu verfügen."

18.03.2017 19: 58

Wilhelm Schneider

Diese Ungewissheit war schlichtweg unerträglich!
Wilhelm trommelte in übermenschlicher Geschwindigkeit mit dem Ende des Bleistifts auf den Tresen. Das Schreibgerät war inzwischen nur noch als Schemen zu erkennen, so sehr krallten sich die Ereignisse in Wilhelms blank liegende Nerven.
Ausgerechnet heute hatte man ihn, wegen des Krankenstandes, alleine eingeteilt! Zu jeder anderen Gelegenheit wäre ein zweiter Wächter an seiner Seite gewesen, getreu dem Motto, dass zumindest Rekruten zu zweit am Empfangstresen anzutreffen sein sollten, weil dort ein Kontakt mit aufgebrachten Bürgern zu vermuten stand. Er wollte sich verwünschen dafür, dass er zu Beginn der Schicht noch gedacht hatte, eine Soloschicht am Tresen wäre ihm ganz recht. Wären sie stattdessen jetzt zu zweit gewesen, dann hätte es kein Problem dargestellt, den Kollegen "mal eben" für ein paar Minuten sich selbst zu überlassen und nach dem Rechten zu sehen. Um sich mit eigenen Augen von dem zu überzeugen, was da in der zweiten Etage des Wachhauses gerade geschah.
Der Gefreite Flanellfuß war dabei! Und das in einem alles andere als geschniegeltem Zustand! Ich habe ihn noch nie so aufgelöst gesehen. Allein wie ihm die Haare zu Berge standen, als wenn er durch einen Sturm gerannt wäre und dabei ist das Wetter draußen ganz ruhig! Ich kann mir nur eine Sache vorstellen, die ihn dermaßen offensichtlich aus dem Konzept bringen würde. War sie das also? Die Person in dem Kleiderbündel? Sie muss fast schon untergewichtig sein, oder? Trotz aller Hektik trug er sie so vorsichtig auf den Armen. Haben sie sie also endlich gefunden? Ist ihr dabei etwas geschehen? Ist sie... sind ihre Gedanken nachhaltig beschädigt worden? Ich kann sie noch immer nicht empfangen! Ihr Herzschlag war so schwach und flatterig! Wo war sie so lange? Wie hat er das geschafft? Und was genau ist ihr passiert?!
Er konnte unmöglich seinen Posten verlassen! Das wäre ganz und gar, und ohne irgendeine Art von Interpretationsspielraum, ein Verstoß gegen die Vorschriften. Und nachdem er so lange die Lethargie des normalen Wachetrotts ertragen hatte, wäre es einfach nur dumm gewesen, sich jetzt, wo offenbar wieder Schwung in die Sache kam, wegen derer er sich überhaupt in diesen Haufen eingetragen hatte, ein Fehlverhalten zu schulden kommen zu lassen, das ihn in seiner Bewegungsfreiheit innerhalb dieser Einrichtung einschränken mochte.
Er merkte nicht, wie seine Schuhspitze die Bewegung des Stiftes aufzugreifen begann und einen langsameren Konterrhythmus zu tappen begann.
Zweite Etage. Der Kommandeur ist außer Haus. Aber der Chief-Korporal ist noch da! Ich lasse mir nichts anderes einreden. Mein Gespür sagt mir ganz klar, dass das etwas mit Ophelia zu tun hat, selbst, wenn dieses Bündel jemand anderer sein sollte. Da ist eindeutig der Rettungszirkel aktiv!
Verbitterung machte sich in ihm breit, als er sehnsüchtig in den hinteren Tresenbereich blickte, dorthin, wo durch den Türdurchbruch der Treppenaufgang zu sehen war.
Sie haben sie gefunden und keiner wird dabei auch nur einen einzigen Gedanken an mich verschwenden! Von Nachtschatten wird mein Hilfsangebot einfach verschweigen und so tun, als wenn ich nicht existieren würde! Sie werden mich nicht dazu bitten...
Der Bleistift explodierte regelrecht auf der Tresenfläche und Wilhelm zuckte zusammen, als kleine Holzsplitter dicht an seinem Gesicht vorbei flogen.
"Verdammt!"
Er zwang sich zum Durchatmen und fegte die Reste des Schreibgerätes mit einer schnellen Bewegung in seine hohle Hand, ehe er es achtlos in den Papierkorb unter den Tresen entsorgte. Dann versenkte er beide Hände in seine Hosentaschen und starrte, tief in Grübeleien versunken, mit gesenkter Stirn und jeder Menge vorwurfsvoller Falten auf dieser, den leeren Aufgang zu den oberen Etagen an.
Ich kann hier nicht einfach tatenlos herumstehen und nichts tun! Was, wenn sie meine Hilfe brauchen, um sie wieder zu Bewusstsein zu bringen und einfach nicht dabei an mich denken, an die Möglichkeiten, die ich ihnen biete? Die von Nachtschatten kann dabei, mit ihren beschränkten geistigen Fähigkeiten, vermutlich nicht einspringen. Aber ich... ich könnte ihnen helfen, könnte direkt nachsehen, ob alles in Ordnung ist mit ihrem geistigen Spektrum, das wäre überhaupt kein Problem für mich...
Der Blick des Gefreiten, den dieser ihm für einen Sekundenbruchteil beim Vorübereilen am Tresen zugeworfen hatte, schlich sich in seine bewussten Überlegungen.
Hmmm, nun ja, vielleicht würde er meine Idee nicht unbedingt gutheißen. Er scheint gewisse Vorurteile zu hegen. Obwohl wir uns noch nicht offiziell vorgestellt wurden. Vermutlich wurden inzwischen sein Ängste geschürt seitens des Chief-Korporals? Hat sie ihn womöglich sogar gegen mich eingeschworen?
In der zweiten Etage ging eine Tür, schnelle Schritte liefen den Treppenaufgang abwärts. Aber nur um eine Etage, dann ein hastiges Klopfen, ein Türenschlagen, Stille.
Feldwebel Magane Schneyder, garantiert! Der schwache Herzschlag sprach für sich und die Igorina müsste heute in der Kröselstraße sein.
Es vergingen keine zwei Minuten, als wieder die Tür ging und nun die doppelte Anzahl an Füßen die eine Etage hinauf eilte.
Dieser Posten ist eine Zumutung! Ich muss wissen, was hier geschieht! Da bin ich sogar im Hause und direkt am Puls der Ereignisse und kann doch nichts weiter tun, als zur Untätigkeit gezwungen auf Neuigkeiten zu hoffen? Das ist absurd!
Der Rekrut strengte sein vampirisches Gehör bis an die Grenzen dessen an, was machbar schien. Trotzdem war da nicht mehr zu erahnen, als ein unverständliches Gemurmel hinter den Wänden. Eine schnelle Abfolge verschiedener Stimmen, deren Melodie abwechselnd von Pragmatismus, Frustration, Verzweiflung, Einwänden und Strenge kündete. Plötzlich schlug die Tür dort oben wieder auf, so schwungvoll, dass sie gegen die Wand fiel. Verschiedene Stimmen zugleich quollen aus dem Raum heraus und ergossen sich über die bis dato stillen Flure und Treppen des nächtlichen Wachhauses.
"Pass auf! Der Kopf!"
"Wenn du schon mal weitergehen könntest... ich komme sonst nur schwer hier durch mit..."
"Wer hat die Kerze?"
"Braucht ihr die wirklich? So dunkel ist es doch gar nicht."
"Man könnte hier wirklich mal in bessere Beleuchtung investieren."
"Ich vermute, dazu braucht es Geld. Hab' mir sagen lassen, dass der Palast gerade nicht sonderlich gut auf die Wache zu sprechen ist. Gibt da so gewisse Indizien..."
"Willst du mir damit etwas Bestimmtes..."
"Muss das wirklich jetzt ausgerechnet sein, Gefreite?"
"Tut mir leid, Ma'am! Schlechter Zeitpunkt, stimmt schon."
Der Tresendienst verlor schlagartig an Bedeutung und Wilhelm schritt zum Durchgang hin, so dass er die Truppe, die da soeben die Treppe in den Keller hinab nehmen wollte, besser sehen konnte. Der Chief-Korporal entdeckte ihn natürlich sofort, nickte ihm reserviert zu.
"Rekrut Schneider..."
Es war offensichtlich, dass sie die anderen in ihrer Begleitung zur Eile antrieb und ihn nicht dabei haben wollte. Aber so einfach würde sie ihm nicht davonkommen! Grüßende Worte waren fast überflüssig aber er wollte sich diese einmalige Gelegenheit zumindest nicht durch den Einwand ruinieren, er wäre nicht höflich genug mit seinem Ansinnen auf sie zugetreten.
"Solch ein Betrieb und das zu dieser Stunde..."
Zuerst seine ungewöhnlich direkte Offenheit, jetzt geduldige Höflichkeit. Sie konnte sich wirklich nicht beschweren.
Die hochrangige Kollegin blickte sich sichtlich nervös um und suchte nach den passenden Worten, um ihn loszuwerden. Sie spielte die Situation herrunter. "Ja, ein kleiner... Zwischenfall..."
Gerade wollte er ihren absehbaren Einwänden zuvorkommen, als er abgelenkt wurde.
Die Kollegin aus der Pathologie war es, die nun das schwach atmende Bündel Mensch auf ihren Armen an ihm vorbeitrug. Er hatte geahnt gehabt, dass es sich dabei um eine fast zierliche Person handeln musste, selbst als diese noch in die Aufschläge des robusten Umhangs gehüllt gewesen war. Das, und die Konstellation der begleitenden Personen, hatte in ihm ja überhaupt erst den Gedanken an Ophelia aufkommen lassen. Aber es war nicht die Vermisste, die dort wie träumend in die Armbeugen geschmiegt Richtung Untergeschoss transportiert werden sollte. Was sich ihm jetzt stattdessen präsentierte, befreit von den schützenden Lagen Stoffes, übertraf seine Erwartungen!
Der Bewusstlose war wundervoll! Marmorne Blässe und fein geschwungene Brauen. Schimmerndes Haar, das ihm nur noch lose gebunden über die Schultern fiel, ein Schleier der Unschuld, gesprenkelt mit glimmenden Farbreflexen, einem Waldrand in glühender Abenddämmerung nicht unähnlich. Er strahlte unverstellte Reinheit aus. Ein biegsamer Birkensprößling. Gestaltgewordene Haltung, eine Person, die sich ihrer selbst bewusst und mit dieser Erkenntnis im Reinen war, der dies genügte, die auf dieser Welt aufrecht und kühn inmitten einer Lichtung stand, für sich, allein, beschützenswert... begehrenswert! Er war eine geradezu natürliche Schönheit, die gleichsam von innen heraus zu leuchten schien und einfach insgesamt von einer Filigranität, dass der Anblick fast schmerzte!
So schmale Handgelenke! Ich bin ja sonst nicht dermaßen impulsiv, was meine... Aufmerksamkeit angeht aber er...
Die schlichte Kleidung, in welcher dieser Jüngling ins Wachhaus transportiert worden war, bildete einen augenfälligen Kontrast, verhielt sich ebenso unpassend zu diesem aus Alabaster gehauenen Bild eines jungen Mannes, wie rottendes Laub aus einem der öffentlichen Parks zu einer wiewunderländischen Orchidee unter Glas! Ein Hauch oktariner Exotik wehte süßlich und prickelnd durch den Gang, untermalt von herbem Lagerfeuerduft und dem flatternden Band frischer Kräuter. Das Leben pulsierte flatterhaft unter dieser seidenzarten Haut, reizvoll wie...
Er riss sich nur mit Mühe zusammen und wandte den Blick ab von ihm.
Ein Zauberer! Ich habe noch nie zuvor einen von solch köstlich zerbrechlicher Verfassung gesehen! Diese langen, schlanken Finger! Wie prädestiniert dafür, kühne magische Konstrukte zu erschaffen. Und diese Hilflosigkeit in den Armen der Kollegin...
Fast war es, als wenn seine Stimmbänder einen eigenen Willen hätten, so spontan wurde es zu seinem Anliegen, die Prozession auf der Stelle zu begleiten.
"Kann ich helfen?"
Die ganze Angelegenheit rund um die Suche nach Ophelia hatte plötzlich eine zusätzliche Dimension der Dringlichkeit angenommen.
Doch sie ließ ihn kaum zu Wort kommen und während er noch bedauernd dem Jüngling nachsah, trafen ihre Worte wie Pfeile ins Schwarze.
"...tu einfach was man dir sagt. Du willst dabei sein, willst, dass wir dir in der Sache vertrauen? Dann vertrau auch mir wenn ich dir sage, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist, deinen Kopf durchzusetzen. Du kannst uns gerade nicht helfen - du würdest es bestenfalls noch komplizierter machen..." Und dann, wie aus heiterem Himmel, mit bohrendem Blick, voller Abscheu: "...da kann ich nicht auch noch ein Auge auf einen Kollegen haben, der eben diesen Zauberer ansieht, als sei er sein Abendessen!"
Sie wandte sich von ihm ab und folgte den anderen, die sich bereits einen deutlichen Vorsprung herausgearbeitet hatten. Und er blieb zurück, stand wie vom Donner gerührt dort.
Nicht, dass er sich schuldig gefühlt hätte! Sie verurteilte seine persönlichen Vorlieben? Sie hatte für sich eine andere Art zu... leben für gut befunden? Bitte, sollte sie doch! Er seinerseits machte ihr doch daraus auch keinen Vorwurf. Nein, wenn die Kollegin so verkrampft war, dass sie einem netten Umtrunk nichts abgewinnen konnte, so war das gewiss nicht seine Schuld! Sollte sie das handhaben, wie sie wollte. Aber er würde sich keinesfalls ihrem privat begründeten Gutdünken unterstellen. Er war ein erwachsener Mann und sie nichts weiter, als eine zufällig ranghöher stehende Person. Sie durfte ihre Meinung äußern. Aber es blieb ihm selber überlassen, ob er dieselbige auch nur zur Kenntnis nahm. Er würde sich nicht von ihr vorschreiben lassen, mit wem er sich in eine ruhige Ecke zurückzuziehen gedachte! Und sobald die Umstände anders lägen...
Aber das ist genau das Problem, nicht wahr? Sie hat Recht. Es fiel Wilhelm nicht leicht, sich das einzugestehen. Ihre Worte trafen einen wunden Punkt, eben weil sie der Wahrheit entsprachen. Der bleiche Knabe wirkte ziemlich angeschlagen. Ein gemütliches Pläuschchen unter diesen Vorzeichen, wäre vermutlich sogar gefährlich für ihn. Und dieses eine Risiko einzugehen, gehörte nicht zu den Dingen, die er auch nur leichtfertig in Erwägung zog. Er war kein Mörder! Ganz abgesehen davon, dass das alles am heutigen Abend irgend etwas mit Ophelia zu tun hat. Der Zauberer wird also vermutlich über irgendeine Art von Information verfügen. Und spätestens wenn er wieder besinnungslos neben mir läge, falls ich etwas zu hingerissen von ihm wäre, und ich immer noch nichts Genaueres zu Ophelias Verschwinden oder gar zu ihrem aktuellen Aufenthaltsort wüsste, würde ich mich doch gar zu sehr ärgern. Ob sie wirklich etwas Neues erfahren haben? Und ob der Chief-Korporal ihr unausgesprochenes Versprechen wahr macht, und zumindest mit etwas Verzögerung meiner Gesten des guten Willens gedenkt?
Gerade, als er an diesem Punkt seiner Überlegungen angekommen war, hörte er das leise Murmeln einer entrüsteten Stimme.
"Unglaublich! In seinen Kleidern! Das muss man sich mal vorstellen!"
Aus dem Untergeschoss quälte sich mühsam ein älterer Wächter empor, der offenbar mit dem festen Vorsatz hinab gestiegen gewesen war, sich einen Platz im Zuber zu sichern. Und der nun festellen hatte müssen, dass daraus in dieser seltsamen Nacht nichts werden würde.
Er konnte sich vage an den Mann erinnern, einer der Offiziere. Richtig! Hauptfeldwebel Sillybos, Tatortwächter bei den SuSen! Da es nie schaden konnte, zu grüßen, salutierte Wilhelm einmal lässig.
"Sör!"
Der Mann blickte auf und deutete mit einer langen Rückenbürste auf ihn, während er sich beschwerte. "Das ist doch eine Unart!" Das Quietscheentchen auf der im Arm getragenen Handtuchrolle wippte bedenklich, als er fortfuhr: "Ich habe das nicht nur so dahin gesagt, Rekrut! Wenn ich wollte, könnte ich jederzeit Anzeige erstatten! Ich muss es nur wollen!"
Eine Idee beschlich ihn.
"Anzeige, Sör? Wogegen denn?"
Der ältere Mensch ereiferte sich auf eine fast bedächtige Art. Sein langer Bart hüpfte dabei auf seiner breiten Brust auf und nieder, während die Badebürste weit ausholende Gesten beschrieb, um das Unfassbare in der Aussage des Mannes zu bekräftigen.
"Gegen den rücksichtslosen Vorstoß unzivilisierter Manieren in ein bisher unangetastetes Weltbild, junger Mann! Gegen das Zusammenrotten leichtfertiger Jungspunde und die Verführung argloser Geister! Ich habe ein Anrecht auf meine Badezeiten! Und stattdessen stecken sie diese wachefremde Person in einen unserer Zuber!"
"Sie haben ihn in einen Zuber gesteckt?" Für einen Moment war Wilhelm wirklich verwirrt. Wenig, was während dieser Tresenschicht geschah, schien einen Sinn zu ergeben! Dann aber dämmerte ihm der wahrscheinliche Sinn solch einer Aktion.
Du meine Güte! Wenn sie ihn in kaltes Wasser... welch ein Ausbruch an Reaktionen dann durch den Raum fluten muss! Herzschlag, Atmung, Emotionen... Allein wenn ich mir den panischen Blick seiner Augen vorstelle, wenn er unter solchen Umständen mit einem Schlag zu Bewusstsein kommt...
Der Vampir atmete tief ein - und sehr kontrolliert wieder aus.
Während dessen murmelte der Tatortwächter seltsam unzusammenhängende Feststellungen vor sich hin, wobei er sich inzwischen selbstversunken mit dem Rücken der Holzbürste gegen das Kinn klopfte.
Wilhelm betrachtete ihn. Er war unten. Vielleicht hat er etwas mitbekommen, was dort besprochen wurde? Vielleicht weiß er etwas, von dem er nicht mal weiß, dass er es weiß? So etwas wie leichtes Unwohlsein kribbelte für eine Sekunde in seinem Magen und er rieb sich unwillkürlich die Wange. Sie hat mich nur zum Verbleib hier verdonnert. Sie hat mir keine Eigeninitiative untersagt, um von hier aus an Informationen zu gelangen. Und dieser Mensch ist nichts weiter, als ein Mensch. Keine speziesbedingten übermäßigen Gefahreninstinkte oder Abwehrmechanismen. Er wird mich nicht einmal bemerken. Nur ganz kurz...
Er konzentrierte sich auf sein Gegenüber, auf die Falten im Gesicht, auf die deutlich gealterte Haut, auf das langsame Umherschauen dieser Augen, während der Mann noch in eine Art Selbstgespräch vertieft schien. Diese Augen, die im Laufe vieler Jahre viel sahen...
Ein Schritt vor, hin zu der unsichtbaren Membran, die das Äußere vom Inneren trennte, die gleich hohen Mauern untergraben oder gleich schweren Toren aufgebrochen werden konnte, die... er stolperte unerwartet vorwärts, als die geistigen Pforten des menschlichen Kollegens sich als gut geölte Schwingtüren herausstellten. Damit hatte er nicht gerechnet.
Er bewegte sich tiefer in diesen ungewöhnlich empfangsbereiten Geist und sah sofort die soeben erlebte Szenerie in schönster Weise vor sich ausgebreitet. Einige hastige Schritte darauf zu und er konnte das Zwiegespräch im originalen Wortlaut mitverfolgen. Das Aufbegehren aufgrund gebrochener Traditionen, den Zugriff der Werwölfin im Hintergrund auf das Wasser, das strikte Abwehren jeglicher Kooperation seitens Flanellfuß'... die Reaktionen der Beteiligten waren fein säuberlich beobachtet und abgespeichert worden, jedes Detail genauestens zur Kenntnis genommen. Doch wo andernorts Spekulationen und Interpretationen einer Blütenwolke gleich um solche Erlebnisse trieben, herrschte hier ein unübersichtliches Koordinatennetz vor, welches wie unstetes Wetterleuchten aufblitzte, sobald er sich bewegte. Als wenn er die magischen Kontakte eines dieser sehr teuren Spielzeuge für die verwöhnten Kinder reicher Gildenmitglieder berühren und damit auslösen würde. Nach und nach begann anscheinend eine Art Umstrukturierung der Erinnerungen. Das Koordinatengitter flackerte heftig und seine Linien brannten sich in Wilhelms Sicht ein, wie giftgrüne Fäden, die gleich Peitschen Stücke aus der Bildsequenz herausrissen und mit sich fort zogen, hin zu unendlich hohen Wänden voller Schubladen. Doch die Entität hinter den sezierenden Analysetentakeln schien sich ständig neu zu orientieren und anders zu entscheiden. Die Erinnerungsfetzen wurden entzwei geschlagen, gespiegelt, umsortiert, aus den Fächern genommen und anders abgelegt... Wilhelm bekam Kopfschmerzen von dem Flackern und Blitzen, von der immer schneller werdenden Geschwindigkeit des Auseinandernehmes und Umsortierens um ihn herum. Er wollte sich abstützen... kippte aber ins Leere! Mit einem leisen Aufschrei streckte er panisch beide Hände von sich, fiel, drehte sich, erkannte, dass er die ganze Zeit an der Decke gehangen hatte! Er versuchte sich instinktiv in seine Fledermausgestalt zu wandeln... und zerfiel zu Staub! Verschwommen sah er, wie er durch das Lichtgitter fiel, tausende von eingebildeten Ascheflocken, auf der Suche nach einem Oben und Unten. Ein Koordinatententakel traf ihn und schleuderte ihn beiseite, er trudelte durch eine Erinnerung, wie durch Seifenschaum... die Kopfschmerzen wurden unerträglich. Stimmen wisperten durch seinen Sinn, wie Sturmböen und fragten Fragen, als wenn es das Letzte wäre, was noch zu tun bliebe, bevor es daran ginge, auf ewig die Augen zu schließen. Unendliche Gedankenketten hefteten sich aneinander, zerbrachen in tausend Stücke, setzen sich neu zusammen. "Sein, oder nicht sein. Das ist hier die Frage!" - "Wasser ist die Grundlage allen Lebens." - "Von einem Tropfen Wasser lässt sich auf das Meer schließen, ohne es jemals gesehen zu haben." - "Sehe ich, wenn ich sehe?" - "Der Betrachter ist eingeschränkt durch seine Existenz." - "Sehen ist nicht gleich wahrnehmen." - "Wo beginnt Interpretation?" - "Was versteht man wirklich unter Grenzerfahrungen?" - "Du sollst nicht töten!" - "Blut ist Leben!"... Sätze, die sich gleich den stampfenden Rhythmen einer Lokomotive in seine Gedanken hämmerten, federleicht, stahlschwer... unter ihm ein Fluss... fließendes Wasser...
Wilhelm wusste zwar mit dem rein rationalen Teil seiner Selbst, dass dieser 'Ort' lediglich ein Abbild dessen war, wie sein eigenes Gehirn die Vorgänge in dem fremden Gehirn darzustellen beliebte. Aber das half nicht wirklich gegen die absolute Desorientierung hier drinnen! Und gegen die wirklich schmerzhaften Reaktionen seines Körpers auf die zu verarbeitenden Eindrücke. Er konnte kaum noch etwas sehen, so sehr kniff er instinktiv in schmerzgekrümmter Hilflosigkeit die Augen zu. Diese Kopfschmerzen spießten sein Hirn Stück für Stück auf, kleine Bruchstücke seziert, auseinandergebrochen wie Brot, zu Tode gepfählt, wie Schmetterlinge auf einer Pinnwand! Er wollte nur noch weg von hier! Raus! Da war wieder Boden unter seinen Füßen, fester Grund...
Er lief dem weit entfernten Geräusch der leisen Stimme entgegen, dem gleichbleibend selbstvergessenen Murren des Vorgesetzten, der sich noch immer in einem Zwiegespräch mit ihm wähnte.
"...andererseits kann ich ihnen natürlich nicht ihren freien Willen absprechen. Und sie sind allesamt mündig, nicht wahr?"
Der feste Untergrund sackte unter ihm weg, gerade als er einen weiteren Schritt darauf tat. Sein Fuß knickte um und er fiel auf die Knie. Er fing sich mit den Händen ab und rappelte sich schnell wieder auf.
"...könnte ja jeder einfach so daherkommen und..."
Die Stimme kam näher, die Außenwelt kündigte sich mit ihren Gerüchen und Empfindungen wieder an.
"...mir vorstellen, dass du auch anderes zu tun hast, als einem alten Man beim Reden zuzuhören? Wenn ich mich da an meine Zeit als Rekrut..."
Er fiel nahezu blind in die Trennlinie ihrer beider Geister und wechselte widerstandslos in seinen Körper. Alles fühlte sich richtig an, fest, stetig, konstant... bis auf die mörderischen Kopfschmerzen! Die Nacht war plötzlich zu grell! Er zuckte zusammen und kniff die Augen zu. Er fuhr sich mit den Händen an die Schläfen und stöhnte laut auf.
Der Kollege zögerte.
"Geht es dir nicht gut, Rekrut?"
Er hätte geantwortet. Wenn er gekonnt hätte. Stattdessen schnappte er nach Luft, drehte sich wortlos um und tastete sich blind zum Tresen zurück.
"Ähm... ja, in Ordnung. Setz dich besser hin. Kopfschmerzen, hm? Nicht schön sowas. Und so plötzlich? Was machen wir denn da? Also... du, was machst Du denn da? Brauchst du irgendwas? Öhm, Ruhe vermutlich, nicht wahr? Dann will ich dich mal nicht länger stören. Ist ja auch nur die Nachtschicht, da sollte das einigermaßen gehen? Also... wenn irgendwas ist, Rekrut... du weißt schon."
Wilhelm setzte sich hinter den Tresen, die Augen geschlossen, die Hände an die Schläfen gepresst. Ihm war alles egal. Als die nervige Stimme endlich verschwunden war, lenkte er seine Stirn sanft der Thekenfläche entgegen und hoffte, möglichst unbemerkt die restliche Schicht zu überstehen. Irgendwann wechselte die Truppe rund um die von Nachtschatten fürchterlich laut herumpolternd wieder in die oberen Etagen. Es war ihm nur recht, dass sie ihn völlig vergessen zu haben schienen. Keiner sah nach ihm und das war auch gut so.
Verfluchte Wächter! Nie wieder! Nie wieder rühre ich auch nur einen dieser verkorksten Stadtlakaien an!


19.03.2017 0: 03

Nyria Maior

Es war nicht das erste Mal, dass er in einer der Zellen des Wachhauses gelandet war, aber sicher der bisher ungewöhnlichste Grund dafür. Raistan lag unter allen Decken die Nyria hatte auftreiben können auf der harten Pritsche und fühlte sich langsam nicht mehr, als wäre er unter eine mindestens vierspännige Kutsche geraten. Was auch immer die schwarzhaarige Hexe in ihren Tee gemischt hatte, es half. Und wirklich gut geschmeckt hatte es auch.
Sein Blick wanderte zu seinem sorgfältig verbundenen Arm, der auf den Decken lag. Die Hexe hatte gesagt, dass auf jeden Fall Narben zurückbleiben würden. Aber was waren schon ein paar Narben gegen das, was Ophelia Ziegenberger nun schon seit über einem Jahr durchmachen musste ohne jegliche Hoffnung, dass es irgendwann ein Entrinnen gab.
Ihre verzweifelten Gefühle waren wie eine Orkanwelle gewesen, gegen die selbst HEX keinen Schutz geboten hatte. Raistan biss die Zähne zusammen als sein schlechtes Gewissen ihn mit aller Macht in diverse unaussprechliche Körperteile trat. Über ein Jahr litt Ophelia Ziegenberger nun schon in ihrer Gefangenschaft. Und die ganze Zeit hatte es in seiner Macht gelegen, den Beweis zu erbringen, dass sie noch lebte. Der Beweis den Inspektor Flanellfuß, der vampirische Chief-Korporal und auch die Hexe dringend gebraucht hatten um ihren eigenen Ermittlungsergebnissen zu trauen. Aber er hatte die Sache nach einigen weiteren ergebnislosen Versuchen an weiteren Opfern von Vampirbissen als einmaliges Phänomen zu den Akten gelegt und daran geglaubt, dass wenn jemand in Ankh-Morpork jemanden verschwinden lassen wollte, das auch sehr gründlich tat.
Ophelia Ziegenberger lebte. Er hatte ihre panische Stimme in seinem Kopf gehört. Das Bild des eisernen, eiskalten Käfigs über dem endlosen Abgrund hatte sich unauslöschlich in seine Erinnerung gebrannt. Egal welche Spezies, was für ein Ungeheuer musste man sein um jemandem eine solche Gefangenschaft anzutun?
Dabei war allein das Gefühl der unendlichen Einsamkeit schon mehr als genug gewesen, jemanden mit schwächerem Verstand in den Wahnsinn zu treiben. Raistan kannte das Gefühl, einen Teil seiner Seele herausgerissen zu bekommen, nur zu gut. Nach Kameruns brutalem Tod war er selbst wie ein loses Fadenende durch die Welt gewandert, bis ihn das Schicksal mit Nyria zusammengeführt hatte. Aber selbst damals hatte es immer jemanden gegeben, der ein wachsames Augen auf ihn hatte. Araghast Breguyar. Der heutige Kommandeur der Wache hatte immer ein offenes Ohr für ihn gehabt, egal wie schwer es ihm damals gefallen war, seinen eigenen Stolz herunterzuschlucken und seinen Rat einzuholen.
Ophelia Ziegenberger hingegen war von allen, die ihr je etwas bedeutet hatten, abgeschnitten. Sie hatte niemanden, der ihr zuhörte. Niemanden, der ihr sagen konnte, dass es noch Leute gab, die sie nicht vergessen hatten...
Raistan ballte die Hände zu Fäusten. Solange noch nicht alles hoffnungslos verloren war hatte er trotz seiner körperlichen Schwäche immer gekämpft bis zum bitteren Ende. Und genau das würde er auch für Ophelia Ziegenberger tun, genau wie er es der Vampirin, dem Inspektor und der Hexe versprochen hatte.
Sein schlechtes Gewissen verpasste ihm einen weiteren Tritt in unaussprechliche Regionen. Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte er Ophelia Ziegenberger als hysterisch und übermäßig emotional eingeschätzt. Vampir X hatte ihn nur einen kurzen Moment berührt und selbst das hatte schon gereicht, ihm selbst bei der Erinnerung daran kalte Schauer über den Rücken zu jagen. Und die Wächterin hatte dieses Ungeheuer die ganze Zeit in ihrem Kopf gehabt. Stumm leistete er Abbitte für seine grandiose Fehleinschätzung. Was auch immer Ophelia durchmachte war wesentlich schlimmer als alles was jemals versucht hatte, mit seinem Verstand zu spielen.
Aber hier und jetzt war er sicher. Die Zellen des Wachhauses waren dafür gebaut, sämtliche Spezies in Untersuchungshaft halten zu können, und der große Troll, der sie eingeschlossen hatte, wirkte zusätzlich Vertrauen erweckend.
Die große geladene Armbrust mit dem mehr als daumendicken, knoblauchgetränkten Pflock lag auf Nyrias Schoß und ihre Miene war entschlossen. Sie hatte darauf bestanden, sich mit ihm in die Zelle einschließen zu lassen. Immer wieder musterte sie ihn kurz, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder der massiven Tür mit dem kleinen vergitterten Fenster zuwandte. Es war ihre Idee gewesen, sich für die Nacht in einer der Zellen zu verschanzen. Immerhin hatten sie einen wirklich mächtigen Vampir geärgert. Und er selbst war zur Zeit nicht zu viel zu gebrauchen. Hinter seinen Schläfen pochte ein penetranter Kopfschmerz, jeder Atemzug fühlte sich an als würde sich ein Haufen Stecknadeln in seine Lungen bohren und auch die Brandverletzungen an seinen Arm weigerten sich hartnäckig, Ruhe zu geben. Aber es waren eben jene Schmerzen gewesen die ihm geholfen hatten, in dem ganzen Chaos der mentalen Kontakte er selbst zu bleiben. Und er war er. Raistan Adelmus Quetschkorn, Zauberer dritter Stufe, stellvertretender Dozent für theoretische B-Raum-Forschung.
Unwillkürlich musste Raistan lächeln. Es gab eine Sache, die er im Büro der Hexe nicht erzählt hatte. Aber er konnte eine sehr angespannte Freundin damit aufheitern.
"Nyria." flüsterte er. Mehr gab seine Stimme nicht her.
Seine Freundin wandte sich zu ihm um.
"Alles klar? Oder brauchst du noch irgendwas?"
Raistan schüttelte schwach den Kopf.
"Es ist nur... ich habe vorhin nicht alles erzählt." Er brachte ein weiteres schwaches Lächeln zustande.
"Aber wir hatten dem Chief-Korporal doch komplette Mitarbeit versprochen." Nyria runzelte die Stirn und legte ihre Hand auf seine. "Hat dich der Vampir dazu gebracht, über irgendwas dicht zu halten?"
Raistan drückte ihre Hand.
"Nein. Es ist nur... Als der Vampir zuschlug hatte ich noch einen kurzen Moment Zeit. Ich hätte mich einfach zurückziehen können. Aber ich habe es nicht getan. Nachdem ich wusste, was er Ophelia Ziegenberger angetan hatte, wollte ich zumindest nicht ganz kampflos aufgeben. Deshalb habe ich ihm mit allerletzter Kraft noch eine sehr eindeutige Botschaft zukommen lassen."
"Und die lautete?" erkundigte sich Nyria.
Raistan atmete tief durch und nahm die damit verbundenen Schmerzen billigend in Kauf.
"Ich habe ihm genau drei Worte gesagt. Fahr. Ins. Pandämonium."
Das ihm so bekannte breite Grinsen erschien auf dem Gesicht seiner Freundin und ihre smaragdgrünen Augen funkelten. Dieses unverkennbare unglaublich unverschämte Grinsen, gepaart mit dem unnachahmlichen Blick, das ihm damals den Weg aus seiner eigenen Einsamkeit gewiesen hatte.
Sie legte die Armbrust ab und ihre Arme schlossen sich um ihn.
"Und dann wundern sich alle die davon wissen, warum ich mir ausgerechnet dich ausgesucht habe." sagte Nyria ihm leise ins Ohr.
"Ich muss zugeben, über all die Jahre hat das Pöbelvokabular des Kommandeurs doch irgendwie auf mich abgefärbt." versuchte Raistan einen Scherz.
Nyria ließ ihn los, hob die Armbrust auf und richtete sich wieder auf.
"Eins muss Bregs jedenfalls zugeben." erklärte sie mit einem weiteren schiefen Grinsen. "Er hat die Wette sowas von verloren."

20.03.2017 19: 37

Rach Flanellfuß

Endlich hörte er den Schlüssel im Schloss und wie sein Freund routiniert die Falle[6] deaktivierte, bevor er die Wohnung betrat. Jules wusste, dass das Experiment heute stattfinden sollte, doch Rach hatte vehement dagegen argumentiert, dass er ihn begleitete. Und so saß er daheim regelrecht auf heißen Kohlen. Schließlich war Rachs derzeitige Verfassung nicht mehr weit von einem weiteren Besuch in der Skorpiongrube entfernt. Der damalige Nervenzusammenbruch, als sie Ophelias Armschiene in der verlassenen Hütte außerhalb der Stadt fanden, war für den Patrizier Anlass genug gewesen Rach für eine Weile aus dem Verkehr zu ziehen. Jules konnte getrost darauf verzichten, dass sich dies widerholte. Sein Freund und Kollege war damals kaum noch wiederzuerkennen gewesen und die derzeitigen Anzeichen liefen regelrecht wieder auf genau dieses Desaster zu. Nicht, dass er Rachs Püschologin nicht zutraute, die Sache im Griff zu haben. Doch wenn es ihm darauf ankam, konnte Rach sehr überzeugend sein. Jules Sorge war groß, dass sein Kumpel sie derzeit an der Nase rumführte.
Rach ging ohne ihn zu grüßen direkt an ihm vorbei und machte sich auf den Weg nach oben. Jules sog scharf die Luft ein. Sein Freund sah aus als hätten ihn gerade erst die Kerkerdimensionen ausgespuckt. Und es war schlimm genug, dass er genau wusste, wie dies auszusehen hatte. Er kannte natürlich den Bericht über das Experiment in der UU und das Ganze zu wiederholen, war schon haarsträubend genug.
"Hey, Rach! Warte mal! Was ist passiert?" Er stand schnell auf und sah Rach hinterher, der sich regelrecht nach oben schleppte. "Hattet ihr Erfolg?", fragte er vorsichtig und Rach nickte nur, bevor er aus dem Blickfeld verschwand.
Jules ging eilig hinterher. Die Tür seines Mitbewohners stand offen und als er das Zimmer betrat, lag Rach schon halb im Bett. Dessen zerknittertes Jackett lag achtlos auf dem Boden und sein Freund hatte sich nicht mal die Mühe gemacht die Schuhe auszuziehen.
"Rach?", fragte er leise und hoffte dennoch auf ein Lebenszeichen. Die Antwort blieb aus und Jules trat schließlich näher.
Tatsächlich er schlief! Wenn das bis morgen früh anhielt, war das vielleicht das erste Mal, dass Rach genug Schlaf abbekommen würde.
Mit einem leisen Seufzer zog er seinem Freund die Schuhe aus und schwang dessen Beine auf das Bett. Letztlich deckte er ihn noch zu und hing das Jackett über den Stuhl am Schreibtisch. Was auch immer vorgefallen war, es wirkte sich eventuell positiv auf Rachs Schlaf-Defizit aus. Doch es bedeutete auch, dass er erst morgen früh erfahren würde, was genau passiert war. Dabei platzte er fast vor Neugier.
"Gute Nacht, mein Freund", flüsterte er und verlies letztlich den Raum.

Am nächsten Morgen war es schon hell, als Rach erwachte und er blinzelte irritiert. Schlagartig war er wach und wühlte sich aus dem Bett. Er sah sich hektisch um und sprang schließlich auf, als er die Orientierung wiederfand. Schnell schlüpfte er in seine Schuhe und verlies das Zimmer, ohne die Schuhe zu binden. Auf dem Weg nach unten sah er auf die Uhr und fluchte ausgiebig. Er war zu spät! Er rutschte das Treppengeländer nach unten und aus der Küche hörte er seinen Mitbewohner mit Geschirr hantieren.
"Ist Dornröschen endlich erwacht?", fragte Jules. Er beachtete ihn gar nicht. Schnellen Schrittes ging er zur Tür und deaktivierte die Falle. Doch als er die Wohnung verlassen wollte, rüttelte Rach nur vergebens an der Tür. Es war abgesperrt! Er tastete nach seinem Schlüssel, Fehlanzeige! Dieser musste noch in seinem Jackett sein!
Als er sich umdrehte, stand Jules schon im Gang und versperrte den Weg.
"Hab ich es mir doch gedacht", sagte sein Freund und Rach stöhnte genervt.
"Jules, ich hab‘s eilig!"
"Oh nein, du hast sage und schreibe acht Stunden geschlafen. Du wirst frühstücken und mir erzählen was gestern Nacht passiert ist. Keine Widerrede!"
Rach machte Anstalten, an Jules vorbeizukommen, doch sein Freund war unnachgiebig. Ein schneller Handgriff des Kollegen und Rach fand sich auf dem Boden liegend wieder.
"Au", gab er nur von sich und rieb sich die Schulter.
"Ich meine es ernst", sagte Jules über ihm und half ihm wieder auf die Beine. "Außerdem willst du so doch wirklich nicht auf die Straße gehen."
Er sah an sich hinab. Seine Kleidung war knittrig. Eine Klammer seiner Hosenträger hatte sich gelöst und das Hemd war nicht mehr ordentlich im Hosenbund. Einzig und allein die Weste schien noch etwas Würde auszustrahlen.
"Soweit ich weiß, redet man schon genug über dich. Also komm runter und sag mir was los ist, dann lass ich dich vielleicht gehen."
"Jules..."
"Verdammt noch mal, jetzt sag schon!"
"Ophelia lebt!"
Sein Freund sah ihn an, als würde er an dieser Aussage zweifeln. Schlimmer noch: als hätte er den Verstand verloren! Er hatte letzte Nacht Einiges durchmachen müssen, doch er hatte endlich Gewissheit. Er hatte wieder Hoffnung! Er durfte jetzt keine Zeit verlieren.
"Glaub es oder lass es bleiben, aber ich habe keine Zeit..."
"Ahahah", unterbrach ihn Jules. "Immer schön langsam und eins nach dem anderen."
"Du...", brachte Rach nur hervor und ballte die Fäuste vor Jules' Gesicht. Schließlich lies er die Arme kraftlos sinken. "Gibt es wenigstens schon Kaffee?"
"So gefällst du mir schon viel besser", sagte Jules und grinste ihn an, ehe er zurück in die Küche ging. "Was auch immer passiert ist. Ich hab‘ dich schon lange nicht mehr so munter gesehen. Und bevor ich vor Neugier platzte, rückst du besser raus mit der Sprache!"
Rach strich sich über das wirre Haar und setzte sich an den Tresen der Küchenzeile. Es hatte keinen Zweck. Wenn er nicht die Neugier seines Freundes befriedigte, würde er nur mehr Zeit verlieren. Doch wo sollte er überhaupt anfangen? Ihn schauderte bei dem Gedanken an Raistans Aussage. Der Käfig und Ophelias panische Angst davor, die der Zauberer bis ins kleinste Detail schilderte. Er wäre beinahe verzweifelt. Da hatte er endlich das so ersehnte Lebenszeichen, doch sie waren keinen Schritt weiter, was den Aufenthaltsort seiner Verlobten anging! Zumindest hatte er das bis dahin geglaubt. Doch dann hatten Mina und Magane ihn beruhigt und von ihren Fortschritten berichtet. Die Kartenzusammenlegung traf ihn aus heiterem Himmel. Der Ärger darüber, dass er nicht schon früher Informiert worden war, wich dem eigenen schlechten Gewissen. Er schuldete der Hexe eindeutig eine Entschuldigung. Und nicht nur ihr!
Jules stellte eine Tasse vor ihm ab und der Geruch von Kaffee stieg ihm in die Nase. Daneben tauchte ein Teller mit einem Butterbrot auf, sowie ein gekochtes Ei. Rach musste unwillkürlich grinsen. Normalerweise war er für das Essen verantwortlich und allein Jules Versuch zeigte ihm, wie aufgeschmissen er derzeit ohne seinen Freund wäre. Jules sah ihn nur gebannt an und Rach atmete tief durch, bevor er schließlich die Ereignisse der letzten Nacht wiedergab. Sein Mitbewohner hörte wie immer aufmerksam zu. Doch seine Mimik sprach für sich.
"Tja und nun wollen wir uns wieder treffen. Und ich wollte eigentlich heute noch Rogi erwischen. Doch dafür bleibt jetzt keine Zeit mehr", beendete er seinen Bericht und er schluckte schwer.
"Ach du Sch..." Jules sah ihn mit großen Augen an. "Na los! Was machst du noch hier?"
Er sah an sich hinab und schüttelte schließlich den Kopf. "Nein, du hast Recht.", sagte er und trank seinen Kaffee in einem Zug leer. "So kann ich nicht auf die Straße."
Nun war es Jules der nur ungläubig den Kopf schüttelte.
Das Gespräch hatte auf seine Weise gut getan. Er hatte genug geschlafen, da konnte er wohl noch die Zeit auf sich nehmen und ordentlich ausshen.
"Wieder ganz der Alte, was?", entgegnete Jules und Rach konnte ihn nur angrinsen.

22.03.2017 0: 15

Ophelia Ziegenberger

"Fo kann ich jedenfallf nicht auf die Ftrasse!" Er deutete vorwurfsvoll auf sein Blaues Auge. Igorina lachte leise und gab ihm einen Kuss. Igor schloss die Augen, genoss ihre Nähe, den Druck ihrer Lippen auf den seinen, ihre wandernden Hände auf seinem Rücken. Sein Ärger verflüchtigte sich auf der Stelle und Entspannung rann durch seinen Körper. Als sie sich langsam, ganz sacht wieder voneinander lösten, grinste sie ihn jugendlich an.
"Entschädigt daf aufreichend oder ftehe ich noch immer in deiner Fuld, mein herrlicher Liebhaber, hm?"
Er grinste selig, auch wenn er sich einen letzten Seitenhieb nicht verkneifen konnte, indem er murmelte: "Alfo eigentlich, ftünde die Wächterin in meiner Fuld, nicht wahr, hübschefte aller Hübschen?"
Seine Frau boxte ihm schelmisch gegen die Schulter. "Wehe, du gehft zu ihr, um daf Wechselgeld einzufordern, alter Fwerenöter!" Dann zog sie die Palette mit den farbigen Salben und Pudern vom neben stehendem Tisch und ihn näher zu sich heran. "Komm her, mein Liebling! Ich kümmere mich um dein Geficht."
Ihr sanftes Vorarbeiten zu den grünlich und bläulich schimmernden Hautpartien hin war vertraut und angenehm. Ihre Stimme allerdings nahm einen besorgten Tonfall an, als sie während der routinierten Handgriffe irgendwann leise fragte: "Er hatte fich nicht im Griff, oder?"
Igor vermied es, den Kopf zu bewegen oder seine Mimik zu verziehen. Doch sein unzufriedenes Brummen war aussagekräftig genug. Sie runzelte die Stirn, sagte aber nichts weiter zu diesem Eingeständnis. Und auch er selber würde es nicht aussprechen. Wenn man es beim Namen nannte... Aber seine Gedanken wanderten zu dem Erlebten der vorigen Nacht zurück...

Ein unterschwelliges Vibrieren ging durch das Haus und wurde stärker. Ein so sachtes Beben der Wände, dass man es leicht überhören konnte. Zugleich aber zitterte die Luft, deren Druck verschob sich minimal auf den Ohren und Igors Haut prickelte. Er richtete sich ruckartig auf und lauschte. Gefahr näherte sich! Er war schon drauf und dran, nach einem spitzen Gegenstand zu suchen, als sich den rein körperlichen Warnzeichen, jene geistiger Natur hinzugesellten. Der Meister? Was ging hier vor sich?
Irgendwo im Haus barst etwas krachend auseinander oder wurde gegen etwas anderes geschleudert. Die Stimme seiner Lordschaft brüllte zornentbrannt auf und die seines Assistenten erhob sich verstimmt dagegen.
"Du undankbares Otterngezücht, du Schlange an meinem Busen! Erst nimmst du dir Freiheiten, weit über das gestattete Maß, Ophelia gegenüber heraus und jetzt boykotierst du willentlich meine Schutzmaßnahmen? Wie kannst du es wagen?!"
"Herr, ich habe ebenfalls nichts damit..."
"Schweig! Als nächstes willst du mir noch weismachen, du wüsstest von nichts! Als wenn ich darauf noch hereinfallen würde, nach allen deinen heimtückischen Machenschaften der letzten Zeit!"
Igor wechselte den Raum und tauchte lautlos hinter seinem Herrn und Meister auf. Der Anblick, der sich ihm bot, war beinahe unmöglich.
Racul stand inmitten des Schlafzimmers von Frau Willkür, die Hände um Sebastians Kehle gekrampft und um ihn herum legte sich eine hauchdünne Aschepatina. Alles im Raum, von den Teppichen, über die Lampen und sämtliche Gegenstände darin, war mit Ruß bedeckt, dessen Ursprung aus dem Kamin stammte. Der Meister musste in seiner Nebelform aus dem unterirdischen Labyrinth aufgestiegen sein, durch den Kamin und dessen verbundenes Abzugssystem! Und dann war er wohl regelrecht explosiv hier hereingeplatzt? Das kunstvolle Schutzblech vor dem Kamin hatte es weggefetzt. Kleinere Möbel, wie die filigranen Stühle, hatte es einfach umgeworfen.
Die ältere Dame saß entsetzt in die Kissen gelehnt in ihrem Bett, die dürren Hände zitternd in ihr Bettzeug gekrallt, ein verängstigtes Gestrüpp mit verrußtem Gesicht und weit aufgerissenen Augen. Sie atmete panisch, gab aber keinen Mucks von sich. Besser war das. Wer wusste schon so genau, was sonst passieren mochte, in der derzeitigen Stimmung des Herrn. Besser, sie hielt den Mund und machte sich quasi unsichtbar. Hauptsache ihr Herz machte die Aufregung mit. Um ihre Erinnerungen konnte Sebastian sich zur Not auch später noch kümmern aber wenn sie ihnen wegstürbe, dann wäre das wirklich übel. So kurz hintereinander war kein Ersatz vorgesehen. Das würde gewisse Institutionen mehr als misstrauisch stimmen.
Wie auf's Stichwort tauchte seine Frau neben Frau Willkür auf und legte dieser, nach einem kurzen Blick auf die Szenerie, mit beruhigendem Lächeln eine Hand auf die Schulter, ehe sie ihr mit vorgelegtem Zeigefinger und einem Zwinkern anriet, besser Zurückhaltung und Schweigsamkeit zu üben. Die alte Dame sah sie zwar extrem verwirrt an, krallte sich jedoch schutzsuchend an ihre Hand und nickte verstört.
Gut so!
Seine Frau warf ihm durch den Raum einen fragenden Blick zu und er konnte nicht mehr machen, als mit den Schultern zu zucken. Er wusste selber auch noch nichts Genaueres.
Derweil versuchte Sebastian angestrengt, die krallenbewährten Hände des älteren Vampirs an seiner Kehle zu lockern. Er hebelte und zerrte, konnte ihn aber nicht von sich abschütteln. Igor spürte Aufregung bei dem Anblick. Wie jedes Mal, wenn Sebastian sich mit dem Meister anlegte. Dann wünschte er sich, der Herr würde irgendwann Nägel mit Köpfen machen. Aber im Grunde stand das nicht zur Debatte, wie sie alle nur zu gut wussten. Ihnen voran Sebastian. Der Meister verlor diesen Umstand normalerweise nur kurz aus dem Blick, wenn er in Rage geriet, ehe er sich wieder fing. Der jüngere Vampir war schon in schlimmeren Situationen gewesen. Er schien diese Konfrontationen beinahe mehr zu genießen, als ein Igor die Streckbank. Immer wieder legte er es darauf an, reizte seine Grenzen aus. Und bis jetzt war er immer heil aus den provozierten Vergeltungsmaßnahmen des Herrn hervorgegangen. Wenn auch auf eine schlecht zu benennende Art verstimmter, denn zuvor. Es war nicht zu übersehen, dass die Fronten zwischen den beiden Vampiren sich mit jedem Monat der Anwesenheit ihrer Gefangenen mehr verhärtet hatten. Ophelia Ziegenberger wirkte wie ein Katalysator auf sie und ihre Querelen, wie ein Feuer unter einem Destillat. Dieser Haushalt glich einem dieser wunderschönen Glaskolben über dem Brenner. Es brodelte und simmerte und gab kein Entkommen, sie rückten immer enger aufeinander und die Zwischenräume verloren sich, je länger sie da war, still und schweigsam, doch stets gegenwärtig in jedermanns Gedanken. Und ihre bloße Anwesenheit heizte allen so sehr ein, dass eine Art Konzentrat des vorherrschenden Beziehungsgeflechts entstand. Manchmal kam Igor der leise Gedanke, ob diese Entwicklung nicht ihrer aller Untergang sein mochte. Aber dann wieder schalt er sich einen paranoiden Narren. Der Meister wusste, was er tat. Zumindest mehr oder weniger. Und zur Not gab es ja immer noch ihn uns seine Frau.
"Du bist eindeutig zu weit gegangen! Die Umsetzung deiner Strafe für die begangene Eigenmächtigkeit steht noch aus, da forderst du bereits ein noch härteres Urteil auf dich herab!"
Der jüngere Vampir ließ von den Krallen an seiner Kehle ab. Er warf mit ironischem Grinsen beide Hände in die Höhe und begann in der festen Umklammerung seines Herrn zu lachen, so gut das eben mit gequetschten Stimmbändern ging.
Racul stieß ihn angewidert von sich und Sebastian krachte rückwärts auf das Bett der alten Dame. Er rappelte sich wieder auf, strich Hose, Weste und Anzug glatt und warf der zitternden Frau ein breites Grinsen zu, dem vor allem seine voll ausgefahrenen Eckzähne zu entnehmen waren. Die Alte fiel lautlos in Ohnmacht. Igorina rollte entnervt mit den Augen und fühlte nach dem Puls ihrer Patientin. Igor liebte sie für ihre trockenhumorige Art.
Derweil standen sich die beiden Untoten lauernd gegenüber. Der Meister pulsierte regelrecht vor unterdrücktem Zorn, seine Aura bebte und viele winzige, knisternde Entladungen rund um ihn herum kündeten davon, dass er die Sache mit der Wetterbeeinflussung gerade nicht so ganz im Blick hatte.
Sebastian betrachtete ihn mit amüsierter Aufmerksamkeit, während er sich die Kehle massierte und Racul hatte sichtlich damit zu kämpfen, sich zu kontrollieren.
Da wird heute Abend ein Auffüllen seiner Reserven dringend nötig werden. Ich werde gleich mal die Vorräte im Weinkeller überprüfen müssen. Auch wenn ich vermute, dass er trotz alledem lieber auf die Assistenz dieses Mannes zurück greifen wird, sobald er wieder zu Sinnen kommt und sich im Griff hat. Wie gut, dass ich gerade erst neue Transportkisten geschreinert hatte...
Der widerspenstige Diener des Herrn deutete diesem gegenüber eine spöttische Verneigung an.
"Ich habe ebenso wenig eine Ahnung davon, wer es da soeben durch die Barrieren geschafft hat, wie du."
Jemandem ist ein geistiger Angriff gelungen? An Sebastian vorbei? Auf den Meister?!
Igor tauschte einen beunruhigten Blick mit seiner Frau aus und auch ohne die Fähigkeit des Gedankenlesens zu praktizieren wusste er augenblicklich, was in ihr vor sich ging. Ihr Augen weiteten sich und einen Sekundenbruchteil später war sie fort.
Dieses elendige Frauenzimmer im Labyrinth! Langsam ist es nicht mehr lustig. Mein Herzilein verrennt sich da in etwas. Ich wünschte, sie würde diesen Blödsinn sein lassen. Die Wächterin bringt alles durcheinander! Nichts als Ärger mit ihr. Die ersten Wochen waren ja noch lustig, mit all den aufregenden neuen Möglichkeiten. Aber inzwischen... Igorina war doch immer so vorsichtig gewesen, so klug und umsichtig. Und jetzt bietet sie Sebastian die Stirn und stellt sich gegen ihn. Wo wir doch genau wissen, dass so etwas niemandem bekommt, nicht mal dem Meister!
Dieser war noch immer nicht in der Stimmung dafür, seinem Assistenten zu trauen.
"Du bestehst also darauf, mich vorzuführen? Du willst mir allen Ernstes erzählen, du wüsstest nichts zum Hintergrund dieses Angreifers auf eben jenem Gebiet, das deiner Obhut unterstellt ist? Wie armselig dieser Versuch doch ist, Sebastian! Wir wissen es beide besser! Du bist nicht umsonst in der Position, in der du dich befindest. Deine mentalen Fähigkeiten haben mich von jeher beeindruckt und tun dies noch immer, das weißt du."
Das Gesicht des jüngeren Vampirs verdüsterte sich bei diesem zweischneidigen Kompliment schlagartig - ehe er sich bewusst zu entspannen schien. Er reckte sein Kinn und ein bösartiges Funkeln trat in diese kalten Augen. Er schien auf etwas zu warten, etwas, das ihn zu erheitern schien. Selbst der Meister hielt inne.
Igor!!
Der Ruf seiner Frau! Igor erschien augenblicklich an ihrer Seite - und fand sich wie erwartet im Roten Zimmer wieder. Die Luft hier war fast unerträglich warm. Das war so, seit sie regelmäßig aufheizen und für eine möglichst gleich bleibend hohe Temperatur sorgen mussten. Er konnte den Raum sowieso nicht ausstehen aber dieser Umstand, zusätzlich zum kränklichen Geruch, der hier fest hing, führte dazu, dass er nach jedem Besuch bei der Gefangenen neuerdings erst mal in sein kleines Eislager einige Meter weiter flüchtete. Ein weiterer Grund dafür übrigens, ihren Aufenthalt allmählich zu missbilligen; das ständige Hochheizen in diesem Zimmer führte auch dazu, dass die Mauern sich rundum genug erwärmt hatten, um seinen schönen Vorrat stetig zusammenschmelzen zu lassen. Bei dem Gedanken seufzte er inniglich, während er zu dem Bett herantrat.
Sein Herzilein sah zutiefst verstört zu ihm auf und er wusste, sie würde ihn gleich um etwas Unangenehmes bitten, irgendetwas, das ihm nicht zusagte.
"Halte ihn auf, Pupfi, bitte!" Sie deutete auf die Gefangene und redete eindringlich weiter. "Er ift sich dessen nicht bewusst! Du musst ihn auf daf Problem aufmerfam machen! Fu feinem eigenem Beften!"
Er blickte auf die Patientin hinab und musste seiner Frau insgeheim sofort Recht geben. Ophelia Ziegenberger litt wie ein Hund, das war so offensichtlich wie sonstwas. Sie lag bewegungslos inmitten ihrer zerwühlten Laken, die Augen weit geöffnet, panisch, mit viel zu schneller Atmung, immer wieder geschüttelt von Hustenanfällen, ohne diese jedoch richtig ausdrücken zu können, da sie scheinbar von unsichtbaren Stricken in ihrer Bewegungsfreiheit zurückgehalten wurde. Sie weinte hemmungslos. Sie blickte gehetzt ins Nichts, konnte offenbar nicht über ihre innere Sicht hinaus fokussieren. Und sie würgte zwischen den Krampfanfällen stets dieselben Worte schluchzend hervor. "...ich hatte doch gerade erst die Mauern wieder errichtet! Ich hatte mir solche Mühe gegeben, so viel Kraft dafür... ich war es wirklich nicht! Bitte! Bitte nicht der Käfig! Nicht noch mal, bitte, das überlebe ich nicht! Ich kann nicht noch mal... das... Racul? Bitte..."
Igorina ergriff ihn flehentlich am Arm und strich immer wieder über seinen Bizeps. Sie flüsterte mit fieberhafter Intensität.
"Pupfi, bitte! Ich weiß, dass du fie nicht magft. Aber fie hat Recht! Wenn daf Furunkel ef nur noch ein einzigef Mal schafft, fie in diefen Raum zu verfrachten, dann fteht fie daf nicht durch. Nicht nach den letzten Wochen! Und egal, waf du von ihr hälft: Wenn fie ftirbt, dann tut daf auch der Meifter! Erinnere dich nur an unseren Pflockversuch damalf! Willft du daf?"
Er schüttelte genervt den Kopf.
"Natürlich nicht, mein Schatz. Wer würde daf allef hier schon freiwillig aufgeben, ich bitte dich?! Wir find schließlich nicht ohne Grund fo lange bei ihm geblieben!"
Sie lächelte flüchtig und nickte erleichtert.
"Ich bin froh, dass du daf auch fo fiehst, wirklich. Dann eile dich! Wenn er fo weitermacht, bricht ihr Kreislauf gleich fufammen und ich weiß nicht, wie weit unf daf mit ihrer Behandlung furück katapultieren würde. Schnell!"
Er seufzte ein weiteres Mal ergeben - und wechselte zurück in die oberen Etagen. Und mitten in Sebastians frohgemuten Monolog zu den Freuden des Lebens.
"...im Angebot, die ich bereits seit einigen Wochen observiere. Das wäre natürlich etwas kurzfristig aber nicht unmöglich. Ich vermute daher eine leicht fruchtige Note. Aber du kannst dir das ja noch überlegen, immerhin ist die Nacht noch jung und dein Temperament derz..."
Igor trat entschlossen zwischen die Vampire.
"Meifter?"
Raculs flammender Blick traf ihn mit der Wucht eines Waldbrandes. Sein Meister hatte sich definitiv noch nicht beruhigt innerhalb der letzten Minuten.
"Was willst du, Igor?"
"Es geht um die Gefangene..."
Er konnte regelrecht spüren, wie Sebastians Blick sich eisig in seinen Rücken fräste. Diese Aktion hier würde ihm garantiert irgendeine Art von kleinlicher Reaktion seitens des Assistenten einbringen. Irgendwas Fieses und Unerwartetes, nicht Nachweisbares. Aber das war es dann wohl wert. Wenn sein Herzilein darauf bestand.
Racul fiel ihm brüsk ins Wort.
"Ich habe sie im Griff!"
Er atmete tief ein und antwortete möglichst gelassen, während er sich auf die traditionelle Reaktion auf schlechte Nachrichten in Form eines Handrückschlages erster Stufe gefasst machte.
"Jaaaa, daf ift ziemlich offensichtlich, Meifter. Nur, ef ift mehr fo ein Würgegriff..."
Der Schlag war sauber und präzise ausgeführt, die Flugbahn ließ ihn routiniert an einer freien Stelle an der Wand landen, abseits von gefährlichen Ecken und Kanten und obendrein weit genug entfernt vom Abschlag, dass die Wucht des Aufschlages keine ernsthaften Schäden hervorrufen sollte. Jedenfalls fast. Racul hatte sich bei weitem nicht so gut im Griff, wie er offenbar dachte, denn obwohl alle anderen Berechnungen stimmten... das war keine erste Stufe mehr gewesen! Igor verzog das Gesicht und tastete nach einem der seitlichen Rippenbögen.
Verdammt! Das kostet wieder Zeit.
Er rappelte sich keuchend auf, trat dann aber doch wieder Verzeihung heischend vor den Herrn, um seiner Pflicht Genüge zu tun.
"Bitte Meifter, haltet inne! Die Menschenfrau schwebt in ernfter Gefahr! Fie braucht Luft fum Atmen! Die geiftige Umklammerung ift zu fest! Fie zerbricht unf! Und wir wissen, für wen daf am allerschlimmsten wäre, Herr, nicht wahr?"
Racul erstarrte, ehe er Sebastian einen tödlichen Blick zuwarf.
"Das ist es, worauf du wartest? Dass ich selber in meiner Wut versehentlich..."
Igor trat wieder beiseite, wobei er sich unauffällig die Hand in die Seite hielt.
Sebastian schlenderte zum Bett der soeben wieder erwachenden Dame. Er plauderte ungezwungen, als er ihren hilflosen Versuch, seinem Zugriff zu entkommen, ignorierte, sie grob im Nacken packte und ihr, gänzlich nebenbei und wenig prätentiös, die Erinnerungen an die letzten Minuten entnahm. Der Vorgang schien schmerzhaft zu sein, so dass sie sofort wieder in eine Ohnmacht wegsackte.
"Man wird doch wohl noch hoffen dürfen." Er setzte sich mit überschlagenen Beinen auf die Bettkante und strich mit der Hand durch das flaumige weiße Haar der Bewusstlosen, wie wenn er ein dösendes Haustier kraulen würde. "Du wolltest mir nicht glauben. Und wer bin ich schon, dir zu widersprechen, oh großartiger Meister? Aber ich war es wirklich nicht. Wer auch immer eben unser beider Abschirmung um Ophelia durchbrochen hat... er war gut! Er war emotionslos und zielgerichtet unterwegs. Und er war mir seltsam sympathisch."
Das verschlagene Grinsen des Jüngeren war ganz sicher nicht dazu angeraten, den Meister zu beruhigen. Und er setzte noch eines drauf, als er regelrecht süffisant gurrte.
"Er hat mir damit einen Gefallen getan."
Igor verspannte sich bei dem Gedanken, vielleicht noch einmal einschreiten zu müssen. Eine gebrochene Rippe war an sich nicht schlimm. Aber die Position selbiger war nicht ungefährlich, so etwas konnte schnell ins Auge gehen. Also, im übertragenen Sinne.
Racul schloss jedoch die Augen und die kleinen Strudel kochend heißer Luft in den Zimmerecken legten sich.
Sebastian registrierte die Veränderungen ebenfalls und seufzte bedauernd.
Der Meister presste seine ohnehin schmalen Lippen blutleer zusammen, ehe er sich der Idee nicht länger verweigerte.
"Ein Unbekannter von außerhalb also? Wie ist das möglich?"
Sebastian stützte seine Hände leicht hinter sich auf und lehnte sich auf seine durchgestreckten Arme zurück. Er wirkte in dieser hingegossenen Pose in seinem nachtblauen Anzug wie eine große Raubkatze. Sein Gesichtsausdruck wechselte zu verspielter Neugier.
"Das wüsste ich allerdings auch zu gerne! Ich kann es nicht sagen! Unsere geistigen Schilde waren eigentlich mehr als stabil. Natürlich leckt Ophelia immer wieder etwas hindurch, zu hundert Prozent kann man das einfach nicht unterdrücken, das weißt du. Aber die Rate war verzeihlich, der Wechsel der Schwachstellen erfolgt willkürlich, um den Standard insgesamt auf einem tolerierbaren Niveau halten zu können. Und das muss man dir lassen: Im Umgang mit ihren emotionalen Ausbrüchen hast du inzwischen ausreichend Erfahrung."
Racul unterbrach seine Wanderung durch das mit Ruß überzogene Zimmer mit einer empörten Wendung, die den weiten Umhang gegen seine Hosenbeine schlagen ließ.
Igor spürte noch immer das gefährliche Aufkochen des Zorns in seinem Herrn und Meister, selbst wenn das dem jüngeren Vampir nicht so gehen mochte. Oder wenn dieser es einfach ignorierte.
Sebastian wippte nachdenklich mit dem Fuß.
"Im Grunde bleiben nur zwei Möglichkeiten. Entweder war es ein Zufall, ein dummer Zwischenfall mit einem wandernden Geist, der sich bei weitem zu viel herausgenommen hat. Oder..."
Raculs Stimme zischte durch den stillen Raum, als er die Schlussfolgerung ergänzte.
"Oder es handelte sich um ein gezieltes Eingreifen!"
Sebastian nickte in seltsam einvernehmlichem Schweigen. Racul richtete sich hoch auf, den Blick seiner kohlschwarzen, von den drahtigen Brauen überwucherten Augen auf seinen noch immer gelassen zurückgelehnten Assistenten gerichtet.
"Die kaltblütige Dreistigkeit seiner Reaktion auf meine Abwehr hin, lässt mich zu letzterem Schluss tendieren. Er fragte Ophelia, wer sie sei, dementsprechend ist es eher unwahrscheinlich, dass er ausgerechnet sie suchte. Er könnte zufällig über diese Verbindung gestolpert sein. Überhaupt! Was soll 'ich bin ich' für eine Aussage sein? Eine humorvolle Anspielung im Kontext eines Pseudonyms? Haben wir es mit einem Scherzkeks unter den Attentätern zu tun? Kann man das überhaupt ernst nehmen?"
Der Assistent des Meisters beugte sich nun doch vor. Er stützte die Ellenbogen auf den Knien ab und legte die Hände locker vor sich ineinander, während er intensiv einen nichtssagenden Fleck auf dem nicht mehr ganz so hellen Teppich anstarrte und langsam den Kopf schüttelte.
"Ich bin mir da nicht so sicher."
Igor beobachtete schweigend und aus dem Hintergrund heraus die beiden hohen Herren. Wenn sie in dieser Weise miteinander zusammenarbeiteten, dann spürte er jedes mal so etwas wie ein nervöses Frösteln im Nacken. Diese Gelegenheiten waren extrem selten geworden und sie waren wie das Fenster zu einer weit entfernten Vergangenheit. Trotz aller Differenzen, trotz der unüberwindbar ausgehobenen Gräben, hatte es einmal instinktives Verständnis zwischen ihnen gegeben, so etwas wie gleichgeschaltete Skrupellosigkeit. Ein Akzeptieren der einvernehmlich weit gefassten Definitionen von Begriffen wie Notwendigkeit, Zweck, aufgewandte Mittel, Prioritäten, Menschlichkeit, Unauffälligkeit, Wege zum Ziel, Mitgefühl und einer Kosten-Nutzen-Kalkulation.
"Das soll Ophelia gegolten haben?" Racul hob spöttisch beide Brauen. "Nicht, dass ich deiner brillanten Kombinationen jemals überdrüssig werden würde! Aber wenn jemand es direkt auf sie abgesehen hätte, wäre dann nicht mit einem deutlich professionelleren Vorgehen zu rechnen gewesen?"
"Nicht unbedingt. Es würde zu dieser Chaotentruppe von Stadtwächtern passen."
Raculs Blick verfinsterte sich. "Von diesen ist niemand dazu imstande, sich geistig ausreichend mitzuteilen! Alles Dilettanten! Glücklicherweise! Und meinst du nicht auch, dass sie solch einen Eingriff viel früher gewagt hätten, wenn sie es vermocht hätten? All ihre lächerlich mickrigen Aktionen im Anschluss an Ophelias Verschwinden... wenn sie jemanden unter sich gehabt hätten, der aus seinem kleinen Kosmos herausgreifen und nach ihr hätte tasten können... sie hätten doch keine Sekunde damit gezögert, es zu wagen, oder?"
Sebastian saß noch immer unbewegt auf der Bettkante. Sein konzentriertes Nachdenken füllte den Raum nach und nach mit einer intensiven Atmosphäre.
"Ja, das stimmt schon. Aber..."
"Das Wachhaus steht doch noch unter Beobachtung?"
"Leidlich. Es kostet uns eine schöne Stange Geld, solch ein unübersichtliches Objekt über Monate hinweg im Blick zu behalten. Ich hatte erst vor einigen Monaten damit begonnen, die Intervalle zu kürzen. Letzter Stand der Dinge waren drei Beobachtungsposten für zwei Tage die Woche, abwechselnd angesetzt auf ihren Verlobten, die von Nachtschatten und den Kommandeur. Dabei kam nichts Außergewöhnliches zu Tage. Die Igorina hatte ich nach deinem Besuch bei ihr vollständig aus der Liste genommen."
"Ich wüsste zwar nicht, wie es möglich sein sollte, dass dieser erbärmliche Haufen in einen Angriff auf mich verwickelt wäre... aber nur um sicher zu gehen: Belege wieder alle Schichten! Ich will es wissen, wenn bei denen auch nur der Kaffeedämon hustet!" Sebastian blickte verschlagen auf und Igor ahnte sofort, was als nächstes kommen würde. Er rief seine Frau vorsichtshalber gleich an seine Seite, weil sie es ihm verübeln würde, wenn er sie nicht rechtzeitig informierte.
Igorina tauchte neben ihm auf und er nickte sachte in Richtung der Diskutierenden, als sie ihn fragend ansah. Sie folgte seinem Deuten mit dem Blick und verkrampfte sich schlagartig, als sie gerade noch so seine Frage mitbekam.
"Was ist mit der Igorina, Herr? Wie sollen wir mit ihr verfahren, wenn sie das nächste Mal auftaucht? Sie gehört zu ihnen dazu, ganz gleich, wie sehr sie Gefügigkeit beteuert. Meiner Meinung nach ein unnötiges Risiko."
Igorina wollte schon Luft holen und dazwischen gehen, doch er hatte bereits genug gesehen von der vorherrschenden Grundstimmung des Herrn an diesem Abend, dass er sie nicht in der Frontlinie wissen wollte. Das würde er für sie übernehmen, er wusste ohnehin, was ihr auf dem Herzen lag. Er drückte kurz ihre Hand und trat dann entschlossen vor.
"Meifter, bitte geftattet mir den Hinweis. Die Eine mag zwar lästig fein, doch fie könnte ebenfalls noch von Nutzen fein. Fie hat einen heilenden Einfluss auf die Gefangene und..."
Weiter kam er nicht, als ihn ein weiterer Schlag traf. Ohne Frage, eine Kategorie zwei, fast schon auf der Grenze zu drei, eigentlich für wirklich schwerwiegende Fehler vorbehalten. Diesmal ging er direkt vor dem Meister zu Boden.
"Ich hatte nicht nach deiner Meinung gefragt, nutzloser Lakai."
Sein Kopf dröhnte und er brauchte einen Moment, um seinen Blick blinzelnd zu klären. Igorina war an seine Seite geeilt und untersuchte bereits mit ernstem Blick sein Auge. Er konnte sehen, wie sich tief in ihr eine wütende Frustration aufbaute, mit der er sich an der Stelle des Meisters lieber nicht angelegt hätte. Er hielt für einen entscheidenden Augenblick ihre Hand fest, bis er sich sicher war, dass sie sich im Griff haben und nicht kontern würde. Es war richtig gewesen, ihr zuvorzukommen. Und sie verstand, was er - trotz aller Hochachtung für ihre trotzige Dickköpfigkeit - nun von ihr erwartete.
Von seiner Position auf dem Boden aus, konnte er über ihre Schulter hinweg direkt in das triumphierende Gesicht Sebastians sehen.
Es hatte keinen Sinn, gegen gleich zwei von ihnen zu argumentieren. Es würde andere Möglichkeiten geben. Und sie war wirklich gut darin, solche Umwege zu finden und diese hartnäckig zu verfolgen, wenn es ihr darauf ankam. Sie biss die Zähne zusammen und nickte ihm unmerklich zu.
Die raspelnde Stimme des Meisters kratzte gehörig an seinen Nerven, als dieser unangemessen hochmütig auf ihn hinab sah und ihn anfuhr.
"Wozu seid ihr beiden überhaupt noch gut, wenn ihr es nicht mal hinbekommt, eine einfache Menschenfrau ohne fremde Hilfe am Leben zu halten? Hattet ihr mir nicht versichert, dass ihr das wieder hinbekommen würdet? Und jetzt bettelt ihr um die Hilfe einer Abtrünnigen? Wie tief muss man sinken!"
Igorinas Augen schossen regelrecht giftige Pfeile bei den Worten, doch er hielt den Blick seiner Frau fest auf sich gerichtet, indem er ihr mit dem seinen die unerschütterliche Liebe zu jedem einzelnen ihrer trotzigen Gedanken übermittelte. Sie hielt sich so tapfer!
Racul fuhr ungeachtet des emotionalen Aufruhrs, den er verursachte, fort. "Ich bin ihre Schwäche leid! Bringt sie endlich wieder auf die Beine! So schnell wie möglich! Wenn sie nicht isst, dann zwingt sie eben dazu! Wenn sie nicht trinkt, dann bindet sie an ihrem Bett fest und führt ihr die Flüssigkeit gewaltsam zu! Habe ich mich klar genug ausgedrückt?"
Er machte es seinem Herzilein vor und sie überwand ihren Widerwillen mit kaum merklicher Verzögerung, so dass ihre Stimmen nahezu synchron erklangen.
"Jawohl, Meifter!"
Der alte Vampir verlor sie sofort aus seinem Fokus und wandte sich seinem Gehilfen zu. "Die Abwehrmaßnahmen rund um das Haus müssen erneuert werden! Kümmere dich darum! Ebenso wie die Fallen im Labyrinth."
"Selbstverständlich. Ich werde wieder diesen schrecklich verpickelten Zauberer aus der Gegend um den Drachenlandeplatz nutzen, wenn das genehm ist? Er bekommt den nötigen Spruch recht ordentlich hin, auch ohne den offiziellen Abschluss seiner zuständigen Institution. Sein stundenweises Verschwinden fällt bei dem ohnehin dramatisch unregelmäßigen Lebenswandel, den er führt, nicht auf. Und er ist sehr leichtgängig zu handhaben."
"Ich habe da keine Präferenzen. Handhabe diese ganze lästige Angelegenheit, wie es dir beliebt."
Igorina half ihm unauffällig auf und sie zogen sich in den Hintergrund zurück. Was ihn nicht davon abhielt, das gierige Funkeln in Sebastians Augen zu bemerken. Seinen Schmerzen im Gesicht und im Rücken gesellte sich ein unguter Druck im Magen hinzu.
Ein Fehler! Das war ein Fehler des Meisters in der Formulierung seiner Anweisungen! Das hätte er so nicht sagen dürfen! Ist es ihm nicht aufgefallen? Soll ich ihn darauf ansprechen? Dann aber spürte er den Schmerz in der Seite, erinnerte sich an die gebrochene Rippe und sah, wie seine Frau mit fast verbittertem Gesichtsausdruck in ihren Kleidern wühlte, um eine Salbe für ihn zutage zu fördern. Sie war tatsächlich ebenfalls zu abgelenkt gewesen, um den Vorfall mitzubekommen!
Er beschied für sich, dass es schon nicht schaden würde, Sebastian für einen gewissen Ausgleich im Einstecken und Austeilen sorgen zu lassen. Wenn der schon zu sonst nichts gut war!
Sebastian senkte kurz den Blick und verkniff sich das selbstzufriedene Lächeln, ehe er mit aalglattem Selbstverständnis auf eine weitere offene Frage zurückkam - und damit tatsächlich sie beide zurück in den gefährlichen Mittelpunkt der Aufmerksamkeit ihres Meisters zerrte! Er grinste ihnen hämisch zu.
"Ich nehme an, dass dann jetzt der richtige Zeitpunkt dafür wäre, sich auch endgültig auf den Umgang mit einer anderen, angrenzenden Problematik festzulegen, Herr. Du bist gut darin, sie abzuschirmen. Ohne Frage. Aber du bist darin weit über das zumutbare Ausmaß hinaus gefordert. Und das nicht erst seit gestern oder heute Nacht! Es sollte einen Plan B geben."
Raculs erboster Blick richtete sich sengend auf sie beide und er nickte, neuerlich in seiner Wut befeuert. "Da hast du allerdings Recht, Sebastian. Teemischung Nummer 42. Meine Geduld wurde lange genug strapaziert! Also? Ich hatte euch Zeit dafür eingeräumt gehabt, die Herausforderung zu meistern. Habt ihr eine Alternative anzubieten? Oder seid ihr auch in diesem Fall eine nutzlose Enttäuschung? Wie lautet eure Lösung?"
Igor hätte den grinsenden Diener am liebsten an Ort und Stelle gepfählt. Das hatte ja nicht lange gedauert, da hatte er seine kleinliche Retourkutsche, das zu erwartende Fiese, nicht Nachweisbare! Sebastian wusste nur zu gut, dass es ihnen unmöglich war, diesen Wunsch des Herrn zu erfüllen! Er schüttelte den Kopf und setzte zu einer Erklärung an.
"Wie wir bereitf zu erläutern verfuchten, Herr... der Tee, den die Hexe kombiniert, befteht nicht nur auf Kräutern oder anderen pflanzlichen Extrakten, die wir nachahmen könnten, fie fetzt bei ihrer Arbeit an den Mischungen auch ihr magischef Talent mit ein und..."
Eine Sturmböe fauchte durch das ohnehin schon mitgenommene Zimmer und für eine Sekunde ging Igor der frustrierte Gedanke durch den Kopf, dass sie ewig dafür brauchen würden, in den Antiquitätenläden der Stadt einen passenden Ersatz für die Vase zu finden, die dort auf dem zierlichen Beistelltischchen eben zu Bruch gegangen war. Zusätzlich zu dem Zeitaufwand, den es bedeuten würde, den Kaminkehrricht aus den ehemals weißen Stoffen und von den golden verzierten Dekoelementen der Einrichtung zu bekommen!
"Genug! Ich will keine weiteren Ausreden mehr hören! Ihr bekommt es nicht hin? Dann ist die Lösung wohl offensichtlich? Sebastian!"
"Ja, Herr?"
"Ich will die Hexe!"
Igor fühlte, wie sein Herz einen Schlag aussetzte. Und aus den Augenwinkeln konnte er erkennen, dass es seiner Frau ähnlich ging.
Sebastian ließ sich Zeit mit seiner Antwort, dann jedoch lächelte er langsam und genüsslich. "Ich nehme an, du möchtest sie nicht des eher kurzweiligen Vergnügens wegen bei uns beherbergt wissen, sondern eher als dauerhaften Gast?"
Racul war ganz und gar in seine eigenen Gedanken vertieft und achtete nicht weiter auf seine Umgebung. Sein verbissener Gesichtsausdruck kündete von Ungeduld und Groll, von steigendem Unmut und einer tiefen Unruhe, die nach Aktivismus lechzte.
"Exakt! Dieser Angriff mag nicht der letzte gewesen sein und wer auch immer dahinter steckt, soll mich nicht ein weiteres Mal unvorbereitet vorfinden! Es gibt diesen einfachen Weg, sie zum Schweigen zu bekommen, also wird dieser Weg ab jetzt konsequent verfolgt werden! Ich verlasse mich auf dich, Sebastian. Bringe diese Hexe her und bring' sie zum Kooperieren, wie ist mir gleichgültig!"
Sebastian erhob sich mit gut gelaunter Eleganz vom Bettrand und funkelte sie übermütig an.
"Ihr habt es gehört!"
Oh ja, das hatten sie! Selbst Igorina waren diesmal die selbstmörderisch weiten Lücken in den Formulierungen des Meisters aufgefallen und ihre Hand hatte sich in die seine geschlichen, hielt diese krampfhaft umklammert.
Er hat ihm quasi unbemerkt einen Freibrief erteilt. Sobald Sebastian es darauf anlegen wird, könnte er nahezu jedwede Handlung irgendwie damit in Zusammenhang bringen und dadurch rechtfertigen! Er wird das nicht sofort machen, natürlich. Er wird strategisch vorgehen, sich besondere Ideen aufheben, sich von unbemerkten Gelegenheiten zu größeren 'Ausrutschern' vorarbeiten.
Der verhasste Assistent trat einen Schritt auf sie zu und säuselte mit kleinen schubsenden Handbewegungen: "Husch-husch, emsige kleine Igors! Richtet das Blaue Zimmer her, wir bekommen Besuch!"

Igorina hielt ihm den kleinen Handspiegel vor und er betrachtete sich zufrieden in diesem. Sie war eine Künstlerin, was so etwas anging. Aus einem spontanen Impuls heraus gab er ihr einen zärtlichen Kuss auf ihre Nasenspitze und strich ihr eine der ergrauten Strähnen vorsichtig in den strengen Dutt zurück. Sie zögerte überrascht, hielt fragend inne.
"Waf ift?"
"Nichts. Nur... fei bitte vorfichtig, ja?"
Sie nickte. "Natürlich."
Er wusste um ihre Antwort, bevor sie diese gab, doch er musste sichergehen. "Du gehft zu ihr, oder?"
Igorinas Ausdruck wurde unbarmherzig, als sie erneut nickte. "Fie braucht mich jetzt mehr denn je. Er wird nur darauf warten, dass fie ohne Aufsicht in ihrem Zimmer ift und er allein zu ihr könnte. Und diefef Rifiko werde ich nicht noch einmal eingehen! Folange er im Hauf ift, werde ich an ihrer Feite bleiben. Du weißt alfo, wo du mich findeft, fobald du zurück bift."
Er seufzte bedrückt. Aber wenn sie in dieser Stimmung war, dann hatte es auch keinen Sinn, ihr ins Gewissen reden zu wollen, das wusste er aus leidvoller Erfahrung. So blieb ihm nichts, als ein bangender Blick, bevor er sich auf den Weg für die außerplanmäßigen Besorgungen machte. Ein Hausgast stand an und wollte mit allerlei Kräutern versorgt sein. Die Hexe sollte aus dem Vollen schöpfen können, sobald sie sich für eine Zusammenarbeit entschied. Und dass sie das würde, daran bestand für niemanden hier ein Zweifel. Auf die eine oder andere Weise würde Sebastian sie schon dazu bringen. Er war geschickt in solchen Dingen.

23.03.2017 10: 28

Araghast Breguyar

Leise vor sich hinfluchend stieß Araghast Breguyar die Eingangstür des Wachhauses am Pseudopolisplatz auf. Büdscheh-Kürzungen in der Ausstattung! Die verdammten Sesselfurzer im Palast, die die städtischen Ausgaben verwalteten, hatten sie wohl nicht mehr alle. Nicht nur, dass der Kommandeur den halben Vormittag damit verbracht hatte, verschiedene Stellen davon zu überzeugen, dass eine anständige Ausrüstung auf zumindest halbwegs aktuellem Stand für Wächter im Einsatz überlebenswichtig war, nein, er hatte das Gefühl, dass ihm die ganze Zeit über eigentlich niemand zugehört hatte. Unwillkürlich verpasste er der Tresenklappe einen weitaus kräftigeren Schubs als nötig und stapfte die Treppen zu seinem Büro hinauf. Sollten die Federlecker im Palast doch mal in einem rostigen Brustharnisch auf Streife gehen und hoffen, dass niemand mit einer Armbrust auf sie schoss. Ganz zu schweigen davon, dass es nun keinen Umbau von zwei Zellen in je eine vollständig troll- und vampirsichere Untersuchungshafteinheit geben würde.
Araghast ließ seine Fingerknöchel knacken. Wie viel der verdammte Inspektor wohl damit zu tun hatte? Wie oft musste Rogi den schnieken Herrn Rach Flanellfuß noch auf Streife jagen oder Tresen- und Zellendienst schieben lassen bis er einsah, dass sie so nicht arbeiten konnten? Vielleicht sollte er sich den Kerl mal vorknöpfen. Schaden konnte es bestimmt nicht.
Immerhin gab es heute Nachmittag noch etwas, wo er seinen Bürokratiefrust in körperliche Bewegung umsetzen konnte. Das zweimal wöchentlich anstehende FROG-Training, das dafür sorgte, dass die Truppe auch in Zeiten mangelnder Krisensituationen nicht einrostete, war wieder dran. Der Kommandeur gab der lästigen Stadtverwaltung einen letzten mentalen Tritt und begann mit Überlegungen zu den heutigen Übungen. Es war dringend mal wieder Zeit für eine Runde Hindernislauf. Die Hauswand in der Willkommensseife, die er neulich auf dem Heimweg genauer in Augenschein genommen hatte und zur Einschätzung des Schwierigkeitsgrades schon einmal zur Probe geklettert war, war sehr verlockend. Kanndra und Valdimier als altgediente FROGs würden es sicherlich problemlos schaffen, aber bei allen anderen war er sich nicht so sicher. Aber waren genau solche Herausforderungen nicht genau der Grund, weshalb die FROGs regelmäßig trainierten? Sie mussten jederzeit für alle Eventualitäten vorbereitet sein.
In Gedanken über Hindernisparcours versunken schloss Araghast sein Büro auf. Ja, die Wand in der Willkommensseife sollte er wirklich in seinen Trainingsplan aufnehmen. Und vielleicht sollten sie auch mal wieder eine Übungseinheit zum Thema Fallen durchführen. So ein Zwischenfall wie neulich mit Tyros y Graco und dem Stolperdraht durfte auf keinen Fall noch einmal passieren.
Kaum dass er die Bürotür hinter sich geschlossen hatte, schwang die Rohrpostklappe auf und Reggies süffisantes Grinsen ließ nur einen Schluss zu. Irgendwo hatte es im Laufe der Nacht oder des bisherigen Vormittags mal wieder Ärger gegeben. Araghast seufzte innerlich. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.
"He, Schäff! Der dicke Wannenplantscher hat gesagt, ich soll dir das hier geben!" Schwungvoll feuerte der Rohrpostdämon eine ziemlich zerknitterte Nachricht in Richtung Schreibtisch.
"Ist ne Beschwerde wegen..." sein Gesicht verzerrte sich vor Anstrengung als er die komplizierten Worte rekapitulierte. "Nichteinhaltung der abgesprochenen Nutzungszeiträume der Badezuber."
"Der badet doch oft und lange genug." brummte der Kommandeur genervt. "Da soll er sich nicht so anstellen."
"Auch wenn in seinem Lieblingszuber ne Leiche ausgeblutet wurde?" Die Miene des Meldedämons war die Unschuld in Person.
Araghast seufzte ein weiteres Mal. Erst die Herumstreiterei mit den knauserigen Centfuchsern im Palast und nun so etwas. Trug er ein großes Schild um den Hals: 'Kommandeur der Stadtwache. Bitte Nerven bei Bedarf als Fußabtreter für jeden Mist benutzen'?
"Na gut, ich schau mir das mal an. Man sollte meinen, dass eine voll ausgestattete Gerichtsmedizin reichen sollte. Wenn die SuSen mehr Platz brauchen, sollen sie es verdammt noch mal sagen," knurrte er.
"Es waren nicht die Leichenschnippler." flötete Reggie.
"Aha. Und wer dann?" Araghast ließ sich in seinen Schreibtischstuhl fallen und griff nach Sillybos' Nachricht.
"Sagen wir es so. Chief-Korporal von Nachtschatten bevorzugt neuerdings frische Lebensmittel, wenn du verstehst was ich meine, Schäff." Verschwörerisch tippte sich Reggie an seine lange Nase.
Araghast schnaubte verächtlich. "Hat Mamsell Piepenstengel euch wieder vergorene Essensreste in die Röhren gekippt?" So nützlich sie gelegentlich waren, es gab Momente, in denen er die Rohrpostdämonen am liebsten durch ein moderneres System ausgetauscht hätte. Noch etwas, was er mit den Büdschehkürzungen vergessen konnte. "Komm schon, Reggie. Erzähl mir zur Abwechslung mal was Wahres."
"Aber es ist wahr." Reggie machte eine entwaffnende Geste. "Ich habe es genau gesehen. Hübsches, zartes Kerlchen haben sie ihr da angeschleppt. Schmeckte bestimmt gut. Der Saugerrekrut am Tresen war gar schön sauer, dass er nichts abgekriegt hat."
Araghast reichte es. "Du spinnst doch," schnappte er. "Rutsch in deine Röhre und geh jemand anderem auf den Keks!"
Reggie salutierte zackig. "Zu Befehl, Schäff! Aber frag den ollen Inspektor, der hat den Imbiss überhaupt erst angeschleppt. Ach ja, und dein kleines Wölfchen und später die SuSi-Hexe waren auch dabei. Brauchten wohl profäschionälle Hilfe um den Rest Blut rauszukriegen."
Mit diesen Worten hechtete Reggie kopfüber in die Röhre und die Klappe schlug hinter ihm zu.
Araghast massierte sich die Schläfen. Dass die Rohrpostdämonen wilde Gerüchte durch das gesamte Röhrensystem verbreiteten gehörte zum Alltag im Wachhaus am Pseudopolisplatz. Die Kunst bestand darin herauszufinden, wo der wahre Kern der wilden Schauergeschichten lag.
Chief-Korporal Mina von Nachtschatten saugte also angeblich in ihrem Büro Jünglinge aus und extrahierte dann die Reste im Badezuber als wieder aufwärmbares Frühstück. So ein Schwachsinn. Die stellvertretende Abteilungsleiterin von RUM war eine hart arbeitende und zuverlässige Wächterin, von der sich so mancher eine Scheibe abschneiden konnte. Also was hatte Reggie tatsächlich gesehen und anschließend sein Seemannsgarn daraus gesponnen?
Der Kommandeur faltete Sillybos' Beschwerdebrief auseinander und überflog ihn. In wohl gewählten, aber deutlichen Worten beschwerte sich der Hauptfeldwebel über das unangemeldete Ertränken eines vollständig bekleideten Zivilisten in seinem Lieblingsbadezuber, verantwortet durch Chief-Korporal von Nachtschatten, Feldwebel Schneyderin, Gefreite Maior und Gefreiter Flanellfuß. Letzter hatte ihn geradezu hysterisch wieder aus dem Waschraum geworfen. Eine Frechheit war das. Er hatte ein Anrecht auf seine eingetragenen Badezeiten! Und der vampirische Rekrut am Tresen hatte ihm auch nicht richtig zugehört, als er seine Beschwerde vortragen wollte, sondern einfach nur dagesessen und Löcher in die Luft gestarrt!
Mit einem resignierten Seufzer öffnete Araghast die unterste Schreibtischschublade und gönnte sich einen großen Schluck Rum für seine Nerven. Es wurde eindeutig wieder mal einer dieser Tage.
"Erstens, es ist nicht dein Badezuber," erklärte er dem Brief. "Zweitens, kann nicht mal ein paar Tage am Stück keiner in diesem verfluchten Wachhaus irgendwelchen Unsinn anstellen?"
Gefreite Maior und Gefreiter Flanellfuß Mit einem energischen Tritt schloss der Kommandeur die unterste Schreibtischschublade. Nyria hatte ihm erst vor einigen Tagen berichtet, dass sie dabei war, dem Inspektor mal gründlich auf den Zahn zu fühlen. Dabei hatte sie herausgefunden, dass Parsival Ascher sehr endgültige Bekanntschaft mit dem Ende seiner Existenz gemacht hatte. Die Nachricht vom Tod des vampirischen Familienoberhaupts hatte bei Araghast ein tief sitzendes Gefühl der Befriedigung ausgelöst. Jeder tote Vampir war ein guter Vampir.
Aber was zum Geier hatte Nyria mit dem Inspektor, Mina von Nachtschatten und Magane Schneyderin mit einem Zivilisten in einem Badezuber zu schaffen? Soweit er wusste, hatte sie zuletzt an einem Fall verschwundener Getränkelieferungen für diverse Tavernen in der Stadt gearbeitet. Hatte sie dringend einen potentiellen Zeugen mit kaltem Wasser ausnüchtern müssen? Aber wie passten da die übrigen Beteiligten ins Bild, von denen keiner zu den SEALS gehörte, denen der Fall anvertraut war? Araghast stemmte sich aus seinem Sessel hoch. Er würde einfach nachfragen und Sillybos und seine alberne Beschwerde konnten sich mal ausflöhen. Zumindest konnte er bei seiner Kusine sicher sein, keine Ausflüchte oder haltlosen Gerüchte aufgetischt zu bekommen.

In Büro 105 war keine Spur von Nyria zu finden. Lediglich Lance-Korporal Damien G. Bleicht lungerte leichenblass mit rot geränderten Augen in einer dunklen Ecke herum.
"Kein Ahnung wo sie steckt, Sör." sagte er müde auf die Nachfrage des Kommandeurs. "Liegt allerdings'n roter Zettel auf ihrem Schreibtisch der gestern noch nich da war."
Mit einem Schulterzucken wandte sich Araghast von dem offensichtlich ziemlich verkaterten Szenekenner ab und trat an Nyrias Schreibtisch. Das knallrote Blatt Papier fiel ihm sofort ins Auge.

Falls es dringend ist - ich bin bis auf weiteres im Zellentrakt zu finden. Fragt Opal. G. Nyria Maior


stand dort in der schiefen Handschrift seiner Kusine geschrieben. Der Kommandeur runzelte die Stirn und seine in vielen Jahren Dienst geschärften Wächterinstinkte meldeten sich. Etwas ging hier vor. Ohne Damien eines weiteren Blickes zu würdigen verließ er das Büro und wandte sich in Richtung Keller.

Soweit sich Araghast erinnern konnte war der riesige Troll namens Opal der derzeit dienstälteste Rekrut der Wache. Er galt nicht gerade als schlau und neigte dazu, beim Tresendienst einzuschlafen, aber wenn man ihm einmal einen Befehl gegeben hatte, verfolgte er seine Aufgabe mit unnachgiebiger Beharrlichkeit. Dies machte ihn zum idealen Kandidaten für den Zellendienst. Potentielle Ausbrecher überlegten es sich zweimal, sich mit hunderten Kilo zu allem entschlossenem Gestein anzulegen. Falls er jemals seine Ausbildung beenden sollte, würde er sicherlich einen hervorragenden MUT-Schützen abgeben.
"Sör!" Die schaufelartige Pranke des Rekruten knallte in einem zackigen Salut gegen seine Stirn und für einen Moment schien er leicht zu schwanken.
"Steh bequem, Rekrut," sagte Araghast. "Hast du die Gefreite Nyria Maior hier irgendwo gesehen?"
Der steinerne Kopf bewegte sich bedächtig auf und ab.
"Gestern Nacht da gewesen." Seine Stimme klang wie das Grollen einer Lawine. "Hatte Zeugen für Schutzhaft. Hat gebracht in Zelle 4. Dann geholt Armbrust mit Pflock. Hat gesagt ich soll nicht reinlassen Vampir. Dann ich beide gesperrt in Zelle 4. Soll nur aufschließen wenn sie sagt."
"Das ist... interessant." Der Kommandeur runzelte die Stirn. Die ganze Angelegenheit wurde immer verworrener. Was hatte ein Vampir mit einem angeblich im Badezuber ertränkten Zivilisten zu tun? "Rekrut, gib mir sofort die Zellenschlüssel!" forderte er.
"Aber Gefreite sagen ich nur aufschließen wenn sie sagt." wiederholte der Troll stoisch.
Araghast seufzte tief und fühlte, wie sein dank der Palastbürokratie ohnehin schon ausgefranster Geduldsfaden immer dünner wurde.
"Dein Diensteifer in allen Ehren, aber ich bin zufällig der Kommandeur dieses Haufens. Und mein Befehl überstimmt jeden anderen in diesem Wachhaus. Also her mit den Schlüsseln!"
Immer noch zögerlich händigte Opal ihm den schweren Schlüsselbund aus und der Kommandeur eilte in den Zellenblock.
"Nyria?" rief er. "Bist du hier?"
"Wer ist da?" kam es in scharfem Tonfall aus Zelle 4.
Araghast trat an das vergitterte Fenster heran und spähte in die Zelle. Etwas rastete geräuschvoll ein und die Spitze eines Pflocks, der in eine Armbrust gespannt war, zeigte geradewegs auf seine Nase. Dahinter konnte er das entschlossene Gesicht seiner Kusine erkennen. Ihr rechter Zeigefinger lag auf dem Abzug.
"Ähem." Irritiert trat der Kommandeur einen Schritt zurück. "Du weißt schon noch wer ich bin, oder?"
"Tut mir leid, Bregs." Ein knirschendes Geräusch ertönte hinter der Tür. "Aber ich musste sicher gehen."
"Darf ich reinkommen oder werde ich dann erschossen?" erkundigte sich Araghast bissig. Etwas stimmte hier absolut nicht. Nyria neigte normalerweise nicht zu einer so starken Paranoia, dass sie andere Leute unmotiviert mit Armbrüsten bedrohte.
"Komm rein." Die Werwölfin klang müde. "Ich hab dir eh was zu erzählen."
"Na das will ich mal stark hoffen." Der Kommandeur suchte den Schlüssel von Zelle 4 heraus. "Reggie tratscht mal wieder abstruses Zeug in der Gegend rum und dazu kam noch ein Beschwerdebrief über unrechtmäßige Badezubernutzung von Sillybos. Und du sollst in der ganzen Sache keine unwichtige Rolle spielen." Er schob den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum.
Der Anblick der sich ihm bot als er die Tür aufzog hätte ihm beinahe den Schlüsselbund aus der Hand gleiten lassen. Nyria saß auf einem Schemel direkt neben der Tür, die geladene und mittlerweile wieder gesicherte Pflockarmbrust gegen ihr Knie gelehnt. Auf der Pritsche unter mehreren Decken lag Raistan Quetschkorn. Er war wesentlich blasser als üblich und ein frischer Verband zierte seinen rechten Unterarm. Seine grauen Augen waren jedoch klar und wach.
"Das muss ja eine dolle Geschichte sein," brachte der Kommandeur hervor. "Was habt ihr beiden dieses Mal angestellt?"
Nyria grinste schief. "Bregs, es sieht ganz so aus, als ob du die Wette um den Verbleib von Oberfeldwebel Ophelia Ziegenberger verloren hast." erklärte sie und ihre Finger spielten mit dem Griff der Armbrust.
"Ophelia Ziegenberger." Araghast trat in die Zelle, schloss die Tür hinter sich und ließ sich am Fußende der Pritsche nieder. Dieser Name war so ziemlich das letzte, was er erwartet hatte. "Was hat sie mit dem Chaos gestern Nacht im Wachhaus zu tun?"
"Alles." antwortete ihm Nyria. "Wir haben nämlich herausgefunden, was mit ihr passiert ist."
"Sie wurde von einem Vampir entführt." Raistans Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
"Aber wie..." Araghast klemmte sich eine widerspenstige Haarsträhne hinter das Ohr und atmete tief durch. Fast automatisch wanderte seine Hand zur Innentasche seiner Uniformjacke und zog den Flachmann hervor. Er ahnte, dass er für das, was kommen mochte, eine kleine Stärkung gebrauchen konnte.
"Auch einen Schluck?" bot er Nyria seinen Seelentröster an, nachdem er getrunken hatte. Diese nahm dankbar an und begann zu erzählen. Wie sie eine abgeschlossene Wette nicht einfach so passiv dahinplätschern lassen wollte, begonnen hatte Inspektor Flanellfuß auszuquetschen und dabei festgestellt hatte, dass der arme Kerl fürchterlich unter dem Verschwinden des Oberfeldwebels litt. Wie sie Mitleid mit ihm bekommen hatte und ihr eingefallen war, dass sich mit Raistans Daten der Untersuchung von Ophelia Ziegenbergers Kopf vielleicht der Vampir mit der offenen Verbindung noch einmal kräftig mental treten ließ. Wie ihnen die Idee immer besser gefiel und sie schließlich ein zweites Experiment angezettelt hatten, dem auch Inspektor Flanellfuß beigewohnt hatte.
Araghast lauschte begierig und je weiter die Erzählung fortschritt, desto größer wurde der Kloß in seinem Magen. Als Raistan mit brüchiger Stimme berichtete, was er in der Verbindung gesehen und gefühlt hatte, war dem Kommandeur, als hätte ihm jemand ein Brett vor den Kopf geschlagen. Nur noch mit halbem Ohr hörte er zu, wie ein Eimer Wasser im Waschraum den jungen Zauberer wieder zu Bewusstsein gebracht hatte.
"Verdammt noch mal!" machte er seiner in ihm aufsteigenden Wut über sich selbst Luft als die beiden ihre Erzählung beendet hatten.
"Was ist los?" Ein smaragdgrünes und ein stahlgraues Augenpaar musterten ihn erstaunt.
Araghast bediente sich gründlich an seinem Flachmann. Noch vor einigen Minuten hatte er nicht geglaubt, dass der Tag noch schlimmer hätte werden können. Nun saß er hier im Zellentrakt und musste sich von zwei seiner engsten Vertrauten unter die Nase reiben lassen, dass er versagt hatte. Und das schlimmste war, dass sie völlig recht hatten. Er hatte, wie ihm mit jeder verstrichenen Minute bewusster wurde, im Fall Ziegenberger auf der ganzen Linie versagt.
"Ich war so voreingenommen," sagte er wie zu sich selbst. "Sie hatte mich so oft so geschickt angelogen und mit Halbwahrheiten abgespeist, dass ich hinter allem was sie sagte und tat nur noch eine weitere Lüge gesehen habe. Gerade ich, der es als Püschologe eigentlich hätte besser wissen müssen! Und jetzt ist sie schon seit über einem Jahr die Gefangene von irgendeinem sieben-plus-eins mal verfluchten Blutsauger und wird von ihm gefoltert und in Käfige gesteckt! Was hätte man in dieser Zeit alles unternehmen können um sie zu befreien!"
Frustriert schlug er mit der Faust gegen die Zellenwand. Wie hatte er bloß so verblendet sein können?
Raistans Hand legte sich auf seinen Arm.
"Ich bin mindestens genauso schuld." flüsterte er. "Ich hätte auch viel eher darauf kommen können, die offene Verbindung auszuprobieren."
"Können wir uns darauf einigen, dass wir es alle gemeinsam verbockt haben?" warf Nyria ein. "Jeder, der Einsicht in die Akte und den ersten Versuchsbericht hatte, hätte schon längst drauf kommen können. Aber jetzt wissen wir Bescheid, dass sie noch am Leben ist. Und besser jetzt als nie."
Araghast nickte langsam. So wütend er auch auf sich selbst war, es hatte am Ende keinen Zweck, um verschütteten Rum zu trauern.
"Hast du irgendwelche Anhaltspunkte gefunden, wo sie gefangen gehalten wird?" wandte er sich an Raistan.
Der junge Zauberer schüttelte stumm den Kopf. Araghast konnte sehen, dass ihn das Sprechen mitgenommen hatte.
"Mina von Nachtschatten hat in einer halben Stunde ein Treffen einberufen." erklärte Nyria. "Wie es aussieht, waren ein paar andere Wächter im letzten Jahr auch nicht ganz untätig bei der Suche nach dem Oberfeldwebel. Wir werden mal alle Ergebnisse zusammenlegen und sehen, was dabei herauskommt. Vielleicht hilft es ja weiter."
"Gute Idee." Araghast steckte seinen Flachmann ein und stand auf. "Ihr geht zu dem Treffen. Ich besorge derweil ein ordentliches Frühstück. Und Raistan, danach kommst du bei mir oben auf die Püscho-Kautsch. Die Zellen sind wirklich kein Ort um sich zu erholen und wehe dem Vampir der es wagt, in mein Büro einzudringen!"
Der Kommandeur biss die Zähne zusammen. Ein uralter Vampir also. Verfluchte Saugerbrut! Wie konnte man es wohl am besten einrichten, dass es bei einem Einsatz zu Ophelias Befreiung zu einem versehentlichen Kollateralschaden kam?

24.03.2017 21: 41

Magane

Magane saß in ihrem Büro und dachte über der Zwischenfall der vergangenen Nacht nach, natürlich war sie ausgesprochen froh, dass nun endlich einmal etwas passierte, aber trotz allem hatte sie ein äußerst ungutes Gefühl bei dem Gedanken an die brachiale Vorgehensweise des Zauberers. Sie konnte ausgesprochen gut verstehen, dass sich die Gefreite mit dem geschwächten Zauberer hatte in einer Zelle einschließen lassen, war sich aber bei weitem nicht sicher, dass es dort sicher genug war und das war auch keine Lösung die für die anderen Gefährdeten in Betracht kam. Es konnte sich schwerlich das ganze Team in Schutzhaft begeben, zumal einige ja auch noch Familien hatten, die entweder nichts mitbekommen sollten oder nicht in Gefahr geraten sollten. Für sich selbst schätzte Mag die Gefahr als nicht besonders groß ein, sie hatte nicht direkt Kontakt zu dem mächtigen alten Vampir gesucht, war nicht in seinen Kopf eingedrungen, hatte keinen Alleingang unternommen - auch wenn das aus irgendeinem Grund gleich mehrere Kollegen dachten - sie hatte nur gependelt. Eine sanfte harmlose Methode, die für die andere Seite nicht spürbar war. Gut, sie hatte auch auf Einblicke verzichten müsse, aber nach dem was der junge Zauberer in der Nacht gesagt hatte konnte sie darauf auch gut verzichten. Sie betrachtete das Taschentuch in ihrer Hand, es hatte alle Informationen preisgegeben, die es hatte preisgeben können, das konnte sie deutlich spüren, es war sozusagen ausgelesen. Und ganz im Gegensatz zu einem guten Buch hatte es in diesem Fall überhaupt keinen Sinn einfach wieder von vorne anzufangen. Demnach war es an der Zeit es zurückzugeben, idealerweise auf dem gleichen Weg auf dem sie es geliehen hatte. Vielleicht hatte Rogi ja die Abwesenheit des Erinnerungsstückes noch nicht bemerkt, dann wäre es möglich aus dem Umstand eine Kollegin und Freundin bestohlen zu haben noch unbeschadet und ohne Konfrontation herauszukommen. Magane griff sich die in ihr Samtetui eingewickelten Dietriche, schloss die Hand um das Taschentuch, stand auf und verließ ihr Büro.
Im Keller angekommen klopfte sie, wie auch schon vor ein paar Tagen, zur Absicherung an die Tür von Rogis Zelle, allerdings wurde die Tür diesmal von innen geöffnet, das war's dann wohl mit unbeschadet herauskommen, Magane schob so schnell wie möglich die Dietriche in ihre Kitteltasche.
Rogi sah müde aus, aber das traf wohl auf die meisten Wächter nach einer langen Nacht im Dienst zu und schließlich konnte sich nicht jeder künstlich fit halten. Eine verräterische Stimme in ihrem Kopf, die vermutlich von ihrem schlechten Gewissen stammte, aber leider nach ihrer Tante klang, erinnerte sie daran dass auch sie das nicht unbegrenzt konnte. Die Igorina bot ihr mit einer fahrigen Geste den Besucherstuzhl an und setzte sich dann ebenfalls wieder hin, sie war offenbar mit der Bearbeitung von Akten beschäftigt gewesen. Magane legte das Taschentuch vor der Kollegin auf den Schreibtisch und bedankte sich. Rogi stand augenblicklich auf, nahm das Taschentuch und ging zum Apothekerschrank, wo sie es an seinen angestammten Platz legte und mit der Notiz zurück kam.
"Hatteft du Erfolg?" Der Tonfall in dem sie fragte war sehr zurückhaltend, beinahe ängstlich, dabei hätte sie das doch eigentlich aufregen müssen. Magane konnte diese Zurückhaltung nicht nachvollziehen, aber sie hatte ja auch bei den anderen nicht verstehen können, dass sich keiner von ihrem Optimismus hatte anstecken lassen, also antwortete sie vorsichtig: "Ich habe einen hinreichenden Verdacht wo sie vielleicht sein könnte."
"Und wo, ich meine, hast du eine Adresse?" Obwohl sich Rogi inzwischen wieder gesetzt hatte war sie komplett in Bewegung, als könne sie keine Sekunde stillhalten, die Füße wippten, die Hände wurden geknetet, nur eins war sicher, diese Nervosität rührte nicht von Freude her.
"Ich konnte ihren Aufenthaltsort auf ein paar Häuserblocks im Nilpferd eingrenzen", Rogis Unruhe war kaum auszuhalten, sie wirkte beinahe gehetzt, ihre Augen zuckten immer wieder zur Tür, als befürchtete sie es käme jemand... oder wollte sie dringend weg? Darüber hinaus folgten die wippenden Füße unterschiedlichen Rhythmen, Mag wurde klar, wenn dieses Gespräch länger dauerte würde sie allein von den unterbewussten Bewegungen der Kollegin Kopfschmerzen bekommen. Aber dann änderte sich etwas, Rogi schien sich zur Ruhe zu zwingen.
"Waf ift eigentlich dran an den Gerüchten, daff hier heute Nacht jemand im Fuber ertränkt wurde? Irgendjemand hat auch was von 'ausbluten' gesagt...", ein Themenwechsel also und der war auch noch durch die Körpersprache angekündigt. Magane seufzte, ertränkt und ausgeblutet, der arme Junge... na wenigstens fragte Rogi jemanden der dabei war, so ließ sich das Gerücht vielleicht eindämmen.
"Gerüchte machen doch aus dem niedlichsten Kätzchen einen menschenfressenden Säbelzahntiger. An dem Gerücht stimmt die Zeit und der Ort, der Rest ist maßlos übertrieben", die Gerüchteküche im Wachhaus nervte Mag schon seit Jahren, alles kochte hier gleich zu einer riesigen Angelegenheit hoch.
"Alfo, waf ift heute Nacht im Fuber paffiert?" Die Ruhe war wohl nur oberflächlich, auch wenn Rogi jetzt ihre Augen damit beschäftigte streng und gleichzeitig fragend zu gucken, war die unterschwellige Unruhe immer noch zu spüren.
"Wir haben einen Bewusstlosen, der auf die üblichen Mittel nicht ansprach, geweckt."
"Wir?" Rogis Fragestil war durch die lange Zeit als Ausbilder ziemlich ausgefeilt, sie fragte trotz ihrer Nervosität so, dass man nicht anders konnte als wahrheitsgemäß zu antworten, wobei das weniger an der Wortwahl als am Tonfall und am Blick lag.
"Mina, Rach, Nyria und ich."
"Wen habt ihr geweckt?"
"So einen kleinen zerbrechlichen Zauberer, der offenbar bei einem Experiment seine körperlichen Grenzen gesprengt hat", Magane fand die Zusammenfassung selbst etwas schwach, aber andererseits war dies nicht ihre Geschichte, der kleine Zauberer sollte selbst erzählen was er wie herausgefunden hatte.
"Doch nicht etwa Raistan?"
"Ja, kann sein, dass er so heißt", eine offizielle Vorstellung, die fehlte irgendwie, aber in der Nacht wäre dazu auch kaum die Gelegenheit gewesen.
"Und was ist dabei rausgekommen?" War es ein Zeichen von Anspannung, dass die Igorina auf das traditionelle Lispeln verzichtete?
"Das wird er wahrscheinlich gleich nochmal der ganze Runde erzählen, wir treffen uns um 11 im RUM-Gemeinschaftsraum, komm doch dazu."
"Ich fürchte...", Rogi dachte einen kurzen Moment nach. Nein, das ging nicht sie musste dringend woanders hin. Sie suchte nach einer Ausrede, "das wird nicht gehen... Die Rekruten warten schon... aber ihr haltet mich auf dem Laufenden?"
"Klar, du kannst ja auch bei einem späteren Treffen dazu kommen."
"Ja, daf werde ich wohl, ich muff jetft lof", sie stand auf und deutete auf die Tür. Mag stand ebenfalls auf, sie verließen gemeinsam die Bürozelle und stiegen die Treppe hinauf. Rogi unterdrückte ihre Eile nur mit Mühe, zumindest bis sich im Erdgeschoss ihre Wege trennten.

25.03.2017 22: 21

Rogi Feinstich

Sie musste hier weg! So verlockend das Treffen auch war und so sehr sie auch wissen wollte, wie weit ihre Kollegen schon waren, Magane hatte ihr mehr als genug erzählt um ihr klar zu machen, dass die Zeit davonlief. Und sie hatte schon Mühe damit gehabt, sich vor der Hexe zu beherrschen! Das Treffen würde sie nicht durchstehen. Raistan... hatte er das Experiement wiederholt? War das ohne Ophelia möglich? Hatte HEX alle Daten gespeichert gehabt? Natürlich! Die halb lebendige Maschine war vielseitig und sie zweifelte schon lange nicht mehr daran, dass mit HEX noch vieles mehr als nur Berechnungen möglich waren. Und wenn Rach und Mina involviert waren, war es der einzig logische Schluss. Sie trieb sich weiter zur Eile an.
Sie hatte nicht mal die Zeit dazu gefunden, sich umzuziehen. Nur ihr Schal und der weite Umhang verbargen die ohnehin schon unauffällige Uniform. Die Dienstmarke hatte sie weggepackt. Trotzdem. Ihrer Verwandtschaft würde dieser Aufzug sicher nicht gefallen. Doch sie hatte jetzt keine Zeit, darauf Rücksicht zu nehmen. Wenn der junge Zauberer Erfolg hatte... Sie musste zu Ophelia und nach dem Rechten sehen. Racul musste außer sich sein und Ophelia war noch nicht bei Kräften! Die ganze Situation war zum Mäuse melken. Allein der Gedanke, dass ihre Kollegen im Wachhaus jeden Augenblick Ophelia ausfindig machen konnten und somit dem alten Vampir auf die Spur kamen...
Die Igorina blieb abrupt stehen, als ihr ein anderer Gedanke kam. Was, wenn Raistan wirklich Kontakt aufgenommen hatte und Racul genau wusste, wer ihm da schon auf den Fersen war? Sie atmete tief durch. Er hätte noch in derselben Nacht reagiert, da war sie sich sicher. Sein Besuch damals war ihr nur zu gut in Erinnerung. Dennoch... Maganes Beschreibung... die Gerichtsmedizinerin schien sehr zuversichtlich, dass sie Ophelia finden würden.
Rogi biss sich auf die Zunge. Sie hatte einen Fehler gemacht. Sie war zu sehr in die Defensive gegangen. Sie hätte sich eigentlich aufgeregt und beteiligt zeigen müssen, sehr sogar! Sie presste kurz die Handflächen gegen die Stirn und rannte schließlich los. Was auch immer die Hexe nun von ihr halten mochte...
Sie musste dringend zu ihrer Verwandten und ihr klarmachen, dass es so nicht weitergehen konnte. Rach und Mina würden so kurz vor dem Ziel nicht aufgeben und der Kreis würde sich sehr schnell immer enger um den Alten Vampir schließen, ob er wollte oder nicht. Rogi fürchtete nur, dass er lieber kurzen Prozess mit allen Beteiligten machen würde. Ophelia war seine Lebensversicherung. Ihre Freiheit bedrohte seine Existenz. Das war ihr leider nur zu deutlich bewusst. Jedes Argument würde an ihm abprallen. Die einzige vernünftige Person dort, war die alte Igorina. Mit ihr musste sie reden!
Rogi klopfte aufgeregt an, als sie das Anwesen endlich erreicht hatte und Igor öffnete sogleich - und verzog die Mundwinkel als er sie sah.
"Kann ich reinkommen? Ef ift dringend!", sagte sie schnell und blickt sich um.
"Ef tut mir Leid. Ich habe ausdrückliche Anweifungen. Du bift nicht erwünft!"
Das konnte nicht wahr sein! Nach ihrem Besuch vor Kurzem war ihr klar, dass der Igor nichts von der gemeinsamen Kooperation hielt. Aber er musste sie doch wenigstens anhören! Doch dann dämmerte ihr, dass es Racul sein musste, der sich nach den Ereignissen der letzten Nacht abschotte. Zumindest wenn der Zauberer Erfolg gehabt hatte.
"Wo ist Igorina? Wie geht es Ophelia?", fragte sie hastig. Doch der Igor ignorierte sie einfach.
"Du folltestft beffer gehen!", entgegnete er mürrisch und sah sich dabei verstohlen um. "Daf ift ein gut gemeinter Rat."
"Waf ift paffiert?"
Der Igor rollte mit den Augen und ihr fiel auf, dass er vor Kurzem erst geschlagen worden war. Diese Cremes und Salben kannte sie nur zu gut. Rogi kniff kurz die Augen zusammen, um sich sicher zu sein.
"Sieh an, wen haben wir denn da?", hörte sie eine ihr unbekannte Stimme und ein junger Vampir trat in ihr Blickfeld. "Igor, verschwinde! Ich übernehme das hier selbst!"
Ihr Großonkel sah noch einmal kurz zu ihr und machte sich schließlich dankbar aus dem Staub. War das ein entschuldigender Blick gewesen. Oder Erleichterung darüber, dass er sich nicht mehr um sie kümmern musste. Was war hier nur los?
"Los, du hast Igor gehört. Verschwinde also, Flickenpüppchen!"
Rogi runzelte die Stirn. Wenn er glaubte, sie so beleidigen zu können, musste er schon mehr bieten. Doch sein Mangel an Respekt ihrem Großonkel gegenüber war nicht zu übersehen. Sie presste kurz die Lippen aufeinander. War das also Raculs Assistent? Dann war er für Ophelias derzeitigen Zustand verwantwortlich? Sie knirschte bei dem Gedanken mit den Zähnen.
"Und du bift...?", fragte sie vorsichtig. Er sah nur amüsiert auf sie hinab.
"Neugier ist für deine Art nicht bekömmlich. Tu was man dir sagt und geh, bevor ich es mir anders überlege." Bei seinen letzten Worten brachte er seine Eckzähne besonders zur Geltung.
Sie sah sich noch einmal um. Es war mitten am Tag und genug Betrieb auf der Straße. Der Vampir vor ihr schien weder müde, noch kümmerte es ihn, dass er sie eben bedroht hatte. War das für ihn ein Spiel? Wenn er wirklich der war, für den sie ihn hielt, war er gefährlich. Ihre Verwandte hatte kein gutes Wort für ihn übrig und Ophelias Krankheit war seiner Behandlung geschuldet. Sie krampfte kurz ihre Hände zusammen und der Vampir lächelte süffisant. Sie fluchte innerlich, als ihr klar wurde, dass ihre Anwesenheit nun unter ganz anderen Sternen stand. Sie wollte doch nur mit ihrer Großtante reden und vor allen Dingen wissen, wie es um Ophelia stand! Nun jedoch hatte sie den ganzen Hausstand aufgescheucht und wenn auch nur einer den Verdacht haben würde, ihr Auftauchen hinge mit letzter Nacht zusammen, so wären all ihre Bemühungen umsonst gewesen.
"Bitte Herr. Ich weif ich bin unangemeldet, doch ich werde hier gebraucht. Frag die Igorina..."
"Nicht nötig", unterbrach er mit einem breiten Grinsen.
Rogi runzelte irritiert die Stirn als er nicht weitersprach. Er spielte mit ihr! Er hätte schon längst die Tür schließen können um die ganze Angelegenheit zu beenden. Sie seufzte innerlich. Sie hatten jetzt wirklich keine Zeit für sowas! Sie trat einen Schritt vor und versuchte an ihm vorbei zu kommen, doch sein Finger bohrte sich blitzschnell schmerzhaft zwischen den letzten und vorletzten Rippenbogen und sie trat hastig wieder einen Schritt zurück, um nicht weiteres Aufsehen zu erregen. Er lächelte zufrieden.
"Lass mich bitte zu Ophelia!", sagte sie angespannt und konnte dabei die unterdrückte Wut kaum verbergen.
Er war dadurch allerdings mehr als belustigt und schnalzte mit der Zunge, während er tadelnd den Kopf schüttelte. Sie neigte den Kopf von links nach rechts, um mit den Wirbeln zu knacken und versuchte, sich sonst nichts weiter anmerken zu lassen.
"Das ungesunde Temperament habt ihr jedenfalls gemeinsam.", sagte er mit einem Mal. "Wobei sie schon sehr viel zurückhaltender geworden ist. Wenn ich da an den Anfang denke..."
Sie schauderte bei dem Gedanken und schloss kurz die Augen um durchzuatmen. Vielleicht war Racul nie das Problem gewesen, sondern dieser junge Vampir vor ihr?
"Schöne Zeiten waren das!", sprach er ungerührt weiter. "Nur sie und ich..."
Die Ausbildungsleiterin hob anklagend den Finger und er hob nur eine Braue eher er seine Ausführungen beendete:
"Fast schon romantisch."
"Genug!", brachte sie hervor und sie platzte fast vor angestauten Gefühlen. Wut und Frustration machten sich breit und sie konnte nichts unternehmen! Sie hatte in ihrem Leben schon mit zu vielen Vampiren zu tun gehabt. Sie wusste genau, welche Kategorie sie hier vor sich hatte. Dieser spielte gerne mit seinem Essen und Igors waren für ihn nichts weiter als Fußabtreter.
Sie hatte noch immer den Finger erhoben und er lauerte regelrecht darauf, dass sie etwas Dummes anstellte. Sie biss sich auf die Unterlippe und wagte schließlich einen Versuch. Blut war immer noch dicker als Wasser! Niemand wusste dieses Sprichwort mehr zu schätzen, als der Igorclan.
"Igorina!"
Der Vampir kniff die Augen zusammen und Rogi war sichtlich erleichtert, als ihre Großtante von hinter Tür neben ihn trat. Endlich verschwand das elendige Grinsen aus seinem Gesicht! Und sie ahnte, dass ihr nicht viel Zeit bleiben würde. Ihre Verwandte sah von ihm zu ihr und schien sichtlich nervös.
"Wie geht es Ophelia?”, fragte sie hastig, bevor der Vampir den Mund aufmachen konnte. "Ist etwas passiert?”
Sie versuchte, sich weiter auf Ophelia zu konzentrieren. Die Sorge um sie war berechtigt und alles andere konnte sie verraten. Wenn irgendjemanden in dem Hausstand auch nur der Gedanke kommen würde, sie könne etwas über die Geschehnisse der letzten Nacht wissen, dann hätte sie ganz allein ihre Kollegen auf dem Gewissen! Dass sie überhaupt hier war, musste verdächtig genug sein!
"Allerdings!", sagte der Vampir und schien wieder Gefallen an der Situation zu finden.
Mit einem Ruck an ihrer Schulter war sie im Haus. Er schloss ganz beiläufig die Tür. Dabei keine Hast, kein Ausbruch der Unbeherrschtheit. Doch die Schmerzen in ihrer Schulter die in seinem eisernen Griff hing, zeigten ihr, dass sie einen Nerv getroffen hatte. Als sie mit der beweglichen Hand seinen Arm beiseite schlagen wollte, hielt er sie am Handgelenk fest und kam ihr gefährlich nahe. Er presste sie gegen den Türrahmen hinter ihr und sie hielt für einige Sekunden den Atem an, um den Schmerzen standzuhalten.
"Sebastian!", rief ihre Großtante. Doch er ließ sich dadurch nicht stören.
"Verschwinde Igorina. Du hast doch deine Anweisungen, nicht wahr? Ich kümmere mich um dieses lästige Insekt."
Rogi sah noch einmal flehentlich zu ihrer Verwandten, doch diese schüttelte nur bedauernd den Kopf, ehe sie in den Gang verschwand.
"Wo waren wir?", fragte er gespielt leutselig und sein Grinsen wuchs wieder in die Breite. "Achja, Ophelia"
Rogi versuche sich gar nicht erst aus seiner Umklammerung zu befreien und er schien beinahe enttäuscht.
"Nur wir zwei und Kerzenschein.", sagte er und leckte sich über die Lippen. "Ich würde nicht so weit gehen, ihr einen Sonnenaufgang zu Füßen zu legen... aber sie ist ja auch schon mit soviel weniger zufrieden. Ein Stück Brot... ein Glas Wasser..."
Sie zuckte mit der Stirn vor und verpasste dem Vampir eine Kopfnuss. Mit ihrem Dickschädel und vor allem mit dem Nachdruck, den ihr die eingebaute Eisenplatte verlieh, rechnete meist niemand und tatsächlich ließ er überrascht los. Er fasste sich an die blutende Nase und leckte dann das Blut von seiner Hand, während sie nach dem Türknopf tastete, ohne ihn dabei aus dem Blick zu verlieren. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen und von seiner bis eben noch beschwingten Laune war nichts mehr übrig. Er würde kurzen Prozess mit ihr machen!
Ihre Hand fasste mehrfach ins Leere, bevor sie den Knauf schließlich ergriff und rückwärts aus der Tür stolperte. Das Adrenalin pumpte durch ihre Adern, als er auf sie zu kam, doch sie war schon wieder aus dem Haus und er stoppte abrupt am Eingang. Er beobachtete sie vom Türrahmen aus und sie schluckte schwer.
Sie konnte nicht mehr hierher zurückkehren!
Er neigte leicht den Kopf und lächelte wieder. Er schien ihre Erkenntnis zu begrüßen.
Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte los, bis sie durch den Tränenschleier nichts mehr erkennen konnte.

28.03.2017 0: 08

Mina von Nachtschatten

Ein letztes Mal knarzte Holz auf Holz und dann hatte auch der letzte Stuhl seinen Platz gefunden. Mina ließ ihren Blick über die bunte Ansammlung schweifen, welche mittig im Besprechungsraum aufgestellt annähernd einen Kreis bildete. Die Sitzgelegenheiten, welche zum eigentlichen Inventar gehörten, unterlagen stets einer gewissen Fluktuation - mal lieh sich dieser, mal jener Kollege einen Stuhl, natürlich immer in der festen Absicht, ihn so bald wie möglich zurückzubringen. Ironischerweise waren es vor allem die Wächter von SEALS, welche sich zu diesem Zweck des Bereitschaftsraums der Abteilung Raub und Mord bedienten. Die RUMler wiederum befanden es häufig als für zu umständlich, wegen so einer Kleinigkeit eine Etage hinabzusteigen und versuchten, sich bei Bedarf nicht im FROG-Bereitschaftsraum erwischen zu lassen. Das ging dann jeweils so lange gut, bis irgendjemanden der Hafer stach und sämtliches Mobiliar vorübergehend wieder seinen Platz in den angestammten Räumen fand. Zumindest mengenmäßig. Aber anscheinend war gerade ein recht spätes Stadium dieses speziellen Kreislaufs an der Reihe, denn bis auf drei wackelige Holzstühle hatte das Zimmer, welches für die erste Besprechung des neuen Rettungszirkels auserkoren worden war, einen eher traurigen Anblick geboten. Glücklicherweise hatten sich die SEALS in den angrenzenden Büros kooperativ gezeigt - auch wenn Lance-Korporal ag LochMoloch ziemlich enttäuscht schien, sein aus Decken und Sitzmöbeln improvisiertes Pausensofa vorübergehend aufgeben zu müssen. Wie auch immer, an und für sich war nun alles vorbereitet.
Die Vampirin strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht und ging im Geiste ein letztes Mal die Liste der zu erwartenden Kollegen durch. Es passte. Na dann, die ersten würden bestimmt nicht mehr lange auf sich warten lassen. Sie griff die bereitliegende Ophelia-Akte von einem nebenstehenden Tisch und ließ sie schwungvoll auf den erstbesten Stuhl fallen.
"Wer ist Nummer acht?", erklang da eine Stimme und Mina drehte sich um.
Maggie lehnte im Rahmen der halboffenen Tür und musterte interessiert den Aufbau.
Mina zuckte mit den Schultern.
"Wilhelm", antwortete sie knapp und ihre Stimme kündete dabei von nur wenig Enthusiasmus.
"Ach richtig, den gibt's neuerdings ja auch noch." Die Hexe nickte gedankenverloren. "Aber du bist davon nach wie vor nicht begeistert", stellte sie dann fest. "Doch nachdem, was du mir erzählt hast, kann ich das nachvollziehen."
"Ich mag aus verschiedenen Gründen ein wenig... voreingenommen sein, das ist wahr." Mina lächelte schief. Dass sich während der letzten Tage noch ein Weiterer dazugesellt hatte, das gehörte jetzt nicht hierher. Ihre eigenen Vorbehalte waren schon wenig hilfreich - die der anderen noch zusätzlich zu befeuern wäre es erst recht nicht. "Aber wenn wir ihn absichtlich außen vor lassen, dann wird er sich früher oder später auch ungefragt aufdrängen. Oder irgendwelche Schritte auf eigene Faust unternehmen, was weiß ich. So ist es das, verzeih den Ausdruck, aber das kleinere Übel. Und außerdem", die Vampirin seufzte, "ist ein Hilfsangebot immer noch ein Hilfsangebot und das sollte man nicht einfach ignorieren."
"Und so haben wir zugleich eine Auge auf ihn, lernen ihn besser einzuschätzen... und wenn sich das alles doch als Nebelkerze entpuppt, dann können wir ihn immer noch rauswerfen." Maggie grinste. "Aber lass uns doch erstmal abwarten, wie er sich macht. Vielleicht erleben wir eine Überraschung?" Ihr ungebrochener Optimismus hinsichtlich der ganzen Angelegenheit war immer wieder bewundernswert. Die SuSe betrachtete noch einmal die Ansammlung von Sitzgelegenheiten, doch diesmal legten sich dabei nachdenkliche Falten auf ihre Stirn.
"Hmm, wir sollten vielleicht besser Vorsorge treffen, dass Senray so weit wie möglich von euch Vampiren entfernt sitzt. Nichts für ungut", sie lächelte entschuldigend, "aber unsere kleine DOG ist auch so schon nervös genug. Auch wenn sie es nie zugeben würde - sie hat einfach Angst vor euch. Sei es aufgrund irgendwelcher schlechter Erfahrungen in der Vergangenheit, sei es ganz ohne konkreten Anlass. Und bedenkt man außerdem deinen letzten Besuch im Boucherie..."
"Ja, ich weiß, ich weiß, an dem Tag war ich nicht unbedingt verständnisvoll. Entsprechend habe ich mir auch schon meine Gedanken gemacht." Mina nickte. "Und da wir gerade bei dem Thema sind, wäre es wohl ebenfalls nicht schlecht, wenn etwas Raum zwischen Rach und Wilhelm bliebe, nur zur Sicherheit."
"Nyria würde es bestimmt begrüßen neben Raistan zu sitzen."
"Und glaub mir einfach, dass die Kombination Raistan und Wilhelm wiederum keine so gute Idee ist."
"Na schön, dann..." Magane überlegte, dann zuckten ihre Mundwinkel kurz belustigt nach oben. "Und ich dachte schon, bei großen Familienfeiern alle unter einen Hut zu bekommen wäre ein Problem."
Damit hatte die Gerichtsmedizinerin nicht Unrecht. So betrachtet ähnelten ihre Überlegungen tatsächlich eher einem dieser logischen Rätsel, wie sie gelegentlich in der Times erschienen, als der simplen Vorbereitung einer Besprechung.
"Solange hier drei Plätze frei bleiben", Mina deutete auf den Bereich neben dem bereits mit der Akte belegten Stuhls, "sollte es irgendwie funktionieren. Die werden sich schon einig."
"Wir werden dafür sorgen. Ich bin pünktlich wieder hier und bringe Senray mit. Hast du die Karten dabei?"
"Die hole ich jetzt aus meinem Büro."
"Na fein, dann bis gleich. Ich bringe Tee und Kekse mit. Zur Beruhigung der Gemüter."
Mina folgte der Hexe bis zur Tür. Während Maggie bereits mit schnellen Schritten den Gang durchmaß, warf die Vampirin einen letzten zögerlichen Blick in den Raum. Aus irgendeinem Grund widerstrebte es ihr, die dicke Akte einfach so hier liegen zu lassen. Sie war nun so lange in ihrer Obhut gewesen... Mit einem energischen Kopfschütteln verwarf sie den Gedanken. Das war doch lächerlich. Zumal es sich nie so verhalten hatte, dass irgendjemandem der Einblick verwehrt worden wäre, der danach gefragt hätte. Und nunmehr galt erst recht das Gegenteil: Je genauer alle Beteiligten auf dem Laufenden waren, desto besser standen ihre Chancen, etwas zu erreichen. Und diejenigen Sachverhalte, welche im Prinzip irrelevant waren und nur Fragen aufgeworfen, aber niemanden weitergebracht hätten - die standen ohnehin nicht auf dem Papier. Mina ließ die Tür bewusst angelehnt, um keinem der anderen Kollegen das Gefühl zu geben, sie müssten vor dem Betreten auf irgendjemanden warten, und machte sich dann auf, das noch fehlende Material herbeizuholen.

29.03.2017 16: 53

Senray Rattenfaenger

Als Wilhelm mitbekommen hatte, dass hier offensichtlich eine Versammlung des sogenannten Rettungszirkels bevorstand, hatte er sich sofort dafür entschieden, im Wachhaus zu bleiben. Wer hätte gedacht, dass er nach dieser Nacht doch noch so schnell an Informationen kommen würde? Und dieses Mal würde ihn Mina von Nachtschatten nicht abwimmeln, im Gegenteil, sie hatte ihn eingeladen! Zugegeben, sie hatte dabei ausgesehen, als hätte sie in eine unreife Zitrone gebissen. Aber von derlei Empfindlichkeiten würde er sich nicht aufhalten lassen.
Er brauchte ja glücklicherweise keinen Schlaf, es machte ihm also nichts aus, nach der Nachtwache länger zu bleiben. Einzig diese Kopfschmerzen! Der Verstand von Hauptfeldwebel Sillybos war wirklich etwas... Besonderes gewesen. Glücklicherweise hatten die Nachwirkungen seines geistigen Ausflugs im Laufe der Nacht langsam nachgelassen. Sicherheitshalber war er jedoch nach Schichtende in den Schlafsaal gegangen und hatte sich auf einer der Pritschen niedergelassen. Dort hatte er gelegen, ein dunkles Tuch über den Augen, und die vorherrschende Stille genossen. Die Ruhe tat gut und er entspannte sich. Gleichzeitig jedoch merkte er, wie er von Zeit zu Zeit wie eine aufgezogene Feder wieder auf Spannung ging. Wie spät war es? Er durfte auf keinen Fall den Anfang der Zusammenkunft verpassen! Besser wäre es sogar, er wäre als einer der ersten im Raum.
Als er schließlich wieder aufstand waren die Kopfschmerzen fast verschwunden, nur noch ein schwaches Ziehen hinter seinen Schläfen war geblieben. Gemütlich schlenderte er in den ersten Stock, in dem das Treffen stattfinden sollte. Wenn ihn nicht alles täuschte, sollte er noch gut Zeit haben, so dass er es sich schon einmal im Besprechungszimmer der RUMler gemütlich machen konnte, bevor der Rest eintraf.
Zu Wilhelms Überraschung sah es jedoch so aus, als wäre bereits ein Teil der Kollegen da. Oder wenigstens schon da gewesen. Irgendjemand hatte achte Stühle im Kreis aufgestellt, auf einem lag sogar schon eine dicke Akte. War er so spät dran? Andererseits war gerade niemand außer ihm im Raum. Zielsicher steuerte er einen der noch komplett leeren Stühle neben dem mit der Akte an und lies sich darauf nieder. Neugierig glitt sein Blick über den Umschlag und ein fast gieriges Funkeln trat in seine Augen, als ihm bewusst wurde, das er die Ophelia-Akte neben sich hatte. Er musste nur mit der Linken den Deckel aufklappen und all die Infos waren griffbereit schön vorsortiert für ihn verfügbar. Er zögerte nur kurz, lauschte auf den Gang und verließ sich darauf, dass er jeden näherkommenden Kollegen hören würde.
Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis er seine Lektüre aufgeben musste, da sich Schritte näherten. Gerade noch rechtzeitig klappte er die Akte bedauernd wieder zu, als Mina von Nachtschatten selbst den Raum betrat. Sie musste die Bewegung seines Armes von der Akte weg wahrgenommen haben, denn sie selbst hielt noch im Türrahmen inne. Wilhelm sah, wie sich ihre Augenbrauen hoben. Sie war dabei tief Luft zu holen, als hinter ihr die nächsten Schritte erklangen. Mina nahm dies als Anlass, in den Raum zu treten. Sie würdigte ihn keines weiteren Blickes, während sie sich auf dem Stuhl neben ihm niederließ und sich selbst die Akte auf den Schoss legte. Sicher unter ihren Armen begraben.
Wilhelm fand ihr Verhalten fast belustigend, auch wenn er das natürlich nicht nach außen zeigte. Was war denn schon dabei, wenn er einen Blick in die Akte warf? Sie tat ja fast so, als wäre diese ihr privates Tagebuch. Dabei sollte es bei diesem Treffen doch angeblich um einen Informationsaustausch gehen! Und wie sollte das schließlich von statten gehen, wenn man sich nicht einmal einen guten Überblick über die vorher geleistete Arbeit verschaffen konnte, ja durfte?
Sei es, wie es sei. Für den Moment gab es Wichtigeres, Interessanteres, als die Befindlichkeit der Kollegin neben ihm. Zum Beispiel die drei Frauen, die gerade nacheinander den Raum betraten. Die erste war schon hochgewachsen, wurde jedoch von der zweiten sogar noch überragt. Beide hatten dunkles, langes Haar und während die Haut der einen in sanftem Oliv zu schimmern schien, hatte die andere dunkle, kaffeebraune Haut. Die dritte konnte Wilhelm erst richtig sehen, als die anderen beiden schon weiter im Raum waren – sie war schlicht zu klein im Vergleich zu ihren Kolleginnen. Durch den Kontrast mit den anderen beiden wirkte sie noch blasser als sowieso schon, ihr Haar hatte zwar einen netten Rotstich im Braun – das war aber auch schon das Aufregendste an ihr. Nichts weiter als eine einfache, menschliche Kollegin. Wenigstens hatten die beiden großen Frauen einen oktarinen Schimmer um sich, da konnte man schon mehr erwarten. Sowohl die Kleine als auch die größte der Frauen trugen Tabletts, auf denen Teekanne, Tassen und Gebäck bereit lagen. Entweder war ein gemütliches Kaffeekränzchen im Anschluss geplant oder aber das Ganze hier würde länger dauern.
"Hallo Maggie, Kanndra, Senray.", sagte Mina neben ihm.
"Hallo, Mina.", "Mäm!" und ein freundliches Nicken waren die Antwort, ehe ein fragender Blick in seine Richtung gerichtet wurde.
"Ich denke wir heben uns die... die Vorstellungen für nachher auf, wenn alle da sind.", kam ihm jedoch die von Nachtschatten zuvor.
Die Größte der drei sah einige Augenblick in das Gesicht der Vampirin neben ihm, ehe sie nickte, "Sicher doch.", sagte und sich den anderen beiden zuwandte. Sie bugsierte die kleine Frau auf einen Stuhl, ließ sich selbst auf dem daneben nieder und bedeutete der anderen, sich auf ihre andere Seite zu setzen. Neben ihn. Er wollte sie und ihre Aura gerade näher studieren, als sich auch schon die nächsten Schritte näherten.
Rach. Es war nur logisch, dass er hier dabei sein würde. Dennoch, der Wechsel in dessen Mimik, als der Blick des Menschen ihn traf, war durchaus... für sich selbst sprechend. Seine bissige Frage "Was machst du hier, Rekrut?" wurde dadurch eher zum Sahnehäubchen. Keinem schönen, leckeren Sahnehäubchen, gewiss, aber nach der letzten Nacht hatte sich Wilhelm bereits darauf eingestellt, dass der junge Mann ihm mit Antipathie entgegentreten würde. Was auch immer Mina Rach erzählt hatte – es schien wenig bis nichts Gutes über ihn und seine Absichten darin vorgekommen zu sein.
"Ich will nur helfen. Wie wohl jeder hier." Wilhelms eigene Stimme war ruhig und er ignorierte gekonnt das bewusst tiefe Durchatmen der Vampirin neben ihm. Sollte sie denken, was sie wollte – er wollte tatsächlich helfen, Ophelia zu finden.
Rach hingegen schüttelte nur kurz den Kopf, eher er sich weiter in den Raum bewegte. "Schön, bleib wegen mir... ich bin heute gut drauf. Steh' bloß nicht im Weg rum!" Dabei wandte er sich bereits wieder von Wilhelm ab und steuerte den Stuhl auf der anderen Seite von Mina an.
Wilhelm selbst ließ es sich nicht nehmen, zu einer passenden Erwiderung anzusetzen. Das "Wie dir vielleicht aufgefallen ist, sitze ich bereits, du musst dir also keine Sorgen machen." blieb ihm jedoch im Hals stecken. Gerade in diesem Moment betrat nämlich der Zauberer von gestern Nacht den Raum! Dieser junge Schönling, gestützt auf seine unscheinbare Begleitung. Er sah immer noch blass aus, so zerbrechlich, verletzlich. So... delikat. Wilhelm verfolgte genau, wie die beiden sich auf die letzten freien Stühle setzten. Er selbst lehnte sich zurück und einer Eingebung folgend rutschte er auch mit dem Stuhl ein kleines Stück zurück. So konnte er besser den zauberhaften Schönling begutachten und trat selbst mehr in den Hintergrund. Immerhin schien seine Expertise sowieso nicht gefragt zu sein, er konnte also genauso gut den schweigenden Zuhörer geben. An etwas anderem als den Informationen, die hier gleich ausgetauscht werden würden, war er sowieso nicht interessiert. Sein Blick glitt über die schlanken Handgelenke, die filigranen Finger des Mannes ihm schräg gegenüber. Nun, an fast nichts anderem zumindest.

Mina sah sich noch einmal in der Runde um. "Danke, dass ihr alle gekommen seid. Nachdem wir nun vollzählig sind, möchte ich die Anwesenden einander kurz vorstellen, da vielleicht nicht alle miteinander bekannt sind." Sie sah ihnen erneut einzeln in die Gesichter. Dabei musste Mina feststellen, dass Wilhelm seinen Stuhl nach hinten gerückt hatte, so dass sie sich leicht drehen musste, um sein Gesicht sehen zu können. Also entschied sie schnell, auf der anderen Seite bei Rach mit dem Vorstellen zu beginnen.
"Zu Rach Flanellfuß muss ich wohl keine großen Worte machen." Sie hielt kurz inne. Mit Sicherheit wusste jeder der Anwesenden von seiner und Ophelias Verlobung, sie musste also wirklich keine weiteren Worte daran verschwenden. Mina hoffte nur, dass die hartnäckigen Gerüchte, er hätte etwas mit Ophelias Verschwinden zu tun, nicht zu präsent in den Köpfen der Mitstreiter waren. Sie brauchten nicht noch mehr Beschuldigungen untereinander. Es würde so schon schwer genug werden, alle zu offener Zusammenarbeit zu bewegen. Mina vermied es bei diesem Gedanken bewusst, ihren Kopf doch wieder Wilhelm zuzuwenden. Stattdessen machte sie weiter im Plan.
"...dann, Raistan Quetschkorn, Zauberer,..."
"...dritter Stufe..."
"...daneben die Gefreite Nyria Maior. Die beiden konnten auf... ungewöhnlichem Wege einige entscheidende Informationen in Erfahrung bringen. Näheres dazu später."
Der Blick der Vampirin wanderte weiter zu Senray, die sie mit ängstlich geweiteten Augen anstarrte. Wunderbar. Hoffentlich konnte Maggie da etwas machen, so dass Senray nachher wenigstens ansatzweise zusammenhängend ihre eigenen Erkenntnisse erzählen würde. Minas Erinnerungen an ihren Besuch im Boucherie und die Unterhaltung mit Senray waren noch frisch.
"Ebenso hat Senray Rattenfaenger bereits eigene Ermittlungen angestellt. Feldwebel Magane und Leutnant Kanndra Mambosamba waren beide schon mit der ursprünglichen Problematik vor Ophelias Verschwinden befasst."
Sie zögerte einen kurzen Augenblick, unschlüssig, ob sie mehr sagen sollte, beließ es dann aber dabei. Wozu unnötige Dopplungen schaffen? Es fehlte nur noch...
"Und Rekrut Wilhelm Schneider." Die Vampirin rang kurz um die richtigen Worte, ehe sie fortfuhr: "Er hat erst kürzlich seine Hilfe und Mitarbeit in diesem speziellen Fall angeboten."
Mehr gab es aus Minas Sicht nicht dazu zu sagen. Sie wartete einige Augenblicke auf Nachfragen, ehe sie sich daran machte, zum Tagesordnungspunkt eins überzugehen. Dabei ignorierte die Vampirin gekonnt das Schnauben aus Wilhelms Richtung sowie die Teils irritierten Blicke der anderen. Sie sollten sich besser selbst ein Bild von ihm bilden.
Minas Hand strich über den Deckel der Ophelia-Akte und sie merkte, wie leichter Ärger in ihr aufstieg. Es war tatsächlich kein Problem, dass sie Wilhelm gerade noch mit der Nase in eben jener Akte erwischt hatte. Oder es wäre zumindest kein Problem gewesen – wäre sich Mina nicht fast sicher gewesen, dass er unter anderem wegen dieser Akte in ihr Büro eingebrochen war und sich dabei bereits den einen oder anderen Blick erlaubt hatte. Wozu sollte er also jetzt nochmal schauen? Aber das war das Problem, sie konnte sich eben nicht wirklich sicher sein. Nur wer sonst hätte so dreist versuchen sollen, an die Informationen bezüglich ihrer Ermittlungen zu Ophelias Verschwinden zu kommen?
Die stellvertretende Abteilungsleiterin von RUM atmete einmal sehr bewusst tief ein und aus. Es war sinnlos sich ausgerechnet jetzt den Kopf darüber zu zerbrechen. Stattdessen musste sie sich auf ihre Aufgabe konzentrieren und die hier Anwesenden dazu bringen, ihre jeweiligen Informationen miteinander auszutauschen. Ausnahmsweise mal.

Magane nickte, als Mina sie vorstellte. Dann fiel ihr Blick wieder auf Senray neben sich. Sie schien sich in den wenigen Sekunden noch kleiner gemacht zu haben. Magane seufzte innerlich und während Mina über ihrer aller Ziel – Ophelia zu finden und diese dann nach Möglichkeit auch zu retten – sprach, bereiteten Maggies Hände einen Spezialtee für Senray vor. So wie es aussah, konnte die junge Frau doch einen starken Nerventee brauchen.
Die Hexe hatte Raistan bereits Bronchialtee bereitgestellt, der Rest, der wollte, bekam eine angenehm schmeckende normale Kräutermischung. Maggie hatte bereits als Rach den Raum betreten hatte beschlossen, dass sie auch ein besonderes Auge auf ihn haben würde. Und dass er gegebenenfalls lieber einen Teil der Spezialmischung erhalten würde. Noch sah sie dazu jedoch keinen Anlass. Die junge Frau neben ihr brauchte eindeutig mehr Aufmerksamkeit. Sie schätzte die Zeit, die der Tee ziehen musste grob ab, während Mina erzählte, wie diese zu ihren Punkten auf der Karte gekommen war.
Dafür hatte Mina ihr eigenes Tafelkonstrukt mitgebracht und hinter dem Stuhlkreis aufgebaut, während in der Mitte des Kreises die Karte lag, in der Maggie ihre und Senrays Reaktionspunkte eingetragen hatte. Dort konnte sie zumindest jeder gleich gut oder schlecht sehen. Magane betrachtete erneut Senray neben sich. Sie wirkte nicht mehr komplett verloren, ihre Augen schienen die Karte abzusuchen. ‚Wahrscheinlich nach dem Gebiet, in dem sie selbst reagiert hat‘, dachte Maggie. Es war leicht genug, es zu finden. Die roten Linien formten bereits einen gewissen Zick-Zack-Kurs durch die Straßen.
Das sollte genügen, sie nahm den Teebeutel aus der Tasse und legte ihn auf ein Untertellerchen. Sie würde die Kräuter nachher nochmal aufgießen können – irgendwie hatte Maggie den Verdacht, dass eine Tasse heute nicht reichen würde, um Senrays Nerven zu beruhigen.
Wie aufs Stichwort sagte Mina: "Magane und Senray haben ebenfalls Punkte oder Areale auf den Karten hinzugefügt. Aber das werden sie euch selbst erzählen. Maggie, wenn du vielleicht anfangen könntest?"
Die Angesprochene nickte. Die Hexe erzählte von ihren Versuchen mit dem Pendel, lies dabei wie auch schon zuvor aus, woher sie das entscheidende Taschentuch bekommen hatte und ging auch nicht zu tief ins Detail was das Pendeln selbst betraf. Ihr entgingen weder Kanndras Neugier noch der etwas kritische Blick, der sich in Raistans erschöpftes Gesicht geschlichen hatte. Und so gern sie später mit den beiden Fachsimpeln würde – jetzt war schlicht nicht der geeignete Zeitpunkt dafür. Nicht hier in der großen Runde. Besser, sie ging etwas näher auf den Bereich ein und konzentrierte sich nachher darauf, Senray zu helfen, ihre eigenen Informationen herauszubringen. Um dies vorzubereiten, verwies sie gleich auf die Überschneidungen ihres Bereichs mit Senrays Reaktionsraum.
"Diese Linien sind also von Senray hinzugefügt worden."
Maggie sah einmal mehr zu der jungen DOG, die sie auch gerade in diesem Moment ansah. Die Hexe schenkte der anderen ein aufmunterndes Lächeln, ehe sie fortfuhr: "Am Besten erklärt Senray euch das allerdings selbst." Sie sah wie sich Senrays Augen kurz weiteten und drückte ihr sanft die Schulter. Sollte es gar nicht gehen, würde Magane eingreifen und der anderen einen Teil ihrer Angst abnehmen müssen. Besser wäre es jedoch, wenn sie es von sich aus schaffte.

Senray zögerte. Maggie hatte sie hierher eingeladen und mitgenommen, zu dem ersten Treffen des ‚neuen Rettungszirkels‘, wie sie gesagt hatte. Natürlich war Senray klar gewesen, das Mina hier sein würde, dennoch war es ihr zutiefst unangenehm, der Kollegin von Rum jetzt gegenüber zu sitzen. Direkt gegenüber. Da die Gruppe im Kreis saß, war der Punkt, der am weitesten von Mina von Nachtschatten weg war, natürlich auch der, an dem sie sie viel zu gut sehen konnte. Senray war nur froh, dass Magane direkt neben ihr saß. Zu ihrer Rechten saß eine Wächterin, die sie nicht kannte – sie war vorhin als Nyria Maior vorgestellt worden, wenn Senray es richtig verstanden hatte. Neben ihr ein Zauberer, dann Rach – Ophelias Verlobter. Auch wenn sie ihm noch nie begegnet war, über den Inspektor hatte sie wahrlich genug Gerüchte gehört, um sich von seiner Gegenwart verunsichert zu fühlen. Allerdings hier, in dieser Runde... schien er ihr viel weniger Inspektor zu sein, denn viel mehr jemand, der Ophelia um wahrscheinlich wirklich jeden Preis zurückhaben wollte. Sie hatte ihn ein wenig beobachtet, während Mina und Maggie gesprochen hatten. Allein schon, um nicht die beiden Vampire anzusehen. Er wirkte so, als würde er am liebsten aufspringen und aktiv suchen, anstatt hier zu sitzen und zu reden. Und gleichzeitig wirkte er auf eine unbeschreibliche Art so erschöpft, dass es sie kaum gewundert hätte, wenn er im nächsten Moment einfach in sich zusammengesackt und eingeschlafen wäre.
Ihr Blick glitt weiter. Chief-Korporal von Nachtschatten erwiderte ihn ohne eine erkennbare Gefühlsregung, ehe sie selbst weiter in die Runde sah. Senray war sich sicher, dass ihr Herz für einen Moment ausgesetzt hatte. Vielleicht hätte sie Maggie gegenüber erwähnen sollen, dass sie Angst vor Vampiren hatte? Aber nein. In dem Moment, in dem sie das laut aussprach, würde sie von jeder späteren aktiven Beteiligung ausgeschlossen werden, da war Senray sich sicher. Immerhin war es sehr wahrscheinlich, ja fast sicher, dass sie hier gegen mindestens einen Vampir ziehen würden! Und Senray wollte helfen, unbedingt. Warum mussten es nur ausgerechnet Vampire sein?
Wie aufs Stichwort sah sie zum nächsten, einem Rekruten, Wilhelm Schneider. Auch ein Vampir. Anders als der Rest der Runde saß er jedoch nicht direkt im Kreis. Er hatte seinen Stuhl demonstrativ nach außen gezogen, so dass er leicht versetzt zum Rest saß. Nicht, dass Senray wirklich verstanden hätte, warum. Aus irgendeinem Grund schienen weder Rach noch Chief-Korporal von Nachtschatten allzu begeistert von seiner Anwesenheit zu sein. Sie mussten ihn jedoch für dieses Treffen eingeladen haben, oder nicht? Allerdings war Senray aus Minas Information, er wolle helfen, auch nicht schlauer geworden. Immerhin sah sie es als selbstverständlich an, dass jeder der Anwesenden bei der Suche nach Ophelia helfen wollte. Wozu waren sie auch sonst hier? Aber sicher würde sich das im Laufe des Treffens aufklären, sobald er seine Informationen allen mitteilte.
Schräg vor ihm, und dadurch irgendwie wirklich neben Mina, saß Kanndra. Maggie hatte sie vorhin auf dem Gang schon begrüßt und vorgestellt, sie war wohl auch eine Hexe und Teil des alten Rettungszirkels. Und dann Maggie, direkt links neben ihr. Senray sah der Kollegin ins Gesicht und bekam ein aufmunterndes Lächeln. Die SuSe drückte ihr sanft die Schulter, ehe sie in den Kreis nickte.
Der Moment, den Senray gefürchtet hatte, war da.
"Am besten erklärt Senray euch das allerdings selbst.", sagte Maggie und sah sie nochmal aufmunternd an.
Die junge DOG holte tief Luft und schloss kurz die Augen. Vielleicht war es leichter anzufangen, wenn sie nicht das Gefühl hatte, das sich die Aufmerksamkeit der Anwesenden langsam auf sie verlagerte.
"Ich... also, ich meine, Maggie hat ja gerade schon gesagt, dass ich auf einige Punkte zu der Karte, nun ja, beigetragen habe. Das..."
Sie öffnete die Augen wieder, nur um Chief-Korporal von Nachtschattens Blick auf sich gerichtet zu sehen. Schnell sah sie weg und setzte neu an.
"Ophelia und ich... Ich gehöre auch zu denen, die auf Ophelias... die auf Ophelia reagiert haben."
Ein kurzer Blick in die Runde zeigte ihr nur zu deutlich, dass der Teil der Gruppe, der nicht von ihrem Gestammel verwirrt war, dabei war, ungeduldig zu werden. Also holte Senray nochmal tief Luft. Sie nahm sich den Moment, schloss erneut die Augen und atmete sehr bewusst ein und aus, wie Maggie es ihr beigebracht hatte. Es konnte nicht sein, dass ihre Unsicherheit alle behinderte. Sie wollte helfen, sie wollte Ophelia retten! Ophelia...
Senray stellte sich vor, dass es Ophelia war, die ihr gegenüber saß. Nicht Mina von Nachtschatten. Ophelia, die ihr eine Tasse Tee anbot und der sie ganz normal ihre neuesten Erkenntnisse erzählen würde. Sie öffnete die Augen wieder.
"Wenn Ophelia und ich in direkter Nähe zueinander waren, hat Feuer auf uns reagiert. Auf mich reagiert. Auf meine Emotionen, wie es scheint. Und... vor einigen Tagen ist mir genau dasselbe in der Stadt bei einem Einsatz passiert."
Sie merkte wie sich die Ungeduld zu angespannter Erwartung wandelte und sich die Blicke der Anwesenden nun wirklich auf ihr sammelten.
"Zuerst dachte ich, es wäre eine Reaktion rein meinerseits, dass ich die Kontrolle..." Sie zögerte kurz. Sie wollte auf keinen Fall Refizlak ansprechen. Maggie hatte ihr darin auch Recht gegeben, dass er etwas war, was nicht an die große Glocke gehängt werden musste. Schnell korrigierte sie: "Über... die Fähigkeit kurzfristig verloren hatte, sie eventuell verstärkt wurde. Aber, nachdem ich mit Magane gesprochen habe", ein kurzer Blick nach links brachte ihr ein aufmunterndes Nicken, "kamen wir zu dem Schluss, dass es wahrscheinlich wirklich eine Reaktion auf Ophelia war. Deswegen laufe ich seitdem abends das Gebiet ab und kontrolliere, wo die Flammen noch reagieren und wo nicht mehr. Wir versuchen so, das Gebiet, in dem sich Ophelia befindet, einzugrenzen. Aktuell laufe ich den äußeren Radius ab, damit wir wissen, in welcher Richtung wir suchen müssen. Nun ja. Wir hoffen ehrlichgesagt, dass Ophelia in der Mitte des entsprechenden Gebietes sein wird. Ganz sicher können wir uns aber nicht sein."
Senrays Blick glitt kurz zu den Karten, die in der Mitte lagen. Sie konnte deutlich die Punkte erkennen, die sie geliefert hatte.
"Das Problem ist... manchmal ist es ein bisschen so, als würde irgendwas anderes ihren Effekt verstärken, so dass das Feuer reagiert, obwohl ich eigentlich nicht mehr im Radius bin. Gestern Abend zum Beispiel..."
"Gestern Abend?", unterbrach Nyria sie und tauschte Blicke mit dem Zauberer und Rach aus. Auch Mina sah aus, als wüsste sie mehr und Maggie fing ihren Blick.
"Was war gestern Abend, Senray?"
Sie biss sich kurz auf die Unterlippe. "Ich... war noch gut zwei Straßen vom letzten Reaktionspunkt entfernt. Allerdings hat die Flamme dort schon reagiert. Nur kurz, ich weiß nicht, zwei Minuten vielleicht? Dann war es wieder vorbei. Erst auf Höhe des letzten Punktes hat sich dann wieder etwas getan und auch da dafür nur schwach. Ich weiß auch nicht..."
Unsicher sah Senray in die Runde. Erneut fiel ihr auf, dass sich der Großteil der Anwesenden mit scheinbar wissenden Blicken austauschte.
Nyria sah den Zauberer neben ihr an. "Glaubst du, es gibt da einen Zusammenhang?"
Der Angesprochene nickte schwach. "Es ist sehr wahrscheinlich. Allerdings hieße das..." Er verstummte ganz und sah auf seine Hände, die er miteinander knetete.
Senray sah von Einem zum Anderen. "Ähm, es tut mir Leid, aber... also, was für ein Zusammenhang mit was?"

Wilhelm hatte aufmerksam zugehört, als erst Mina und dann Magane ihre Suchmethoden vorgestellt und die Punkte auf der Karte erwähnt hatten. Er hatte routiniert den Blick von der Delikatesse ihm gegenüber gelöst, um die Karten zu studieren und nur gewisse Teile seiner Aufmerksamkeit wieder zu dem Zauberer schweifen zu lassen. Wie viel besser dieser in edlen Stoffen und einer perfekt auf ihn maßgeschneiderten Kleidung wirken würde! Und das, obwohl er jetzt schon das Ebenbild des unschuldigen Jünglings war, so zart und verletzlich.
"Ophelia und ich... Ich gehöre auch zu denen, die auf Ophelias... die auf Ophelia reagiert haben."
Die kleine Frau war wohl mit ihrem Beitrag dran, ihr Gestammel war jedoch kaum seiner Aufmerksamkeit wert. Es würde wohl genügen wieder aktiver zuzuhören, sobald es direkt um die Punkte auf der Karte ging, bis dahin konnte er versuchen, allein mit seinem Blick die Maße des Schönlings zu nehmen.
"Wenn Ophelia und ich in direkter Nähe zueinander waren, hat Feuer auf uns reagiert." Wilhelm horchte auf und sein Blick glitt langsam zu der unscheinbaren Gestalt ihm schräg gegenüber im Kreis zurück. Von etwas Derartigem hatte er noch nie gehört. Natürlich waren ihm die verschiedensten Tricks bekannt, durch die Menschen es so wirken ließen, als könnten sie Feuer kontrollieren. Außerdem wusste er um die Fähigkeit mancher Magier, Feuerbälle zu werfen. Aber dass Flammen auf die Emotionen eines Menschen reagieren sollten? Davon hatte er bisher nichts gehört. Vielleicht hatte er sie zu schnell als uninteressant abgetan? Aber wie passte dies zu ihrer fehlenden oktarinen Aura? Wie sollte es möglich sein, dass ein ganz normaler Mensch über einen derartigen Einfluss auf die Elemente verfügte?
"...dass ich die Kontrolle... über... die Fähigkeit kurzfristig verloren hatte..." Wilhelm ließ die junge Frau nun nicht mehr aus den Augen. Sie hatte gerade an einer entscheidenden Stelle gezögert – nicht nur mit ihren Worten, auch ihre ganze Körpersprache hatte davon gezeugt, dass sie etwas zurückhielt. Nur was? Jedoch... niemand brachte es zur Sprache! Niemand hielt ihren nun wieder stetiger werdenden Wortschwall auf. Einen Wortschwall, der nur von dem Zurückgehaltenen ablenken sollte! War der Rest der Anwesenden wirklich so verblendet, dass sie etwas so Offensichtliches nicht bemerkten? Nun, es gab eine ganz einfache Möglichkeit herauszufinden, was sie zu verbergen versuchte. Einen Sekundenbruchteil zögerte Wilhelm. Die Kopfschmerzen der letzten Nacht waren ihm noch gut in Erinnerung. Auf der anderen Seite spürte er sie jedoch quasi nicht mehr, es würde ihn also nicht beeinträchtigen. Und was sollte diese kleine Frau schon an geistiger Verteidigung zu bieten haben? Sie würde nicht einmal bemerken, dass er ihre Gedanken durchforstete. Und ehe jemand Aufmerksameres, wie Mina von Nachtschatten, es bemerken würde, wäre er schon wieder aus ihrem Kopf verschwunden. Es konnte also nichts schaden. Im Gegenteil! Je nachdem, was sie zu verbergen versuchte, konnte er entscheidende Informationen finden! Und selbst wenn nicht, er musste einfach wissen, wie sie es schaffte, Feuer zu kontrollieren, ohne jeden Funken Magie in sich zu tragen.
Wilhelm lehnte sich unauffällig weiter in seinem Stuhl zurück. Es schadete nicht, sich etwas weiter aus dem Blickfeld der anderen auszublenden. Auch wenn deren ganze Aufmerksamkeit aktuell der kleinen Frau galt. Senray Rattenfaenger, so war sie vorgestellt worden. Er fixierte sie mit seinem Blick, konzentrierte sich voll und ganz auf sie und blendete den Rest der Umgebung aus. Wilhelm war sich sicher, dass er die gewünschte Information schnell genug finden konnte, dass sie nicht einmal ins Stocken kommen sollte. Falls doch, würde es jedoch wohl auch niemandem auffallen.
Er machte den geistigen Schritt vor und tastete nach ihren Gedanken, ihrem Selbst. Es war, wie er erwartet hatte, viel zu einfach. Alltägliche Gedanken schienen sie zu umschwirren, Ängste, Unsicherheiten, Belanglosigkeiten. Normale, menschliche Gedanken, die vor allem eines waren – schlicht langweilig. Keinerlei Anzeichen für eine wie auch immer geartete Begabung in Bezug auf Feuer, nichts, das er nicht im Kopf von jedem x-beliebigen Passanten auf der Straße finden würde. Also noch einen Schritt tiefer in ihre Gedanken.
Wilhelm spürte, wie sich etwas verschob. Etwas war anders. Das hier war nicht länger ein normaler menschlicher Verstand. Es war fast, als wären die belanglosen Gedanken nur eine Tarnung gewesen, als wäre er jetzt in eine vorher versteckte Schatzkammer eingedrungen, in der er sich frei bedienen konnte. Einer sehr... eintönigen Schatzkammer.
Wilhelm ließ seinen Blick über die Landschaft streifen. Der Vampir kam nicht umhin, sich der Weite bewusst zu werden, die ihn umgab. Was ihn zu einem anderen Punkt brachte... Zwar spürte Wilhelm seinen Körper, er war sich seiner Position im Stuhl, seiner Haltung, all dessen vollkommen bewusst – er spürte jedoch auch, wie real dieser Ort war. Wie auch immer die kleine Frau diese Zwischenebene erschaffen hatte, sie hatte eigene Substanz. Er spürte den Boden unter seinen Füßen und nahm den Geruch der Umgebung war. Wilhelm atmete einmal bewusst ein, um den Geruch besser zuordnen zu können. Es roch nach verbrannter Erde und entferntem Rauch. Jackpot! Dies war der Teil der Frau, der wie auch immer mit Feuer verbunden war. Er drehte sich noch einmal um sich selbst. Fast überall derselbe Anblick, verbrannte Erde, ein dunkler Horizont. Nichts, was davon ablenken konnte, keine Gedanken, die wahrnehmbar waren. In ihrem Inneren schien die Wächterin besser im Abschirmen zu sein, als an der Oberfläche. Es schien nichts zu geben, was auf Senrays Gedanken schließen ließ. Einzig in einer Richtung gab es eine kleine Abwechslung zur kahlen Landschaft – ein Baumstamm hob sich schwarz gegen den dunklen Horizont ab.
Mangels eines besseren Ziels und viel zu sehr von der Eigenartigkeit dieses Ortes absorbiert um sich um die ‚außen‘ verstreichenden Sekunden zu kümmern, ging Wilhelm auf den Baum zu.

"Senray, ist alles in Ordnung mit dir?" Magane sah sie besorgt an.
Die Angesprochene beeilte sich zu nicken, auch wenn sie selbst währenddessen noch mit ihrer Hand in ihre Nasenwurzel kniff. "Ja, ich, tut mir leid, ich... mein Kopf fühlt sich nur plötzlich so... schwer an. Ich... " Sie sah auf. Nicht nur Magane sah sie an. Hatte sie etwa eine Frage verpasst, die an sie gestellt worden war? "Ich, es ... es tut mir Leid, es ist alles gut, ich war nur kurz... ähm, wo...?" Senray sah sich unsicher um. Gerade noch hatte sie gefragt, was für ein Zusammenhang zu was auch immer am Vorabend geherrscht hatte, da hatte sich ihr Kopf mit dumpfer Watte gefüllt. Nicht direkt schmerzhaft aber auch nicht direkt angenehm.
Chief-Korporal von Nachtschatten hob leicht ihre Brauen. Wunderbar, Senray hatte also doch etwas an sie Gerichtetes verpasst.
"Ich sagte gerade,", wiederholte die Vampirin, "dass wir zu den Vorkommnissen der vergangenen Nacht gleich zu sprechen kommen. Jetzt solltest du erst einmal deinen Bericht beenden, Obergefreite."
Senray nickte, schluckte und fuhr etwas zögerlicher als zuvor fort.

Er war schon fast am Baum angekommen, als ein grelles Licht Wilhelm blendete und ohrenbetäubender Lärm ertönte. Wilhelm zuckte zusammen und wandte sich ab, doch seine Augen und sein Gehör versagten ihm im ersten Moment den Dienst. Er musste vorsichtig sein und schnell weiterkommen. Der Vampir hatte gespürt, dass auch sein physischer Körper reagiert hatte und zusammengezuckt war. Sicher wesentlich schwächer, als er in diesem mentalen Körper. Allerdings sollte er definitiv keine Zeit mehr verschwenden. So interessant der Kopf der Wächterin auch war, Wilhelm verspürte kein gesteigertes Interesse daran, dass ausgerechnet Mina von Nachtschatten mitbekam, dass er zur Informationsbeschaffung in den Kopf einer Mitwächterin eingedrungen war. Er war sich sicher, dass sich ihr Verständnis für diese durchaus effektive Methode in Grenzen halten würde.
Der Vampir blinzelte noch einige Male, um seine Sicht zu klären. Langsam begann er auch wieder mehr zu hören, als nur das Ringen, das seinen Gehörsinn eingenommen zu haben schien. So nahm er erst das Rauschen des Feuers wahr, bevor er es sah. Vor Wilhelm stand der Baum lichterloh in Flammen. Er war vom Blitz getroffen worden.
Was sollte das jetzt schon wieder? Wilhelm bemerkte, wie sich langsam Ungeduld und Frustration in ihm aufbauten. Wie machte diese kleine Frau das? Wie konnte sie ihre Gedanken hinter dieser Illusion verstecken? Er konnte immer noch nichts wahrnehmen, zumindest keinen mentalen Fetzen der Persönlichkeit der Wächterin. Stattdessen verbreitete sich langsam der Geruch des brennenden Holzes.
Wilhelm wandte sich ab. So hatte das Ganze keinen Sinn. Er würde Senray nach der Besprechung unauffällig folgen und es dann noch einmal versuchen. Im Zweifelsfall würde er etwas... überzeugender sein und den notwendigen mentalen Druck ausüben, so dass diese Illusion in sich zusammenfiel. Fürs Erste sollte er jedoch aufgeben. Übte er jetzt während der Besprechung zu viel Druck aus, fiel es am Ende noch jemandem auf. Mal ganz abgesehen davon, dass er durch das Ringen in seinen Ohren auch das Gefühl hatte, die akustischen Informationen seines Körpers nicht mehr sauber wahrnehmen zu können. Dieser Versuch war jedoch nur verschoben, nicht aufgehoben.
Wilhelm hielt inne. Eigentlich hätte ihn allein der Gedanke an den Rückzug in seinen Körper befördern sollen. Selbst bei einem in sich komplexen Verstand wie dem des Kollegen Sillybos war es kein Problem gewesen, dem leichten Ziehen des eigenen Körpers zu folgen und die mentale Ebene zu verlassen. Aber er schien einen Schritt weiter weg zu sein, als er selbst realisiert hatte. Er konnte sich nicht einfach selbst entlang der unsichtbaren Linie ziehen und aufwachen. Stattdessen sah er sich einer Wand aus Flammen gegenüber. Hoch brennender, sich ihm nähernder Flammen. Ihr Rauschen hatte er dem hinter ihm brennenden Baum zugeordnet, doch jetzt bemerkte Wilhelm auf unangenehme Art seinen diesbezüglichen Fehler.

Magane betrachtete Senray, während diese die durch ihre Daten hinzugefügten Punkte auf der Karte näher erklärte. Die DOG war blasser als zu Beginn der Unterhaltung und schien etwas langsamer in ihren Bewegungen zu sein, als noch vor wenigen Minuten. Maggie musste ihr dringend noch eine Tasse Tee in die Hand drücken, sobald nicht mehr alle Aufmerksamkeit auf der jungen Frau lastete. Wahrscheinlich waren es nur ihre Nerven aber gerade deswegen sollte Senray besser schnell wieder zu sich finden.
Die Abteilungsleiterin der SuSen war jedoch froh, dass sich Senray überhaupt so gut schlug. Als Maggie ihr erklärt hatte, dass es am besten war, wenn sie ihre Erkenntnisse selbst erklärte, hatte die DOG eine durchaus ungesunde Gesichtsfarbe angenommen. Besonders als sie Mina erwähnt hatte. Verglichen damit war Senray gerade das pure, sprühende Leben.
Magane ließ ihren Blick kurz durch den Raum schweifen. Zum Einen, um zu sehen, wer wie auf Senrays Ausführungen reagierte. Zum Anderen, um zu überprüfen, wessen Tasse ebenfalls wieder gefüllt werden konnte. Ihr Blick blieb dabei kurz am Rekruten Schneider hängen. Er hatte die Augenbrauen hochgezogen und seine Stirn in Falten gelegt. Er schien wirklich hochkonzentriert Senrays Ausführungen zu lauschen. Vielleicht zu konzentriert? Andererseits konnte man ihm daraus wohl kaum einen Vorwurf machen. Zumal er sich bisher vorbildlich zurückhielt, es schien ihm ernst damit zu sein, dass er nicht unnötig unterbrechen oder im Wege sein würde.
Während ihre Gedanken sich gerade der Frage nach der Aufrichtigkeit des Vampirs widmen wollten, bekam Magane mit, wie Senray schlussendlich wieder am gestrigen Abend angekommen war.
"Das... das war alles. Nur, also, ich verstehe immer noch nicht, also, was, nun ja, gestern Abend..."
Maggie sah kurz zu Mina und diese nickte. Sie würde Raistan und Nyria das Wort übergeben. In dem Wissen, was Senray gleich hören würde, machte sich Maggie schnell daran, deren beruhigenden Tee aufzufüllen. Sicher war sicher.

Wilhelm spürte eine erste Welle der Besorgnis in sich aufsteigen. Es war definitiv nicht normal, dass er sich nicht aus einem Verstand, in den er einfach eingedrungen war, ebenso einfach zurückziehen konnte. Der Geruch von verbrannter Erde und Rauch intensivierten sich und er sah das Flimmern in der Luft, um die sich langsam nähernde Flammenwand. Wenn er nicht aufpasste, konnte dies gefährlich werden. Der Schritt, den er in diesen Bereich des Selbst der kleinen Frau unternommen hatte, war auf mentaler Ebene real gewesen. Wilhelm hegte keinen Zweifel daran, dass es diese Ebene, diese Illusion in sich auch war. Was hieß, dass das Feuer ihm im schlimmsten Fall dauerhaften Schaden zufügen konnte. Jedoch würde er nicht hier stehen und darauf warten, dass es so weit kam.
Wenn die Wächterin es nicht anders wollte, würde er eben doch noch hier und jetzt Gewalt anwenden. Wilhelm konzentrierte sich auf den mentalen Schlag. Und spürte, wie es ihm kalt den Rücken hinunterlief. Keinerlei Reaktion. Keine Veränderung. Er sammelte noch einmal seine Macht – nichts tat sich! Nichts änderte sich! Das war weder normal noch gut.
Der Vampir konzentrierte sich erneut, versuchte, die näherkommenden Flammen auszublenden. Er konnte seinen Körper noch spüren, spürte seine Haltung im Stuhl. Aber der Weg dorthin war wie in Rauch gehüllt. Er konnte sich nicht sicher sein. Und seine Kraft, seine ganze mentale Macht... auch sie schien im Rauch eingehüllt, zum Greifen nahe aber in diesem Moment unerreichbar für ihn. Und das Rauschen der Flammen kam mit jedem verstreichenden Augenblick näher. Wilhelm begann bereits, die Ausläufer der Hitze auf der Haut zu spüren. Er musste weg von hier!
Ohne weiter darüber nachzudenken, rannte Wilhelm los. Fort von der Feuerwand und fort von dem brennenden Baum. Das war mehr Feuer als ihm lieb war, er würde es jedoch schnell hinter sich lassen. Wilhelm rannte und spürte die Anstrengung in seinen Beinen und nahm das entsetzlich reduzierte Tempo wahr, mit dem er sich bewegte. Was war das hier nur für ein verfluchter Ort? Wie war es möglich, dass er wirklich von allen seinen vampirischen Fähigkeiten abgeschnitten war?
So schnell ihn seine Beine eben bereit waren zu tragen, lief Wilhelm weiter. Er merkte, wie er Luft holte, während des Laufens. Staubige Luft, die in seinem Mund verbrannt schmeckte. Aber er schaffte es nicht, aufzuhören, während er weiter hetzte.
Ein Flimmern vor ihm fing seine Aufmerksamkeit ein und gerade noch rechtzeitig bremste Wilhelm und hechtete zur Seite. Direkt vor ihm, an der Stelle, auf die er zugesteuert hatte, war eine Flammenwand aus dem Boden geschossen.
Die Hitze war die Hölle und der Vampir fluchte und legte alle seine Kraft in seine Beine, um so schnell es ging weiter und weg zu kommen. Einen Moment streifte ihn der Gedanke, wie wenig es ihm gefiel, durch die Flammen in eine bestimmte Richtung gescheucht zu werden. Allerdings waren seine Optionen aktuell zu beschränkt, um sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Das würde er tun müssen, wenn er das Ziel erreicht hatte. Was auch immer das sein sollte.

Rach hatte sich abgewandt, als Nyria begonnen hatte, von den Hintergründen des gestrigen Experiments und der zugrunde liegenden Idee zu erzählen. Nicht nur, dass er das Ganze wusste und gestern Abend miterlebt hatte. Er ertrug auch den Gedanken nicht, dass Ophelia genau dieses Experiment angetan worden war. Dass man sie gegen ihren Willen dazu gezwungen hatte...
Er verbot sich den Gedanken. Das hatte er bereits in der Nacht davor tun müssen und er musste es jetzt tun. Egal, was er über das Experiment von damals dachte: Es hatte ihm jetzt zumindest den so dringend ersehnten Beweis geliefert, dass Ophelia noch lebte. Damit waren die Punkte auf der Karte nicht mehr leere Hoffnungssplitter, die nur dazu gemacht waren, ihn weiter zu verletzen und sein Herz zu zerschneiden, nein! Von jetzt an bargen sie den Schlüssel zur Rettung Ophelias! Sie mussten nur den Bereich weiter einschränken, sie mussten sie finden, so schnell es ging.
Der Inspektor betrachtete die anderen Beteiligten. Mina und Magane blieben ungerührt von Nyrias Bericht, sie kannten ihn ja bereits. Senray sah blass aus und er erinnerte sich daran, dass ausgerechnet sie eine Verdeckte Ermittlerin bei DOG war. Nachdem, was er bisher von ihr erlebt hatte, schien sie kaum für die Abteilung und noch weniger für diese Spezialisierung geeignet zu sein. Es grenzte wohl eher an ein Wunder, das sie bisher ihre Einsätze überlebt hatte.
Kanndra wirkte... gefasst. Wahrscheinlich hatte sie als Mitglied des ehemaligen Rettungszirkels bereits damals von dem Experiment in der UU gehört gehabt.
Rach merkte, wie ihm dies säuerlich aufstieß und sein Blick eilte weiter zu Wilhelm. Der Vampir hatte bisher kein Geräusch von sich gegeben, was hieß, dass er immerhin nicht gestört hatte. Er wirkte blasser, als zu Beginn der Besprechung. Falls das möglich war. Andererseits konnte das natürlich auch am Spiel des Lichtes im Raum liegen. Allerdings sah der Vampir auch ansonsten nicht gut aus. Er atmete flach und schnell. Rach konnte zwar nichts hören aber er sah das Heben und Senken der Brust deutlich genug. An sich wäre daran kaum etwas Besonderes gewesen, wäre der Inspektor sich nicht sicher gewesen, dass Wilhelm bisher zu keinem Moment in dem er ihn betrachtet hatte, geatmet hatte! Dazu war die Atmung unnatürlich schnell und flach. Außerdem blinzelte Wilhelm vermehrt, als würde er Tränen unterdrücken. Was spielte er für ein Spiel? Oder... betraf es ihn etwa so direkt, was hier über das Experiment erzählt wurde?
Ein Gedanke traf Rach hart, der ihn erneut Galle schlucken ließ: Eventuell nahm es den Vampir so mit, weil er damals nach dem Experiment in Ophelias Kopf eingedrungen war, um sich an ihren Gedanken zu erfreuen. Wenn es so war, dann sollte er bei der Erinnerung ruhig leiden! Wenn er Ophelias Schmerzen selbst spürte, umso besser. Rach würde Wilhelm sicher nicht ansprechen, um ihn ins Hier und Jetzt zu holen.

Wilhelm rannte und rannte. Zwei Richtungen waren ihm bereits abgeschnitten worden und doch erstreckte sich die Ödnis schier endlos vor ihm. Immer die gleiche Ödnis. Wie, verflucht nochmal, war das möglich? Der Verstand der kleinen Frau konnte sich unmöglich in alle Unendlichkeit ziehen! Und warum hatte er hiervon nichts von Außen gemerkt, nichts auch nur erahnt gehabt? Und die wichtigste Frage: Wie sollte er hier wieder herauskommen?
Er hatte kaum Zeit, dieser Frage nachzujagen, da schossen erneut Flammen vor ihm aus dem Boden. Nicht direkt vor ihm dieses Mal, aber nahe genug. Wilhelm schnappte erschrocken nach Luft, drehte sich um sich selbst und ließ ernüchtert die Schultern sinken. Er war nun endgültig vom Feuer umkreist. Während der Vampir sich in die Mitte des sich langsam schließenden Kreises bewegte, stieß er leise Flüche aus.
Zu gezielt. Das hier war kein Zufall, das war eine Falle. In die er blind hineingelaufen war.
Ein weiterer Fluch, dann zwang sich Wilhelm wieder zur Ruhe. Irgendjemand musste das hier steuern, die kleine Frau oder sonst wer. Und dieser Jemand würde ihm jetzt Rede und Antwort stehen!
"Es reicht!", rief er. Und um seinen guten Willen zu zeigen: "Ich bin mir meines Fehlverhaltens bewusst."
Keine Reaktion. Der Kreis aus Feuer kam langsam aber beständig näher. Wilhelm drehte sich erneut um sich selbst, suchte einen Ausweg. Und fand immer noch keinen.
"Was soll das?!"
Waren die Flammen langsamer geworden? Oder bildete er sich das nur ein, um sich Hoffnung zu machen? Wilhelm drehte sich langsam hektischer um sich selbst. Er begann bereits, die Hitze der Flammen zu spüren, auch wenn sie noch ein gutes Stück von ihm entfernt waren.
"Das ist kein Spiel!"
Wurde er beobachtet? Es musste so sein. Die Luft um ihn herum flimmerte, er schrie mittlerweile gegen das Fauchen der Flammen an.
"Du kannst damit Schaden anrichten, bist du dir dessen bewusst?"
Nun endlich hörte er etwas anderes als das reine Rauschen des Feuers. Wilhelm hörte ein Lachen, rau und rauchig und es schien von überall um ihn herum zu kommen. Der Vampir merkte wie es ihm erneut trotz der Hitze eiskalt den Rücken hinunterlief und er drehte sich wieder um sich selbst, auf der Suche nach der Quelle des Lachens.
"Es gibt kein Entkommen vor mir." Erneut diese Stimme, das Wispern von Rauch, das Knacken der Äste im Feuer. Es war unmöglich. Und doch schienen es die Flammen zu sein, die zu ihm sprachen. Die Flammen, die ihn umzingelt hatten.
Wilhelm merkte, wie die Unruhe ihn immer mehr erfasste. Er musste so schnell es ging hier raus. Allerdings schien ihm nichts anderes übrig zu bleiben, als sich auf das perverse Spiel einzulassen, das hier mit ihm gespielt wurde.
"Wer bist du?", fragte er also. Solange er sprach und eine Unterhaltung im Gange hielt, schienen die Flammen wenigstens nicht näher zu kommen. Es war auch so schon viel zu warm, das Feuer viel zu nahe.
"Du scheinst also endlich begriffen zu haben, kleiner Vampir."
"Nicht die kleine Frau, oder? Nein, ganz sicher nicht sie!"
Überall um Wilhelm herum schossen die Flammen fauchend in die Höhe. Das war definitiv nicht gut. Er war dabei, Luft zu holen, um seine Aussage irgendwie zu korrigieren, um irgendwas zu sagen, damit die Hitze wieder abnahm – da hörte er sanfte Schritte hinter sich. Wilhelm zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde, ehe er sich umdrehte, um zu sehen, was ihn dort erwartete. Der Anblick traf ihn überraschend. Es war die kleine Frau, Senray Rattenfaenger. Nur... anders. Sie schien jünger zu sein, noch nicht ganz Frau aber auch nicht mehr Mädchen. Und ihre Augen... Wilhelm spürte Entsetzen in sich aufsteigen, als er in diese Augen blickte, Augen rot wie die Glut.

Refizlak hatte den Eindringling abgefangen. Er hatte sich irgendwann, viele Wirte und noch mehr Jahrzehnte zuvor angewöhnt, Schutzmaßnahmen gegen die elendigen Blutsauger einzurichten. Auch wenn er auf der äußeren Ebene ohne deren Einwilligung nichts für seine Gefäße tun konnte, so konnte er doch deren Innerstes abschirmen. Er versteckte es, wie sein eigenes. Und mit jedem neuen Gefäß war er besser darin geworden, absolut nichts bis zu diesem mentalen Herzen durchdringen zu lassen. Stattdessen nahm er die Eindringlinge persönlich zur Seite, in diese von ihm geschaffene Welt. Und ließ sie dort in den Flammen verenden.
Es bereitete Refizlak ein nicht geringes Vergnügen, die Vampire zu hetzen, sie ihre Machtlosigkeit spüren zu lassen, bevor er sie mental verbrannte. Es war schon lange her, dass er dieses Vergnügen genossen hatte. Senray hatte bisher nie die Aufmerksamkeit eines der Kaltblüter auf sich gezogen. Dass es sich bei diesem nun ausgerechnet um einen ihrer sogenannten Kollegen handeln musste... und dann auch noch zu einem Zeitpunkt, an dem beide inmitten anderer Wächter saßen!
Während er den Vampir durch das verbrannte Land jagte wie ein Bluthund ein Kaninchen, fragte sich Refizlak, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Er konnte den Vampir nicht ohne Weiteres einäschern. Mindestens die Hexe mit der Senray trainierte würde etwas ahnen, wenn der Vampir ohne ersichtlichen Grund zu Asche zerfiel. Er würde ihn also gezwungenermaßen entkommen lassen müssen, wollte er nicht für Senray, und damit auch für sich selbst, Konsequenzen provozieren. Das hieß aber nicht, dass er bis dahin nett sein musste. Ganz im Gegenteil!
Das Feuer schloss den Blutsauger ein und er betrachtete seine Beute. So schwach. Und der hatte versucht, an die Gedanken seines Gefäßes zu kommen? Aber immerhin, der andere schien die Spielregeln besser zu verstehen, als es viele seiner Artgenossen getan hatten, er versuchte zu reden. Sicher würde bald das Verhandeln beginnen, das Flehen.
Refizlak selbst reizte den Vampir etwas, ließ seine Stimme durch alle Flammen gleichzeitig sprechen, um dessen Orientierung endgültig zu verwirren. So schnell gab der Blutsauger jedoch nicht auf.
"Wer bist du?"
Refizlak lachte. Dieser hier hatte also immerhin etwas Verstand bewahrt und begriff, dass noch jemand involviert war. "Du scheinst also endlich begriffen zu haben, kleiner Vampir." Er legte besonders viel Betonung in die letzten beiden Worte. Es sollte kein Zweifel bestehen, dass er...
"Nicht die kleine Frau, oder? Nein, ganz sicher nicht sie!"
Ein Fauchen entfuhr ihm und spiegelte sich in den Flammen wieder. Wie konnte er es wagen! Wie konnte er es nach dieser Jagd wagen, immer noch Refizlaks Gefäß herabzuwürdigen! Abermals verfluchte er die Tatsache, dass er diesen elendigen Blutsauger verschonen musste.
Er ließ zu, dass sein Zorn die Flammen weiter anfachte, ihre Hitze den Vampir erreichte. Und ihm kam eine Idee. Refizlak wählte sich aus den Flammen hinter dem Vampir eine Gestalt, erst die gewohnte, mit der er sich Senray präsentierte. Dann entschied er sich aber noch einmal um und wurde zu ihr. Oder eher, zu dem, was Senray einst gewesen war. Zu der Gestalt, die sie hatte, als sie ihren Pakt mit ihm schloss. Nur auf die Wunden, die damals ihren Körper übersät hatten, verzichtete er. Dem Vampir sollte klar sein, dass er keine Schwäche hatte und dass dies auch für sein Gefäß zutraf. Er sollte sie nicht blutbeschmiert sehen und auf dumme Ideen kommen.
Sanft auf dem Boden federnd bewegte er sich auf seinen Gefangenen zu, der sich zu ihm umdrehte. Endlich stand dem Blutsauger der Schock ins Gesicht geschrieben! Er war davor so entsetzlich beherrscht gewesen. Ein böses Lächeln umspielte Refizlaks Lippen.
"Sie gehört mir. Sie ist austauschbar, natürlich, aber was einmal mein ist gebe ich nicht mehr frei. Und du...", Refizlak, dessen Augen den Vampir sowieso schon fest im Griff hatten, konzentrierte seinen Blick noch mehr. Der Vampir zuckte zurück und Schmerz zeigte sich ein seinen Zügen, als hätte ihn ein heißer Faustschlag getroffen. Refizlaks Lächeln intensivierte sich. "...bist hier in meinem Reich. Du hast versucht, zu nehmen was mein ist, zu beschädigen was mein ist. Ich dulde dergleichen nicht." Bei den letzten Worten, egal mit wie viel Ruhe er sie gesprochen hatte, waren die Flammen um sie her wieder höher gesprungen. Sie fauchten bedrohlich und ihr Licht tauchte ihn selbst in seiner geliehenen Form mehr in Schatten, verdunkelte seine Züge weiter.
Der Vampir sah entsetzt aus, er schloss die Augen und schien sich immer mehr auf jedes Wort konzentrieren zu müssen. "In... deinem Reich? Was... bedeutet das?"
Refizlak wedelte ungeduldig mit dem Arm. Was für eine Frage! Aber was sollte man auch von so einem elendigen Blutsauger erwarten? "Begreifst du doch noch nicht? Du hast dich mir ausgeliefert. Es liegt jetzt an mir zu entscheiden, was aus dir wird."
Wenn es doch nur so wäre! Um seine Worte zu unterstreichen und um seinem eigenen Frust über die Grenzen, an die er sich in diesem Fall halten musste, Luft zu machen, ließ Refizlak die Flammen erneut höher lecken. Ihre Hitze musste bereits jetzt mehr als unangenehm für den Kaltblüter sein. Und so wie er hechelte... etwas Rauch und aufgewirbelte Asche, die ihm seine mögliche Endgültigkeit vor Augen führen konnten, würden seinen Gefangenen vielleicht schneller gefügig machen? Allein der Gedanke an die brennenden Teilchen in den Lungen des Vampirs, ließen Refizlak wieder erfreut und voller Bosheit lächeln.
Der Vampir hingegen schien fast wie erstarrt in der Mitte des feurigen Kreises. ‚Das Kaninchen stellt sich also tot, um seinem Häscher doch noch zu entgehen.‘ Aber so leicht würde er ihn nicht davon kommen lassen. Erst würde er noch etwas mit seiner Beute spielen.
"Wie gerne ich dich einfach verschlingen würde. Aber vielleicht kannst du ja noch nützlich werden?"
Refizlak konzentrierte sich mehr auf seinen gewählten Körper – was zur Folge hatte, das er sich kurz in der Gestalt des Mannes zeigte, der er für Senray war, ehe er sich wieder besann und auf ihre Gestalt zurück wechselte. Nun legte er den Kopf schief und betrachtete die gequälten Züge des Gegenübers. Er selbst musste verspielt wirken. So machte das Ganze mehr Spaß. Und Refizlak war bewusst geworden, wie er auch noch einen Vorteil aus dieser Situation schlagen könnte. Einen nicht zu verachtenden Vorteil.
"Sag' mir deinen Namen, Blutsauger!"
Der Gefangene blinzelte nur, starrte ihn entsetzt an, ohne sich weiter zu rühren. Refizlaks Züge verfinsterten sich schlagartig wieder. Offensichtlich war die Peitsche wesentlich effektiver als das Zuckerbrot. Hitze schlug erneut hoch und der Vampir schnappte nach Luft.
"Ich...", brachte er schwach hervor.
"Ich bin es nicht gewohnt, eine Aufforderung zweimal zu sagen. Du hast diese eine Chance, Zecke!" Refizlaks Stimme schnitt scharf durch die Luft.
Der Vampir starrte zu Boden, als wolle er dem Blick der Frauengestalt ausweichen. "Ich habe kein gutes Gefühl dabei..."
Ref lachte dunkel auf. "So?", fragte er und ließ die Flammen nach dem Blutsauger lecken. Sie berührten ihn nur fast. Aber auch, wenn sie ihn nicht verbrannten, sah er zu seiner Zufriedenheit, dass ihre Hitze sein Opfer quälte und ihm Schmerzen bereitete. So sollte es sein.
Der Vampir schnappte entsetzt nach Luft. "Nicht!" Verzweiflung lag mittlerweile in seiner Stimme, Verzweiflung und Schmerz. Beides war süßer Gesang in Refizlaks Ohren.
Inspiriert von diesem Wimmern sprang er fast vor zu seinem Opfer. Seine gewählte Gestalt war kleiner als die des Blutsaugers aber das war egal. Mittlerweile dürfte sogar diesem ignoranten Exemplar bewusst geworden sein, dass das äußere Erscheinungsbild nichts über die Macht dahinter aussagte. Das böse Lächeln umspielte wieder Refizlaks Züge, als der Vampir versuchte, zurückzuweichen, nur um festzustellen, dass hinter ihm immer noch eine brennende Wand war. Statt sich weiter zu bewegen, blieb er stehen und brach in scheinbar unkontrolliertes Zittern aus.
Sein eigenes Lachen war nun auf diese Gestalt konzentriert und glockenklar. "Frierst du etwa, kleiner Vampir? Soll ich dich etwas... wärmen?" Das letzte Wort hatte er sanft und dunkel betont, während er den letzten Schritt zwischen sich und dem Kaltblüter überwunden hatte. Was sie jetzt noch trennte, war keine Armeslänge mehr. Refizlak genoss die Angst in den Zügen des Vampirs.
"Nein, nein, bitte..."
"Dann", er berührte sanft, fast liebevoll und verspielt mit seiner Rechten die Brust des Vampirs. Dieser zuckte stark zusammen und schien einen Schrei zu unterdrücken. Etwas, was Refizlak nur noch mehr anfeuerte. Er lies seine Finger zart über die Brust des Vampirs nach oben gleiten, bis an dessen Hals. Dort hielten sie kurz inne, ehe er seinem Gefangenem weit weniger sanft gegen das Kinn schnippte. Seine Stimme verlor augenblicklich das Verspielte. "Sag' mir deinen Namen!"

Rach hatte Wilhelm nicht aus den Augen gelassen. Während Raistan erzählt hatte, war der Rekrut tatsächlich noch blasser geworden und seine Hände hatten sich verkrampft. Insgesamt schien er mit jeder Minute immer gehetzter zu wirken. Irgendwann hatte er die Augen geschlossen und gewirkt, als müsse er sich auf das Atmen konzentrieren. Das war nun wirklich überzogen. Oder waren seine Erinnerungen an Ophelias Eindrücke von damals so stark, so lebendig? Was hatte dieser Egel sonst noch alles aus ihrem Kopf gezogen? Desto mehr der Zauberer erzählte, desto mehr fokussierte sich Rach auf den Vampir. Er blendete Raistan und Nyria nicht direkt aus, er konzentrierte sich nur auch nicht auf sie. Mittlerweile ging es um das Experiment von gestern Abend und Wilhelm... Wilhelm blinzelte, als würde er Tränen unterdrücken. Langsam trat gut sichtbar Schweiß auf Stirn und Schläfen des Vampirs.
Dies war nun wirklich mehr, als Rach ihm an schauspielerischer Leistung zutraute! Irgendetwas geschah hier gerade!
Der Mann lies seinen Blick schnell durch den Raum gleiten – niemand anders zeigte irgendwelche Anzeichen, dass etwas Besonderes im Gange war. Magane hatte Senray beruhigend die Hand auf die Schulter gelegt und die junge Frau wirkte tatsächlich etwas weniger blass. Auch wenn sie immer noch mitgenommen aussah von dem, was sie hörte. Ebenso der Rest. Er sah Besorgnis, Reserviertheit auf den Zügen der Mitstreiter. Raistan wirkte angestrengt und Nyria schien vollkommen auf ihn konzentriert. Aber bei niemandem gab es Anzeichen dafür, das etwas komplett aus dem Ruder lief. Bei niemandem außer Wilhelm zumindest. Was also hatte das zu bedeuten? Gerade wollte Rach seinen Gedanken laut Luft machen, da bemerkte er die nächste Veränderung am Vampir. Dessen Lippen bewegten sich stumm. Er schien um Gnade zu flehen, wenn der Inspektor die Bewegungen richtig deutete. Und Wilhelm weinte. Tränen liefen ungehindert seine Wangen hinunter. Der Vampir schien unfähig, es zu verhindern.

Wilhelm schrie. Der Schmerz, als ihre Hand seine Brust berührte, war zu viel. Für einen kurzen Moment hatte er ihn unterdrücken können. Aber sobald sie begonnen hatte, ihre Hand nach oben fahren zu lassen, war es zu viel geworden. Dieses Brennen! Es zerfraß ihn, die Hitze würde ihn vernichten! Es gab kein Entkommen, um ihn herum waren nur Hitze und Schmerz. Selbst das Atmen bereitete ihm unsägliche Schmerzen, die Luft schien seine Lungen zu versengen, Rauch kratzte in seinem Hals und hätte ihn husten lassen, wenn er nicht immer noch geschrien hätte. Seine Beine gaben nach, er verlor die Orientierung. Es gab nur noch die Schmerzen, die seinen mentalen Körper zerfraßen. Er musste fort von hier, fort von ihr.
Da war Etwas... durch die Schmerzen versuchte er sich zu erinnern, was es war. Sie hatte etwas gewollt. Seinen Namen! Er schnappte nach Luft, schluckte schwer und trocken und sah mit verschleiertem Blick zu ihr auf.
"Wilhelm... ich heiße Wilhelm Schneider!" Seine Stimme klang ungewohnt, rau und kehlig.
Ihr Lächeln schien noch breiter zu werden, noch dunkler, noch bedrohlicher. Sie war ein Raubtier und er war ihre Beute. Aber spielte das wirklich noch eine Rolle?
"Na also... War das denn so schwer?" Ihre Stimme hatte wieder diesen schrecklich verspielten Klang und ihre Hand näherte sich seinem Kinn. Er schloss die Augen in Erwartung neuerlichen Schmerzes. Doch da kam nichts. Wilhelm öffnete blinzelnd seine Augen und stellte fest, dass ihre Hand knapp unter seinem Kinn innegehalten hatte. Doch allein die Nähe brannte, desto länger sie ihre Hand nahe seiner bereits angegriffenen Haut beließ. Er richtete seinen Blick wieder auf ihr Gesicht, versuchte den Schmerz wegzublinzeln. Ihre roten Augen fingen seinen Blick ein und hielten ihn gebannt. Es war Wilhelm unmöglich, wegzusehen.
"Du bekommst von mir eine Chance, hier herauszukommen, Wilhelm Schneider. Sieh es als..." Sie bewegte ihre freie Hand durch die Luft, machte irgendeine Geste, die der Vampir nicht verfolgen konnte. Seine Augen waren vollkommen von den ihren gebannt. "Vorschuss. Der natürlich zurückgezahlt werden muss. Hast du mich verstanden?"
Die plötzliche Strenge ihrer Worte schien einem Peitschenknall nicht unähnlich und Wilhelm beeilte sich, zu antworten. Er konnte jedoch das Entsetzen nicht aus seiner Stimme halten, als er flüsterte: "Ja, natürlich."
Er sah ein triumphierendes Leuchten tief in ihren Augen aufblitzen. So erinnerten diese ihn an einen Sonnenaufgang – schön, grausam, tödlich. Was auch immer jetzt geschehen würde, er hatte jede Kontrolle darüber verloren.
"Dann steh auf! Hinter dir ist eine Passage, Wilhelm Schneider, durch die du", sie hielt kurz inne, ihr Blick ließ seine Augen los. Augenblicklich sackte er weiter in sich zusammen. Sie betrachtete seinen Körper, ehe ihr Blick wieder den seinen traf und ihn erneut fesselte. "...ohne weiteren Schaden kommen wirst. Wenn du schnell genug bist, versteht sich."
Dieses bösartige Lächeln auf ihren Lippen... Wilhelm fragte sich, ob er es je vergessen können würde.
Aber schnell genug? Was sollte das heißen? Er hatte kaum noch Kraft, die Hitze, der Schmerz, er war ausgebrannt. Wie sollte er jetzt noch rennen?
Sie war jedoch noch nicht fertig mit sprechen. "Wagst du es noch einmal, dich an meinem Besitz zu vergreifen, versuchst du noch einmal..."
Blankes Entsetzen durchströmte ihn bei dem Gedanken. "Niemals!"
Das Lächeln der Frau war humorlos, anders als zuvor erreichte es nicht ihre Augen. "...in den Kopf von Senray Rattenfaenger einzudringen, werde ich dich vernichten, Wilhelm Schneider. Du weißt jetzt, dass ich die Macht dazu habe. Dein Preis..."
Ihr Blick ließ seinen erneut los und schien sich der ‚Landschaft‘ um sie herum zu widmen. Wilhelm stand auf, so schnell er es wagte und sich dazu in der Lage sah. Er schluckte schwer, trocken und musste einen Hustenreiz unterdrücken. Seine Kehle fühlte sich nicht einfach nur ausgedörrt an. Es war, als klebte Asche in ihr, die sie weiter austrocknete. Auch seine Beine fühlten sich schwach an, fast hatte er Angst ihnen zu vertrauen. Angst... ein Gefühl, das er schon vergessen geglaubt hatte. Das jetzt so dominant in ihm vorherrschte.
Die junge Frau schien ihre Entscheidung getroffen zu haben, sie sah ihn wieder an. Und erneut stellte Wilhelm fest, dass er machtlos war, willenlos. Er konnte ihrem Blick nicht ausweichen, konnte sich nicht abwenden. Welch grausame Magie beherrschte sie? Wie konnte sie ihn nur so bezwingen, so unterwerfen? Er spürte die Hitze überall, seine Brust und sein Kinn schmerzten unaufhörlich, atmen, schlucken... er fühlte sich beraubt, verletzt. Er musste endlich fort, wollte es endlich hinter sich haben.
"Dein Preis, Wilhelm Schneider, besteht darin, dass du die Frau, die du als Senray Rattenfaenger kennst, beschützen wirst, bis sie und Ophelia Ziegenberger an einem sicheren Ort sind. Sie wird sich nicht davon abhalten lassen, an dieser närrischen Suche und Rettung teilzunehmen, egal welche Gefahr das für sie darstellen kann. Und auch wenn ich viel Macht habe... Ich habe kein Interesse daran, meine Energie an solch eine Lappalie zu verschwenden. An meinerstatt wirst also du sie beschützen. Du wirst verhindern, dass man ihr vor oder während der im Zusammenhang mit der Suche und Rettung von Ophelia Ziegenberger stehenden Aktionen auch nur ein Haar krümmt. Erst, wenn beide in Sicherheit sind, so dass auch keine... eigenständigen Aktionen mehr von Senray Rattenfaenger zu befürchten stehen, bist du von deiner Schuld erlöst. Solltest du jedoch auf die Idee kommen, mir durch sie Schaden zufügen zu wollen... sei dir gewiss, Wilhelm Schneider: Du würdest es vielfach bereuen, auch nur einen Gedanken daran verschwendet zu haben! Hast du mich verstanden und akzeptierst du die genannten Bedingungen?"
Wilhelm nickte, schluckte. "Ja, ich... habe verstanden und ich... werde mich daran halten." Seine Stimme war nun endgültig nicht mehr als ein Flüstern.
Sie schloss kurz die Augen, schien seine Worte aufzusaugen. Wilhelm spürte erneut, wie der Sog nachließ, seine Beine zitterten.
"Dann lauf, kleiner Vampir! Lauf! Bevor ich es mir doch noch anders überlege."
Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Wilhelm drehte sich um und mit aller ihm verbliebenen Kraft rannte er. Der Durchgang, den sie versprochen hatte, war da. Zwischen all dem Feuer war eine flammenlose Stelle. Doch schwarzer Rauch versperrte ihm dort die Sicht. Blind rannte er hinein. Er musste husten, schluckte schwere Asche. Der Rauch brannte in seinem Hals, seiner Nase, seinen Augen. Tränen liefen ihm die Wangen hinunter, doch es war ihm gleich. Er musste nur fort, weg von hier. Plötzlich war da ein deutliches Ziehen, ein wohlbekanntes Ziehen. Wilhelm wurde überflutet von Dankbarkeit, als er seinen Körper spürte und sich selbst, mit all der Kraft, die er noch hatte, zurückzog.

Senray hatte sich elend gefühlt, ängstlich, nutzlos. Und die Bilder, die sie durch die Beschreibungen des Zauberers in ihrem Kopf hatte, hatten alles nur noch schlimmer gemacht. Erst als Magane ihr sanft die Hand auf die Schulter legte, war es wieder besser geworden. Wärme hatte sich wie in liebevollen Wellen in ihr ausgebreitet und sie hatte einen Teil des Schreckens loslassen können, um sich wieder auf Raistans Worte zu konzentrieren. Bis dieser von Rach unterbrochen worden war.
"Ist alles in Ordnung, Rekrut?"
Rach hatte seine Stimme nicht wirklich erhoben, dennoch waren alle Blicke von Raistan auf ihn gewandert.
"Ja, natürlich.", hatte Wilhelm ihm geantwortet, noch leiser, irgendwie... gepresst?
Senray sah, wie Rach die Augenbrauen leicht zusammenzog. Ihr Blick wollte gerade zum Vampir wechseln, um zu sehen, um was es gerade ging, als die Frau rechts von ihr einfiel: "Schön, können wir dann vielleicht weiter machen? Und kann Raistan von jetzt an vielleicht ohne Unterbrechungen zu Ende erzählen?" Sie schien noch mehr auf den Lippen zu haben, es sich jedoch zu verkneifen. Es war auch so aus Senrays Sicht schon harsch genug gewesen.
"Natürlich.", sagte Rach, die Augenbrauen immer noch zusammengezogen, sein Blick immer noch auf Wilhelm gerichtet.
Senray achtete nicht weiter auf ihn, eben so wenig, wie sie wieder zu dem Zauberer sah, als dieser erneut ansetzte. Stattdessen sah die junge DOG zu Wilhelm, der leicht abseits des Kreises saß. Er sah tatsächlich blass aus und fast so als...
Während Senray Wilhelm betrachtete, schien Leben in ihn zu kommen. Er bewegte sich, stand auf. Doch irgendwie wirkte er... fahrig? Fast unsicher auf seinen Beinen. Jetzt, wo sie sein Gesicht besser sehen konnte, erschrak Senray. So wie es aussah, hatte der Vampir geweint! Aber... warum? Hatte er vielleicht Schmerzen? Er sah zumindest gequält aus und er bewegte sich alles andere als sicher. Seine Hand schien vor ihm tasten zu wollen, als wäre er halb blind.
Senray merkte wie sich ihr ein Kloß im Hals bildete. Vampir hin oder her. Es sah wirklich nicht so aus, als würde es ihm gut gehen. Gerade, als sie das dachte, traf Wilhelms Blick den ihren und das Entsetzen und die Emotionen die darin brannten, trafen sie hart. Er zögerte nur einen kurzen Augenblick, dann schien Wilhelm regelrecht aus dem Raum zu fliehen. Sein Blick schien den ihren dabei jedoch nicht loslassen zu können. Erst, als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, fühlte sich die junge Frau wieder befreit.
Was war das gerade? Sie merkte, wie ihr Herz wie wild pochte und die Nervosität wieder voll zu ihr zurückgekehrt war. Senray schloss die Augen und konzentrierte sich, wie zu Anfang, auf ihre Atmung. Sie wusste weder, was da eben passiert war, noch sonst irgendwas. Sie realisierte auch nicht, ob jemand auf Wilhelms Verhalten einging. In ihr hallte nur eine Frage wieder: Warum hatte der Vampir sie so angestarrt? So, als fürchtete er sich, als fürchtete er... sie? Doch das war Unsinn! Und Etwas daran machte Senray wirklich Angst: Was nur konnte scheinbar ungesehen in diesen Raum eindringen und einen Vampir dermaßen verstören, dass er floh?

03.04.2017 23: 15

Kanndra

"Schön, können wir dann vielleicht weiter machen? Und kann Raistan von jetzt an vielleicht ohne Unterbrechungen zu Ende erzählen?"
"Natürlich."
Nyria nickte Raistan zu. "Vielleicht kommst du dann zu den Ereignissen von gestern abend?"
Er sprach mit stockender Stimme und sehr leise, doch in dem Raum war es so still geworden, dass Kanndra keine Mühe damit hatte, ihn zu verstehen.
"Nach dem Experiment mit Fräulein Ziegenberger wurde mir allmählich klar, dass es möglich sein musste, die Wellenlänge der Gedankenwellen des Vampirs zu ermitteln und ihm so auf die Spur zu kommen. Beziehungsweise seinen Gedanken. Man musste nur HEX auf die richtige Wellenlänge einstellen und konnte so in den Kopf des Vampirs eindringen. Soweit jedenfalls die Theorie." Erschöpft hielt Raistan keuchend inne und es sah aus, als würde ihm das Luftholen Schmerzen bereiten. Besorgt gab Nyria ihm seine Tasse und nach einem Schluck Tee ging es ihm schon besser.
Kanndras Aufmerksamkeit ließ kurz nach, als Quetschkorn etwas von Antennen und HEX zu erklären begann, das sowieso nicht verstehen würde. Der Rekrut neben ihr hatte sich erhoben und starrte die DOG an, während er regelrecht aus dem Raum floh. "So langweilig sind die Ausführungen von Quetschkorn nun auch wieder nicht", dachte sie ein wenig amüsiert. Vielleicht hatte er aber auch was anderes vor. Auch die anderen reagierten nur mit ärgerlichen oder erleichterten Blicken, keiner wollte den Zauberer erneut unterbrechen. Dann zog Raistans Bericht auch sie wieder in den Bann.
"Ich habe den Versuch also von innen heraus gesteuert, in dem ich mich über Elektroden mit HEX verbunden habe. Nachdem es mir gelungen war, die Feinjustierung einzustellen, hatte ich Kontakt."

Der Gefreite Düstergut setzte einen letzten Punkt hinter den letzten Satz des mühsam verfassten Berichtes über den Handtaschenraub in der Kleingasse. Er war der Meinung, nun habe er sich eine ordentliche Partie Kartenspiel redlich verdient. Seine Kasse konnte auch ein wenig Auffrischung vertragen, auch wenn es bei den Spielen mit den Kollegen besser war, eher um kleinere Beträge zu zocken, wie er bereits leidvoll erfahren hatte. Vielleicht traf er ein potentielles Opfer im Aufenthaltsraum der Abteilung?
"Bin mal gerade den Bericht weg bringen", teilte er Septimus mit, der sich gerade auf eine Verdeckte Ermittlung vorbereitete, in dem er verschiedene Perücken aufprobierte und wedelte mit der bearbeiteten Akte.
"Ist gut", kam die abgelenkte Antwort von dem sich in einer Spiegelscherbe kritisch beäugenden Gnom.
Für Fynn war es natürlich keine Frage, an welchen Abteilungsleiter er sich wenden würde. Er nutzte noch immer jede Gelegenheit, um Mina zu sehen, auch wenn sie im letzten Jahr immer... verschlossener geworden war. Leider war auch ihr Büro verschlossen. Einen Moment der Unsicherheit, ob er doch zu von Grauhaar gehen sollte später schob er die Akte schulterzuckend unter der Tür durch. Nachher hatte der Werwolf noch weitere Aufgaben für ihn, das galt es schließlich zu vermeiden. Beschwingt stieg er die Treppe hinunter.
Kurz vor dem Aufenthaltsraum stieß er fast mit einem Rekruten zusammen. Dieser hatte den Kopf in den Händen vergraben, als hätte er eine Art Migräne und achtete nicht darauf, wo er hinlief.
"Ey, pass auf! Hast wohl einen Anschiss bekommen, was? Keine Sorge, das passiert ..."
Auf seine gut gemeinten Worte erhielt er jedoch nur ein Zischen, bei dem der Vampir seine Eckzähne zeigte. Danach wankte dieser weiter den Flur hinunter.
"Was war das denn? Ein Benehmen hat der..." Kopfschüttelnd legte Fynn die letzten Meter zurück und riss schwungvoll die Tür auf. Sieben Augenpaare blickten ihn unwillig bis neugierig an.
"Oh... Entschuldigung. Äh... ich wusste nicht..."
"Da hängt ein Zettel an der Tür." Mühsam beherrschte die Vampirin sich, um nicht noch einen Hinweis auf die mangelnden Lesefertigkeiten des Gefreiten hizuzufügen, aber er schwang auch ungesagt mit.
"Schon gut. Viel äh... Spaß noch." Düstergut machte die Tür wieder zu und trollte sich zu den SEALS. Dort fand sich bestimmt jemand zum Ausnehmen.

"Entschuldigt. Bitte erzähl weiter, Herr Quetschkorn."
Nach dieser Unterbrechung brauchte Raistan einen Augenblick, um den Faden wieder zu finden.
"Wie gesagt, ich hatte Kontakt. Das heißt, ich hörte eine weibliche Stimme und empfing jede Menge... Emotionen." Die Stimme des Zauberers schwankte bei dem Wort und Rach lief unwillkürlich ein Schauer über den Rücken. "Der Vampir stieß eine Warnung aus und nannte Ophelia beim Namen, daher kann ich mit Sicherheit sagen, dass sie noch lebt. Sie... hatte Angst vor einem Käfig."
"Ein Käfig?", entfuhr es Kanndra.
"Ja, ich weiß. Dieser Vampir ist ein echtes Ungeheuer. Wer jemandem so etwas antun kann hat es verdient, dass man ihm ordentlich in den Hintern tritt." Zum ersten Mal ließ Raistan etwas von seinem Zorn durchblitzen.
"Da stimme ich dir zu, aber das meinte ich nicht... Ich... also das hört sich jetzt vielleicht ein wenig verrückt an, aber ich habe von Ophelia geträumt."
"Geträumt?", zweifelnd blickte Rach die Späherin an. Vielleicht war dieser Strohhalm doch ein wenig zu dünn?
Sie schickte ihm ihrerseits einen Blick, wie er ihn im letzten Jahr trotz seiner Sonderstellung als Inspektor häufiger aufgefangen hatte. Einen Blick voller Mitleid. Das konnte er jetzt nicht ertragen und schaute schnell weg.
"Ja. Und in einigen dieser Träume habe ich Ophelia in einer Art Käfig gesehen. Er hing in tiefer Dunkelheit und darunter war ein gähnender Abgrund."
Aufgeregt nickte Raistan."Das ist genau das Bild, das ich auch empfangen habe. Sie saß in der Eiseskälte, nur die Gitterstäbe, die sie vor einem tiefen Fall bewahrten.... und in der all Dunkelheit nur ein winziges Licht zu Verfügung. Ich glaube, Fräulein Ziegenberger ist in ernsthafter Gefahr. Sie braucht unsere Hilfe dringend!"
Rach schluckte schwer und auch die anderen Mitglieder des Rettungszirkels machte der eindringliche Appell ernst und nachdenklich.
"Da war aber noch etwas. Wasser... ein Fluß oder so etwas.", erinnerte die Gennuanerin sich.
"Unterirdisch? Äh... das hört sich doch irgendwie also... unterirdisch..."
"Das Abwassersystem!" Das kam gleich aus mehreren Kehlen und Kanndra seufzte innerlich. Die Kanalisation von Ankh-Morpork schien sie immer wieder anzuziehen. Schon diverse Male hatte sie sich durch die stinkende, feuchte Dunkelheit dort unten tasten müssen und hoffte jedes Mal, das es das letzte Mal gewesen sein möge.
Rach hingegen war froh, ein konkretes Stichwort bekommen zu haben. Seine Hochstimmung hatte sich im Laufe dieses Treffens mit seinen anderen Gefühlen zu einem unentwirrbaren Knäuel zusammengeballt und in seinem Hals angestaut. Er konnte es fast körperlich spüren, wie es gegen seine Kehle drückte. Er musste endlich etwas tun! "Ich finde, Herr Quetschkorn hat recht. Wir können nicht länger untätig im Wachhaus sitzen. Deshalb schlage ich vor, wir teilen Teams ein, die das eingegrenzte Gebiet noch ein mal absuchen. Irgendetwas muss doch zu finden sein!"
Mina krauste die Stirn. "Das ist zumindest der beste Vorschlag den wir bisher haben."
"Mal sehen...", der Inspektor musterte die Karten. "Die Quadranten sollten nicht zu groß werden, wir können sie aber auch nicht zu klein machen, da wir nicht genug Leute haben."
"Rogi ist bestimmt noch mit dabei. Sie konnte heute nicht kommen, will aber auf dem Laufenden bleiben und an weiteren Treffen teilnehmen", informierte Magane die anderen.
"Ich kann sie mal fragen, ob sie mitmacht, aber vorerst... Ich würde sagen, der erste Abschnitt ist das Gebiet zwischen Billige Straße und Fünf Wege. Würdet ihr das übernehmen, Nyria und Raistan?" Er hatte kein Problem damit, dass höhergestellte Wächter im Raum waren und auch keins, den Zauberer als Zivilisten einfach mit einzuplanen. Rach musste zugeben, dass die Frequenzsuche beeindruckend gewesen war, aber seiner Meinung nach hatte Raistan trotzdem noch einiges wieder gut zu machen.
Die übrige Gegend war schnell aufgeteilt und niemand hatte dem Gefreiten widersprochen.
"Und denkt dran, achtet nicht nur auf die schon angesprochenen Gebäude, sondern auch auf Einstiege in die Kanalisation. Es ist durchaus möglich, dass sie so einen an einer unauffälligen Stelle als..."
Die Späherin stockte mitten im Satz. Dann rollten ihre Augen nach oben, so dass fast nur noch das Weiße in ihnen zu sehen war. Erschrocken schnappte Senray nach Luft. "Mä'äm, geht es dir gut? Deine..."
"Wo die Mädchen wie grüne Gänse schnattern", unterbrach Kanndra sie. Ihre Stimme klang allerdings anders als zuvor. Sie hatte einen tieferen, rauheren Unterton als Senray bisher vernommen hatte. "Dunkle Schwingen flattern. Tief unter den Mauern! Uralte Schatten lauern!" Die letzten Worte hatte die Gennuanerin beinahe geschrieen.
Rach hatte sich überrascht aufgerichtet, löste seinen Blick aber dann von Kanndra und ließ ihn durch den Raum wandern, um die Reaktionen der anderen Wächter auf dieses Schauspiel zu beobachten, unsicher wie er selbst reagieren sollte. Bis auf Magane, die relativ gelassen wirkte, schien es den anderen jedoch nicht besser zu gehen. Senrays Blicke schossen ebenfalls durch den Raum, Minas Augenbrauen zogen sich unwillig zusammen.
Auch Nyria beugte sich überrascht vor. "Was zu Pandämonium soll das denn?"
"Klarer Fall von zeitweiliger Bessessenheit", murmelte der Zauberer an ihrer Seite.
"... Eingang benutzen." beendete Kanndra ihren Satz, merkte, dass sie alle anstarrten, obwohl das Gesagte das wohl kaum hervorgerufen haben konnte und fragte: "Was denn?" Dann dämmerte es ihr. "Oh, nein. Wat?"
"Ich fürchte, dein Schutzgeist hat sich gemeldet", bestätigte Maggie ihr.
"Was hat er gesagt?"
"Irgendwas von Mädchen, die schnattern wie Gänse und Schatten, die unter Mauern lauern."
"Grüne Gänse", betonte Nyria und zeigte grinsend auf die Karte. Ihr Finger lag genau im Zentrum der vielen Markierungen.
Sofort starrten alle so intensiv auf die gezeigte Straße, dass es ein Wunder war, dass die Karte keine Löcher bekam.
"Natürlich, der Grüngansweg!"
"Und die Mädchen?"
"Vielleicht eine Familie mit äh... vielen Töchtern oder so..."
"War da nicht auch diese Mädchenschule an der Ecke zu An der Mauer?"
Alle begannen, aufgeregt durcheinander zu reden, bis Kanndra energisch auf den Tisch schlug. "RUHE!" Als sie die Aufmerksamkeit der Versammelten hatte, bemerkte sie: "Das ist eine gute Spur. Der Hinweis von Wat war für seine Verhältnisse sogar bemerkenswert gut. Aber um sicher zu sein, dass wir unsere Energie nicht auf das falsche Ziel verschwenden, sollten wir die beiden Straßen erst einmal observieren."
Die meisten nickten und selbst Rach, der aussah, als wollte er sofort losstürmen, stimmte schließlich zu.
"Gut, weiß jemand etwas über die Gegend?"
Die Werwölfin wiegte den Kopf. "Die Streifenrouten gehen da nicht lang. Aber es gibt eine Art Markt an der Mauer, glaube ich."
"Den kann man gut zur Tarnung nutzen. Da ist ja auch eine Gaststätte in der Nähe. Sonst noch etwas?"
Doch keiner hatte noch etwas beizutragen. "Wir sollten wir so viele Informationen über die Umgebung sammeln wie möglich. Ich schlage vor, wir observieren erstmal bis morgen früh um... sagen wir zehn Uhr, dann treffen wir uns wieder." Kanndra sah sich im Raum um und warf einen Blick auf ihre Taschenuhr, dann auf den Zauberer. "Dich kann ich als Zivilisten dafür nicht einteilen, Raistan. Aber verbieten kann ich dir natürlich nicht, dich dort aufzuhalten."
"Schon gut, ich glaube ich brauche sowieso noch etwas Ruhe."
"Wenn wir aber den Rekruten Schuster..."
"Schneider", korrigierte Mina. "Wo ist der überhaupt hin?"
"...Schneider mit rechnen, sind wir genug Leute, um in Drei-Stunden-Schichten zu arbeiten."
Rach öffnete den Mund, doch Maggie war schneller. "Die erste würde ich gern übernehmen. Ich kann die Kinder so spontan nicht über den Feierabend hinaus allein lassen."
"Dann nehme ich die zweite", meldete sich der Inspektor, ehe ihm noch jemand zuvor kommen konnte.
"Wenn du dir die Nachtstunden mit dem Rekruten teilen könntest, Mina?" Der Chief-Korporal nickte. Ihr kam kurz die Frage in den Sinn, ob sie sich auf sein Erscheinen verlassen konnte. Doch dann fiel ihr ein, dass es vermutlich eher fraglich war, ob er wieder gehen würde. Und wo sie schon mal dabei war - sein plötzliches Verlassen des Treffens war schon merkwürdig.
"Dann nehme ich die Spätabendschicht – fehlt noch jeweils die von sieben bis zehn heute abend und morgen früh."
"Heute abend", kam es von Nyria wie aus der Armbrust geschossen.
"Ich hoffe, du bist eine Frühaufsteherin, Senray." Kanndra notierte sich die Zeiten. "Dann weiß jetzt hoffentlich jeder Bescheid, was er zu tun hat."

04.04.2017 18: 07

Sebulon, Sohn des Samax

Ein Kobold, wenige Zentimeter groß, glitt lautlos an einem Hosenbein hinab, huschte zur angelehnten Tür und glitt in den leeren Gang hinaus. Wer hätte gedacht, dass ein Nickerchen im Besprechungszimmer unverhofft von einem Einsatztreffen unterbrochen werden würde? Und wer hätte gedacht, dass so viele interessante Informationen dabei rumkommen würden?
Flink sauste er den Gang entlang und am Rekrutentresen vorbei nach draußen. Dann machte er sich an eine Kletterpartie, die Regenrinne hinauf bis in den dritten Stock. Durch das offene Fenster des Großraumbüros schlüpfte Rib zurück ins Wachhaus, sprang auf einen unaufgeräumten Schreibtisch, nahm sich ein leeres Blatt und einen Stift und schrieb unbeholfen in Großbuchstaben eine Nachricht auf. Dann faltete er das Blatt geschickt, stieß sich vom Schreibtisch ab und glitt an dem Papierflieger hängend durch die geöffnete Bürotür über den Gang bis vor die Tür von Raum 301.
Die Nachricht schob er unter der Tür durch, dann schlenderte er zur Treppe und hüpfte sie gut gelaunt hinab.
Heute, fand Rib, würde er sich etwas Spaß gönnen und entspannt observieren gehen.

04.04.2017 22: 15

Rach Flanellfuß

Er hatte daheim nur noch etwas gegessen, das schon vorbereitete Hemd gewechselt[7] und war wieder aufgebrochen. Seine Observation war leider nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Da waren die Quoten für das heutige Abendspiel von Eintracht Pennhügel gegen Alte Freunde Düstergut vielversprechender und er klopfte sich auf die Brusttasche in der sich der erworbene Wettschein befand. Umso mehr hoffte er nun, Rogi wieder mit in die Ermittlungen einbeziehen zu können.
Rach zögerte für einen Moment, bevor er die Treppen zum Dachgeschoss hochstieg. Seit er der Wache beigetreten war, hatte er dieses Gebäude nicht mehr betreten. Schließlich sah er die Ausbildungsleiterin fast jeden Tag im Wachhaus. Allerdings hatte er sie dort in letzter Zeit nicht erwischt und zum Anderen war das Thema zu heikel, als dass er es dort ansprechen wollte. Es war schon kompliziert genug! Er klopfte kurz an die Tür und Rogi öffnete schon beim zweiten Klopfen und musterte ihn überrascht. Was ihn allerdings mehr verwunderte, war die Schlinge, in der ihr linker Arm ruhte. War sie deswegen nicht mehr im Wachhaus anzutreffen gewesen?
"Was willst du hier, Rach?", fragte die Igorina mit hoch gezogenen Brauen und die perfekte Aussprache zeigte ihm, dass sie angespannt war.
Sie erwartete jemanden. Allerdings mit Sicherheit nicht ihn.
"Darf ich reinkommen?"
Rogi betrachtete ihn für einen weiteren Moment und öffnete die Tür schließlich gänzlich. Das lange Quietschen, gefolgt von einem merkwürdigen Knarren, war definitiv neu. Sonst hatte sich in Roger Igoratius ehemaliger Behausung aber nicht viel geändert. Noch immer lagen überall diverse Operationswerkzeuge herum. Die Hebebühne war herabgelassen und in einer Ecke war ein kleines Labor mit reichlich Glaskolben aufgebaut. In einem davon dampfte eine grünliche Flüssigkeit vor sich hin.
"Nun, waf willst du?", fragte sie und schloss die Tür wieder hinter ihm.
Bevor er antwortete, bedachte er seine Möglichkeiten: Rogi war allein durch seine Anwesenheit angespannt. Sie war verletzt, was sie jedoch nicht sonderlich zu kümmern schien. Ahnte sie schon, worauf er sie ansprechen wollte? Oder ging hier noch etwas Anders vor sich? Er machte ein paar Schritte in den Raum, um sich ein besseres Bild zu verschaffen, und die Augen der Igorina folgten ihm.[7a] Niemand sonst war hier und keine Fenster geöffnet. Er hatte ihre volle Aufmerksamkeit.
"Was ist passiert?", fragte er und deutete auf ihren verletzten Arm.
Die Igorina sah an sich hinab, als würde sie die Schlinge selber zum ersten Mal sehen. Sie stieß einen Seufzer aus.
"Eine Fraktur der Fulterfpanne und ein Fulterengpaff."
Das Lispeln in ihrer Fachsprache war grauenhaft und es schien ihm, als wäre es genau ihre Absicht, sich so unverständlich wie möglich auszudrücken. Allerdings hatte er das Wichtigste für sich entschlüsselt. Und dennoch sah er sie nur weiter fragend an und runzelte dabei die Stirn.
"Eine Verengung von Fulterdach und Oberarmkopf", erklärte sie weiter und er versuchte, sich wieder die Unterrichtsstunden zum Thema Anatomie ins Gedächtnis zu rufen.
"Und wie?", fragte er und vergaß dabei beinahe sein eigentliches Anliegen.
"Ein Unfall. Doch du bist doch ficher wegen etwas Anderem hier", entgegnete sie nur mürrisch und er ließ es fürs Erste auf sich beruhen. Was auch immer passiert war, sie wollte nicht darüber reden.
"Nun gut", sagte er und strich sich leicht durchs Haar. "Wie du schon weißt, haben wir uns heute wieder getroffen, da wir endlich neue Hinweise haben."
Sie nickte leicht und schien regelrecht auf seine nächsten Worte zu lauern.
"Ungeachtet dessen, dass wir dich brauchen, muss ich etwas wissen. Zwei Dinge, um genau zu sein, die mir keine Ruhe mehr lassen." Er atmete tief durch. "Kann man dem Rekruten Wilhelm Schneider trauen?"
Die Igorina runzelte die Stirn. Bei dem Thema schien ihre allgemeine Anspannung etwas nachzulassen.
"Wiefo fragst du?"
"Ganz einfach: Der Mistkerl findet das ganze Gedankenleck-Problem Ophelias anscheinend amüsant! Und nun mischt er sich in die Ermittlungen ein! Auch wenn er beim heutigen Treffen zu meiner Freude vorzeitig gegangen ist, ich glaube nicht, dass wir ihn deswegen gleich loswerden." Der Gedanke erinnerte ihn wieder daran, dass er noch immer nicht schlau wurde aus dem Verhalten des Vampirs. Doch es gab wesentlich Wichtigeres.
"Und waf willft du jetzt von mir?"
"Du bildest ihn aus, du hast... nun ja, Ahnung von Vampiren. Ich will nur wissen, ob man ihm trauen kann."
"Nein", sagte sie trocken.
"Ich wusste es, verdammt!", machte er sich Luft. Doch Rogi hob beschwichtigend die Hand, wobei ihm auffiel das ihr Handgelenk bandagiert war. Sie ließ mit einem Seufzer den Arm wieder sinken, so dass das Hemd die Bandagen wieder verdeckte.
"Ich würde nicht fo weit gehen ihm zu trauen und man kann von ihm nicht behaupten, dass er zu den Guten gehört. Allerdings gehört er auch nicht zu den Bösen, wenn du verftehft..."
"Ich verstehe es nur zu gut."
Rach verschränkte die Arme hinter dem Rücken und betrachtete seine Schuhspitzen. Ihre Einschätzung mochte realistisch sein und solange der Rekrut sich nützlich machte, konnte man sich schlecht beschweren. Dies würde sich allerdings erst morgen, beim zweiten Treffen, herausstellen.
"Nun gut", sagte er und löste seine Haltung wieder. "Zum Wesentlichen! Wir können nun mit Sicherheit sagen, dass ein alter Vampir hinter Ophelias Verschwinden stecken muss."
Unweigerlich dachte er auch an die Beschreibung des Käfigs und er schloss die Augen für einen kurzen Moment. Alles in ihm verkrampfte sich und er unterdrückte den Impuls, seiner Frustration laut Luft zu machen. Stattdessen atmete er tief ein und öffnete die Augen wieder. Rogi stand nun direkt vor ihm und beobachtete ihn kritisch. War seine Sorge immer noch berechtigt? Wusste die Igorina mehr, als sie zugegeben hatte? Er hatte sich gründlich hierauf vorbereitet und er wollte jetzt nicht daran scheitern, dass sie die Gelegenheit bekam, ihn mit Lügen abzuspeisen. Er musste sie provozieren.
"Du weißt wer dieser Vampir ist, oder? Racul..."
Sie packte ihn unvermittelt am Kragen und er verlor den Halt unter seinen Füßen, als sie ihn hochhob. Ihre Verletzung schien sie dabei nicht zu stören.
"Was habt ihr herausgefunden?", fragte sie aufgebracht und packte noch fester zu.
Als er den Namen des Vampirs ausgesprochen hatte, war alle Anspannung der Igorina zurückgekehrt. Er hatte es befürchtet, doch er konnte es bis jetzt nicht glauben. Er hätte stutzig werden müssen, als sie die Suche nach Ophelia so unvermittelt aufgegeben hatte.
"Ophelia wird gefoltert!", schrie er ihr schließlich regelrecht entgegen und sie ließ ihn plötzlich los.
Die Igorina hielt sich die Hand vor das Gesicht und er hörte wie ihre Zähne knirschten.
"Bitte, wenn du etwas weißt, das uns weiter helfen könnte..."
"Haft du den anderen den Namen genannt?"
"Nein", sagte er schnell, doch wie sie ihn ansah beunruhigte ihn zunehmend. Sie glaubte ihm nicht.
"Ficher?"
"Ich habe keinen Grund dich anzulügen. Doch ich frage mich... welchen Grund hast du?"
"Du gehst jetzt besser.", sagte sie bestimmt. Doch er würde unter keinen Umständen lockerlassen, das musste ihr doch klar sein.
"Rogi, ich muss es wissen. Ophelia..."
"...ist verloren.", unterbrach sie ihn und etwas in ihm zerbarst und zerriss sein hart erarbeitetes Nervenkostüm. Er handelte aus reinem Instinkt, etwas, das er erst realisierte, als er das Skalpell an Rogis Kehle presste. Er ließ die letzten Sekunden wieder Revue passieren. Er hatte neben sich gegriffen, wo mehre Skalpelle aufgereiht waren, hatte die Igorina mit zwei Handgriffen zu Fall gebracht und saß nun auf ihr. Sie hatte sich nur ansatzweise bewegt, da hatte er das Skalpell fest an ihre Kehle gedrückt und er sah, wie Blut hervorquoll. Sie war davon sichtlich unbeeindruckt, rührte sich allerdings nicht. Die Armschlinge hatte sich gelöst und Rogi lang bewegungslos unter ihm. Umso aufgewühlter war er. Nicht mal im Traum hätte er sich diese Situation ausmalen können.
"Sag mir, was du weißt!", schrie er die Igorina förmlich an und doch war es so, als würde er sich aus weiter Ferne hören. "Ich warne dich, diesmal wird dich niemand zurückholen."
"Oh, das hoffe ich doch", entgegnete sie mit einem Lachen. "Doch ich würde nicht darauf wetten."
Er packte für einen kurzen Moment fester zu, allerdings erkannte er zugleich, dass es keinen Zweck hatte. Sein Griff lockerte sich und er lehnte sich zurück, um aufzustehen.
Doch in dem Moment nutzte Rogi die Gelegenheit zum Gegenschlag.
Er spürte nur noch, wie sein Arm, den er zur Abwehr gehoben hatte, beiseite geschlagen wurde und ihre Faust ihn direkt aufs Brustbein traf. Die Luft wich ihm aus den Lungen. Das Skalpell glitt klirrend zu Boden und er kippte nach Luft ringend zur Seite. Er presste seine Hand gegen die schmerzende Stelle, doch die Igorina packte sein Bein und zerrte ihn Richtung Ausgang.
"Ich warne dich Rach, ihr folltet die ganfe Angelegenheit vergessen."
"Hörst du, was du da sagst?", brachte er mühsam hervor und schnappte nach Luft, während er mit einer Hand versuchte an irgendetwas Halt zu finden. "Wir werden auch ohne dich einen Weg finden."
Sie ließ sein Bein abrupt fallen und zerrte ihn an seinem Jackett zu sich hoch.
"Ihr folltet zur Vernunft kommen! Ihr werdet noch alle in euer Verderben rennen!"
Das war’s. Was immer sie wusste, sie zog es vor, dicht zu halten. Bedrohte dieser Racul sie etwa? Der Gedanke war ihm tatsächlich bisher nicht gekommen, denn das würde auch bedeuten, dass sie Kontakt zu ihm gehabt hatte. So naheliegend der Gedanke nun auch war, ihm wurde ganz elend zumute. Er hatte wirklich nicht gedacht gehabt, dass es soweit kommen würde. Doch es blieb ihm nur noch Plan B.
Er schlug gegen das bandagierte Handgelenk und, als sie losließ, mit der Faust gegen die verletzte Schulter. Sie schrie zwar auf, ließ sich aber nur kurz davon beeinträchtigen, ehe sie wieder auf ihn zukam. Er duckte sich unter ihr hinweg, lehnte sich zurück und nutze den herabgelassenen Operationstisch mitten im Raum als Stütze für seinen Überschlag. Bei diesem Manöver fiel ihm auf, wie lange er diese Art von Bewegung nicht mehr trainiert hatte. Er brauchte länger, als erwartet, um sein Gleichgewicht wieder zu finden. Dennoch, das Hindernis war zwischen sie gebracht und verschaffte ihm Zeit, an seinem Kragen zu hantieren. Die Krawatte war mit einem routinierten Handgriff gelöst, der Kragen nach oben geklappt. In der anderen Hand hielt er bereits das kurze Blasrohr.
Für einen Augenblick wurden Rachs Bewegungen bedachter, als er eine der Nadeln aus dem Kragen löste.
Die Igorina war schneller als gedacht und hatte nicht vor, ihn sein Vorhaben beenden zu lassen. Doch dieses Mal war er besser auf das Kommende vorbereitet. Ihren gezielten Schlag wehrte er mit seinem Blasrohr ab. Ein Tritt gegen das Schienbein brachte sie zum Straucheln. Doch sie riss ihm dabei seine Waffe aus der Hand. Die Nadel war dennoch bereit und er tat das Einzige, was ihm übrigblieb.
Als Rogi sich aufrichtete, betastete sie verwundert ihren Nacken. Sie zog den Giftpfeil heraus. Rogi holte wütend aus.
Und Rach trat einen Schritt zurück, als die Igorina vor ihm zusammenbrach. Er hatte die Pfeile extra für sie vorbereitet. Schließlich war diese Art der Ausrüstung als Wächter eher unangebracht. Er ging neben ihr in die Knie und rieb sich über die schmerzende Brust. Er hatte eigentlich nicht gewollt, dass es soweit käme. Doch letztlich hatte er sich auf das Schlimmste vorbereitet. Er warf einen kurzen Blick auf seine Taschenuhr. In etwa zehn Minuten konnte die Igorina wieder zu Bewusstsein kommen. Besser, er machte sich an die Arbeit. Langsam griff er nach dem Fläschchen in seiner Jackentasche und betrachtete es eine Weile, bevor er eine Injektion vorbereitete. Die Mischung aus Wahrheitsserum und Beruhigungsmittel war durchaus riskant, wenn man Rogis Vorgeschichte kannte. Allerdings war er inzwischen zu Allem bereit. Sie brauchten ihre Hilfe. Er brauchte ihre Hilfe. Er hatte geahnt, dass die Igorina nützliche Informationen haben würde. Wie sich nun herauszustellen schien, wahrscheinlich sogar mehr von diesen, als gehofft. Er presste die Lippen aufeinander, als er ihr die Injektionen verabreichte. Er musste es wissen!

Als sie wieder zu sich kam, bemerkte sie sofort ihre eingeschränkte Bewegungsfreiheit. Sie musste dabei daran denken, dass sie nicht zum ersten Mal in dieser Situation war. Ihr Blick war noch vernebelt, dennoch versuchte sie, sich auf Rach zu fokussieren und rüttelte provisorisch an ihren Fesseln. Alles schien irgendwie belanglos und von ihrer Anspannung war nichts mehr übrig.
"Rogi?", drang Rachs Stimme zu ihr durch. Sie sah ihn für einen kurzen Moment klar und deutlich vor sich. "Hörst du mich?"
Sie nickte leicht, wodurch ihr allerdings wieder schummrig vor Augen wurde. Sie überlegte angestrengt, was er ihr verabreicht hatte.
"Rogi, wie fühlst du dich?", brachte er sie sofort aus dem begonnenen Gedankengang heraus.
"Wie bei Ophelia...", antwortete sie und dachte an längst vergangene Zeiten.
"Bitte, was?", sagte er und packte sie bei den Schultern, ließ sie allerdings gleich wieder los.
Die Schmerzen ihrer Fraktur pochten in der Schulter und sie biss die Zähne zusammen. Er hingegen hatte sich ruckartig aufgerichtet und sie sah, wie er sich mit der Hand durch das Haar strich, bevor er sich wieder zu ihr beugte. Die schnelle Bewegung wirkte auf sie, als wenn sie jeden einzelnen Moment auf einmal, als Gesamtes, sehen würde. Sie folgte dem Schauspiel gebannt.
"Rogi was auch immer das bedeuten mag, es muss warten.", sagte er mit einem leichten Seufzer und sie musste bei dem Gedanken grinsen, dass ihm dieser Abschnitt von Ophelias und ihrer gemeinsamen Vergangenheit ganz und gar nicht gefallen würde. Sie wunderte sich einen kurzen Moment über sich selbst, wie unbeschwert sie an diese Zeit zurückdachte, doch er gönnte ihr keine Pause.
"Wer ist Racul?"
"Ein Vampir", sagte sie gerade heraus. "Einer von der ganz üblen Forte."
Er gab einen frustrierten Laut von sich, bevor er seine nächste Frage stellte.
"Hat er mit Ophelias Verschwinden zu tun?"
Rogi nickte und durch die Bewegung hatte sie den Eindruck, der Raum würde sich wie ein Karussell drehen. Sie warf den Kopf zurück und genoss die Fahrt für einen Moment und lachte dabei entzückt auf. Was auch immer es war, was er ihr verabreicht hatte, genau in diesem Moment wurde ihr bewusst, dass er fragen konnte was er wollte: Sie würde antworten, gegen alle Vernunft! Sie hatte mutwillig geschwiegen. Die Gefahr, die von Racul ausging, war zu groß. Doch in den letzten Minuten war sie sich nicht mehr sicher, ob dem wirklich so war. Sie hörte Rach auf- und abgehen, er schien verunsichert. Sie entschied, dieses Verhör zu beenden, bevor er mehr erfahren konnte.
"Rogi", setzte er wieder an und atmete tief durch, "Du weißt wo Ophelia ist, oder?"
"Jap", sagte sie und richtete ihren Kopf wieder auf.
Die Igorina stand auf und ignorierte dabei den Umstand, dass sie an den Stuhl gefesselt war. Ihre Muskeln und Knochen übten genug Hebelwirkung aus, dass der Stuhl nachgeben musste und geradezu in seine Einzelteile zerbarst. Im selben Moment kugelte sie ihre Schultergelenke aus, was jede weitere Fessel nutzlos machte. Die Fraktur war zwar schmerzhaft, vereinfachte die Prozedur jedoch.
Rach sprang überrascht zurück.
Die Igorina streckte sich und betrachtete kurz ihre Hände. Sie zog die Stirn kraus, als sie merkte, dass diese nicht wie gewohnt zitterten.
"Waf hast du mir verabreicht?", fragte sie und starrte dabei noch immer auf ihre Finger.
"Es tut mir leid. Ich wusste mir nicht anders zu helfen.", erwiderte er nur.
Hatte er ihr tatsächlich ein Beruhigungsmittel injiziert? Sie hatte das Gefühl, wütend sein zu müssen. Doch sie war es nicht. Was sie nur noch mehr wunderte.
"Wo ist Ophelia?"
"Bei ihm", sagte sie mit einem Grinsen. Jetzt wo sie Rach durchschaut hatte, war es erheblich einfacher, seine Fragen zu kontern. Dennoch musste dieses Frage-Antwort-Spiel ein Ende finden. Sie schritt auf ihn zu. Sie kam sich unendlich langsam vor und der Boden unter ihren Füssen schien zu schwanken.
"Rogi, bitte!", sagte er geradezu verzweifelt. "Was auch immer du weißt... wir müssen es wissen!"
Sie schüttelte langsam den Kopf, wobei ihr wieder schwindelig wurde und sie stütze sich an einem Regal ab.
"Es ift aussichtslos."
Sie schloss kurz die Augen bei dieser einfachen Feststellung und ein bitterer Kloss bildete sich in ihrem Hals.
"Das mag deine Meinung sein. Doch ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben!", entgegnete er unbeirrt. "Ich dachte, ihr wäret Freunde, nach allem was ihr zusammen..."
Sie schnaubte verächtlich und hörte nicht weiter hin. Sie ballte verärgert die Fäuste. Ob nun die Wirkung des Serums nachließ oder einfach das Fass übergelaufen war, konnte sie selbst dabei nicht einschätzen. Menschen und ihre gesellschaftlichen Konzepte hatten noch nie für Igors gegolten. Es gab die Familie und es gab den Kodex. Freundschaft war etwas, das sie bis heute nicht verstand. Und immer, wenn sie damit konfrontiert wurde, war sie einfach nur frustriert, diese Art von Respekt nicht erwidern zu können. Alles in ihre verkrampfte sich und es war, als wäre ein Knoten geplatzt. Sie schluchzte unkontrolliert auf und ein Teil von ihr wollte nicht wahrhaben, was gerade geschah.
Dieser miese Halunke appellierte tatsächlich an ihre Gefühle?
Sie ging in die Knie und vergrub das Gesicht in ihren Händen.
"Du haft ja keine Ahnung, worauf du dich mit Racul einlässt", sagte sie schließlich und legte ihre Fäuste in ihrem Schoss ab. Das Zusammentreffen mit dem alten Vampir, hatte ihr eines klargemacht: Sie hatten keine Chance! Und sie wollte sicher nicht diejenige sein, die dafür verantwortlich war, dass sie sich alle ins Verderben stürzten! Und nicht nur er! Der ganze Hausstand war auf ihn eingeschworen! Und ihr erst vor Kurzem gewonnenes Besuchsrecht war dahin!
Sie hörte Schritte, wusste allerdings nicht, ob Rach sich weiter entfernte oder sich ihr näherte. "Ef wäre beffer für sie wenn fie tot wäre..."
Da war er wieder, dieser absurde Gedanke, wie sie das Ganze hätte beenden können. Sie starrte auf ihre Hände hinab.
"Rogi, so hör doch!", sagte er und packte sie bei den Schultern. "Wir sind so nah dran und mit deiner Hilfe werden wir sie finden!"
Sie seufzte innerlich. Nach so langer Zeit hatten sie ein Lebenszeichen von Ophelia. Dank Magane wusste sie, dass sie das Gebiet schon sehr weit eingegrenzt hatten. Sie würden jetzt nicht mehr aufgeben. Und Rach erst recht nicht.
Sie blinzelte das Wasser aus den Augen und atmete ein paar Mal tief ein, bevor sie zum Schlag ausholte. Er ging sofort zu Boden und rührte sich nicht mehr. Sie stand unbeholfen auf und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Angewidert sah sie zu dem Spritzbesteck auf der Operationsplattform. Rach war auch noch so dreist gewesen, eines der ihren zu verwenden! Mit ein paar schnellen Handgriffen tastete sie ihn ab und fand schließlich das Fläschchen. Sie öffnete es und roch daran, bevor sie es schließlich einsteckte. Sie blickte zähneknirschend auf ihn hinab und trat ihn in die Seite.
"Was zur Scheibe, haft du dir nur gedacht?", fragte sie ihn, obwohl er ihr keine Antworten geben konnte. Sie sah zu ihrer eingestaubten Reisetasche neben der Tür und sammelte mit einem Seufzer schließlich die Armschlinge auf. Sie betrachtete eine Weile den bewusstlosen Rach und lauschte seinem Atem; er würde es überstehen.
Sie ließ ihn liegen und verließ das Dachgeschoss, während sie versuchte, nicht an die Konsequenzen der letzten Ereignisse zu denken.

05.04.2017 10: 24

Nyria Maior

Es tat gut, mal wieder allein auf der Pirsch zu sein.
Gemächlich schlenderte Nyria den Grüngansweg entlang, die unvermeidliche Zigarette zwischen den Lippen und einen von Bregs geborgten dunkelgrünen Schal gegen das mit Verlaub eklig zu nennende Wetter eng um den Hals geschlungen. Mit dem beiläufigen aufmerksamem Blick des geübten Streifenwächters musterte sie, wie schon während der vergangenen anderthalb Stunden in denen sie durch die Straßen ging, ihre Umgebung. Die Gegend um das Nilpferd gehörte zwar nicht zu den feinsten Adressen der Stadt, jedoch auch bei weitem nicht zu den ärmsten. Es war ein unauffälliges Viertel. In Nyrias Augen perfekt geeignet um hinter den sauber gestrichenen Haustüren und den Blumenkübeln an den Fenstern ein schweres Verbrechen zu verbergen. Um zum Teil der Gegend zu werden hatte die Szenekennerin sich mit ihrer Garderobe etwas mehr Mühe gegeben als üblich. Unterm Mantel trug sie ihre beste Weste mit den blank polierten Messingknöpfen und sie hatte bei der Wahl ihrer Kniehosen darauf geachtet, dass keine offensichtlichen geflickten Stellen zu sehen waren.
Die Taverne 'Zur Grünen Gans' befand sich in der Mitte einer Häuserreihe. Nyria lehnte sich gegen einen der Bäume auf der gegenüberliegenden Straßenseite und rauchte in Ruhe ihre Zigarette zu Ende, während sie den Eingang im Auge behielt. Drei ausgetretene Stufen führten zu einer massiven, grün gestrichenen Holztür, über der neben einer Kerzenlaterne eine ebenfalls grün angestrichene hölzerne Gans hing.
Eigentlich, ging Nyria durch den Kopf, befand sie sich sogar doppelt auf Feindesgebiet. Nicht nur, dass hier irgendwo ein uralter, abgrundtief boshafter Vampir leben sollte, nein, die Gegend war auch fest in der Hand der Anhänger von Eintracht Nilpferd. Deshalb hatte die Gefreite für diese Ermittlung schweren Herzens auf ihren üblichen Fanschal verzichtet. Ärger aufgrund der Treue zur falschen Mannschaft war das letzte, was sie beim unauffälligen Informationen einholen gebrauchen konnte.
Sie nahm einen letzten Zug aus ihrer Zigarette, trat den Stummel aus und marschierte mit festen Schritten auf den Eingang der 'Grünen Gans' zu. Es war an der Zeit, ihren Dschob als Szenekennerin zu machen und dabei auch noch für einige Zeit dem Nieselregen zu entkommen.
In ihrer Manteltasche befand sich ein abgegriffener Werbeprospekt von Lady Deirdre Wagens Institut für die Ausbildung höherer Töchter, den sie sich nach ein paar Stunden Schlaf am Nachmittag beschafft hatte. Das Institut warb ausschweifend damit, dass dies ein Ort war, an dem schon zahlreiche Generationen junger Damen den letzten Schliff für ihr gesellschaftliches Debüt erhalten hatten. Der Name Deirdre Wagen hatte entfernt vertraut geklungen und nach einigem Grübeln hatte sich Nyria an ein altes Etikettebuch erinnert, das sie in der Bibliothek ihres Vaters gefunden und zusammen mit einigen anderen Erstausgaben aus dem Besitz der von Canis Maior Alphas gewinnbringend an einen Antiquitätenhändler verhökert hatte. Dass die so von Manieren besessene Dame ihrerzeit auch eine Schule gegründet hatte, war ihr allerdings neu gewesen. Ob die so genannten höheren Töchter, die dort so eifrig die siebzehn Arten des perfekten Knicksens und die Kunst des richtigen Haltens einer Teetasse studierten wohl ahnten, dass irgendwo unter ihnen ein uralter Vampir hauste, der sie vermutlich als perfekte Mahlzeit betrachtete? Etwas beschämt dachte Nyria an eine Vollmondnacht und einen unrühmlichen Vorfall, bei dem ein Fuchs und ein Hühnerstall in Escrow eine wichtige Rolle gespielt hatten. Ob es sich mit einem Vampir in einem Mädcheninternat ähnlich verhielt?
Nun, auf irgendeine Art würde der Rettungszirkel es herausfinden.
Der typische Kneipengeruch schlug Nyria entgegen, als sie die Tür aufzog. Kerzen- und Zigarettenqualm, eine Mischung menschlicher Gerüche und - sie nahm einen tiefen Atemzug - Winkels Besonders Altes Bier. Die herbe, rauchige Note im Hopfen war unverkennbar. Die Gefreite ließ die Tür hinter sich zufallen und schlenderte langsam in Richtung der massiven, hölzernen Theke, hinter der eine kräftige alte Frau gerade ein Bier vom Fass zapfte. Unauffällig ließ sie ihren Blick durch den schummerigen, gut gefüllten Schankraum schweifen. Die Kundschaft der 'Grünen Gans' gehörte eher nicht zu den Besitzern der Häuser des Viertels. Nyria erspähte Dienstmädchenhauben, Werkzeuggürtel, Arbeitskittel und die eine oder andere Marktschürze. Es war ein Ort an dem sich die Dienerschaft der Gegend und die Händler des nahe gelegenen Markts abends nach Feierabend noch ein gemütliches Gläschen genehmigten bevor der nächste harte Arbeitstag anbrach.
Nyria lehnte sich an die Theke.
"Für mich einmal das Gleiche, bitte." sagte sie und zeigte auf dem Zapfhahn.
Wenig später stand ein schäumender Humpen vor ihr.
"Hab dich noch nie gesehen. Neu hier?" erkundigte sich die Wirtin.
Nyria setzte ein freundliches Lächeln auf. "Wie man's nimmt. Hatte heute Abend hier in der Gegend einen Dschob zu erledigen und wollte mir danach noch ein Bier gönnen."
"Da bist du hier richtig." Die Wirtin strich die Zeche ein und wandte sich dem nächsten Gast zu.
Nyria nahm einen großen Schluck Bier und begann, die Gäste genauer in Augenschein zu nehmen. Wer bot die besten Voraussetzungen zum Anfangen eines Gesprächs? Die größeren Gruppen schloss die Szenekennerin gleich zu Beginn aus. Sich dort einzuschleichen war bei der begrenzten Zeit die sie hatte sinnlos. In spätestens einer halben Stunde sollte sie wieder auf der Straße sein und alles noch einmal ablaufen.
Eine junge Frau in ihrem Alter, die in einem Fußball-Spielplan blätterte, erweckte ihre Aufmerksamkeit. Ihr braunes Haar war zu einem strengen Knoten zusammengesteckt, aus dem sich einzelne widerspenstige Locken gelöst hatten. Über einem dunkelblauen Kleid trug sie eine helle Schürze mit einem eingestickten Wappen. Als sie das halb aus einem Ärmel hervorschauende geknüpfte Armband in den ihr so vertrauten Farben entdeckte, musste Nyria grinsen. Sie hatte ihre Ansprechpartnerin für den Abend gefunden.
Die Gefreite griff nach ihrem Bierhumpen, wanderte an der Theke entlang und kletterte auf den freien Hocker neben der jungen Frau.
"Hey." sagte sie und grinste. "Was glaubst du, wie geht am Oktotag das Spiel gegen den Sportverein Haufen aus?"
Die junge Frau errötete leicht und sah sich suchend um. "Woher weißt du, dass ich..." fragte sie ein wenig beschämt.
"Das Armband." Nyria zwinkerte ihr zu. "Freut mich jedenfalls, im Feindesgebiet eine gleich gesinnte Seele zu treffen. Ich heiße Ny. Und du?"
"Gerti." antwortete die junge Frau. "Und natürlich gewinnen wir, wer sonst?"
"Wie kommst du eigentlich hier im Viertel auf die Unsichtbaren Akademiker?" erkundigte sich Nyria nachdem sie eine Weile über mögliche Spieleraufstellungen gefachsimpelt hatten.
"Oh, mein großer Bruder arbeitet als Hilfsgärtner an der UU. Er hat mich mal mit zu einem Spiel genommen und seitdem bin ich angesteckt." Gerti seufzte. "Ich hoffe ja, dass ich dort auch bald eine Stelle bekomme. Hier komme ich mit den anderen Mädchen nicht so gut zurecht und sie sollen dort wesentlich besser zahlen als bei Lady Deirdre Wagen."
"Lady Deirdre Wagen?" Nyria setzte eine unschuldige Miene auf während ihr Herz einen Sprung machte. Heute war anscheinend ihr Glückstag!
"Die Knicks- und Fächelschule hier gleich um die Ecke." Gerti machte eine wegwerfende Handbewegung. "Feine junge Damen lernen dort viel nutzloses Zeug das sie brauchen um noch nutzlosere Ehemänner kennen zu lernen. Ich arbeite in der Küche. Schnippele all das Gemüse das sie kriegen damit sie nach den ganzen Kaffee und Kuchen-Stunden ihre Korsetts nicht sprengen."
Nyria lachte. Gerti gefiel ihr.
"Ich bin in erster Linie Botenmädchen," revanchierte sie sich ihrerseits mit ihrer Standard-Tarnidentität. "Arbeite für verschiedene Kaufleute und Händler, die schnell, zuverlässig und manchmal auch diskret was von A nach B gebracht haben wollen. Deshalb bin ich heute Abend auch hier gelandet."
Sie plauderten noch eine Weile über Dieses, Jenes und dass der Ball rund war, dann leerte Nyria ihren Humpen und stand auf.
"War schön, dich kennen gelernt zu haben, Gerti, aber jetzt muss ich los," sagte sie und log dabei nicht einmal. "Bist du öfter hier?"
Gerti nickte. "Hier kann ich wenigstens in Ruhe den Spielplan ausfüllen ohne dass die anderen Küchen- und Stubenmädchen dabei stänkern. Mädchen sollten sich nicht für Fußball interessieren. Anscheinend färbt Lady Deirdre auf sie ab."
Nyria nickte verständnisvoll.
"Ich kann ja mal wieder vorbeischauen, wenn ich in der Gegend bin." schlug sie vor.
Gertis Reaktion darauf konnte nur als freudig beschrieben werden.

Erfolg auf der ganzen Linie, dachte Nyria, als sie durch die Tür der 'Grünen Gans' wieder ins regnerische Freie trat. Wenn sie es geschickt anstellte, konnte Gerti ihr vielleicht Zutritt zum Gelände des Internats verschaffen. Ein Plan begann sich in ihrem Geist zu formen, als sie lässig den Grüngansweg in Richtung Ankh entlangbummelte. Es würde einige Tage und noch ein paar weitere 'zufällige' Treffen mit Gerti brauchen, aber es konnte klappen. Wenn sie irgendwie an eine Liste der im Internat übernachtenden Schülerinnen kam. Aber darum würde sie sich frühestens morgen kümmern. Erst einmal hatte sich noch eine Menge Straßen zu patrouillieren.

06.04.2017 10: 45

Magane

Es läutete. Die Klingelzüge für jede Wohnung waren eine Idee ihres Großvaters gewesen, sie hatte sie schon oft verflucht, aber im Großen und Ganzen waren sie nicht schlecht, so wurde nicht immer gleich das ganze Haus alarmiert. Magane sah auf die Standuhr neben der Wohnzimmertür, schon nach 10 Uhr abends, eine äußerst ungewöhnliche Zeit für Besuch. Sie öffnete die Wohnungstür und ging die Treppe hinunter zur Haustür, die zwar tagsüber offen war, so dass man die eventuellen Gäste von oben hereinbitten konnte, aber nachts war sie geschlossen. In dieser Stadt hatten die Menschen nun wirklich nicht genug Respekt vor einem spitzen Hut um nachts die Türen offen zu lassen.
Vor der Haustür stand ein Halbwüchsiger - einer von diesen Gassenjungen, die für 2 Dollar ihre eigene Oma verkauften und sie für 3 Dollar sogar selbst ausbuddelten. Vielleicht wäre dies der Moment gewesen stutzig zu werden, aber anscheinend waren Maganes Gefahrendetektoren bereits im Land der Träume angekommen und genossen dort den wohlverdienten Feierabend. Der Junge suchte eine Hexe, weil er glaubte seine Oma liege im Sterben, noch immer meldeten sich die schlafenden Sinne nicht.
"Sagst du mir bitte die Adresse, damit meine Familie Bescheid weiß wo ich bin, wenn es länger dauert?" Mit etwas Glück dauerte diese Angelegenheit nicht lange, Schmerzen nehmen, gut zureden, die Oma bis an die Schwelle begleiten, sowas konnte sehr schnell gehen, es konnte aber auch Stunden dauern. Sie sah in den Spiegel an der Gaderobe, die universelle dunkelblaue Arbeitskleidung würde es dafür auch tun, mit schnellen routinierten Handgriffen steckte sie die Haare, mit Hilfe einer zweizinkigen beinernen Forke, zu einem Knoten hoch.
"Wir wohnen in der Unterziegenstrasse Hausnummer 8", am Rand der Schatten also, das erklärte seine heruntergekommene Erscheinung.
Magane schrieb die Adresse auf einen Zettel, notierte "Hexeneinsatz, alte Frau liegt im Sterben" darunter und legte den Zettel an die vereinbarte Stelle. Sie nahm ihre Tasche, zog sich den Mantel über und griff im Rausgehen den Hut, überlegte es sich dann aber anders und ließ ihn dann doch auf dem Hutständer [9]. Magane folgte dem Jungen nach draußen in den eisigen Nieselregen. In der Tasche hatte Mag alles was man als Hexe immer dabei haben sollte, ein paar fertige Kräutermittel und Salben, ein paar wichtige Zutaten, ein extrem scharfes Messer, das als Multifunktionswerkzeug diente, und natürlich Verbände. Für einen Geburtshilfeeinsatz hätte sie eine andere Tasche gebraucht, aber das stand ja nicht an - Om-sei-Dank, denn das hätte vermutlich die ganze Nacht gedauert und das brauchte sie jetzt grade gar nicht. Nach den Ereignissen der vergangenen Tage fieberte sie genau genommen dem Dienstbeginn entgegen um zu erfahren was diese Nacht schon wieder geschehen war, eigentlich müsste man in Zeiten wie diesen 24 Stunden im Wachhaus bleiben um nichts zu verpassen.
Der Weg durch die Nacht war nicht weit, nur ein paar Minuten später standen die Beiden vor einem unauffälligen Haus mit zweieinhalb Stockwerken, wie sie in dieser Gegend üblich waren, und der Junge sagte: "Wir sind da, meine Oma ist dort oben", er machte anstalten sich umzudrehen und zu gehen, verharrte dann aber ruckartig in der halben Drehung und öffnete wie in Trance die angelehnte Haustür um sie nach oben zu führen vor der linken Wohnungstür im zweiten Obergeschoss blieb er stehen und bedeutete der Hexe vorzugehen. Auch diese Tür war nur angelehnt sie klopfte und trat ein. Sie wurde augenblicklich von einem Mann, der links von der Tür gestanden hatte gepackt und zur Seite gezogen. Ihre Arme wurden von dem Unbekannten so fest umklammert, dass sie keine Chance hatte sie frei zu bekommen, also blieben nur noch die Beine, sie trat mit aller Kraft nach hinten aus und der Griff des Unbekannten löste sich begleitet von einem Stöhnen. Leider war er nicht allein ein weiterer unbekannter Mann kam seinem Kumpanen zur Hilfe.

Er beobachtete den Kampf vom Bett aus und genoss das Rauschen des Blutes in den Adern der Kämpfenden, ihren schnellen hämmernden Puls, wie die drei Pulsschläge sich zu einem melodischen Rhythmus vereinten und die Melodie der berstenden Einrichtung mit ihrem unwiderstehlichen Takt untermalten. Kämpfende Menschen waren so... herrlich appetitanregend, leider kam von diesen Dreien keiner als Mahlzeit in Frage, der Kampf war nicht gut für den Geschmack, aber irgendwo würde er schon einen Snack finden, später. Die Hexe wehrte sich mit aller Kraft, offenbar hatten sie sie unterschätzt, aber noch war es nicht an der Zeit in den Kampf einzugreifen, die beiden Handlanger würden schon mit ihr fertig werden, die hatten ja sonst auch keine Probleme mit Frauen. Die Spritze mit dem Betäubungsmittel lag jedenfalls bereit, sie mussten die widerspenstige Hexe nur dazu bekommen einen Moment stillzuhalten, aber diese schlug sich wirklich gut, es war ihr sogar gelungen ein Messer aus ihrer Tasche zu ziehen. Damit war sie ganz klar im Vorteil, denn schließlich war den Männern der Einsatz von Waffen verboten. Der Geruch von Blut stieg in seine Nase, sie hatte es doch tatsächlich geschafft einen der beiden Männer zu verletzen. Er hatte das Gefühl, dass seine Eckzähne länger wurden - Hunger, Blutdurst, wie man es auch nennen wollte, das Verlangen wurde immer stärker - dann nahm er ihn wieder wahr, den ruhigen Herzschlag des Gassenjungen, den er vor der Tür geparkt hatte. Der Junge war herrlich leicht zu kontrollieren, das ging einfach so nebenher, ohne große Anstrengungen. Komm her! Der Vampir richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Kampf, inzwischen bluteten beide Männer aus oberflächlichen Schnittwunden und sie hatten die Hexe noch immer nicht im Griff, aber es war ihnen immerhin gelungen sie zu entwaffnen, jetzt hatte es der Größere von den Beiden geschafft seinen Arm von hinten um ihren Hals zu legen und würgte sie, das sah recht vielversprechend aus.
Der Gassenjunge stand auf einmal vor ihm und sah ihn mit glasigem Blick an, eigentlich war dieser Bengel nicht sauber genug, aber er roch gesund und war jung und recht kräftig und vor allem war er unwichtig, entbehrlich, nicht in den Kampf verwickelt und anwesend. Er zog den jungen Menschen zu sich auf die Bettkante herunter und biss zu. Der Geschmack war ganz in Ordnung, auch wenn er sich vielleicht ein bisschen besser hätte ernähren sollen, aber schließlich ging es hier nicht um Genuss. Er trank zu schnell um zu genießen, eigentlich schade, mit den Gerüchen und Geräuschen des Kampfes im Hintergrund hätte es ein Festmahl werden können, aber er durfte das Ziel nicht aus den Augen verlieren. Es ging hier ausschließlich um die Hexe, die zwar grade ohnmächtig zusammensackte, aber deswegen konnte er sich jetzt trotzdem nicht ablenken lassen. Er ließ den toten blutleeren Gassenjungen zu Boden gleiten und erhob sich. Die beiden Handlanger waren grade dabei die Hexe an Händen und Füßen zu fesseln als er hinzutrat und ihr zusätzlich zur unfachmännisch herbeigeführten Bewusstlosigkeit auch noch die Betäubungsspritze verpasste, schließlich wollten sie ja nicht, dass das Biest im Wagen wach wurde und der Kampf von neuem begann. Er sah sich um, das Chaos würde er nicht beseitigen, aber das konnte auch kaum sein Problem sein. Während die beiden menschlichen Handlanger die Hexe nach unten zum Wagen trugen, konzentrierte er sich auf die Geister der Zeugen. Die ersten Ermittlungen der Wache beschäftigten sich immer mit den Nachbarn, deswegen war es umso wichtiger, dass diese nur Unsinn aussagen konnten. Nacheinander nahm er sich die Bewohner des Hauses vor und veränderte ihre Erinnerungen. Menschliche Erinnerungen waren so einfach zu lesen und wenn man es einmal konnte waren sie auch sehr einfach zu verändern und die meisten Menschen hatte dem nichts entgegen zu setzen, keinerlei Abwehrmechanismen, wahrscheinlich bemerkten sie seinen Eingriff noch nicht einmal. Als er fertig war hob er das Messer der Hexe auf und steckte es zurück in ihre Tasche, die er sich über die Schulter hängte, dann klemmte er sich die Leiche des Jungen unter den Arm, verließ das Haus und stieg in die auf der Straße bereitstehende schwarze Kutsche.
"Den Körper des Boten werden wir irgendwo unterwegs los... nun fahr schon, wir wollen nicht die ganze Nacht hier vergeuden!"
Mit einem Ruck fuhr die Kutsche an und verschwand in der Nacht.

06.04.2017 18: 17

Kanndra

Wie ein altes Lied meinte, war Ankh-Morpork eine Stadt, die niemals schlief. Auch in diesem eher unauffälligen Wohnviertel war die Straße zu dieser späten Stunde nicht völlig leer. Nachtschwärmer besuchten die Kneipen, Anwohner kamen von der Arbeit oder brachen dahin auf. Und wieder andere arbeiteten bereits - so wie auch Kanndra es tat. Mit latentem schlechten Gewissen hatte sie Mann und Sohn [10] wieder einmal sich selbst überlassen, um eine Extraschicht einzulegen. Noch dazu eine inoffizielle, obwohl Bregs seine Einstellung zu dieser Rettungsaktion inzwischen geändert hatte. Kanndra war froh darum, denn sie hätte ungern hinter dem Rücken ihres Freundes und Kommandeurs operiert.
Vereinzelte Laternen warfen Licht in kleinen Inseln auf den Gehweg, die die Dunkelheit nur zu betonen schienen. Die Späherin schob die Hände tief in ihre Manteltaschen. Auch wenn die Tage schon warm wurden, waren die Nächte doch überwiegend noch ziemlich kühl. Zu allem Überfluss hatte es kurz nach Feierabend begonnen zu regnen. Ein Regen, der sich eher in feuchter Luft manifestierte als in richtigen Tropfen und doch durch und durch ging. Deshalb war die Späherin froh, dass sie sich für ihren dunkelbraunen Wollmantel entschieden hatte.
Ihr Plan war, in einem weiten Bogen den Block vom Grüngansweg über Weitergehen bis in die Straße An der Mauer zu schlendern und dabei ihre Eindrücke zu sammeln, auf Einstiege in die Kanalisation und irgendwelche Auffälligkeiten zu achten um sich dann in der Nähe der Schule umzusehen, einen guten Beobachtungsposten zu finden und den Rest der Zeit dort auszuharren. Die Schule, die sich wie sie bei dem kurzen Austausch mit der Werwölfin zuvor erfahren hatte "Lady Deirdre Wagens Institut für die Ausbildung höherer Töchter" nannte, hielt Kanndra immer noch für den wahrscheinlichsten Ort für Ophelias Gefängnis. Jedenfalls hatte sie bisher nichts entdeckt, was dagegen sprach. Langsam ging sie weiter und achtete sorgsam darauf, den Eindruck zu erwecken, dass sie hierher gehörte und nur eine weitere Passantin auf dem Weg nach Hause war. Nachdem sie den Torhaushof überquert hatte, entschied sie sich spontan für eine von dem kleinen Platz abzweigende dunkle Gasse, die so schmal war, dass ihre Ellenbogen beide Häuserwände berührt hätten, hätte sie sie nur ein wenig ausgefahren. Dort fand sie endlich, was sie bisher vergeblich gesucht hatte: einen Kanaldeckel, der durch seine Lage in dieser Gasse nicht gleich von jedem gesehen wurde. Sie hatte weder genug Licht, noch genug Zeit, um ihn näher zu untersuchen, doch sie machte sich eine gedankliche Notiz. Wenn er nicht von den Vampiren genutzt wurde, war er vielleicht eine Option für die Rettungstruppe, wenn es ernst wurde. Schließlich würden sie kaum durch den Haupteingang gehen können - oder zumindest nicht alle von ihnen. Und sie ahnte schon, wer im Zweifelsfall den feuchten, schmierigen Pfad nehmen musste.
Sie kam auf dem Winderweg wieder heraus, nur wenige Meter von einer Gaststätte entfernt, die einen gepflegten Eindruck machte. Ein Schild verkündete "Selbstgemachten Glühwein" und auch wenn die Saison dafür eigentlich zuende war, konnte die Gennuanerin jetzt einen vertragen.

Eine Viertelstunde später kam sie gut gelaunt wieder heraus. Die "Winderstube" hatte den ersten Eindruck, den sie von ihr hatte, bestätigt. Das Publikum bestand aus den Bürgern, die sich bereits einiges leisten konnten, ohne schon als reich zu gelten. Der Glühwein hatte ausgezeichnet geschmeckt und sie aufgewärmt. Ausserdem hatte sie einen Barbara-Kartenhand-Roman erspäht, der etwas verschämt halb unter einem Stapel Geschirrhandtücher hinter der Theke hervorlugte und sich den stämmigen Wirt bei der heimlichen Lektüre vorgestellt. Dieses Bild ließ sie immer noch lächeln, als sie An der Mauer einbog. Sie hatte erst ein kurzes Stück zurück gelegt, als ihr Hufschlag und gedämpftes Rasseln und Rumpeln an die Ohren drang. Überrascht drehte sie sich um, doch da überholte sie schon eine Kutsche, die von zwei schwarzen Pferden gezogen wurde. Auch die Karosserie war vollkommen schwarz und die Fenster von dunklem Stoff verdeckt. Darüber hinaus fiel der Wächterin das völlige Fehlen eines Wappens auf – verdächtig bei einem solch noblen Fahrzeug. Aber nicht nur das bewirkte, dass sie etwas Verstohlenes hatte. Es machte den Eindruck, als wollte der Kutscher möglichst wenig Aufmerksamkeit erregen - würden Pferde schleichen können, diese hätten es getan. Ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen, lief die Wächterin dem Gefährt hinterher.
Zum Glück fuhr die Kutsche nicht allzu schnell, so dass sie sie im Auge behalten konnte. Im Gegenteil, sie musste aufpassen, dass sie selbst nicht zu auffällig wurde.
Der Mantel schlug ihr jetzt schwer gegen die Beine, eine umgeworfene Mülltonne tauchte auf - ausweichen. Kurz Deckung hinter einem Baum gesucht - weiter. Eine fauchende Katze rechts - ignorieren.
Gerade noch sah sie die Kutsche einbiegen in einen Hof, der neben einem langgestreckten Gebäude lag. Ein Schild an der Tür wies es als Deirdre Wagens Institut aus, die "Knicks- und Fächelschule", wie Nyria sie genannt hatte. Ein schneller Blick enthüllte der Späherin, dass das Gebäude nur spärlich beleuchtet war. Der Hof wurde gleich nach der einfahrenden Kutsche durch ein Tor verschlossen und Riegel klapperten. Kanndra wusste, dass jetzt sowohl höchste Eile, wie auch höchste Vorsicht geboten waren.
Das Tor wirkte massiv und war wie das umgebenden Mauerstück zu hoch, um es leicht zu erklimmen. Sie schaute sich weiter um, wurde aber von den Geräuschen, die hinter dem Tor erklangen, abgelenkt.
Jemand rief: "Vorficht!", gefolgt von einer zischenden Mahnung zur Dämpfung der Lautstärke. Sie hörte die nervös wiehernden Pferde und ein merkwürdiges Schleifen, das von etwas untermalt wurde, das vielleicht eine weibliche Stimme sein konnte. Oder auch nicht, sie war sich nicht sicher. Im Haus flammten kurz weitere Lichter auf, verloschen aber schnell wieder. Dann war es still und die FROG war sicher, dass sie im Moment nichts weiter über diesen Vorfall erfahren konnte, ohne in das Gebäude oder zumindest den Hof einzudringen. Sie verdrängte das Bild, das sich in ihrem Kopf bildete und zeigte, wie ein blutjunges Mädchen ins Haus geschleppt wurde, um einem Vampir als Nahrungsquelle zu dienen. Sie hatte keine Beweise dafür, dass so etwas gerade vor sich gegangen war. Streng genommen hatten sie noch nicht einmal Beweise dafür, dass es sich überhaupt so abspielte. Sie wusste, es war zu riskant, sollten sie wirklich auf den Unterschlupf des alten Vampirs gestoßen sein. Sie würde sich selbst in Gefahr bringen, sie würde Ophelia in Gefahr bringen und auch die ganze Rettungsaktion. Im Moment konnte sie nichts weiter tun als abwarten - abwarten und beobachten. Trotzdem tauchte das Bild immer wieder vor ihrem geistigen Auge auf. Dann ballte sie ihre Fäuste in den Manteltaschen und dachte an ihre Träume von Ophelia in dem Käfig.

06.04.2017 18: 24

Wilhelm Schneider

Wilhelm war diesmal deutlich später dran. Das zweite Treffen des "Neuen Rettungszirkels" hatte zwar noch nicht begonnen. Aber es fehlten auch nicht mehr viele Teilnehmer, als er den Raum betrat. Die pendelnde Hexe aus der Pathologie, Ophelias grimmiger Verlobter und die kleine... die Obergefreite Senray Rattenfänger.
Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinab und er vergewisserte sich mit schnellem Aufblicken davon, dass niemand der Anderen etwas von seiner Reaktion mitbekommen hatte. Dann senkte er den Blick wieder schweigend auf seine locker im Schoß gefalteten Hände.
Ihm stand nicht der Sinn nach Konversation. Er war wirklich froh darum gewesen, beim Betreten des Raumes zu sehen, dass die gestrige Sitzreihenfolge sich offenbar allgemeiner Beliebtheit erfreut hatte und beibehalten worden war – inklusive seines leicht nach hinten versetzten Stuhls. Er war sich nicht sicher gewesen, ob der Chief-Korporal ihm damit etwas sagen wollte oder ob das eher ein stillschweigendes Friedensangebot darstellen sollte. Bei der Kollegin schien Vieles auf unausgesprochener Ebene zu passieren, lediglich angedeutet durch beherrschte Blicke und winzige Gesten. Aber mochte es sein, wie es wollte. Er war wirklich erleichtert darüber, dass sie ihn immer noch am Zirkel teilhaben ließ. Trotz seines zweifellos seltsam anmutenden Gebarens vom Vortag! Jetzt noch mehr, denn zuvor!
Ein Glück war er am Nachmittag durch seine reguläre Streifenzuteilung gezwungen gewesen, nochmals im Wachhaus aufzutauchen, auch wenn es ihm da noch immer schrecklich ging. Dennoch, alles wäre erträglicher gewesen, als auf sein Fehlen angesprochen zu werden und in Folge dessen womöglich eine direkte Nachfrage zu seinem Befinden abwehren zu müssen! Und wie gesagt, es war ein glücklicher Zufall gewesen. Sonst hätte er die kleine Notiz in seinem Fach nicht gefunden. Die Notiz, die ihn inoffiziell für einen Teil der Nacht zum Auskundschaften des bisher eingegrenzten Gebietes einteilte!
Er mied die Blicke der anderen und niemand sprach ihn an. Und es war eine Erholung, einfach nur zu sitzen. Die letzten Tage und Nächte machten sich deutlich bemerkbar. Nicht nur auf rein geistiger Ebene. Auch sein Köper zeigte erste Ausfallerscheinungen. Es gab... gewisse Schwierigkeiten mit seinen speziestypischen Heilungsfähigkeiten. Stunden waren seit der Begegnung mit ihr vergangen und trotzdem konnte er noch immer Schmerzen dort in seinem Körper wüten spüren, wo sie ihn berührt hatte! Normalerweise hätte es ihm längst wieder besser gehen müssen. Selbst in anbetracht der Tatsache, dass es sich hier um die Ausläufer des für ihn tödlichsten Themen-Komplexes handelte. Ausgerechnet Feuer! Aber normalerweise wäre es ihm auch nicht verwehrt geblieben, sich zu stärken.
Er erinnerte sich mit einem ängstlichen Flattern im Magen an den gestrigen Abend. Wie er seine Schicht in verbissenem Schweigen und mit Schweiß auf der Stirn abgelaufen war, schnell und erbarmungslos, ohne sich umzublicken, den verstörten Streifenkollegen im Schlepptau, bis sie stark versetzt im Wachhaus angekommen waren und er sich ebenso wortlos abmeldete und in die Dämmerung floh. In seiner Verzweiflung war ihm nur noch Frau Goldig eingefallen. Die zierliche Blondine war seine Angestellte – und ihm sehr zugetan. So sehr, dass er ihre neckenden Versuche, ihn zu dem einen oder anderen... Gläschen nach Feierabend zu überreden, bisweilen als anstrengend empfand. Wobei er auch nicht völlig abgeneigt war. Es hatte schon einige gemeinsame Nächte gegeben. Aber sie war eine gute Fachkraft und die Gefahr, es sich auf Dauer mit ihr zu verscherzen, wenn er das Private allzu sehr mit dem Geschäftlichen vermischte, war einfach viel zu groß. Was sie nicht davon abhielt, von sich aus nach passenden Gelegenheiten Ausschau zu halten und ihm diese – mal mehr, mal weniger – dezent zu offerieren. Es schien eine Fügung des Schicksals gewesen zu sein, dass ausgerechnet an diesem Abend mit so wenig Kundschaft zu rechnen gewesen war, dass er seinem männlichen Mitarbeiter freigegeben hatte. Kaum hatte er den Laden betreten und sie war seiner ansichtig geworden, da breitete sich ein triumphierendes Strahlen auf ihren Zügen aus. Sie hielt sich nicht einmal mit einer Frage auf, ging an ihm vorbei, ihre Finger strichen dabei zärtlich über seine Schulter, sie schloss hinter ihm ab und drehte das Schild auf die "Geschlossen"-Seite. Dann nahm sie mit kokettem Lächeln seine Hand und zog ihn hinter sich her, durch den Vorhang, der den Verkaufsraum von den hinteren Räumen trennte.
"Was auch immer du getrieben hast, mein liebreizender Chef... du siehst sehr, sehr durstig aus."
Es hätte alles so schön sein können. Sie war nicht nur ansehnlich und willig, lockte seine Instinkte, nein, er hatte obendrein das Gefühl zu verdursten, so sehr zog sich alles ausgedörrt in seinem Inneren zusammen! Und doch! Schon da war seine Nervosität merklich angestiegen, hatte ihn über ihrem geöffneten Blusenkragen ein letztes Mal zögern lassen. Und das zu recht. Das nächste, woran er sich erinnerte, war das Gefühl eines Lavastroms, der sich durch Rachen, Speiseröhre und Magen wälzte, der in ihm aufzublühen schien und zugleich alles in ihm, was er berührte, zu Asche verbrannte. Hannah Goldig beugte sich panisch über ihn, die Bluse verrutscht, ihre Wunde am Hals noch immer geöffnet. Rote Tropfen fielen wie Rubintränen auf ihn herab und sie tätschelte ihm immer wieder ängstlich die Wange, während er stöhnend den Schmerz wegzuatmen versuchte.
"Wilhelm! Was ist? Was ist denn los? Kann ich dir helfen? Was hast du, um Celestis Willen? Habe ich irgendwas falsch gemacht? Ich habe nichts Falsches gegessen, ich bin mir ziemlich sicher. Was stimmt nicht? Wilhelm, so sagÂ’ doch was!"
Er hatte sie mit einiger Mühe dazu gebracht, sich noch einmal über ihn zu beugen, so dass er wenigstens seinen Biss ordentlich verschließen konnte. Doch das hatte ihm den Rest gegeben. Als er wieder zu sich kam, saß sie schweigend neben ihm auf dem Boden. Sie hatte sich selber wieder ordentlich angezogen und ihn mit dem großen Reststück eines schweren Wollstoffes zugedeckt. Sie war ganz offensichtlich nicht von seiner Seite gewichen. Ihr fragender Blick hätte ihn fast dazu veranlasst, ihr alles zu erzählen. Aber dann erinnerte er sich daran, gegen wen sie voraussichtlich zu Felde zogen. Sein Pakt mit der Feuerfrau wäre nur eines der unberechenbaren Probleme, in die er seine besorgte Angestellte ganz gewiss nicht mit hineinziehen wollte! So speiste er sie mit einer Erklärung ab, die sie ihm schon nach erstaunlich kurzer Zeit deutlich beruhigt abnahm. Er habe in letzter Zeit das Gefühl, dass er eine allergische Reaktion entwickeln würde und noch herausfinden müsse, gegen was genau diese sich richtete. Das habe nichts mit ihr zu tun. Sie solle sich keine Sorgen machen, es sähe schlimmer aus, als es wäre. In einer Stunde oder so sei er wieder ganz auf der Höhe, er kenne das schon, habe nur eben jetzt gerade nicht damit gerechnet gehabt. Kurz darauf schaffte er es wieder auf die Füße und mit einer dankbaren Umarmung und einem matten Lächeln schickte er sie heim.
Die Schmerzen indes blieben ihm erhalten.

Wann hatte er eigentlich das letzte Mal keine Schmerzen gespürt? Vor drei Tagen? Länger? Inzwischen tat ihm fast permanent alles Mögliche weh. Die Anekdote mit dem Rechtsexperten erschien ihm im Nachgang als geradezu harmlos. Was war schon ein ausgerenkter Kiefer, gegen alles das, was dem gefolgt war? Eines stand jedenfalls fest: So schnell würde er sich nicht mehr dazu hinreißen lassen, einen mentalen Ausflug zu wagen! Fremde Köpfe waren erstmal eine Weile tabu. Sicherheitshalber! Er würde sich dringend erholen müssen.

Er ließ seinen Blick vorsichtig durch den Raum schweifen, darauf bedacht, keinen Augenkontakt herzustellen.
Mina von Nachtschatten saß, leicht schräg versetzt, vor ihm und sichtete ein letztes Mal die große Akte. Inzwischen erschien ausgerechnet sie ihm fast als ungefährlichstes Gegenüber in diesem Raum. Sie schien immer so bemüht, so sehr im Kampf mit ihrer eisernen Selbstbeherrschung, dass er ihre Aufmerksamkeit kaum noch fürchtete. Dazu war sie viel zu sehr mit sich selber beschäftigt.
Dann Raistan, der magische Schönling! Der Zauberer war noch immer viel zu wacklig auf den Beinen, wenn man ihn gefragt hätte. Er sah nichtsdestotrotz gut aus, natürlich. Aber dessen erschöpfter Blick, der sich leicht abwesend gen Boden richtete, während die schlanke Werwölfin munter auf ihn einredete, kam ihm nur zu vertraut vor. Der Magier hatte sich in der Zwischenzeit ein Klemmbrett organisiert, mit Papier bestückt, und schien sich regelrecht daran festzuhalten. Sie hatten vermutlich beide eine Auszeit nötig, so geröstet wie auch er sich nach dem geistigen Kontakt mit solch einer bösartigen Übermacht fühlen musste? Eine Gemeinsamkeit, wie charmant!
Doch dieser Gedanke verflog schnell, als sein Blick auf die FROG-Kollegin fiel, die hoch konzentriert das Kartenmaterial studierte, welches mittig des Stuhlkreises auf dem Tisch lag. Sie wirkte entschlossen und ab und an beugte sie sich vor, um mit geübter Hand Markierungen zu ergänzen. Wenn er diese richtig deutete, dann handelte es sich dabei um mögliche Zugänge zur Kanalisation?
Er seufzte innerlich.
Wenigstens eine, die ihre Späher-Schicht in der vorigen Nacht gut genutzt zu haben schien! Von sich selber konnte er das nicht unbedingt behaupten. Wenn er ehrlich sein müsste – und die Gefahr dass dies von ihm eingefordert würde in den nächsten Minuten war recht hoch – dann würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als ein Versagen auf ganzer Linie einzugestehen. Oder zumindest zum großen Teil. Dass er entdeckt worden wäre, davon ging er nicht aus. Aber er hatte es gerade so geschafft, die Gegend abzulaufen und dabei nicht irgendwo in einer Ecke einen Halt einzulegen, um in seiner schmerzvollen Erschöpfung zu versumpfen! Viel mehr mitbekommen hatte er nicht. Sie würden seinen Nutzen für die Gruppe in Frage stellen, noch stärker als bisher.
Und dann kam ja noch dazu, dass er im Anschluss an all diese Schichten nicht einfach heimgehen konnte. Nein! Direkt nach ihm hatte es Senray Rattenfänger mit ihrer Einteilung zum anschließenden Turnus der Observationen erwischt gehabt. Und es war für ihn völlig selbstverständlich, dass er sie beschatten musste und sie nicht aus den Augen lassen durfte! Sie war eine zart gebaute junge Menschenfrau, wirkte alles andere als robust. Er hatte sie im Zuge dieser Rettungszirkelaktivität nicht allein durch die Nacht patrouillieren lassen können. Dazu war ihm seine eigene Existenz zu kostbar. Die Feuerfrau war eindeutig gewesen, was ihre Bedingungen anging und er zweifelte nicht eine Sekunde lang daran, dass sie seine Verpflichtungen ihr gegenüber erbarmungslos einfordern würde.
Der Gedanke wurde von dem scharfen Brennen auf seiner Brust unterstrichen. Wenn es einen letzten Beweis dafür gebraucht hätte, wie real die Auswirkungen seiner gestrigen Erfahrungen in dieser mentalen Ebene hätten werden können... der deutlich erkennbare Abdruck ihrer zierlichen Hand in Form einer schweren Verbrennung mittig seines Brustkorbes, den er bei einem flüchtigen Blick unter sein hochgezogenes Hemd entdeckt hatte, ließ nur einen Schluss zu: Sie hatte ihn tatsächlich noch verschont, trotz allem! Sie hätte wirklich über die Macht verfügt gehabt, ihn vollständig auszulöschen! Und nicht nur ‚gehabt’, wie in der Vergangenheitsform! Sie besaß diese Macht noch immer! Sie hatte seinen Namen, hatte ihn mit dessen Hilfe kontrollieren können, hatte ihn damit gebunden! Ein Gedanke, der ihn selbst jetzt noch frösteln ließ.
Die Tür zum Besprechungsraum öffnete sich und sie trat ein, hastig, ängstlich, entschuldigend. Sie wirkte so harmlos!
"Tut mir leid, ich... äh, also..."
"Schon gut. Setz dich! Wir müssen auch langsam anfangen, ganz gleich, was mit den anderen ist."
Wilhelm blickte der jungen DOG-Kollegin entgegen und als diese sich schnell auf ihren Stuhl setzte, sich ihrer beider Blicke trafen, konnte er sehen, wie sich eine leichte Röte auf ihren Wangen ausbreitete. Auch sie erinnerte sich an die vor Kurzem erst beendete gemeinsame Schicht.
Ja, gemeinsame. Er war sich erst nicht sicher gewesen, wie er seine Observation am Schlauesten angehen sollte, wo sie doch trotz ihrer unbedarften Gesamtwirkung irgendwie auch selber über Erfahrungen im Beschatten verfügen musste. Sie war schon eine Weile in ihrer Profession tätig, nichts, was man über einen längeren Zeitraum hinweg konnte, so man ungeschickt war. Wovon er aber seit seinem Besuch in ihrem Kopf mit ziemlicher Sicherheit wusste, war ihre panische Angst vor seinesgleichen. Eine so tief verwurzelte Scheu, dass er optimistisch war, dass sie ihn nicht brüskieren würde, so er sich ihr nachdrücklich als Begleitung präsentieren würde. Ein Plan, mit dem er gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen gedachte: Zum einen würde er sie dicht bei sich und damit ausgezeichnet im Blick haben, um sie zu beschützen. Und zum anderen bot sich ihm hier vielleicht die Gelegenheit, wenigstens einer Person des Rettungszirkels gegenüber die Wogen zu glätten. Vielleicht ergaben sich während einer ungezwungenen Plauderei ja sogar interessante Informationen zu der Feuerfrau?
Sie hatte es irgendwie in der kurzen Zeit geschafft gehabt, ihre Späherschicht mit der Tarnidentität einer echten Marktschreierin zu verbinden! Eine absolut beachtliche Leistung. Er hatte aus den kühlen Schatten in der Morgendämmerung heraus beobachtet, wie sie half, einen der Marktstände aufzubauen und dann mit einer kleinen Auswahl an Fischen im Bauchladen zusätzlich über das Gelände zog. Sie wählte ihre Route geschickt und er konnte regelrecht ihre Überlegungen hinter jedem einzelnen gesuchten Gespräch erkennen. Obendrein nahm man ihr diese Rolle sofort ab. Sie war gut, überraschend gut.
Er lächelte leicht bei der Erinnerung an ihren Gesichtsausdruck, als sie letztlich auch an seinem Standort vorbeikam und sie ihn, gegen das grelle Morgenlicht anblinzelnd, in seiner schattigen Nische erkannte. Sie war völlig verstört gewesen. Einen Zustand, den er nur zu gerne für seine Zwecke ausgenutzt hatte.
"Würdest du mich ein Stück begleiten? Es gäbe da etwas, über das ich mit dir reden muss."
Keine fünf Minuten später hatte er sie freundlich, wenn auch sehr forsch, untergehakt und sie hatten gemeinsam ihren Bauchladen an den misstrauisch blickenden Standbesitzer zurückgegeben. Es war ein leichtes für Wilhelm, sie beide als dezent flirtendes Pärchen durchgehen zu lassen. Spätestens sein geflüsterter Hinweis an sie, dass es ungünstig wäre, wenn sie dem Gespräch mit ihm zu offensichtlich aus dem Wege ginge, sie wolle doch vermutlich nicht die gesamte Aktion gefährden, sorgte dafür, dass sie fügsam an seiner Seite blieb, während sie bei strahlend schönem Wetter die Straßen entlang schlenderten.[11] Ihr peinlich gesenkter Blick und ihre Nervosität unterstrichen lediglich den Gesamteindruck leichtsinniger Jugend und hoch fliegender Gefühle. Ihre schmale Hand an seiner Armbeuge machte ihn selber vermutlich nervöser, als sie es sich jemals hätte vorstellen können. Einen großen Teil seiner Konzentration musste er darauf verwenden, eben nicht versehentlich in ihren Kopf zurück zu rutschen! Dazu kam der heftige, schnelle Schlag ihres Herzens so dicht an seiner Seite. Und sein quälender Durst. Er bemühte sich um einen seichten, freundlichen Redefluss, um oberflächliche Konversation. Und langsam, ganz allmählich beruhigte sie sich. Was nicht hieß, dass sie sein Verhalten verstanden oder akzeptiert hätte! Natürlich nicht! Vermutlich wartete sie noch immer auf eine Erklärung von ihm dazu, worüber er denn nun so gerne mit ihr gesprochen hätte. Ein Punkt, um den er so lange, wie nur irgend möglich herumzureden gedachte. Es ging ihm schließlich nur darum, sie nicht alleine zu lassen. Er konnte spüren, wie sie nach einem taktvollen Ausweg aus ihrer Lage suchte. Aber das war ihm gleichgültig, immerhin konnte er seinen Anteil am Pakt mit der Feuerfrau auf diese Weise erfüllen – der jungen Kollegin würde kein Haar gekrümmt werden, solange er an ihrer Seite war! Und dann blickte sie tatsächlich stotternd zu ihm auf, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen.
"Ich meine... also... wegen gestern... in der Besprechung... ich habe gesehen, wie dir die Tränen... also... das geht mich natürlich nichts an aber... geht es dir jetzt wieder, naja, besser?"
Ab diesem Zeitpunkt verging der Rest der Schicht – zumindest von seiner Seite aus – eher einsilbig. Sie traute sich nicht, näher nachzufragen, als sie seinen verschlossenen Gesichtsausdruck erkannte. Und er begnügte sich ab da damit, sie mit einem unverfänglichen Lächeln flüsternd auf günstige Nischen hinzuweisen. Glücklicherweise war ihr innerer Widerstand gegen die von ihm arrangierte Situation da bereits weit genug erlahmt gewesen. Sie passte sich der Situation weitestmöglich an und nickte immer wieder wie schüchtern. Er hatte zum Ende ihres dreistündigen Turnus wirklich das Gefühl gehabt, dass ihre Panik ihm gegenüber verschwunden und einer wesentlich erträglicheren Unsicherheit gewichen war.
Jetzt allerdings, hier, zwischen all den Kollegen? Die Situation war eine gänzlich andere und der Raum zwischen ihnen unterstrich dies noch. Wilhelm hielt ihrem Blick stand. Sie jedoch wich seinem schnell aus und nestelte nervös an ihrem Hemdsaum herum. Mit merklichem Zögern versuchte sie, sich auf die Vampirkollegin zu konzentrieren. Nun ja, es war den Versuch wert gewesen. Wenigstens sollte er ihr keinen Anlass geboten haben, sein Verhalten neuerlich zu rügen.
"Weiß einer, warum Magane und Rach fehlen? Sollte irgendwer etwas von ihnen ausrichten?"
Ein mehrfaches Schütteln der Köpfe folgte. Die RUM-Vorgesetzte seufzte leise, fuhr dann aber in normaler Lautstärke fort.
"Nun gut. Das tut im Moment auch nicht unbedingt etwas zur Sache. Sie werden ihre Gründe haben. Natürlich ist es ungünstig, sie nicht dabei zu haben, zumal dann auch erst einmal ihre Observationsergebnisse fehlen. Aber das lässt sich zur Not ja auch alles noch etwas später abfragen. Länger zu warten wäre Zeitverschwendung, wir sind ohnehin schon spät dran. Dann wollen wir mal! Als erstes..."
Wilhelm fiel siedendheiß etwas ein, was er heute morgen am Empfangstresen der Wache aufgeschnappt hatte. Und was ihm zu dem Zeitpunkt schon, trotz aller anderen gedanklichen Ablenkungen als wichtig erschien. Er hob seine Hand zur Meldung und räusperte sich laut vernehmlich. Vielleicht konnte er wenigstens mit dieser Information seine Nützlichkeit unter Beweis stellen?
Von Nachtschatten wandte sich pikiert zu ihm um.
"Rekrut?"
"Bevor wir an den Austausch der gesammelten Informationen zu unserem Projekt gehen, möchte ich auf etwas hinweisen, das mir als überaus bedenklich erscheint. Am Wachetresen machte eine der SEALs-Streifen heute morgen als ich ankam die Meldung, dass im Umfeld des Wachhauses verdächtige Personen gesichtet wurden. Leute, die viel zu lange wieder anzutreffen waren, ohne dass sie das aus einer erkennbaren Tätigkeit heraus waren. Es ist demnach sehr wahrscheinlich, dass das Wachhaus derzeit unter Beobachtung steht."
Die Werwölfin bedachte ihn mit einem spöttischen Blick, als sie einwarf: "Völlig neue Erkenntnis! Und das, wo der Herr Inspektor sich bei uns rumtreibt!"
Wilhelm hob beschwichtigend beide Hände und lächelte.
"Ich wollte es nur gesagt haben. Der Patrizier wäre eine Sache. Aber falls dahinter jemand anderer stecken sollte, wie zum Beispiel der vermutete Alte... dann würde ich es klar bevorzugen, wenn wir alle uns der potentiellen Gefahr bewusst wären und eben vorsichtig mit dieser Möglichkeit umgingen. Es muss ja nicht sein, dass Ophelias Entführer über jeden unserer Schritte im Voraus informiert wäre. Oder?"
Die Gefreite grinste breit: "Ganz zu schweigen von Intörnal Affärs."
Die Vampirin schien es eilig zu haben, denn sie unterbrach das kurze Geplänkel recht ruppig.
"Nun gut, da sowohl Magane, als auch Rach noch nicht da sind und du ohnehin schon dabei bist, können wir auch gleich mit deiner Späherrunde beginnen, Nyria. Wenn du so freundlich wärst?"
Die schlanke Frau lehnte sich sichtlich zufrieden auf ihrem Stuhl zurück und grinste in die Runde.
"Ich habe mich im Viertel herumgetrieben und meine Boten-Masche durchgezogen. Das lief sehr gut. Spätestens nach meinem Abstecher in die 'Grüne Gans' würde ich von einem echten Erfolg sprechen. In der 'Gans' trifft sich eine Menge Personal aus den umliegenden Häusern auf's Feierabendbier. Und mitten drin fand ich eines der Küchenmädchen aus dem Deirdre-Institut. Wir kamen schnell über die Sportclubs der Gegend ins Gespräch. Sie arbeitet zwar in dem Feine Mädels-Kasten, ist aber aus ganz anderm Holz geschnitzt. Wir haben uns gut verstanden und uns locker für ein nächstes Treffen verabredet, wenn sich zufällig die Gelegenheit ergeben sollte. Ich denke, ich habe also wirklich schon einen Fuß in der Tür."
Mina von Nachtschatten nickte knapp.
"Sehr gut! Das sind doch mal wirklich angenehme Neuigkeiten. Auch mal schön zur Abwechslung."
Nyria holte schnell Luft, um noch eine Kleinigkeit einzuwerfen, ehe die Stellvertretende das Wort bereits weitergeben konnte: "Bevor ich es vergesse! Ich habe da so eine Idee für mein weiteres Vorgehen, bräuchte dafür aber die eine oder andere Information zusätzlich. Wäre es vielleicht möglich, irgendwie an eine... Kundenliste ranzukommen? Also eine Namensliste der Mädchen, die in dem Schuppen zurechtgestutzt werden?"
Die Vampirin überlegte einen Moment, ehe sie andeutungsweise nickte. "Ich könnte Rach darauf ansprechen, eventuell fällt ihm dazu etwas ein." Ihr Blick kehrte wieder ins Hier und jetzt zurück und richtete sich auf den blassen Zauberer.
Der junge Magier unterbrach sich kurz beim Notieren der bisherigen Stichpunkte und lächelte matt.
"Ich musste mich leider ausruhen. Da führte kein Weg dran vorbei. Daher habe ich nichts Hilfreiches beizutragen zu den heutigen Erkenntnissen."
Die von Nachtschatten bedankte sich dennoch mit einem knappen Lächeln.
"Keine Sorge! Das war absehbar." Sie blickte auf ihre Akte, dann auf die durchtrainierte FROG-Kollegin, Leutnant Kanndra Mambosamba. Diese atmete tief ein und Haltung, Stimme und Blick kündeten davon, dass ihre Späherschicht vermutlich anders verlaufen war, als die der Werwölfin - ernster.
"Ich wollte es ähnlich handhaben wie die Gefreite und habe mich im Viertel umgesehen. Günstige Beobachtungsposten auskundschaften, das Kneipenklientel unter die Lupe nehmen, Zugänge zur Kanalisation suchen... die sind jetzt übrigens, soweit sie mir sinnvoll erschienen, mit in die Karten eingezeichnet. Sie sind an den kleinen Kreisen mit einem 'K' darin zu erkennen..." Sie deutete vage auf den Tisch in der Mitte, war gedanklich aber ganz eindeutig eher bei dem, was sie nun sagen würde. "Ich war gerade aus der 'Winderstube' auf die Straße raus getreten und ein paar Schritte gelaufen, eben erst 'An der Mauer' eingebogen, da überholte mich aus Richtung des Latschenden Tors eine Kutsche. Nicht irgendeine! Großer Landauer, schwere Vollelliptikfederung an den Achsen, geschlossenes Verdeck, alles schwarz und verhangen, tiefe Aufhängung, als wenn er schwer beladen gewesen wäre und dabei in einem derart verhaltenen Tempo unterwegs, dass sich einem instinktiv die Nackenhaare aufstellen! Ihr wisst vermutlich, was ich meine?"
Wilhelm zumindest konnte sich die Situation nur zu gut vorstellen. Er sah die verdächtige Karosse nach ihrer Beschreibung regelrecht vor sich, wie sie bedächtig durch die gestrige Nacht gerollt sein musste, schimmernd und dunkel mit dem klammen Nieselfilm perlend auf ihrem dunklen Lack.
Die Späherin presste kurz ihre Lippen aufeinander, ehe sie sich leicht vorbeugte auf ihrem Stuhl. Sie krallte regelrecht die Hände in ihre Oberschenkel, als sie mit bitterem Unterton fortfuhr.
"Ich kann es natürlich nicht mit absoluter Sicherheit sagen aber ich denke, heute Nacht wurde unserem großen Unbekannten Nachschub geliefert."
Die Anspannung im Raum stieg merklich an, niemand unterbrach sie.
"Ich konnte der Kutsche gut folgen, eben weil sie so langsam fuhren. Aber sie waren ohnehin nur noch ein kleines Stück unterwegs von dort aus. Sie sind auf das Grundstück des Mädcheninstituts gefahren. Und sie wurden dort bereits erwartet! Ich konnte keinen guten Beobachtungsposten finden. Sie haben das Tor sofort geschlossen und die Mauern sind zu hoch, um unbemerkt... jedenfalls... ich denke, es waren mindestens zwei Männer, eventuell auch noch eine Frau. Und gewisse Geräusche ließen darauf schließen, dass etwas Schweres oder Unhandliches verladen wurde. Und dass dieses Etwas empfindlich war."
Sie blickte mit gerunzelter Stirn auf den Tisch mit den Karten, nahm diese aber vermutlich nicht einmal wahr. Ihre Stimme klang gepresst.
"Ich war so nahe dran! So nahe! Und trotzdem... wenn das wirklich eine... eine Lieferung gewesen sein sollte und ich einfach nur tatenlos..."
Sie fuhr sich plötzlich frustriert mit den Händen über das Gesicht, stöhnte gequält auf und ließ sich an die Rückenlehne zurückfallen.
Die Stille im Raum lastete auf ihnen allen. Ebenso wie die selbstzerstörerische Qual in dem Blick der menschlichen Späherin bei ihren unausgesprochenen Gedanken. Und, nein, dazu musste er kein Risiko eingehen, die konnte jeder der Anwesenden erahnen, ohne dazu tiefer gehen zu müssen.
Mina von Nachtschatten räusperte sich leise.
"Dir ist bewusst, dass du richtig gehandelt hast?"
Die dunkelhäutige FROG nickte kummervoll, ließ aber dennoch den Kopf hängen.
Die Stellvertretende RUMlerin legte bedächtig auf der aufgeschlagenen Akte vor sich ihre Hände aneinander und suchte merklich nach den richtigen Worten.
"Ich glaube, die meisten von uns waren in der letzten Zeit an einem ähnlichen Punkt. Dass wir uns gefragt haben, was wir stattdessen hätten anders, hätten besser machen können. Ob es etwas gegeben hätte, was... nun ja... dein Erlebnis heute Nacht... das war fraglos bitter. Aber es war das richtige Verhalten in einer durch und durch falschen Situation, verstehst du? Wenn alles den Bach runtergeht, dann nützt es nichts, zu jammern und zu lamentieren. Wir müssen effektiv handeln! Das bedeutet nunmal, uns nicht zu viele Emotionen zu gestatten, uns nicht in Gefühle hineinzusteigern, die uns zu Fall bringen könnten. Es ist richtig, Mitgefühl zu haben und zu tun, was möglich ist, um Unrecht aufzuhalten. Aber... wir haben ein gemeinsames, ein wichtiges Ziel. Keine überstürzten Aktionen für uns, die mehr schaden könnten, als nützen! Richtig? Denn ich fürchte, das ist es, worauf wir uns einigen müssen. Um Ophelias Willen!"
Die Späherin atmete bewusst durch und setzte sich mit einem stummen Nicken aufrechter.
Wilhelm fühlte sich auf seltsame Weise von den Worten der Kollegin angesprochen. Sie hatte Recht! Wenn alles den Bach runterging... auch ihm würde es nicht helfen, Trauer zu tragen. Er musste sich dieses Kredo aneignen: Effektiv handeln!
Sein Blick wanderte unauffällig zu der jungen Frau, die rein äußerlich so sehr dem Bild dessen ähnelte, was innerhalb kürzester Zeit zu seinem schlimmsten Alptraum avanciert war - und ein Gedanke nahm Gestalt an: Er musste Ophelias Rettung nicht nur begleiten oder halbherzig unterstützen. Wenn er jemals wieder ein freies Wesen sein und ein Leben ohne diese tägliche Bedrohung führen wollte, dann wäre er dazu gezwungen, sehr viel weiter zu gehen. Er musste sein Möglichstes geben, um diesen Zusammenschluss ungleicher Kollegen zu motivieren, um ihnen zu helfen, ihre Differenzen und Vorurteile abzulegen. Er würde zur Not sogar so weit gehen müssen, ihnen zum Trittschemel zu werden, auf welchem diese sich zu neuen Höhen aufschwingen könnten. Denn, so wie es bisher aussah, war er nicht mit der unabdingbar notwendigen Erfahrung eines langgedienten Wächters gesegnet, die ihn selber dazu befähigt hätte, die Siegestrophäe ihrer Rettung zu ergreifen. Er war eher der Pferdeknecht, der dem Helden damit beistehen würde, dem Reittier die Zügel zu halten, solange dieser die entscheidende Schlacht ausfocht. Der Gedanke war ernüchternd. Aber vermutlich realistisch. Sie mussten zusammenarbeiten, sie mussten die verschwundene Kollegin finden und retten.
Die Vampirin ließ einige bedeutungsvolle Sekunden verstreichen, ehe sie die Akte auf ihrem Schoß zurecht rückte. Sie räusperte sich.
"Dann wäre nun wohl ich an der Reihe mit meinem Bericht. Ich habe das Gelände hauptsächlich von den Dächern aus observiert. Allerdings gab es tatsächlich nichts, was es wert wäre, in einer Zusammenfassung hier erwähnt zu werden. Eine ruhige Nacht ohne besondere Vorkommnisse." Ihr unbewegter Blick wechselte zu ihm und er hatte sofort das Gefühl, nicht nur Rechenschaft für seine absolvierte Schicht ablegen zu müssen, sondern am besten auch gleich für seine Existenz! Es würde nicht einfach werden, sich ihr so weit unterzuordnen, dass sie von seinem guten Willen überzeugt wäre. Nein, wirklich nicht. "Rekrut Schneider?"
Die Blicke der anderen richteten sich auf ihn.
"Dem schließe ich mich an. Meine Runde war ereignislos. Verregnet und ereignislos, um genau zu sein. Aber wenn ich mir den Bericht des Leutnants vergegenwärtige," und bei diesen Worten sah er freundlich in Mambosambas Richtung, "dann mag es Schlimmeres als das geben."
Die von Nachtschatten nickte, dann wandten sich alle dem jüngsten Mitglied des Rettungszirkels zu.
Die DOG-Kollegin wurde erst blass im Gesicht, dann rot. Sie stotterte massiv.
"Ich... also... naja..." Ihr Blick fand den seinen und er konnte darin die Frage brennen sehen, wieviel sie wohl den anderen von ihrer Streife berichten konnte, ohne unangenehme Fragen heraufzubeschwören, denen sie sich selbst kaum zu stellen traute. Wie beispielsweise der, warum dieser Kollege sie zu einer gemeinsamen Streife gedrängt hatte? "Also eigentlich geht es mir ebenso wie... ähm... dir, Ma'am. Ich... ich bin allerdings vor allem auf dem Marktplatz unterwegs gewesen... habe das Gespräch gesucht... mit anderen Standbetreibern, die öfter da sind... und auch mit, äh, Kunden... aber wenn man alles... also, alles zusammennimmt... da waren keine hilfreichen Auskünfte dabei. Nicht so richtig."
Sie hatte soeben Luft geholt, um noch etwas anzumerken, da flog die Tür zum Besprechungsraum auf, als wenn eine Sturmböe in den Raum gefegt käme.
Ophelias Verlobter stand aufgelöst vor ihnen, sein Erscheinungsbild alles andere als der geschniegelte Palastbeautragte. Seine Kleidung wirkte derangiert, zerknittert und staubig, sein Haar zerzaust. Und seine linke Gesichtshälfte wurde von einem unschönen Blauen Auge dominiert, welches bereits in den herrlichsten Farbtönen zu leuchten begann.
Hat er es etwa tatsächlich zu dieser frühen Morgenstunde schon geschafft, sich mit jemandem zu prügeln?
Ehe einer von ihnen auch nur die angehaltene Luft ausstoßen oder sonstwie auf seinen eindrucksvollen Auftritt reagieren konnte, platzte es bereits unbeherrscht aus ihm heraus.
"Hat irgendjemand Rogi gesehen? Ist sie hier aufgetaucht?"

09.04.2017 22: 13

Ophelia Ziegenberger

Sie wusste nicht wohin. Rach war noch nicht im Wachhaus aufgetaucht und sie selber hatte es nicht gewagt, in ihre Dachgeschosskammer zurückzukehren. Stattdessen hatte sie die Nacht in ihrem Büro verbracht. Trotz der Möglichkeit dazu, hatte sie nicht schlafen können. Sie hatte alle Riegel vorgeschoben gehabt und sich eingesperrt, um jede erdenkliche Störung zu vermeiden. Allerdings, als sich im Laufe des Morgens das Wachhaus immer mehr mit Leben füllte, hatte sie mehr und mehr den Eindruck gehabt, in der Falle zu sitzen.
Es gab keinen Ausweg mehr! Ein weiterer Versuch, zu Ophelia zu gelangen, wäre nur ihr eigenes Todesurteil gewesen. Hätte sie wenigstens mit der Igorina reden können! Doch hätte das etwas genutzt? Ein falsches Wort und Racul hätte jeden einzelnen ihrer Kollegen aus dem Weg geräumt, bevor sie auch nur die Gelegenheit gehabt hätten, in Ophelias Nähe zu kommen. Und andersherum, war der Rettungszirkel schon beängstigend nahe am Ziel. Ihr lief die Zeit davon.
Die Igorina schreckte auf. Sie hatte ihren Namen wahrgenommen und der Drang war groß, einfach hinter den Kollegen aufzutauchen.
Rach war gerade dabei, alle einzuweihen! Er würde ihnen davon erzählen, wie lange sie schon über alles das Bescheid gewusst und doch geschwiegen hatte - wie lange sie Ophelia gleichgültig ihrem Schicksal überlassen hatte!
Ihr wurde ganz schlecht bei dem Gedanken.
Es war klar gewesen, dass dies unausweichlich war. Die ganze Nacht über, waren ihre Gedanken um das Problem gekreist. Aber es gab keine Lösung! Die einzige Ablenkung von diesen Grübeleien, war ihre kaputte Schulter gewesen.
Mit einem Seufzer betrachtete sie ihre zittrigen Hände und ihr Blick glitt weiter zu dem Fläschchen, dessen Inhalt Rach ihr verabreicht hatte. Beinahe bereute sie, dass dessen Wirkung nachgelassen hatte.
Inzwischen traf sie die Nennung ihres Namens mit der zunehmenden Regelmäßigkeit einer Auspeitschung. Rach war nicht mehr der einzige, der ihn wieder und wieder aufgebracht nutzte. Eine Diskussion war im Gange, bei der verschiedene Stimmen sich ins Wort fielen und bei der es einzig und allein um sie selber ging.
Die Vorstellung, ihre Kollegen könnten jeden Augenblick zu ihr herunterkommen, um sie zur Rede zu stellen... sie musste ihnen zuvorkommen!
Rogi trat zittrig an ihre Tür. Dann jedoch straffte sie bewusst ihre Schultern. Dem Unheil die Stirn bieten! Hoch erhobenen Hauptes das Urteil erwarten! Sie war nicht umsonst ihr Leben lang eine Kämpfernatur gewesen.
Sie schob die Riegel beiseite und ging entschlossen nach oben. Sie folgte ihrem inneren Kompass. Dorthin wo ihr Name gefallen war. Die Diskussion im Raum war in vollem Gange und die Igorina blieb einen Moment lang reglos vor der Tür stehen. Sie atmete noch einmal tief durch und betrat den Raum schließlich ohne anzuklopfen.
Tödliche Stille empfing sie und die Blicke, die sie trafen, sprachen Bände! Doch sie hielt stand.
Rach machte eine verräterische Bewegung, Mina aber legte einen Arm über seine Brust, hielt ihn zurück.
Rogi trat ungerührt an den Tisch, um einen Blick auf die Ergebnisse zu werfen. Sie hatten eine Karte von Ankh-Morpork ausgebreitet und mehrere Markierungen waren sowohl eingezeichnet, als auch mit Pinnadeln markiert. Und gefährlich nahe an Raculs Anwesen trafen alle Farb-Markierungen zusammen. Es war nur noch eine Frage der Zeit.
Ihr Herz raste und sie sog die Luft scharf ein. Ganz ruhig. Keine Panik.
"Rogi... bitte!", hörte sie Rach leise sagen und es schien ihn sämtliche Beherrschung zu kosten.
Sie waren unaufhaltsam. Sie würden nicht aufgeben. Jetzt nicht mehr. Selbst wenn Racul sie einen nach dem anderen dafür umbringen lassen würde. Und das hatte nicht das Geringste mehr mit ihrem Verhalten zu tun. Es lag nicht mehr in ihren Händen.
Etwas in ihr gab nach.
Sie beugte sich mit einem Seufzer vor und deutete auf den genauen Punkt, wo Ophelia zu finden war, zwischen all den anderen Markierungen.
"Oh mein..."
"Ich konnte es mir bis eben nicht vorstellen! Wirklich nicht!"
"Hab' ich's nicht gesagt!? Glaubt ihr mir jetzt?!"
"Aber... aber sie hatte doch... ich... äh... das verstehe ich nicht... wie kann man denn..."
Sie konnte die Wut ihrer Kollegen förmlich greifen, die sie ihr entgegenbrachten. Ein Bild aus ihrer Vergangenheit trat an die Oberfläche, eine kindliche Erinnerung, die sie aus ihrem Leben als Erwachsene verdrängt hatte, die sie an Ort und Stelle erstarren ließ, den Blick wie in Selbstkasteiung noch immer auf den Punkt ihres nun doppelten Verrats auf der Karte geheftet, den Ort, an dem nicht nur Ophelia in grausamer Einsamkeit vergehen würde, sondern an dem - wie es schien - in nicht allzuferner Zukunft auch jeder hier anwesende Kollege seinem sicheren Tod begegnen würde.

Das große Holzportal erzitterte unter den Schlägen des tobenden Mobbs. Ein wuchtiger Schlag nach dem anderen erfolgte, der schwere Querbalken brach, die Pforten splitterten und fielen krachend aus den Angeln. Sie stand einsam und verlassen inmitten der weiten Eingangshalle, während die zornigen Gesichter auf sie zuströmten. Hass schlug ihr entgegen, Verachtung, Mordlust...

Rogi blinzelte. Sie fand sich im Besprechungsraum des Wachhauses wieder, doch die sich hochschaukelnde Stimmung wies gefährliche Parallelen zu dieser halb verschütteten Erinnerung auf. Und gänzlich ohne ihr Zutun gesellten sich dieser die dazu gehörigen Gefühle hinzu: Angst, Einsamkeit, Schuldgefühl... oh, und was für ein Schuldgefühl! Der Verlust ihrer Mutter... Ophelias Verlust... ein unentwirrbares Gefühlschaos, das sich ihr schmerzhaft ins Herz bohrte und das Atmen schwer machte.
Die Stimmen um sie herum verdichteten sich, wurden nachdrücklicher, fordernder, giftiger.
"Was hast du dir dabei gedacht, Rogi? Im Ernst! Wie kannst du nur morgens in den Spiegel schauen, in dem festen Wissen, Ophelia in so einer Situation im Stich zu lassen, sie in den Fängen eines Vampirs leiden zu lassen? Hatte sie nicht schon genug durchgemacht?"
"Ma' am, du hättest doch jeden... also... ich meine... um Unterstützung bitten können? Jederzeit! Wir haben... nicht nur vorher, auch jetzt noch... uns solche Sorgen um sie gemacht! Naja... zumindest fragen hättest du doch können, richtig?"
"Ich will ja nichts sagen aber das ist echt harter Tobak! Hätt' ich irgendwie nicht von ihr erwartet..."
Rogi schloss die Augen und ließ das Urteil der Gruppe auf sich niederfahren wie ein Henkersbeil. Schuldig! Schuldig des Verrats an einem geliebten Menschen und einer geschätzten Kollegin! Schuldig offensichtlicher Gefühlskälte und ignoranter Grausamkeit! Schuldig der Paktiererei mit dem entarteten Feind! Und vor allem schuldig in den eigenen Augen! Was ihr zur Last gelegt wurde, waren schließlich keine haltlosen Vermutungen, sondern - ob sie es wussten oder nicht - unschöne Fakten! Sie hatte um Ophelias Aufenthaltsort gewusst! Sie hatte mit dieser geredet und sie trotzdem sich selbst überlassen! Sie hatte sich mit dem eingeschworenen Haushalt des übergriffigen Vampirs geeinigt, mit dessen Angestellten zusammengearbeitet! Sie war zur Komplizin geworden, zur Mittäterin! Die Verachtung, mit der sie Raculs und seines wahnsinnigen Helfershelfers gedachte, musste somit zugleich auch ihr selber gelten. Die Vergeltungsmaßnahmen, die sie den beiden ein ums andere Mal an den Hals gewünscht hatte, müssten ebenso sie treffen.
Die Igorina spürte, wie ihre Kehle sich zusammenschnürte und ihre Knie nachzugeben drohten.
Eine leise Stimme schob die lauteren beiseite, indem sie scheinbar völlig gelassen bemerkte: "Ich frage mich, ob dieses Verhalten normal ist?"
Sie öffnete verwirrt ihre Augen und sah auf der anderen Seite des Tisches den Rekruten Schneider sitzen. Sein Blick lag ruhig und seltsam besonnen auf ihr. Im Gegensatz zu den anderen, saß er zurückgelehnt und mit locker übereinander geschlagenen Beinen auf dem Stuhl, seine Aufmerksamkeit wirkte zwar einerseits erschöpft aber andererseits auch neugierig und unbefangen.
Ihre Blicke trafen sich.
Er schob seine Hände tief in die Hosentaschen. Ohne deswegen lauter zu werden, fragte er sie ganz direkt, durch die Stimmen der Kollegen hindurch: "Du hattest lange nach ihr gesucht, nicht wahr?"
Die Igorina musste schwer schlucken... und nickte.
Das aufgeregte Lamentieren im Raum verstummte, bis sie selber und der noch immer deplaziert gelassen wirkende Rekrut, im Mittelpunkt standen. Er sah sie mit einem so merkwürdig verständnisvollen Blick an, dass ihr ganz elendig wurde. Das Urteil war gefällt, sie hatte es der Wahrheit wegen akzeptiert. Warum wirkte dann alles an ihm so, als wenn er im Begriff stand, es anzuzweifeln?
Ohne es zu wollen, blendete sie die anderen um sie her nach und nach aus. Was blieb, war Wilhelm Schneider. Und seine nächste Frage an sie.
"Und vor deiner Suche... da warst du zu drastischen Maßnahmen um ihretwillen bereit. So kann man es doch sagen, richtig?"
Rogi nickte wieder, den Mund ganz trocken.
"Monate! Du hast Monate damit verbracht, sie vor und nach deinen Wacheverpflichtungen zu suchen, jeden Tag. Jede Nacht. Und das brauchst du nicht zu bestätigen, Ma' am, denn das habe ich mit eigenen Augen beobachten können." Er lächelte sie matt an und sie spürte, wie Tränen in ihre Augen aufsteigen wollten.
Nein, nicht jetzt, nicht hier! Sie drängte sie zurück und biss stattdessen die Zähne zusammen. Was ihn nicht davon abhielt, weiterzureden.
"Wofür ich aber gerne eine Erklärung von dir hätte, Ma' am, das ist der Grund dieses Aufwands. Warum war dir diese unermüdliche Suche damals so wichtig?"
Es bereitete ihr Mühe, ihre Stimme zu finden.
"Weil Ophelia mir wichtig war."
Das leise Schnaufen von der Seite, welches auf diese Antwort erfolgte, sprach von Spott und Unglauben. Sie versuchte es zu ignorieren.
Wilhelm Schneider lächelte sie nun offen an.
"Und wann hat sich das geändert?"
"Ef... es hat sich nicht... geändert."
Rund um den Tisch wurden frustrierte Laute des Protests ausgestoßen, Rach schlug sogar mit der Faust auf den Tisch zwischen ihnen, ehe er sich abrupt abwandte und möglichst weit von ihr fortstrebte.
Der Rekrut warf ihm einen nur flüchtigen Blick zu, dann konzentrierte er sich wieder auf sie. Er widersprach ihr nicht direkt. Aber was er sagte, ließ Eiseskälte in ihr erblühen.
"Ophelia ist dir also noch immer genauso wichtig wie damals. Aber dein Verhalten hat sich geändert. Verstehe ich das richtig?"
Sie nickte zögerlich. Sie wollte nicht länger mit ihm reden. Doch er ließ nicht locker.
"Dann verrate mir doch bitte, Ma' am, zu welcher Gelegenheit sich dieser gravierende Wandel vollzog!"
Alles in ihr sträubte sich dagegen und sie brachte plötzlich kein Wort mehr über die Lippen. Sie sah sich einer leeren Seite gegenüber, ihr Verstand schien einen Aussetzer zu haben.
Wilhelm Schneider atmete tief durch. Er löste seinen Blick von ihr und sprach seine Kollegen an.
"Wird denn niemand von euch misstrauisch? Bin ich wirklich der einzige?"
Sie hörte Minas zögerliche Stimme, konnte sich aber nicht dazu überwinden, ihren Blick zu heben.
"Du meinst...?"
Die Stimme des Rekruten klang resigniert, beinahe freundlich.
"Wir agieren gemeinsam gegen einen der Alten. Wir wissen von ihm nicht viel mehr, als dass er über immense geistige Kräfte verfügen muss. Er hat Ophelia über mehrere Jahre hinweg begleitet, ohne dass sie sich effektiv gegen ihn auflehnen konnte, zum Schluss sogar gegen den direkten Widerstand ihrer engsten Vertrauten hin! Alle zugleich haben auf sie eingewirkt, als sie im Wachhaus unter Arrest stand, um auch nur den kleinsten möglichen Anhaltspunkt aus ihr herauszubekommen, womit sie es zu tun haben mochten. Sie war unterernährt und chronisch übermüdet, stand zeitweilig unter Drogen... und doch ist ihr niemals in all den Monaten ein einziges verräterisches Wort zu diesem Vampir über die Lippen gekommen? Obwohl es kaum etwas anderes gegeben haben dürfte, was wenigstens unterschwellig permanent ihre Gedanken beschäftigte? Du erinnerst dich gewiss daran, Ma' am, was ich dir über ihre Ängste erzählte, sie könne auch nur versehentlich sein Inkognito euch gegenüber aufdecken und damit an einer... Säuberungsaktion unter ihren Freunden und ihrer Familie schuldig werden? Sie war wie ein steter Regenschauer aus Informationen - und doch blieb ausgerechnet er, dieser große Schatten hinter all ihrer Mühsal, unerwähnt?"
Sie hörte seine Worte und konnte nicht anders, als Raculs Bild vor sich zu sehen. Wie er in jener Nacht in ihrer Dachkammer auf sie gewartet hatte und aus den Schatten heraus auf sie zutrat. Sie fühlte seine machtvolle Aura, als wenn er wieder vor ihr stünde, dieses geradezu körperliche Verlangen danach, seinen Befehlen zuvorzukommen, seine Obrigkeit innerhalb des persönlichen Kosmos schlichtweg zu akzeptieren. Sie hatte aus irgendeinem Grund bisher nicht wirklich darüber nachgedacht gehabt, wie es schon vorher für Ophelia gewesen sein mochte, ihren Sinn mit dieser Präsenz teilen zu müssen, lange bevor all jene Ereignisse in Gang gesetzt wurden, durch die überhaupt erst Aufmerksamkeit von außen auf ihr Problem gelenkt wurde. Wie konnte Ophelia ihm die Stirn bieten, wie schaffte sie das? Und wie gelang ihr das selbst jetzt noch, wo sie kaum mehr Substanz aufwies, als ein Geist? Denn dass sie es tat, stand für die Igorina außer Frage! Allein, wie Ophelia voller Mitgefühl ihre Hand gehalten hatte, obgleich es um sie selber so viel schlimmer stand! Dieser ungebrochene Lebenswille, entgegen jeglicher Logik! Auf ihre zerbrechliche Art kämpfte Ophelia selbst jetzt noch gegen ihn an, ein ungeheuerlicher Kraftakt, der sicherlich mit zu ihrem ausgezehrten Zustand beitrug. Den sie aber nicht mehr lange bewältigen würde. Unmöglich!
Die sanfte Stimme des Rekruten schnitt in ihr Bewusstsein.
"Wenn man mich also fragen würde - so unwahrscheinlich das auch wäre, dass man das täte, Ma' am - dann würde ich sagen: Ja, ich vermute tatsächlich ganz stark, dass ihr Sinneswandel nicht natürlichen Ursprungs ist."
Die Igorina fühlte, wie ein Schwindel aus ihren tiefsten Tiefen in ihr aufzusteigen begann und Übelkeit sich in ihrem Magen zusammenballte. Sie wollte fliehen. Raus aus diesem Raum. Fort von den auf ihr lastenden Blicken. Fort von der Gefahr. Auch wenn sie diese nicht konkret zuordnen konnte.
Sie hob langsam ihren Blick und fand sich in der Vermutung bestätigt, dass Wilhelm Schneider sie beobachtete. Fast schien es ihr, als wenn er etwas sagen wollte, zögerte, sich dann aber doch dazu überwand. Seine Aufmerksamkeit wirkte ungeteilt, wenn auch auf seltsame Weise zurückhaltend.
"Du weißt, wovon ich rede, nicht wahr, Ma' am?"
Sie weigerte sich, es zu wissen. Sie wusste nicht, was er meinte. Und sie würde auch ganz sicher nicht darauf eingehen. Sie sollten sie einfach alle in Ruhe lassen!
Doch er ließ sie nicht in Ruhe. Im Gegenteil! Seine Stimme klang freundlich, als er sagte:
"Es gäbe einen sehr einfachen Weg, sich Klarheit zu verschaffen. Wenn du das wollen würdest, Ma' am."
Er hielt ihren Blick fest, abwartend, neugierig... aber auch fast schon... ängstlich?
Neben sich hörte sie Mina mit deutlichem Missfallen ihre Skepzis kundtun, doch dem intensiven Blickkontakt zwischen ihr selber und dem relativ jungen Vampir tat das keinen Abbruch. Ja, wirklich! Er schien vor ihrer Antwort Angst zu haben, ohne das durchblicken lassen zu wollen!
"Rekrut Schneider, wie dir bewusst sein sollte, bin ich kein großer Fürsprecher dieser Methoden."
Senray Rattenfänger stotterte in die verhaltene Stille hinein.
"Was... also... was genau meint er denn? Ich, naja, verstehe nicht ganz... was für... ähm... Methoden?"
Die Stimme der FROG-Späherin, kühl und leidenschaftslos.
"Er schlägt vor, dass man sehr direkt nachsehen könnte, was in Rogis Kopf vor sich geht. Auf mentaler Ebene, per Gedankenlesen."
"Oh..."
Die Stellvertretende von RUM klang leicht pikiert, als sie mehr zu sich selbst, denn für ihre Kollegen, kommentierte.
"Eigentlich bin ich deutlich dafür, dass jeder selber entscheidet, wen er in seinen Kopf lässt und wen nicht. Genau dafür haben wir schließlich so lange nach einer gangbaren Lösung für Ophelia gesucht! Es wäre nicht richtig, einfach so..."
Rach schien weniger Hemmungen zu verspüren.
"Ich bin dafür! Rogi soll für das, was sie getan hat, genauso wie für das, was sie unterlassen hat, geradestehen! Wir brauchen deutlich mehr Informationen, wenn wir Ophelia da rausholen wollen! Wir können nicht einfach unvorbereitet reinmaschieren. Und wenn Rogi diese Information nicht freiwillig hergibt..."
Nyria hob beschwichtigend ihre Hände und fiel ihrerseits in die aufbrandenden Stimmen mit ein.
"Ho! Ganz ruhig, kleinen Moment mal! Worüber genau reden wir hier eigentlich? Geht es jetzt um ein geistiges Einmarschieren um zu Roden und zu Brandschatzen? Klingt nämlich fast so. Das ist nicht das, wofür dieser Rettungstrupp stehen sollte, nur mal so nebenbei angemerkt. Oder worum geht es sonst?"
Noch immer hielten sie beide ihre ineinander verfangenen Blicke aufrecht, so dass sie ganz genau seine Nervosität erkennen konnte, auch wenn es im Eifer des Gefechts wohl niemandem sonst auffallen mochte. Wilhelms Stimme zumindest war diese nicht zu entnehmen, als er kaum lauter denn zuvor einwarf:
"Nein. Es geht um die Möglichkeit für sie selber, sich Klarheit zu verschaffen. Ob ein Fremdeingriff stattgefunden hat - oder nicht. Ob dieser Sinneswandel ihr ureigenster war. Nur darum geht es. Um ihr die Möglichkeit zu geben, falls dies nicht der Fall gewesen sein sollte, sich über einige Dinge klar zu werden und... sich uns freiwillig anzuschließen."
Rogi stockte der Atem und sie begann erst langsam, dann zunehmend panischer, den Kopf zu schütteln.
"Nein... nein, da mache ich nicht mit! Du kommst nicht in meinen Kopf, Rekrut, du nicht! Und auch sonst niemand!"
Sein erschöpftes Grinsen hatte fast etwas Erleichtertes an sich.
"Ich habe auch nie behauptet, dass ich das wollen würde, Ma' am. Es ging mir vor allem um ein Feststellen von Tatsachen. Du hast vermutlich ein ernsthaftes Problem. Und das sind nicht nur wir hier in diesem Raum und unsere fehlende Akzeptanz für deine Entscheidungen. Du solltest dir dessen bewusst sein. Dieses mögliche Problem auszublenden bedeutet nicht, dass es keinen Bestand hätte."
Kanndras skeptische Stimme von der Seite machte es nicht besser, als sie zu Bedenken gab:
"Das Problem könnte sogar noch größer sein, Rogi. Wenn der alte Vampir dich manipuliert haben sollte... bist du dir dann noch sicher, dass du nicht sogar im weiteren Verlauf dessen, was noch auf uns zukommen mag, zu einer Gefahr werden könntest? Für dich selber ebenso, wie für uns?"
Das in ihr keimende Entsetzen, aufgrund dieses Gedankens, vermischte sich mit ihrer instinktiven Verteidigungshaltung.
"Nein! Ich will das nicht!"
"Rogi!" Die Wächter im Raum zuckten zusammen, so auch sie selber, und blickten in die Richtung des Zauberers, der bisher geschwiegen hatte. Dessen Gesichtsausdruck hatte etwas Verbittertes an sich. "Gleichgültig aus welchem Grund du gehandelt hast, wie du es getan hast... Du behauptest, Ophelia sei dir immer noch wichtig... stimmt das? Ist das wirklich und wahrhaftig die Wahrheit?" Er lehnte sich regelrecht empört auf sein Klemmbrett vor. Er wirkte noch immer geschwächt und so gut, wie sie die generelle Konstitution eines ehemaligen Patienten abschätzen konnte, gehörte er ihrer Meinung nach nicht hierher, sondern in ein Bett. Der Blick seiner stahlgrauen Augen jedoch bohrte sich unnachgiebig in den ihren.
Die Beziehung zwischen Ophelia und ihr war kompliziert, war es schon immer gewesen. Selbst unter normalen Umständen hätte sie Schwierigkeiten damit gehabt, diese Verbindung zwischen ihnen beiden irgendjemand Drittem gegenüber zu erklären. Begriffe wie 'Freundschaft' oder 'Zuneigung' wären nicht ganz treffend gewesen, 'Loyalität' nicht ausreichend und 'Zutrauen' schlichtweg falsch. Aber mit der Aussage, Ophelia sei ihr 'wichtig' gewesen... damit konnte sie viel Unausgesprochenes verbinden, vieles in ein Wort fassen, was anderweitig nicht gelang. Und es war richtig. Sie nickte stumm.
"Dann will ich dir gerne in Erinnerung rufen, was genau du mit deinem bisherigen Verhalten unterstützt! Du hast Ophelia damit einem Vampir überantwortet, der seinesgleichen sucht, was Boshaftigkeit und Grausamkeit angeht! Einem Vampir, der sie schlimmer behandelt, als es jedes denkende und fühlende Wesen verdient hat! Du kennst sie, du weißt, dass sie viel erträgt, das ist mir bewusst. Aber ist dir wirklich klar, wie viel sie in der Zeit bei ihm bereits durchgemacht hat? Ich maße mir nicht an, auch nur ansatzweise an ihren Erinnerungen aus mehr als einem Jahr Gefangenschaft gerührt zu haben aber ich schäme mich auch nicht, zu gestehen, dass mir die wenigen Sekunden, die ich zu erfahren gezwungen war, immer noch zusetzen! Er ist eine eiskalte Naturgewalt! Und sie nur noch eine schwache Flamme im Wind! Solange du nicht mit uns redest, können wir zwar nicht einschätzen, wie viel du mitbekommen hast von dieser ganzen Ungeheuerlichkeit. Aber ich kann dir versichern, dass es Grenzen des Menschenerträglichen gibt und dass Ophelia mit jeder Minute, die wir hier nutzlos auf dich einreden, an diesem Abgrund entlang stolpert! Sie vergeht fast vor Einsamkeit! Kannst du dir vorstellen, wie es in ihr drinnen um ihr Seelenleben steht, bei einer Frau, die niemals auch nur den leisesten Wunsch verspürte, für sich zu sein? Die ihr Wesen darin definierte, stets Teil einer Gemeinschaft zu sein? Er hat ihr ihre Familie genommen! Er hat ihr ihre Freunde genommen! Er hat ihr quasi die Lebensader gekappt, als er sie vom einen auf den anderen Moment von Rach trennte!"
Hinter ihr ging etwas krachend zu Bruch und sie zuckte heftig zusammen, als eben jener Erwähnte außerhalb ihres Sichtfeldes fluchte. Sie hätte am liebsten ihre Ohren zugehalten und ihre Augen verschlossen. Doch das hätte sie nicht vor den Bildern in ihrem Kopf bewahrt, die schlimmer waren, als Raistans Worte. Ophelia in der klammen Käfig-Kammer, ihre Handgelenke so dünn in den fadenscheinigen und verdreckten Lumpen, dass sie sie problemlos mit zwei Fingern umfassen hätte können. Ophelia in dem stickigwarmen, unterirdischen Raum, kaum ansprechbar nach dem erzwungenen Versuch, die geistige Barriere neu zu errichten. Ihre klammernde Umarmung... eine Ansammlung schutzbedürftiger Knochen, eine fieberglühende Seele, die sich in blindem Vertrauen in ihre Arme schmiegte, entschlossen, jede 'gute' Sekunde auszukosten, in dem vollen Wissen darum, damit nichts geschenkt zu bekommen, nichts halten zu können, was wirklich etwas geändert hätte!
"Ihr habt ja gar keine Ahnung!" Ihre Stimme verriet sie. Da war ein deutliches Zittern zu hören gewesen, ein leichtes Vibrato, das niemandem hier entgehen würde.
Rach stand plötzlich gefährlich dicht hinter ihr und zischte ihr ins Ohr: "Dann teile dein Wissen mit uns, verdammt nochmal!"
Mina hielt ihn beinahe routiniert zurück.
"Rach..."
Er krampfte seine Fäuste gerade noch in ihrem Blickwinkel zusamen und presste sie sich frustriert an die Beine, als er mit einem Ruck seine unruhige Wanderung durch das Zimmer wieder aufnahm.
"Ich meine ja nur!"
Rogi versuchte, Luft zu holen, sich Luft zu machen. Sie legte ihre zitternde Hand vor ihre Augen und redete mit fast flehendem Ton.
"Ich... ich wollte doch nur alles richtig machen. So gut es ging, alle Beteiligten beschützen!"
Minas fast tonlose Stimme fand bis zu ihr, als diese mit einem sehr tiefen Seufzer kommentierte.
"Das kommt mir bekannt vor. Um nicht zu sagen auf fatale Weise bekannt. Das waren fast identisch Ophelias Worte, als sie mich nach der Aufdeckung des Todes von Ascher von der Spur abbringen wollte, die zu dem anderen Vampir geführt hätte. Ein weiteres Indiz dafür, dass beide von der gleichen Person manipuliert sein könnten."
Kanndra warf mit bitterem kleinen Lachen ein: "Ophelia wollte mithilfe von verschleierten Informationen andere schützen, hat aber vor allem dazu beigetragen, dass wir jetzt ohne Informationen dastehen, bei unserer Suche nach ihr! Und du willst es ihr nachtun, Rogi? Sollen wir hilfloser als zuvor dastehen? Was soll dann aus uns werden? Du weißt, dass wir es versuchen müssen, sie zu retten. Das sind wir jedem Futzel Menschlichkeit in uns schuldig! Willst du uns ohne Licht in die Dunkelheit schicken?"
Rogi hätte heulen können! Sie wandte sich direkt der Kollegin zu.
"Nicht! Ihr dürft da nicht rein gehen! Hört doch auf mit dem Wahnsinn! Er wird euch allesamt umbringen, einen nach dem anderen! Und sein Assistent wird es Ophelia mit Genuss unter die Nase reiben! Ihr macht es damit nur noch schlimmer für sie! Sie hat selber gesagt, dass es ein nutzloser Versuch w..."
Kanndras Augen weiteten sich in stummem Entsetzen und mit Verzögerung wurde ihr klar, was genau sie mit ihren letzten Worten preisgegeben hatte.
Rach trat in ihr Blickfeld und seine Augen waren tödliche Schlitze.
"Du hast mit Ophelia gesprochen? Du warst bei ihr und hast mit ihr gesprochen?!"
Sie wich seinem Blick aus und ließ den Kopf hängen.
Wie sollte sie all das Vorgefallene erklären können? Jedes einzelne Wort konnte falsch verstanden werden, jede ihrer Entscheidungen war fragwürdig gewesen.
"Ef tut mir leid..."
Rach wich langsam von ihr zurück, offenbar unfähig, sich anders im Zaum zu halten, als mit eisigem Schweigen. Es waren die nicht gesagten Worte, die sie trafen wie Speerspitzen.
Die Stille im Raum wurde drückend, bis plötzlich Nyria einwarf: "Eine neue Information hätten wir jedenfalls schon mal: Er hat einen Assistenten!"
Die Igorina musste schwer schlucken. Warum versuchte sie überhaupt noch, ihre Kollegen aufzuhalten?
Mina von Nachtschatten forderte mit eisiger Stimme ihre Aufmerksamkeit ein. Und deren Blick wirkte dabei gefährlich kalt, unbewegt, wie eine nächtliche Nebelbank bei Flaute.
"Es tut mir wiederum leid, das sagen zu müssen aber du hättest es nicht deutlicher machen können, als mit deinen letzten Worten eben, dass wir auf deine Mitarbeit angewiesen sind. Wir werden einen Rettungsversuch starten, Rogi, ob es in deine Überzeugungen nun passt oder nicht. Wir könnten deine Hilfe, dein Wissen zu den örtlichen Gegebenheiten, dafür gut gebrauchen. Mit halben Informationen können wir nicht arbeiten. Wenn du uns also unterstützen würdest, wäre uns sehr geholfen. Das könnte deiner... Sorge entgegenwirken. Dass wir bei einem solchen Versuch zu Schaden kommen könnten."
Ihre Gedanken begannen sich allmählich selber im Kreis zu jagen, wiederholten sich, überholten sich, wie ein außer Kontrolle geratenes Karussel. Sie konnte sie nicht aufhalten! Es lag nicht in ihrer Macht. Sie konnte höchstens Schadensbegrenzung betreiben. Sie warnen, sie dort ausbremsen, wo sie ins offene Messer zu laufen drohten, ihnen die Schwierigkeiten vor Augen führen, die ihren eigenen Widerstand gebrochen hatten...
"Racul...", sie hob langsam den Blick und traf auf denjenigen Rachs, der sie inzwischen von der anderen Seite des Raumes aus anstarrte und bei der Nennung des verhassten Namens auf dem Absatz herumgewirbelt war. Vorsichtig, als wenn sie über brüchiges Eis gehen würde, sagte sie: "Daf ist fein Name, der Vampir, der hinter Ophelias Entführung steckt. Er... ift stark. Fehr stark. Und sehr alt. Ihr werdet nicht ohne Weiteres in sein Anwefen eindringen können. Ef ist nicht nur daf Haus. Ophelia ift darunter untergebracht, unter dem Grundstück, in einem Kellerlabyrinth. Ich... ich war zwar bei ihr aber nur aufgrund einer Vereinbarung mit meinen Verwandten, in seinen Dienften. Ich war nicht bei Bewusstsein, wenn fie mich zu ihr brachten. Ich kenne nicht den direkten Weg zu ihr, doch daf Gewölbe ist riefig und ich befürchte, dass es dort Fallen gibt. Zumindest hat meine Großtante mich einmal recht deutlich davor gewarnt, mich alleine umzusehen. Der Assistent... Sebastian heißt er. Er ift ein junger Vampir, aber auch ein aufgewachfener Sadist, machtgierig, rückfichtflof. Er hat vor Kurzem... alfo, er ist jedenfallf Schuld daran, dass ef Ophelia im Moment ziemlich schlecht geht." Sie war nicht länger imstande, Rachs intensiven Blick zu ertragen, welcher durch das blau geschlagene Auge noch unterstrichen wurde. Sie senkte den ihren auf die zitternden Hände. Ihre Stimme war leise, füllte aber den Raum, so deutlich hielten alle Anwesenden den Atem an. "Felbft, wenn ihr sie finden würdet... fie ist derzeit zu fwach. Sie ift nicht einmal mehr tranfportfähig." Irgendwie hatte sie eine deutliche Reaktion Rachs auf diese Information erwartet - die aber ausblieb. Sie wagte es nicht, wieder aufzusehen und so hatte sie das Empfinden, mit einem Teil des Raumes zu reden, der ihre Worte verschluckte. Der dumpfe Empfindungslosigkeit ausstrahlte. Aber wo sie einmal damit begonnen hatte, konnte sie nun nicht mehr damit aufhören, all die schrecklichen Dinge auszusprechen, die auf ihr lasteten. "Das Experiment mit HEX... fie war vorher fon viel zu schwach, die Lungenentzündung hat ihr schrecklich zugesetzt, auch wenn meine Großtante alles in ihrer Macht ftehende getan hat, um dagegen zu halten. Aber was auch immer HEX bewirkt hat, ef muss Raculs Wahnsinn befeuert haben. Ich durfte danach nicht mehr zu ihr. Sie haben mein Besuchsrecht einfach wieder verweigert... obwohl ich ef gerade erst zugestanden bekommen hatte!" Tief im Strudel der Erinnerungsbilder gefangen, griff sie nach ihrer verletzten Schulter und hielt sie sich schützend. Es hätte noch so viel mehr zu sagen gegeben. Aber es war an der Zeit, einen allerletzten Versuch zu wagen, ihnen die absolute Hoffnungslosigkeit in anbetracht von Raculs Macht zu verdeutlichen. Um ihnen allen das Leben zu retten!
Sie umschlang sich selbst, fühlte sich ungewohnt zerbrechlich. In ihrer Not, drängte es sie danach, ihre folgenden Worte mit allem Nachdruck in die Waagschale zu legen, sie jemandem ans Herz zu legen, einem mitfühlenden Gegenüber dabei in die Augen zu schauen, um zu erkennen, ob deren Bedeutung wirklich ankommen würde. Sie blickte sich hektisch um und wählte den Zuhörer, der ihr am wenigsten zuzuhören gewillt war: Rach!
"Ich habe Ophelia lange gesucht und ich dachte, wenn ich nur zu allem bereit wäre, dann... aber es gibt etwas, das Ophelias Schicksal besiegelt."
Rach musste sichtlich schlucken. Er senkte seine Stirn und ballte die Fäuste, brachte es aber nicht fertig, ihr auch nur mit einem einzigen gesprochenen Wort zu kontern.
Stattdessen war es Mina, die nachhakte.
"Was genau willst du uns damit sagen?"
"Racul wird sie niemalf wieder gehen laffen. Und es gibt für niemand Außenstehenden, dem an ihrem Wohl gelegen wäre, die Möglichkeit, Racul und sie gewaltsam voneinander zu trennen."
"Was soll das heißen?"
"Ophelia ift an ihn gebunden. In mehr als nur einer Hinficht. Es find nicht nur ihre Gedanken. Oder vielleicht sind fie es. Aber diefe Verbindung reicht tiefer!" Ihre Stimme versagte ihr fast, als sie sagte: "Raculs Tod, wäre auch der ihre. Und umgekehrt. Defwegen wird er sie nie wieder freiwillig auf seiner Gewalt entlaffen. Er fieht in ihr seine ganz perfönliche Sicherheit, die er forgfältig wegsperren muff, damit niemand ihr zu nahe kommen kann! Und sie weiß das."
Rachs Blick wirkte ungerührt, seine Stimme emotionslos.
"Warum sollte ich, sollten wir, dir überhaupt noch glauben?"
"Aber es stimmt! Ich sage die Wahrheit!"
"Woher willst du das wissen, dass es solch eine Verbindung gibt? Vielleicht hat dieser Racul sich nur einen Spaß daraus gemacht, es dich glauben zu lassen? Damit er sich nicht selber die Finger schmutzig machen muss, um uns von unseren Plänen abzubringen?"
Sie lachte bitter.
"Wenn er auch nur davon wüsste, wie nahe ihr ihm fon seid, würde die Hälfte von euch nicht mehr mit in diesem Raum fitzen! Und davon abgesehen... ich weif es, weil feine Igors mir davon erzählten, dass er fon vor langem selber versucht hatte, diefe Verbindung endgültig zu lösen!"
Raistan Quetschkorn schnappte hörbar nach Luft.
"Wie? Wie hat er das versucht?"
Sie wandte sich diesem zu und gestikulierte schwach.
"Wie testet ein Vampir wohl, ob ihm das Sterben Erlösung bringt? Er hat sich von seinen Igors pfählen und anschließend sofort wieder zurückholen lassen."
Der Zauberer war bis auf seine Stuhlkante vorgerutscht.
"Was ist dann passiert?"
Sie befeuchtete ihr Lippen und atmete tief durch.
"Sie hatten große Schwierigkeiten, ihn zurückzuholen. Weil Ophelia gleichzeitig ebenfalls wiederbelebt werden musste. Diese Verbindung zwischen ihnen... es gab jede Menge Rückkopplungen..."
Rach kam quer durch den Raum auf sie zugestürzt und stieß mit dem Finger durch die Luft. Er brauchte seine letzten Reserven an Selbstbeherrschung auf, ohne dabei auch nur ansatzweise mitzubekommen, wie Mina und Kanndra gleichzeitig aufgesprungen waren, um ihn beidseitig an seinen Schultern zurückzuhalten. Dieses Eingreifen stoppte ihn zwar effektiv. Und wie sie an seinem heftigen Zusammenzucken und dem schmerzverzerrten Gesicht ablesen konnte, hatte sie beim wenig zimperlichen Zutreten mindestens ein längerfristiges Souvenir hinterlassen. Aber er nahm selbst das in seiner Wut nur halb wahr. Sein bebender Finger pochte an ihre Stirn, seine Stimme zischte sie fordernd an.
"Das... das denkst du dir doch nur aus! Ich glaube dir kein Wort mehr! Nicht eines! Genug! Schluss mit dem sinnlosen Gerede! Es reicht mir! Entweder du gibst uns die Informationen, die uns bei Ophelias Rettung helfen können, freiwillig. Oder... oder wir holen sie uns hier und jetzt selber aus deinem verbohrten Dickschädel heraus! Mir fällt da schon was ein, das verspreche ich dir! Wir haben alles hier, Verhörräume, Zellen, Vampire... zur Not kann ich reichlich Wahrheitsserum produzieren und wir schauen, wie weit wir damit kommen! Aber wenn es nach mir geht, soll der Rekrut Schneider sich endlich mal nützlich machen. Geht deutlich schneller als alle anderen Methoden, wenn ich richtig liege mit meiner Vermutung, schließlich hat er darin ja Übung, oder nicht?"
"Rach, es reicht!"
Sie war gescheitert. Er glaubte ihr nicht. So etwas wie Taubheit breitete sich in ihrem Inneren aus. Dann war alles egal. Ein langsames Nicken war ihre Antwort, fast ohne ihr Zutun.
Er hielt irritiert inne, als er die knappe Geste richtig deutete, die beiden Kolleginnen ließen von ihm ab. Er strich sich die Weste glatt, richtete sich merklich auf und straffte seine Schultern. Mit einem triumphierenden Blick sah er zu Wilhelm.
"Na dann! Du kannst loslegen!"
Rogi sah dem schweigsamen Vampir in der Erwartung entgegen, Rachs Tatendrang in diesem gespiegelt zu sehen. Stattdessen aber erwischte sie ihn bei einer leidvollen Grimasse, welche er sofort zu unterdrücken versuchte.
Die Kollegen im Raum sahen ihn überrascht an, als er mit deutlicher Zurückhaltung antwortete.
"Es ist mir jetzt etwas unangenehm, das sagen zu müssen, aber... ich möchte gerne darauf verzichten, mich dieserart einzubringen."
Rach wirkte verärgert über diese unerwartete Ablehnung, wandte sich dann aber schlichtweg Mina zu.
"Kein Problem, dann eben Mina."
Doch auch diese schüttelte den Kopf.
"Dabei kann ich leider nicht behilflich sein. Ich würde schon, wenn ich es könnte. Aber für solche Operationen fehlt es mir an den nötigen Fähigkeiten." Sie blickte den Vampir missbilligend an. "Rekrut Schneider? Wärest du rein theoretisch dazu imstande?"
"Theoretisch schon, Ma' am aber..."
Sie unterbrach ihn.
"Du wolltest doch helfen? Vollwertiges Mitglied unseres Rettungszirkels werden? Dann verstehe ich dein Zieren nicht. Jetzt hast du die Möglichkeit dazu!"
Die Igorina beobachtete den jungen Vampir-Kollegen genauer und sah, wie seine Nervösität von zuvor vollumfänglich zurückgekehrt war. Konnte es wirklich sein, dass er sich vor ihr fürchtete? War das möglich?
In seinen Augen flackerte Unsicherheit. Dann füllten sie sich mit abgrundtiefer Resignation.
"Das ist richtig, Ma' am. Das möchte ich."
Rogi fühlte sich seltsam teilnahmslos, ausgeliefert und schutzlos. Natürlich wollte sie ihn nicht in ihrem Kopf haben. Aber wenn sie damit Abbitte leisten konnte, Ophelia gegenüber? Vielleicht würde er sie ja verschonen und wirklich nur dort nach Informationen suchen, wo sie zu erwarten waren? Er wirkte absolut nicht begeistert von seiner Aufgabe.
"Ma' am..." Er sah kurz auf seine verkrampften Hände hinab, während er sie ansprach. Dann atmete er bewusst aus und schien sich zu entspannen. Er lächelte zaghaft. "Bitte, nimm dir doch einen Stuhl und setze dich zu mir!", damit deutete er mit einladender Geste vor sich.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Rach zu seinem ungenutzten Stuhl eilte und ihr diesen übereifrig vor Wilhelm Schneider abstellte.
Langsam, zögerlich, setzte sie sich in Bewegung. Als sie den Stuhl erreichte, lagen die Blicke der Kollegen so schwer auf ihren Schultern, dass sie sich einfach nur noch darauf fallen ließ, so als wenn ihre Beine das Gewicht ohnehinnicht mehr lange getragen hätten. Dadurch, dass der Vampir von Anfang an seltsam abseits gesessen zu haben schien, befanden sich die übrigen Anwesenden jetzt allesamt entweder haarscharf an ihrem Sichtfeld oder hinter ihr. Sie sah nur noch ihn, sein Gesicht ungewohnt nah, seine Hände locker auf seinen Beinen abgelegt. Sie hätten sich problemlos die Hände reichen können, ohne aufstehen zu müssen. Er sah sie aufmerksam an - und da war er wieder! Der unbestimmbare Eindruck, dass er diese Aufgabe fürchtete!
"Ma 'am, zuallererst möchte ich mich dafür bedanken, dass du dich zu dieser Zusammenarbeit enschlossen ha..."
Hinter ihr fiel Rach mit boshaftem Tonfall ein.
"Rekrut, das ist doch lächerlich! Mal abgesehen davon, dass sie solch einen Respekt nicht verdient hat, du sollst..."
Rogi zuckte überrascht zusammen, als etwas in dem bisher so zurückhaltenden Kollegen überzulaufen schien und dieser sich mit blitzenden Augen von ihr ab- und dem hinter ihr stehenden Rach zuwandte. Er wurde laut. Und er wurde deutlich.
"Flanellfuß, ich habe dein rücksichtsloses Verhalten über! Weder bist du der einzige, dem die Situation zusetzt, noch der wichtigste! Du bist nur eine kleine Figur am Rande, die sich bei weitem zu viel herausnimmt! Du willst Ophelia helfen? Dann reiß dich zusammen, verdammt nochmal! Es ist nicht hilfreich, die Augenzeugin eines Verbrechens mit Drohungen und der eigenen Wut zu konfrontieren! Was, wenn auch sie nur ein weiteres Opfer des Alten ist? Hätte sie weniger Anrecht auf unser Mitgefühl, als deine geliebte Ophelia? Du tobst wie ein unkontrollierbarer Troll durch den Porzellanladen, bereit alles und jeden zu verletzen. Kommt es dir nicht in den Sinn, dass wir auf derselben Seite stehen, egal ob dir das in den Kram passt? Und glaube mir, ich könnte mir auch einen besseren Weggefährten für die Suche nach ihr vorstellen, als dich! So kurzsichtig! Nur weil deine Gefühle dir im Wege stehen, blendest du aus, wie viel du ausgerechnet dieser Person zu verdanken hast? Rogi Feinstich kennt deine Verlobte länger, als du es tust! Ohne ihren permanenten Schutz hätte es schon vor Jahren keine Ophelia mehr gegeben! Und so dankst du ihr diesen Dienst?"
Rogi saß wie versteinert auf ihrem Stuhl und konnte den Blick nicht von dem Vampir vor ihr abwenden.
Die geschockte Stille wurde nur von einem langsamen Klatschen durchbrochen. Dann Nyrias Stimme:
"Nicht schlecht!"
Wilhelm Schneider atmete tief durch und wandte sich dann wieder ihr zu. Sein schiefes Lächeln wirkte entschuldigend.
"Also, wo waren wir stehengeblieben? Ach ja! Danke, dass du... freiwillig hierzu bereit bist!" Er wollte anscheinend noch etwas sagen, sein Blick schien sie um etwas bitten zu wollen. Doch was auch immer es war, er brachte es nach einem schnellen Aufschauen in die Runde nicht über sich. Stattdessen murmelte er nur halblaut: "Nun denn!" Und dann intensivierte sich sein Blick!

Sie spürte es sofort! Das hatte sie schon immer. Ein sanfter Druck in ihren Gedanken, eine kurze Irritation, das Gefühl weicher Flügel, die sie leicht berührten und beiseite schoben, als wenn sie inmitten des Gewimmels im Taubenschlag stünde. Nur, dass dieses Gefühl eben keinerlei freundliche Empfindungen begleitete, keine angenehme Wärme.
Der Vampir ihr gegenüber schloss seine Augen - sie tat es ihm nach.
"Darf ich eintreten?"
Sie suchte panisch nach seinem gedanklichen Abbild in ihrem Inneren. Wo war er? War er etwa schon dabei, sich hinter ihrem Rücken an Informationen zu bedienen?
"Rogi... gestattest du mir, in deine Gedanken einzutreten? Damit ich dir helfen kann, falls mir das möglich sein sollte..."
Sie hatte sich einverstanden erklärt, sie musste zu ihrem Wort stehen, nicht wahr? Mühsam rang sie sich dazu durch, ihm zu antworten, während sie sich weiter hektisch umsah.
"Ja, du darfst. Aber meine persönlichen Gedanken lässt du gefälligst in Ruhe!"
Aus der Dunkelheit vor ihr löste sich ein schlanker Schatten und eine tiefsitzende Angst schoss ihr in die Glieder! Noch ehe der Schatten erkennbar wurde, warf sie ihm mit aller Kraft eine Blockade entgegen, um ihn nicht näher an sich heran zu lassen. Nicht diese Art von Schmerz! Nicht diese Art der Demütigung!
Der leichte Druck in ihrem Schädel hatte sich sofort gelegt und nach kurzem Zögern blinzelte sie auch mit ihrem physischen Körper.

Wilhelm saß kreidebleich vor ihr, vornübergebeugt, und hielt sich eine Hand unter das Gesicht. Heftiges Nasenbluten nährte zwei schmale Rinnsale, die bereits über sein Kinn tropften und seine Kleidung besudelten. Er wirkte frustriert und sah sie vorwurfsvoll an.
"Musste das wirklich sein, Ma' am? Ich habe doch extra gefragt!"
"Enfuldige... reiner Reflex."
Um sie beide herum hatte nervöse Betriebsamkeit eingesetzt. Mina von Nachtschatten war zum Fenster geeilt und öffnete es weit. Kanndra beugte sich interessiert zum Rekruten vor und fragte ihn, ob alles in Ordnung sei. Eine Frage, die er einfach genervt beiseitewischte. Senray Rattenfänger hastete soeben mit den Worten "Ich... ähm... hole einfach mal Wasser, zum... naja, reinigen... und einen Lappen oder so..." aus dem Raum. Rach hielt sich verbissen schweigend im Hintergrund und lehnte mit gekreuzten Armen und Fußgelenken an der Zimmerwand. Lediglich ein mutwilliges Glitzern in seinen Augen verriet, dass ihn die Ereignisse im Besprechungszimmer nicht so kalt ließen, wie er gerade tat. Nyria hingegen hatte sich zu einem trockenen "Ops! Hat das was mit dem Alten zu tun?" hinreißen lassen. Und Raistan war sogar aufgestanden, um Wilhelm wortlos eines seiner eigenen schlichten Stofftaschentücher zu reichen. Der Vampir nahm es abgelenkt entgegen und begann sogleich, sich Kinn und Hände notdürftig damit trockenzutupfen, wodurch er rostrot antrocknende Schlieren verteilte - was vor allem zu einem eher barbarischen Anblick an ihm beitrug.
Rogi blickte den von ihr in Mitleidenschaft gezogenen Kollegen etwas verunsichert an. Nicht, dass sie generell ein Problem damit gehabt hätte, einen Gedankeneindringling zu verletzen! Und ein Teil von ihr begrüßte diese Entwicklung sogar! Aber gleichzeitig...
Wilhelm sammelte seine Konzentration.
"Zweiter Versuch, Ma' am!"

Dieses Mal war sie vorgewarnt, als sein Schatten sich aus der Peripherie löste. Und doch!
Granitene Blöcke flogen in seine Richtung, noch bevor er ins beleuchtete Zentrum ihres inneren Raumes hätte treten können. Er riss seine Hände zur Abwehr hoch, ging unter dem Aufprall der schweren Steine zu Boden.
"Nicht! Ma' am! Rogi! Ahhh!...
Sie beobachtete fasziniert, wie die grauen Quader einer nach dem anderen auf den steinernen Boden krachten, wie sie sich um den gekrümmt liegenden Körper in Position schoben, ihn damit zusammenquetschten, bis er dicht an dicht lag, die Beine gestreckt, die Arme an den Körper gepresst, wie sie sich in Windeseile emporstapelten und ihn einschlossen, wie die Fugen zwischen den Steinen sich zusammenzogen, gleich einer sich glättenden Eisdecke und ein Konstrukt entstand, das mehr und mehr einem Sarkophag glich. Nein, nicht nur glich. Mit kindlichem Staunen starrte sie, im flackernden Licht des alten Kerzenhalters, den sie plötzlich emporhielt, auf den steinernen Sarg einer wohlvertrauten Gruft. Sie hörte das leise Stöhnen aus dem Inneren, dieses unbarmherzigen Gedankengebildes und wurde sich dessen bewusst, dass sie selber es gewesen war, die damit soeben die geistige Essenz eines Vampirs eingekerkert hatte! Sie hatte ihn dort drinnen eingesperrt. Und wie es schien, war er nicht von sich aus imstande, das zu ändern.
Langsam trat sie an den Steinsarg heran, strich mit ihrer Hand über dessen schweren Deckel. Sie stutzte. Ihre Hand war klein und schmal. Eine Kinderhand! Sie sah an sich hinab. Sie war ihr früheres Ich, ihr kindliches Selbst. Alles in diesem Raum schien von Erinnerungen geprägt, wenn auch von Bildern, aus verschiedenen Zeiten! Wie oft hatte der alte Graf mit ihr dieses Spiel gespielt! Von ihm hatte sie gelernt, wie man einen Eindringling aufhalten konnte, selbst wenn es nur einen zeitlichen Aufschub bedeuten mochte. Schon den Grafen selber hatten ihre Podeste nie sonderlich lange aufhalten können. Wenn es hochkam, einige Sekunden lang. Aber ihmmerhin, im Ernstfall konnten eben auch schon wenige Sekunden darüber entscheiden, inwieweit man sich auf anderer Ebene verteidigen konnte. Warum war ihr damals, bei Raculs Besuch, nicht der gleiche Gedanke gekommen, warum hatte sie es nicht einmal damit versucht gehabt? Aber damals, in der fernen Vergangenheit, war alles Lachen, Scherzen und ein Spiel gewesen. Es hatte nichts gemeinsam mit der Wucht eines echten Kampfes auf diesem Gebiet!
Hastiges Tippeln winziger Füße kitzelte sie am Nacken und eilte von dort aus ihren bloßen Arm hinab. Die vertraute Vogelspinne verharrte kurz auf ihrem Handrücken, ehe sie über den Sarkophag und an dessen Seitenwand hinunter in die Dunkelheit huschte. Sie sah ihr erstaunt nach: "Itzi!"
Ein rauhes Flüstern aus dem Steinsarg unter ihrer noch immer aufliegenden Hand, forderte ihre Aufmerksamkeit wieder ein.
"Ma' am? Bist du noch da?"
Sie musste fast lachen. Wo sollte sie in ihrem eigenen Kopf denn schon hin sein?
"Ja, ich bin noch da."
"Ich nehme an, dies geschah ebenfalls aus einem Reflex heraus? Er murmelte unwillig, doch sie konnte ihn trotzdem noch verstehen. Aber wie sollte es auch anders sein! Ich habe so ein unglaubliches Glück in letzter Zeit... was soll's... könntest du mich vielleicht freundlicherweise wieder frei lassen, Ma 'am?"
Aus einem erinnerten Impuls heraus lehnte sie sich über den geformten Steinkubus, legte ihr Ohr an den wuchtigen Deckel und spielte mit den Fingerspitzen in den gemeißelten Vertiefungen. Das Licht der Kerze malte trügerisch warme Farben auf das kalte Material. Ein Gefühl von Sicherheit überkam sie. Und mochte es auch noch so irreführend sein... sie frohlockte.
"Du musst dich befreien! Der Graf kümmerte sich immer selber darum. Deshalb weiß ich gar nicht so genau, was ich tun müsste, um den Sarkophag zu öffnen."
Es schloss sich ein Moment des Schweigens an, ehe er verhalten antwortete.
"Ich fürchte, ich bin dazu nicht imstande, Ma 'am. Ich werde auf deine Güte vertrauen müssen." Er zögerte kurz. Dann: "Bitte?"
Rogi runzelte die Stirn und seufzte leise.
"Na gut, ich schaue, was sich machen lässt."
Sie richtete sich wieder auf und betrachtete den schweren Deckel. Keine Scharniere oder Riegel, er schien einfach nur aufzuliegen und den Vampir anhand des Gewichts an Ort und Stelle zu halten. Also stemmte sie sich kurzerhand einfach dagegen. Es war mühselig, ihn beiseite zu bewegen. Ihre dünnen Mädchenarme begannen vor Anstrengung zu zittern. Aber Stück für Stück ruckte er voran, bis er endlich über die Kante kippte und krachend auf dem Boden zerbarst. Sie klopfte ihre Hände vom Steinstaub frei und blickte in den tiefen Bodenkasten.
Von dort sah Wilhelm Schneider, auf dem Rücken liegend und ziemlich passgenau eingefügt, zu ihr auf. Als er sie sah, breitete sich Erstaunen auf seinem Gesicht aus. Aber ihr ging es bei seinem Anblick nicht viel anders. Ihr Mund öffnete sich langsam und sie starrte fassungslos auf das geistige Abbild ihres Kollegens innerhalb ihrer eigenen Gedankendimension.
Er hatte hier kaum noch Ähnlichkeit mit dem unscheinbaren aber adretten Vampir der Stadtwache. Auf dieser Ebene war er ihr schutzlos mit dem Anblick präsentiert, den sein Innerstes im Moment bot. Und das war kein angenehmer. Rogi runzelte die Stirn. Sie hatte es spätestens im Laufe ihrer Sanitäterkarriere in der Wache, schon mit den verschiedensten Opfern irgendwelcher Unfälle oder Verbrechen zu tun bekommen. Aber das! Die Haut an Gesicht und Armen wirkte wund und aufgedunsen, stellenweise fast roh! Wilhelms innerstes Wesen war vor nicht allzu langer Zeit schwer angegriffen worden. Anders waren diese Verbrennungsspuren nicht erklärbar - erst recht nicht diejenige, in Form eines zielgerichtet platzierten Handabdrucks auf seinem Brustkorb! Warum wusste niemand etwas davon? Wann war das passiert? Und wie?
"Ähm, kann es sein, dass es dir gerade nicht so besonders gut geht, Rekrut?"
Er löste seine Arme von den Seiten und verschränkte sie, so gut es in der Enge des Sarkophags ging, vor dem Brandmal auf seinem Oberkörper.
"Mit Verlaub, Ma' am, ich möchte nicht darüber reden, wenn du gestattest.
Sie starrten einander wortlos an. Irgendwann seufzte er resigniert.
"Würdest du mich, bitte, aus dieser... Schlafstatt heraus lassen, Ma' am?"

Er hatte es befürchtet gehabt. Ihm blieb auch wirklich nichts erspart. Diese ganze Suche nach Ophelia war mit einem Fluch belegt, dessen Auswirkungen ihn nun tagtäglich straften. Bestimmt war er diesem auf dem Leim gegangen, als er damals aus purer Neugier den Raum betreten hatte, in welchem sie im Wachhaus untergebracht gewesen war. Und jetzt musste er eben sehen, wie er das durchstand. Aber dass seine Ausbildungsleiterin nun auch noch ausgerechnet das sehen musste! Ihm war völlig bewusst, in welcher Form er sich ihr hier darstellte. Er hatte sich gleich zu Beginn ihren Blickwinkel angeeignet gehabt, als er diese Ebene ihrer Persönlichkeit betrat. Somit lag ihre eigene Sicht auf das Geschehen gleich einer bemalten Glasscheibe über der seinen. Selbst ihre Empfindungen schwangen in seinem Sinn mit. Es war entwürdigend, sich mit ihren Augen in dieser misslichen Lage zu sehen. Gefangen und ausgeliefert, ihrer unverstellten Sicht entblößt, zu schwach, um aus eigener Kraft Gegenwehr aufzubringen, seines Schutzmantels einer unangetastet stolzen Persönlichkeit beraubt! Überhaupt! Gefangen, in einem Sarkophag? Er hatte noch nie Interesse an diesen altmodischen Ungetümen verspürt. Mal abgesehen vom dafür nötigen Platz... diese Kolosse waren dafür ausgelegt, auf mindestens einen Bediensteten zurückgreifen zu können. Und es gab wichtige graduelle Abstufungen zwischen 'Bediensteten' und 'Angestellten'. Obwohl er sich Hannas experimentierfreudigen Blick bei einem solchen Schlafzimmeraccessoire gut vorst...
Wilhelm schüttelte den Kopf. Es wurde Zeit dafür, das zu tun, wofür er ihre instinktiven Angriffe überhaupt erst auf sich genommen hatte - nachzusehen, ob der ominöse Hintermann an ihrem Verstand gespielt hatte.
Die Kollegin in ihrer überraschend kindlichen Form sah ihn mit großen Augen erwartungsvoll an.
"Wie willst du es machen?"
Er rieb sich gedankenvoll über die Verbrennungen seines Handrückens.
"Hmmm, eine gute Frage. Ich habe so etwas noch nie zuvor versucht, bin daher auch kein Spezialist in solchen Dingen. Vermutlich ist es sinnvoll, davon auszugehen, dass die Veränderung deines Verhaltensmusters mit der vermuteten Manipulation Hand in Hand ging. Von daher könnte ich zwar raten, ab wann es zu suchen gälte... Aber vielleicht geht es schneller, wenn... gibt es einen Zeitpunkt, den du selber als wahrscheinlich ansehen würdest? Weißt du noch, ab wann du zu dem endgültigen Schluss gekommen bist, dass eine weitere Suche nach Ophelia hoffnungslos sei?"
Sie brauchte ganz offensichtlich nicht lange darüber nachzudenken. Sie wusste ganz genau, mit welchem Ereignis diese Erkenntnis einhergegangen war.

Ihrer beider Umgebung veränderte sich, als wenn Regen an einer glatten Fläche herunterrinnen würde. Die Gruft zerfloss und versickerte im Boden, ebenso wie die steinerne Schlafstätte wie ein Gebilde aus Sand in sich zusammenfiel und verwehte. Dahinter kamen die verschatteten Wände einer nächtlichen Dachkammer zum Vorschein, ausgeleuchtet vom klaren, hellen Mondschein, der durch eine zerstörte Luke mittig des Daches fiel. Das Wenige, was von der Einrichtung eines Labors zu erkennen war, lag herunter geworfen und zersplittert über den Boden verteilt.
Der Blick des jungen Igormädchens neben ihm richtete sich gebannt auf den Teil des Raumes, der in tiefsten Schatten verhüllt dalag. Eine dürre Gestalt trat von dort vor. Der Vampir war ein Greis, uralt, hochgewachsen und unansehnlich. Seine drahtigen grauen Augenbrauen überwucherten die dunklen Augenhöhlen, seine Fangzähne ragten lang und gelblich bis an sein Kinn herab. Er hielt sich seltsam aufrecht und doch irgendwie auch gebeugt, ein Eindruck, der von den Krallenhänden unterstrichen wurde, die sich hochgezogen vor seinem Oberkörper bewegten, wie die sacht in einer nächtlichen Brise schwingenden Ästchen einer Trauerweide.
Rogi Feinstich stand plötzlich in ihrer erwachsenen Form neben ihm und ihre Erwartungen und Ängste pulsierten durch sein eigenes Wesen. Sie war nervös, ängstlich, wütend. Und der Hauch einer Erinnerung an Schmerz streifte ihn wie ein Eselskarren.
Das war gar nicht gut! Ãœberhaupt nicht! Wenn sie sich an Schmerzen erinnerte...
Dominanz! Pures Herrscherrecht schlug ihm entgegen und er wäre fast auf die Knie gegangen.
Wilhelm atmete tief durch und versuchte, die unangenehme Erfahrung leicht zu nehmen, sie schlichtweg zu ignorieren. Immerhin hatte dieser Angriff damals nicht ihm gegolten, er würde ausschließlich Beobachter dessen sein, was in jener Nacht passiert war. Dennoch... einen Kommentar konnte er sich nicht verkneifen.
"Beeindruckend!"
"Dabei hast du ihn noch nicht einmal in Aktion erlebt."
Seine Stimme klang müde, als er humorlos antwortete.
"Es liegt in der Natur der Sache, dass sich das vermutlich gleich ändern wird.
Die Igorina verspannte sich automatisch, bei diesem Hinweis. Das emotionale Echo ihrer Gefühle inmitten der seinen konfrontierte ihn mit dem plötzlichen Drang, zu rennen. Die Muskeln in seinen Beinen zuckten bereits. Sofort darauf durchflutete ihn ein so tiefempfundendes Schuldgefühl, dass ein Schwächezittern ihn zurückhielt. Sie blieben beide an Ort und Stelle stehen. Und dann, ebenso ursprünglich, wie plötzlich, stieg eine unaufhaltsame Welle aus Zorn in ihm auf! Eine Wut, wie er sie in seiner gesamten Existenz noch nie gespürt hatte, so dunkel und blutig, dass er Kupfer im Mund zu schmecken meinte und das Bild des alten Greises vor seinen Augen zu pochen schien. Die Situation sprang, als wenn in einem Klacker ein Abschnitt gefehlt hätte und er erlebte, wie er dem Alten mit glühendem Eifer entgegentrat, wie er dieser Ausgeburt des Pandämoniums die Wahrheit an den Kopf schmetterte, so freimütig und selbstmörderisch, als wenn es kein Morgen gäbe, weil nur eines in diesem Moment zählte: Ophelia!
"Du bist ein Monfter... dass deine Igorf dich von ganfem Herzen unterstützen, erhebt dich längft noch nicht zu einem echten Meifter. Es macht nur sie zu echten Igors! Die Grofe Tradition entsteht erst dort, wo unfere Welten fich im Ausgleich treffen! Auch für einen Meifter gelten Regeln und du... du hälft dich nicht an deine!"
Wieder ein Riss, ein Sprung in den Ereignissen - sie wurden zu Boden geschleudert und da war er der Schmerz, das Brennen von Scherben, die den Rücken aufschlitzten, als sie gemeinsam in einen Schutthaufen fuhren, verkantet in den Splittern und Balken und verbogenen Metallkanten, Tränen blinzelnd, verschwommen aufblickend zu dem finsteren Schatten über ihnen, der näher trat und das Licht des Mondes verlöschen ließ. Und dann... der echte Schmerz! Fremde Gedanken stießen gleich einem Speer in die ihren, so brachial und gezielt, dass die eisigen Klingen ohne Umschweife in die tiefsten Schichten ihrer Seelen vordrangen und...
Wilhelm schnappte nach Luft und torkelte aus der Erinnerung heraus. Er versuchte, sich aus dieser allumfassenden Agonie zu lösen. Dabei riss er panisch die Augen auf und sah plötzlich drei Blickwinkel zugleich. Rogi Feinstichs grausame Erinnerungen an ihre Niederlage, verwoben mit all den winzigen Details ihres Kampfes gegen diese Übermacht. Sein Miterleben dieser Folter, als farbenschlierige Dopplung. Und seine höchsteigene Perspektive, aus dem wie in Trance verharrenden Körper heraus, mit Blick auf die vor ihm sitzende Igorina. Um ihn herum schienen die anderen Mitwächter aufgeregt zu debattieren. Doch er konnte sie weder verstehen, noch seinen starren Blick von Rogi abwenden, die noch immer bewegungslos vor ihm saß, lediglich die Stirn leicht gerunzelt, während sie es auf dieser anderen Ebene mit einer Naturgewalt aufnahm. Wie konnte sie das aushalten? Und wie konnte sie zusätzlich dabei auch nur einen klaren Gedanken fassen, um zu kämpfen, nicht aufzugeben?
Und gerade, als er das dachte, tat sie es. Sie gab auf. Von einer Sekunde auf die nächste.
Er konnte beobachten, wie sie auf der gedanklichen Ebene in sich zusammensank, wie ihr Kampfeswille erstarb und ihre Augen sich mit Tränen füllten.
Und wie der alte Vampir sich zufrieden von ihr zurückzog.
Es war ein ungleicher Kampf gewesen, den sie länger gefochten hatte, als er es für möglich gehalten hätte.
Wilhelm fiel in die geistige Ebene zurück, wie eine trudelnde Feder in eine Windstille. Er wurde sich des dortigen Körpers wieder bewusster und trat an ihre Seite, ging hinab in die Hocke zu ihr. Sie sah gebrochen zu ihm auf.
"Und? Kannst du mir helfen? Oder bin ich einfach nur eine Verräterin?"
Er setzte sich umständlich in den Schutt neben sie, die protestierenden Glieder ignorierend. Er beugte sich im Schneidersitz zu ihr hinab, sein Gesicht nahe an ihres.
"Nach dem, was ich eben miterleben durfte, bin ich mir noch sicherer als zuvor, dass es nicht dein eigener Entschluss war, sie bei ihm zu lassen. Aber ich bin noch nicht tief genug, um zu helfen. Deswegen... lass uns noch einen Schritt weiter gehen, in Ordnung?"
Sie lag reglos in den Trümmern aber ihre Augen schlossen sich einmal ergeben, ehe sie flüsterte: "Beeil dich, Rekrut!"
Er streckte seine verbrannten Hände nach ihrem Gesicht aus und legte sie beidseitig an ihre Schläfen. Irgendwo in der Ferne schlossen sich Augen und eine der drei Sichtweisen verlosch, ließ klarere Bedingungen für die beiden verbleibenden. Dann sank er, über die aktuelle Ebene hinaus, noch tiefer in sie ein.

Ein Raum öffnete sich vor ihnen, Holzdielen als Boden, ein Schreibtisch in der Mitte, darüber Dachschrägen, eine Bodentür, ein Balken. Genau auf der Kante der Schreibfläche des wuchtigen Möbels, stand eine einzelne Kerze, ohne Halter. Sie war einfach nur mit verlaufenem Wachs am Abgrund aufgesetzt und spendete flackerndes Licht. Dabei verbarg sie beinahe mehr, als sie enthüllt hätte. Tiefe Abdrücke zierten die Tischfläche, dunkle Tassenränder waren in die rauhe Oberfläche gesunken... ein Messer stand, der Kerze gegenüber, in die andere Kante eingekerbt und glimmte immer wieder im unsteten Schein. Eine seltsame Stille herrschte vor. Er trat in den Raum und merkte zu seiner Überraschung, dass jemand seine Hand hielt. Rogi Feinstich an seiner Seite blickte zu ihm auf und wie im Reflex ließen sie einander sofort los.
"Verzeihung, ich hatte gar nicht..."
"Schon gut, ich auch nicht..."
Es wurde auf einen Schlag dunkler, die einzelne Kerze wirkte nun fast düster. Von der anderen Seite des Schreibtisches, hinter diesem, flackerte das Licht von weiterem Feuer. Ebenfalls von dort, auf Bodenniveau verborgen, erklang ein leises Rasseln, wie von Kettengliedern, die sich sachte bewegten.
Sie sahen einander an... und begannen, das ausladende Möbelstück im Zentrum des Raumes beidseitig zu umrunden.
Als erstes sahen sie den weiten Kreis aus handhohen Flammen. Inmitten dieser brennenden Barriere war ein weiterer Kreis markiert, dieser jedoch mit in den Boden gerammten Messern. Und an dessen Innenkante entlang zog sich eine blutige rote Spur. Im Zentrum all dieser Abgrenzungen lag eine Frau. In den Dielengrund waren zwei Eisenringe eingelassen und durch diese war eine Kette gezogen, die mit metallenen Fesseln an den Händen und Füßen der Liegenden befestigt worden war. Sie sah schwach auf und ihr rotes Haar fiel dabei strähning vor sanfte graue Augen.
Die Igorina war wie angewurzelt stehengeblieben. Und obgleich er sofort geahnt hatte, wen sie vor sich haben mochten, brauchte er doch einige Sekunden, um sie zu erkennen. Seine einzige - indirekte - Erinnerung an Ophelia Ziegenbergers Aussehen, war das Bild von ihr aus dem Kopf des Rechtsexperten gewesen. Schon damals sah sie blass und mitgenommen aus. Doch in dieser Variante der Erinnerungen Rogis, war die Verschwundene kaum mehr als Haut und Knochen. Umso intensiver wirkte ihr leicht benommener Blick auf ihn.
Sie ließ ihren Kopf wieder sinken und lag still auf den Dielen. Die gepresste Stimme der Igorina ließ sie zu dieser blicken.
"Ophelia?"
Die Angesprochene lächelte matt. Er konnte ihre Stimme kaum hören, so leise flüsterte sie.
"Rogi! Wie schön! Ich bin so froh, dass du an mich denkst! Dann wird alles wieder gut."
Wilhelm beobachtete die Szene mit einem Stirnrunzeln. Wo waren sie hier hineingeraten? Dies musste eigentlich so etwas wie eine unterbewusste Ebene sein, der Bereich der Persönlichkeit Rogis, in dem ihre Handlungsmotive verborgen wären. Was sollte er dann davon halten, hier die Verschwundene vorzufinden? Und dann noch so? Dass diese die Igorina zum Handeln motivierte, natürlich, das verstand er. Aber warum befand sie sich dann in Ketten? Und wie sollte er da helfen? Die Gefangene befreien? Aber würde das nicht zugleich bedeuten, dem Kern von Rogis Wesen seine derzeitige Hauptmotivation zu nehmen? Was, wenn sie dann plötzlich gar nichts mehr zustande bringen und sich aufgeben würde? Es war zum Haareraufen! Die Kollegen stellten sich sowas zu einfach vor! Dabei konnte er nur raten!
Die Igorina wollte zu der Gefangenen eilen - wurde aber plötzlich von einer Kaffeetasse getroffen, die sie mit einer seltsamen dunkelroten Brühe übergoss - welche kein Blut war - und die dann klirrend zu Boden fiel. Ein unangenehm herber Geruch breitete sich aus. Oder war er von Anfang an präsent gewesen?
"Stop! Keinen Schritt weiter!"
Der Alte war aus dem Nichts heraus neben ihnen aufgetaucht und schlich nun mit finsterem Grinsen zwischen ihnen und dem Ritualkreis hindurch.
Die Igorina blieb sofort stehen und wirkte befangen. Sie senkte leicht den Kopf. "Sör?"
Wilhelm war deutlich verwirrt über ihre Reaktion. Seit wann schlich sich in Rogis Verhalten so etwas wie ängstlicher Respekt dem boshaften Vampir gegenüber? Das hatte vor einigen Sekunden noch ganz anders ausgesehen?
"Du willst doch nicht etwa ihren Schutzkreis kaputtmachen, oder? Dann könnten alle bösen, bösen Vampire an sie heran. Möchtest du das?"
Die Igorina wirkte wie versteinert.
"Nein, Sör!"
Es hätte vermutlich nicht viel gefehlt und sie hätte strammgestanden und salutiert. Wilhelm empfand diese Bewusstseinsebene als immer verwirrender. Unterstrichen wurde der Eindruck noch von dem steten Flimmern der Kerze, das ihm Kopfschmerzen zu bereiten begann. Etwas irritierte ihn massiv. Er wusste nur nicht was! Es war, als wenn irgend etwas direkt vor seinen Augen um Aufmerksamkeit bettelte und er es trotzdem nicht sah!
Das Blacken wurde stärker, ganz ähnlich einem dauerhaften Gewitterflackern.
"Brav!"
Hier entzog sich ihnen ein wichtiger Punkt! Da war er sich sicher. Eine essetielle Information fehlte. Das war gefährlich. Sie sollten zu einem anderen Zeitpunkt wiederkommen, sie...
Wilhelm stutzte. Natürlich! Sie waren zur falschen Zeit hier! Diese Szene vor ihren Augen war der Ist-Zustand und auf irgendeine seltsame Art und Weise machte es da Sinn, dass die Igorina durch das, was sie sah, gehemmt wurde. Auch wenn er als neutraler Dritter den Grund ihres Verhaltens nicht auf Anhieb verstand, Raculs Eingreifen würde schließlich genau dafür gesorgt haben, wenn er mit seiner Vermutung richtig lag. Sie müssten stattdessen zu dem Zeitpunkt zurückkehren, den sie eben erst auf der vorangegangenen Ebene beobachtet hatten und sehen, was zu dieser Zeit hier geschehen war!
"Ma' am, du musst auch hier die Zeit zurückdrehen, damit wir ihn auf frischer Tat ertappen können!"
Sie brauchte einen Moment, um zu verstehen, was er meinte, doch dann presste sie die Lippen aufeinander und konzentrierte sich.

Es gab einen Lichtblitz und der Raum war hell und groß und... voller Vögel!
Wilhelm duckte sich automatisch unter den Flügelschlägen unzähliger Tauben. Er erkannte die vielen Startlöcher nach draußen in den Wänden, durch die strahlender Sonnenschein in warmen Lichtbahnen hereinfiel. Das vielstimmige Gurren perlte über seine Haut und jedes sachte Flattern wirbelte kleine Flaumfedern auf, die leuchtend durch die Luft wirbelten.
"Der Taubenschlag?" Zwar war die echte Vorlage wesentlich beengter, als diese großzügige innere Variante. Aber Grundriss und Stimmung waren unverkennbar. "Ma' am, bist du dir sicher, dass wir nicht auch zugleich den Ort innerhalb der Ebene gewechselt haben? Oder sogar die Ebene?
Sie sah ihn böse an.
"Auch wenn ich sowas nicht jeden Tag mache... ich bin mir ziemlich sicher, dass wir eigentlich 'hier' geblieben sind. Nur früher."
Er sah sich um.
"Das ist dann aber wirklich ein extremer Unterschied. Ist dir das nicht aufgefallen, Ma' am?"
"Ich habe wohl kaum die Angewohnheit, in meinem Kopf herumzuspazieren. Deswegen... nein, bis jetzt nicht."
Er fühlte sich auf jeden Fall bestätigt. Eine so gravierende Veränderung musste etwas zu bedeuten haben!
"Gut! Dann taste dich jetzt an den Augenblick heran, in dem hier alles kippt!"
Es war wie ein Auspendeln, das langsame Herantasten an den Wechsel zwischen lichtgefluteter Geborgenheit und der lastenden Dunkelheit dieses bedrohlichen Dachbodens. Aber irgendwann hatte sie es. Seite an Seite standen sie an der Schwelle der Erinnerung, beobachteten einen leuchtend roten Sonnenuntergang, das Ausfliegen der Tauben mit einem Schlag und dann das Betreten des Raumes durch Racul. Auf seinen Armen trug er Ophelia, die dies willenlos mit sich geschehen ließ. Er legte sie auf dem Boden ab, kettete sie an, schritt zum Schreibtisch und rammte das Messer in dessen Platte. Wie von Zauberhand fielen die übrigen Messer wie ein Gitter rund um Ophelia herab und schlugen tief in die Dielen ein. Er enzündete die Kerze - und mit ihr entflammte ein Ring aus Feuer um den reglosen Körper. Er führte sein Handgelenk an seinen Mund und kurz darauf schritt er den Kreis ab, seinen bloßen Arm seitlich von sich gestreckt. Als der Blutkreis sich schloss, flimmerte alles im Raum, auch Raculs Aura.
Rogi an seiner Seite schluckte deutlich hörbar, bevor sie fragte:
"Wen siehst du an seiner statt?"
"Ich sehe einfach nur ihn... Racul? Den Vampir, der dich in deinem Labor angegriffen hat."
Sie nickte grimmig.
"Ich verstehe... ich sehe jemand anderen. Mir gegenüber tarnt er den Einfluss in meinem Gehirn als Autoritätsperson." Ihre Kiefer begannen zu mahlen und während der Raum einen undefinierbaren Ruck tat und wieder im Ist-Zustand eintrat, ging sie auf das Trugbild im nun wieder düsteren Raum zu. "Geh' mir aus den Augen!"
Der Unbekannte lachte boshaft.
"Die ultimative Herausforderung? Es mit dem eigenen Verstand aufnehmen? Hoffentlich tust du dir dabei nicht weh."
Sie trat näher an den dreifachen Kreis heran und nun erkannte auch Wilhelm, durch ihrer beider kombinierten Blick darauf, dass es sich eben nicht um einen Schutzkreis handelte, sondern um einen verfluchten Kerker!
Das Ophelia-Abbild versuchte eine letzte Abwehr.
"Es ist zu meinem eigenen Besten! Solange ich hier drinnen bin, kann mir niemand etwas tun! Bitte, verschone mich! Rühr' nichts an!"
Die Igorina ging entschlossen zum Schreibtisch und pustete die Kerze aus. Der Ring aus Feuer um den Ritualkreis erlosch ebenfalls.
Sie zog das Messer aus der Tischplatte - und alle Messer, die bis eben Spalier gestanden hatten, fielen klirrend auf die Dielen.
Der Vampir vor ihr grinste boshaft, auch dann noch, als sie mit dem langen Dolch vom Tisch herüber kam.
"Wie willst du mir mit einem harmlosen kleinen Messer schaden können, hmmm?"
Rogi Feinstich wirkte seltsam überlegen, jetzt, da sie die Regeln dieses besonders perfiden Spieles durchschaut hatte. Sie konzentrierte sich kurz auf die Klinge, die ihr Aussehen daraufhin leicht veränderte. Dann trat sie dem Vampir mit einem entschlossenen Schritt entgegen.
"Du vergisst gleich mehrere Dinge. Zum einen sind wir in meinem Bewusstsein - das schließt von Anfang an aus, dass du irgendwas hier als harmlos bezeichnen solltest. Und zum anderen... du arbeitest in meinem Geist mit den Dingen, die du hier vorfindest, während du selber ein fremder Einfluss bist. Du gehörst überhaupt nicht hier her. Ich darf dich also gefahrlos auslöschen!"
Damit überreichte sie ihm den Dolch, den er im Reflex annahm. Er sah verständnislos, wenn auch misstrauisch darauf hinab.
"Manus Refelli!"
Der Vampir sah sie überrascht an - und zerfiel zu Staub.
Geschickt fing sie den Dolch auf, bevor dieser auf dem Boden aufschlagen konnte und murmelte missvergnügt vor sich hin.
"Harmlos! Ha! Das wird dir eine Lehre sein!"
Wilhelm stand für einen Moment völlig reglos. Sie befanden sich in einer geistigen Ebene, gewiss. Aber... irgendwie machte es das nicht besser! Hatte sie eben ohne das leiseste Zögern Seinesgleichen ausgelöscht? Was war das für eine Waffe, die dazu imstande war? Selbst wenn man davon ausging, dass sie nur ein Abbild war... so zielgerichtet, wie sie dieses Bild umgeformt hatte, um es genau zu diesem Zwecke einsetzen zu können, die Art, wie sie die Waffe befehligte und sie beinahe routiniert auffing, nachdem sie sich in magischer Art gegen den sie Führenden gerichtet hatte... es gab gewiss ein reales Vorbild dafür. Und sie hatte jenes nicht nur einmal geführt?!
Er beobachtete sie, ohne sich zu rühren.
Sie wandte sich dem verbliebenen letzten Wall um dem Abbild der Schutzbedürftigen zu. Dem Blutkreis. Sie ließ einen suchenden Blick durch den Raum schweifen. Schnell ging sie zu den Scherben der nach ihr geworfenen Tasse. Eine der Scherben, ein Eckstück des Tassenbodens, war so liegengeblieben, dass sich etwas von der setlsamen dunklen Brühe darin gesammelt hatte. Rogi trug die Scherbe vorsichtig zu der Bodenmarkierung... und goss sie schwungvoll auf die Linie aus. Es gab einen leisen Knall und der Ring aus Blut war eingedampft, zog sich nur noch als sacht qualmende Spur angetrocknet und leicht bröselnd über die Dielen.
Sie knieten sich beide neben Ophelia, die sich mühsam aufsetzte. Traurige Augen blickten die Igorina an.
"Du zerstörst den Schutzkreis? Willst du mich nicht mehr beschützen?"
Rogi presste kurz ihre Lippen aufeinander, um ihre Fassung zu bewahren, ehe sie beherrscht antwortete.
"Doch! Aber nicht so!", womit sie die schweren Kettenglieder demonstrativ anhob, die Ophelia noch immer am Boden hielten. Dann blickte sie hilfesuchend ihn an.
Wilhelm schreckte auf. Irgendwie hatte ihr rigoroses Vorgehen ihn so sehr beeindruckt, dass er automatisch davon ausgegangen war, sie wüsste, was sie tat und wäre unaufhaltsam darin.
Stattdessen schien sie ins Stocken geraten zu sein.
"Sie ist immer noch hier. Was soll ich tun? Ich kann sie ganz sicher nicht ebenso beseitigen, wie ihn eben. Ophelia ist kein Fremdeinfluss, sie... gehört irgendwie schon... in mein Bewusstsein. Ich weiß nicht weiter."
Er überlegte fieberhaft.
"Ja, da hast du wohl Recht, Ma' am. Sie wurde quasi nur 'verschoben' von ihm, aus einem anderen Bereich deines Bewusstseins hierhergebracht, wo sie dich am meisten von deinem Widerstand gegen ihn abbringen konnte. Ich denke... theoretisch sollte sie einfach wieder dort hin 'zurückgehen' können, von wo er sie sich genommen hat. Sobald wir das letzte Glied kappen, das sie hier hält." Damit deutete er auf die lange Kette in den Eisenringen. "Ich bin mir natürlich nicht sicher, es ist nur eine Vermutung. Aber es erschiene mir plausibel."
Ohne weiter nachzudenken, begann Rogi Feinstich damit, den noch immer gehaltenen Dolch als Hebel einzusetzen und damit zwischen den metallenen Kettengliedern zu stochern, sie zu verkanten und nur irgendwie zerbrechen zu wollen. Doch die Kette war zu stabil geschmiedet. Sie sahen sich beide im Raum um, ob es ein weiteres Hilfsmittel gäbe, diese zu lösen. Doch sie sahen nichts. Rogi wurde rastlos. Sie sprang auf und begann im Raum auf und ab zu tigern.
"Das kann doch nicht wahr sein! Die anderen Hürden haben wir doch auch überwunden! Warum findet sich für diese letzte keine Lösung?" Sie wirbelte vorwurfsvoll zu ihm herum. "Rekrut! Lass dir gefälligst etwas einfallen, dafür bist du doch hier, oder nicht?"
Er prüfte eine absurde Idee nach der anderen und verwarf sie alle. Auch er war frustriert.
"Ich kann mir das nicht ganz erklären, Ma' am. Wenn das bisherige Gedankenmuster gewahrt bleiben sollte, dann müsste sich die Lösung zusammen mit uns im Raum befinden..."
Vor ihm schwankte die Frau mit dem weichen Blick in ihrer mühsam erarbeiteten sitzenden Position. Im Reflex stützte er sie, damit sie nicht umkippte. Ihre Augen betrachteten ihn und er sah sich verschwommen in ihnen reflektiert...
"Ma' am?" Eine neue Idee entstand in seinem Kopf und sie barg ein gewisses logisches Erfolgspotential.
Die Igorina drehte sich zu ihm um.
"Was?"
"Was, wenn... also, das einzige, was ansonsten noch mit uns in diesem Raum ist... das ist im Moment wohl sie."
Rogi kam wieder zu ihm zurück und nickte ungeduldig.
"Richtig. Und wie soll uns das weiterhelfen?"
Er versuchte, ihr seinen Gedankengang so gut wie möglich zu erklären.
"Gesetzt den Fall, die äußeren Barrieren wären quasi Ablenkungen gewesen, um uns -um dich - auf die falsche Spur zu locken? Du hast sie instinktiv auflösen können, die Überwindung dazu war nicht so groß, wie sie hätte sein müssen..."
Sie sah in entsetzt an, als wenn sie einen Wahnsinnigen vor sich hätte.
"Ich sage es dir nochmal, Rekrut, am besten wohl etwas deutlicher: Ich denke, selbst hier dürfte es keine gute Idee sein, sie anzugreifen!"
Er beeilte sich, abwehrend zu gestikulieren.
"Nein, nein! So meine ich das auch gar nicht! Was ich meine ist... sie ist ein Abbild für den Themenkomplex! Sie ist nicht wirklich Ophelia!"
Rogis Brauen wanderten auf ihrer Stirn zueinander.
"Das ist mir bewusst. Aber wie soll das weiterbringen?"
Wilhelm hatte immer mehr Schwierigkeiten damit, sich auf seine Gedanken zu konzentrieren. Eine ganz und gar umfassende Erschöpfung begann ihn langsam aber sicher zu lähmen. Er fand den Gedanken verlockend, sich einfach neben der Angeketteten auf den Boden zu legen und lange, sehr lange zu schlafen. War es einem Vampir denn nicht sogar von Natur aus vorbestimmt, irgendwann an dem Punkt anzukommen, an welchem er dem Weltlichen entsagte und sich in seinen Wesenskern zurückzog? Es war wider die Natur, den Geist einer Igorina heimzusuchen, ganz gewiss... aber zuerst musste er ihr noch erklären, welche Lösung sich für sie andeuten mochte.
"Sie ist zwar einerseits ein Symbol für deine Erinnerungen und Sorgen um sie. Aber sie ist gleichzeitig auch immer eine Zusammenballung deiner Gedanken. Denn du denkst ja schließlich gerade über sie nach, erschaffst sie und erhälst ihr Bild aufrecht mit diesem Prozess, richtig? Sie ist somit du! Vielleicht... vielleicht musst du über diesen Umweg mit dir selbst reden? Dich selbst überzeugen, sie gehen zu lassen?"
Die Kollegin stand unschlüssig neben ihm.
"Sie gehen zu lassen... meinst du damit... sie loslassen? Sich sozusagen zu verabschieden?"
"Nein, ein Abschied steht in so geistigen Bildern meistens für etwas Extremes, etwas sehr Endgültiges. Wir möchten ihr nur ermöglichen, sich selber zu entscheiden. Du müsstest dich dann selber davon überzeugen, dass Raculs Einfluss rückgängig gemacht gehört." Er hob ein weiteres Mal die schweren Metallglieder an, die dabei leise klirrten. "Ich glaube, hierbei geht es um einen passiven eigenen Widerstand, den es zu brechen gilt. Diese Ketten, sie stehen für einen Weg der Problemlösung, den er vorgegeben hat. Du hast sie von ihm übernommen und sie sind so stabil, weil du sie als den einzig gangbaren Weg akzeptiert hast, Ophelia zu schützen. Wenn du diese Ketten sprengen willst, müsstest du also dieses Dich-Fügen in seinen Denkansatz bekämpfen. Oder liege ich da falsch? Klingt es richtig, Ma' am?"
Die Igorina starrte abwechselnd auf ihn und die eisernen Fesseln.
"Aber... ich... ich sehe wirklich keinen anderen Weg. Natürlich hält mich das nicht davon ab, jetzt, wo ich es kann, gegen ihn anzukämpfen. Aber einen Weg für Ophelia aus ihrer Situation, ohne bestimmte Einschränkungen... den sehe ich einfach nicht."
Sie mied bei diesen Worten ganz eindeutig den Blick zu der angebundenen Frau.
Wilhelm tastete sich weiter vor in seiner Theorie, auch wenn er allmählich das Gefühl hatte, selber ebenso wie diese Ophelia an seiner Seite zu schwanken und sich gedanklich durch einen zähen Tunnel voller Sirup zu bewegen. Konnte der Geist eines Igors vielleicht in ähnlicher Weise Lebensenergie absaugen, wie es manche Vampire konnten? Er blinzelte langsam.
"Ich glaube, es geht dabei gar nicht wirklich um eine Lösung, Ma' am. Nach einer Lösung kann man später und an anderer Stelle immer noch suchen. Dabei ist es gleichgültig, was er als Lösung ansieht oder welche Alternativen ihm nicht als mögliche Wege erschienen sind. Es geht einzig und allein darum, dass du die Tür wieder öffnen musst zu dem Prozess des Abwägens und Selberentscheidens! Du muss ihm das Recht verweigern, dir eine fertigte Lösung vorzugeben und dich allein auf diese einzuengen!"
Sie betrachtete nun doch ihre ehemalige Kollegin.
"Und du meinst, dazu reicht es mit ihr... zu reden?"
Er blinzelte müde.
"Ich sehe keine weiteren Hilfsmittel oder Hinweise in diesem Gedankenzimmer. Und wenn sie den Themenkern, deine angreifbaren Ãœberzeugungen darstellen sollte..."
Die Igorina ging seufzend in die Hocke und sah dieser Ophelia tief in die Augen - welche den Blick erwiderte.
"Also gut... Ophelia! Wir finden einen Weg. Geh' dahin, woher du gekommen bist und wohin du gehörst!"
Das Gedankenbild der Gefangenen senkte seinen Blick und sie strich zaghaft mit der flachen Hand über die eisernen Fesseln. Dann sah sie traurig auf.
"Schickst du mich fort, Rogi?"
"Ich... nein, nicht so. Ich möchte nur, dass du wieder dort hin gehst, wo es richtig ist. Du gehörst nicht in diesen Raum in meinem Kopf. Und du gehörst auch nicht in Ketten!"
Ophelia legte den Kopf leicht schief und sah sie an.
"Was passiert mit mir, wenn du mich nicht mehr beschützt? Wenn du mich vergisst?"
Rogi schüttelte heftig den Kopf.
"Niemals! Ich werde dich nicht vergessen, keine Sorge! Und ich beschütze dich weiter, sowohl in meinem Kopf drinnen, als auch draußen, in Ordnung? Nur eben auf anderem Wege! Ich weiß noch nicht wie aber... ich krieg das raus, versprochen? Er bekommt mich nicht nochmal dazu, dich im Stich zu lassen, glaube mir!"
Ophelia sah sie einen langen Moment über unschlüssig an, dann hellte sich der Raum merklich auf. Das seltsam unbestimmbare Nachleuchten der längst verloschenen Kerzen wich ersten Strahlen einer Morgensonne.
Wilhelm beobachtete nervös, wie sie mit der rechten Hand vorsichtig an ihrem Hemdkragen zu nesteln begann. Ihre Linke hob sich mit der rechten Hand gemeinsam in der Metallfessel, hing jedoch nur wie Ballast ohne eigenen Impuls. Ophelia löste langsam die dortige Schnürung.
Ein akuter Anfall von Durst überkam ihn so heftig beim Anblick des sich langsam entblätternden bleichen Halses, dass es ihn wie einen Schlag in den Magen traf. Er krampfte seine Hände zusammen, rührte sich aber sonst nicht.
Die Gefangene zog ein fadenscheiniges, ausgefranstes Band aus ihrem Ausschnitt, das wohl einst ein Stück Kleidersaum gewesen sein mochte. An dieser improvisierten Kette hingen ein Ring und ein Schlüssel. Sie zog das Band langsam über ihren Kopf - und reichte es Rogi.
"Den Ring muss ich behalten. Der gehört nur mir. Aber wenn du dir sicher bist, dass du das Risiko eingehen möchtest... dann nimm den Schlüssel."
Die Igorina griff vorsichig danach und ihre Hand zitterte dabei. Sie sah Ophelia lange an.
"Ist er für die Ketten? Für deren Schlösser?"
Ophelia nickte.
Rogi streckte eine Hand in Richtung von Ophelias zusammengebundenen Handgelenken und als diese sie ihr wortlos hin hielt, löste sie bebend das Schloss. Es klackte und die Kette rasselte herab. Sie beugte sich schnell zu den Füßen vor und kurz darauf saß Ophelia befreit in den gebrochenen Kreisen. Die beiden Wächterinnen sahen einander an. Ophelia lächelte sanft. Und dann ergoss sich einer der langsam wandernden Sonnenstrahlen wie goldener Honig über sie, hüllte sie ein, ließ sie glitzern wie mit magischen Blütenpollen bestäubt... ehe sie verblasste.

Rogi atmete tief ein und kam aus der Hocke in die Höhe.
"Ma 'am?"
"Einen Moment noch, Rekrut!"
Sie hatte die Augen geschlossen und er wartete darauf, dass sie soweit wäre.
Es fiel ihr nicht leicht, sich zu beherrschen. Aber wenigstens galt diese langsam ansteigende, unbändige Wut nicht ihm. Irgendwann nickte sie ihm ruppig zu. Er zögerte.
Und mit einem Ruck landeten sie zugleich wieder vollständig in der Realtität ihrer Körper.
Wilhelm sog tief Luft ein und legte sich dabei die Hände auf die Augen.
Er hörte, wie die Stimmen der Kollegen wieder zurückkehrten und Licht und Farben vor seinen Augenlidern auf ihn warteten.


12.04.2017 20: 59

Rogi Feinstich

Sie bebte innerlich vor Zorn. Er hatte es tatsächlich geschafft sie zu manipulieren! Racul dieser hinterhältige, selbstverliebte... Sie brach den Gedanken ab. Sie hatte definitiv nicht genug Worte um dieses Monster zu umschreiben. Er gehörte dahin wo die Sonne nicht schien! Sie war wieder fest entschlossen, ihn aufzuhalten. Sie würde schon einen Weg finden und Ophelia befreien.
Doch genau da lag der eigentliche Kern des Problems.
Sie ballte die Fäuste und stand ruckartig auf. Sie achtete nicht auf den Stuhl, der hinter ihr krachend zu Boden ging. Der Vampir vor ihr war sichtlich erschöpft und nach allem, was er für sie getan hatte, war ihm eine Auszeit sicherlich gegönnt. Was nicht hieß, dass er ihr einfach so davonkam. Er hatte ihr zwar geholfen, doch seine geistige Erscheinung half nicht gerade dabei, ihr natürliches Misstrauen ihm gegenüber abzumildern.
Allerdings gab es nun Wichtigeres.
Sie wandte sich von ihm ab und ihren Kollegen zu. Wo sollte sie nur anfangen? Die Fakten die sie aufgezählt hatte, entsprachen der Wahrheit. Sie mochten noch so viele sein... selbst wenn die ganze Wachebelegschaft einmarschieren würde... sie wollte sich gar nicht die Verluste ausmalen! Racul war in der besseren Position.
Langsam hob sie den Stuhl wieder auf und stellte ihn beiseite, hielt sich aber an dessen Lehne so krampfhaft fest, dass sie kurz darauf spürte, wie einzelne Holzsplitter sich in ihre Haut bohrten. Allerdings war diese Ablenkung von ihren eigenen Gedanken nur zu willkommen. Sie sah in die erwartungsvollen Gesichter und sie konnte noch immer deren Zweifel spüren. Rachs Wut ihr gegenüber war präsent. Auch die anderen, sahen in ihr eine Verräterin - die sie sogar in ihren eigenen Augen war!
"Hat... hat es geklappt?", fragte die zierliche verdeckte Ermittlerin.
Und wie es geklappt hatte! Ihre ganze Wut war in geballter Ladung zurückgekehrt. Wut auf Racul, auf sich selbst und auf die Scheibe im Allgemeinen. Schon als Wilhelm sich noch in ihren Gedanken befand, konnte sie sich kaum beherrschen, doch nun fühlte sie diese Wut regelrecht explodieren.
Sie schnaubte und packte den Stuhl an ihrer Seite mit beiden Händen und verfuhr mit ihm, als wäre er ein Klappstuhl. Die Überreste lies sie achtlos fallen. Ihre Fäuste sausten auf die Tischplatte nieder. Das Möbelstück hatte ihrer Kraft nicht viel entgegen zu setzten, seine Beine krachten weg und die Tischplatte sauste, samt darauf ausgebreiteter Karte, zu Boden.
"Rekrut, was hast du getan?", entfuhr es Mina. Aufgebrachtes Stimmengewirr brach über ihr und Wilhelm herein.
Der junge Vampir hinter ihr reagierte allerdings nicht darauf. Ihrer Einschätzung nach bekam er kaum noch mit, was gerade um ihn herum geschah. Das zerstörte Mobiliar brachte ihr nur leider kaum Genugtuung. Sie sah wieder auf, in teils verschreckte, teils wütende Gesichter. Und wie von selbst drängte sich bei diesem Anblick wieder das Bild des überwaldianischen Mobs auf.
Sie brach den Gedanken abrupt ab. Ihre Miene hellte sich auf.
Das war es, was sie brauchten, um wenigstens den Hauch einer Chance zu haben – einen waschechten Mob.
"Jetzt ist sie völlig übergeschnappt!"
"Großartige Leistung, Rekrut. Das ist ja hervorragend..."
"Hat wer ein Beruhigungsmittel parat?"
"Spinnst du?!"
"Ma’ am! Bitte... hör auf... du, du... machst mir Angst!"
"Rogi, bist das noch wirklich... du?"
Sie war sich ihrer selbst vermutlich nie sicherer gewesen und sie nickte schließlich. Ihre Kollegen sahen sie noch immer an, unschlüssig und zurückhaltend.
"Racul... wenn ich nur könnte, ich würde ihn umbringen!" Sie sagte es mit all ihrer Überzeugung. "Dieser Miftkerl hat mich..."
Sie wusste wirklich nicht wie sie es sagen sollte! Was geschehen war, konnte sie nicht mehr rückgängig machen. Wie so viele ihrer Entscheidungen hatte sie die Folgen sich selbst zuzuschreiben.
"Du hilfst uns also?", fragte Rach aufgebracht und unsicher zugleich.
"Natürlich!", sagte sie ohne jeglichen Zweifel und auch wenn ihre Kollegen noch immer skeptisch sein mochten, sie waren allesamt erleichtert. "Doch versteht mich nicht falsch! Allef was ich euch bifher gesagt habe, entfpricht der Wahrheit. Umso wichtiger ift es alfo, dass wir auf allef vorbereitet sind. Daf wird alles andere als ein Spaziergang!"
"Jetzt mal langsam", brachte Nyria sich ein. "Dein Wort in Ehren Ma’ am, aber ich hätte gerne eine Bestätigung des Rekruten."
Sie warf einen kurzen Blick über ihre Schulter und seufzte beim Anblick ihres Auszubildenden.
"Ich fürchte, daf muss noch warten. Er hat soeben Racul in... nun, Aktion... erlebt. Doch ich konnte dank ihm den Einfluss brechen." Sie deutete bei ihren Worten in Wilhelms Richtung. "Ich... ef tut mir wirklich leid. Racul hat an meinen eigenen Überzeugungen geschraubt. Doch ihr könnt mir glauben, noch einmal wird daf nicht passieren!"
"Und wie hat er das gemacht? Wie kannst du dir so sicher sein?"
Raistans Frage war nicht unberechtigt, doch die natürliche Neugierde des Zauberers machte es ihr auch nicht einfacher. Sie konnte selbst kaum fassen was eben geschehen war.
"Ef, nun... dank dem Rekruten Scheider war ich in der Lage, mein eigenes Unterbewusstsein zu erkunden. Wir haben Racul sozusagen auf frischer Tat ertappt."
"Interessant", murmelte der Zauberer leise und lehnte sich wieder erschöpft zurück.
Wie auf ein Stichwort huschte die junge Ermittlerin mit einem Eimer Wasser an ihr vorbei und ging neben Wilhelm in die Hocke. Senray wrang schnell den Lappen aus und stutze schließlich beim Anblick des Rekruten.
"Er sieht... also, vollkommen... wegetreten aus. Soll das, nun ja, so sein?"
"Er braucht etwaf Ruhe, denke ich."
Und Blut, fügte sie in Gedanken hinzu.
Wenn sie die Runde genauer betrachtete, war fast die Hälfte zurzeit sowieso nicht fähig in einen Einsatz zu gehen. Geschweige denn, es mit zwei Vampiren aufzunehmen.
Raistan als Zivilist in der Runde war schon heikel genug, doch er war noch immer mitgenommen. Rach hatte sie persönlich sicherlich die eine oder andere Prellung beschert. Wilhelm war schon vor seinem geistigen Zugriff auf ihr Bewusstsein nicht auf der Höhe gewesen. Und sie selbst konnte ihre verletzte Schulter ebenfalls auf Dauer nicht ignorieren. Sie runzelte die Stirn, als ihr auffiel, dass sie nicht mal komplett waren.
"Wo ift Magane?", fragte sie irritiert, doch allgemeines Schulterzucken war die Antwort. Die Hexe hätte ihr vermutlich geglaubt. Etwas in ihr schrie nach Aufmerksamkeit. Magane hatte erste Erfolge mit Ophelias Problem erzielt gehabt. Der Tee... würde Racul tatsächlich... war es möglich, dass er die Teemischung brauchte?
Sie schüttelte den Gedanken wieder ab
Das wäre selbst für seine Verhältnisse Wahnsinn gewesen.
"Lenk nicht ab!", warf Rach ein und sie seufzte innerlich.
"Ihr könnt mir glauben oder auch nicht, doch ihr folltet mir zumindest zuhören."
Als sie sich gewiss war, dass sie die Aufmerksamkeit aller hatte, atmete sie noch mal tief durch. Was waren die Fakten? Worauf mussten sie achten?
"Racul... fein voller Name ift Racul Alexeij Sargolan Pada Ivanowitf der Dritte von Ankh, auch genannt der 'Graue Fatten von Ankh'..."
Die Werwöflfin stieß einen Pfiff aus und das Grinsen, das sich auf Nyrias Gesicht ausbreitete, sagte eindeutig was sie von derartigen Titeln hielt. Gar nichts.
"...oder der 'Taufendjährige'.", ergänzte Rogi schnell. "Sebastian, sein Assistent, ift allerdingf derjenige, vor dem wir unf vermutlich mehr in Acht nehmen müffen. Meiner Einschätzung nach wartet er nur darauf, den älteren Vampir los zu werden. Selbst meine Großtante scheint diese Art Dreiecksbeziehung nicht gut zu heißen. Er kennt die Verbindung zwischen Ophelia und Racul und er hat ihr dennoch bewusst geschadet! Wir haben ef also mit zwei Vampiren zu tun und mit zwei fehr loyalen Igors. Wenn sie nicht Familie wären... aber gut, dazu später mehr. Das Kellerlabyrinth ist fehr groß. Normal fällt es mir nicht schwer, mich an folchen Orten zu orientieren, doch ich kenne nicht einmal den Zugang! Ef gibt vermutlich mindestens einen im Haus."
"Was ist mit dem Mädchen-Internat?", warf Kanndra ein und sah zu der Karte zu ihren Füssen.
"Möglich...", gestand sie langsam ein.
"Worauf warten wir dann noch!", mischte sich Rach nun wieder in die Diskussion ein. "Wir müssen nur den Zugang finden und dann..."
"Und dann was? Felbst wenn wir ef, wie durch ein Wunder schaffen sollten. Ophelia ist zu schwach, glaub mir Rach, du würdeft ihr damit keinen Gefallen tun. Und ich vermute wir brauchen alle eine Auszeit. Ich zumindest..."
"Deine Schulter?", sagte er plötzlich. "War er das?"
"Sebastian.", gestand sie zähneknirschend.
"Wovon redet er, Rogi?", fragte Mina, doch nicht nur sie war hellhörig geworden.
"Gestern, während eures ersten Treffens, wollte ich zu Ophelia. Nach dem Rechten fehen, als ich von den Gerüchten gehört hatte. Doch wie ich fon sagte, ich durfte nicht..." Die Augen des jungen Vampirs gingen ihr bei dem Gedanken noch immer nicht aus dem Sinn – voller Hass und Mordlust. "Wie auch immer, weder er noch Racul, find zu unterschätzen. Wir werden mehr Hilfe benötigen."
"Ich hab einen halben Fuß im Mädchen-Internat.", meldete sich die Szenekennerin zu Wort. "Vielleicht kann ich im Internat einen Zugang finden. Aber das braucht Zeit!"
Nyria verlieh ihren letzten Worten besonderen Nachdruck und Rach gab einen frustrierten Laut von sich.
"Gut, dass du es erwähnst, Gefreite.", sagte die Vampirin und wandte sich Rach zu. "Meinst du, du könntest deine Kontakte spielen lassen und uns eine Liste der Schülerinnen und Angestellten besorgen?"
Rach nahm wieder etwas mehr Haltung an und griff nach Etwas in seiner Innentasche des Jacketts.
"Ich habe meine Hausaufgaben schon gemacht", sagte er und reichte ein paar zusammengefaltete Zettel an Mina weiter.
Der Blick, der daraufhin von allen Beteiligten auf ihm ruhte, bestand zu gleichen Teilen aus Verwunderung und Argwohn.
"Sehe ich so aus, als würde ich unvorbereitet in eine Observation gehen?", erwiderte der in seinem Stolz gekränkte Inspektor. "Ich bin nur leider keiner der Damen begegnet."
"Perfekt", rief Nyria aus und verlangte sogleich, die neuen Informationen gereicht zu bekommen. Die verdeckte Ermittlerin kam der Aufforderung nach.
"Immerhin etwas", sagte Mina und sah schließlich wieder zu ihr. "Gibt es von deiner Seite überhaupt, gute Nachrichten?"
Minas Sarkasmus war unüberhörbar.
"Die gibt es in gewiffer Weise.", erwiderte Rogi mit einem Grinsen. "Zumindest was meine werte Verwandtschaft angeht, kann ich helfen. Wir benötigen nur ein paar Misftgablen und Fackeln. Und drei Freiwillige."
Nyria brach in Gelächter aus.
"Ein Mob in Ankh-Morpork! Ich glaub‘s nicht."

14.04.2017 20: 28

Araghast Breguyar

Er hätte es auch ahnen können, dass Nyria diese dämliche Wette nicht einfach auf sich beruhen lassen konnte.
Araghast Breguyar schritt in seinem Büro auf und ab und schüttelte zum wiederholten Mal den Kopf über das rein intuitive Talent seiner Kusine, eine Spur aus Chaos hinter sich herzuziehen. 'In dem Moment schien es eine wirklich gute Idee zu sein' beschrieb ihr Unlebensmotto ziemlich treffend. Zu Anfang hatte Araghast noch gehofft, dass Raistan in diesem Aspekt eine mäßigende Wirkung auf sie hatte, doch das genaue Gegenteil war eingetreten. Natürlich hatte Raistan es für eine gute Idee gehalten, im Bewusstsein eines uralten Vampirs herumzustochern, einfach nur um zu zeigen, dass er es konnte. So vernünftig und bestechend logisch er meistens war, wenn es darum ging neue Erkenntnisse zu erlangen oder die Grenzen seines Könnens neu zu stecken setzte bei ihm hin und wieder einfach der Verstand aus. Der Kleine konnte wahrscheinlich von Glück sagen, dass er nur mit einem schweren Schwächeanfall und ein paar Brandwunden davongekommen war. Allerdings hatte er diese unselige Wette mit seinen Erkenntnissen eindeutig gewonnen.
Und dank seiner beiden Pappenheimer hatte der Kommandeur nun ein ernsthaftes Problem am Hals. Ophelia Ziegenberger lebte und wurde seit über einem Jahr von einem sadistischen uralten Vampir misshandelt. Abgesehen von seinem eigenen massiven schlechten Gewissen der Verschollenen gegenüber, das ihn den Großteil der Nacht wach gehalten hatte, verkomplizierte die Erkenntnis die Situation im Wachhaus ungemein. Es hatte sich bereits eine bunte inoffizielle Ermittlungsgruppe gebildet und Araghast war sich noch nicht sicher, wie er mit ihr umgehen sollte. Deshalb hatte er Kanndra, seine älteste Freundin und Vertraute in der Wache und zufällig auch Mitglied des so genannten Rettungszirkels, gebeten nach der heutigen Besprechung zu ihm zu kommen. Vielleicht fanden sie gemeinsam einen vernünftigen Kurs für die ganze Angelegenheit, denn Raistan hatte in einem völlig recht. Ophelia musste dringend aus den Klauen dieses Ungeheuers befreit werden. Wenigstens das war der Kommandeur ihr noch schuldig.
Verdammte Vampire. Araghast griff nach der Rumflasche, die auf seinen Schreibtisch stand, und trat ans Fenster. Er hasste diese arrogante Brut wie die Pest. Parsival Aschers süffisantes spitzzahniges Lächeln, in das er am liebsten einen Backstein reingehauen hätte. Der hochnäsige Blick des Kerls von der Enthaltsamkeitsliga als er ihm erklärte, dass sie ihm leider mit seinem B-Wort-Problem nicht helfen könnten, weil er kein voller Vampir war. Zwerge, Trolle, Werwölfe, Gnome, Zombies, Wasserspeier und alles was sonst noch in den Straßen Ankh-Morporks unterwegs war, mit allen hatte er kein Problem. Aber Vampire waren widerliche Parasiten, die sich selbst für die Krone der Schöpfung hielten und andere Spezies wie eine Mischung aus Spielzeug und Nahrung behandelten. Diese Dreckskerle hatten Ophelia Ziegenberger so zugerichtet, dass sie überhaupt erst in ihre jetzige verzweifelte Lage geraten war. Und wenn es eine Möglichkeit gab, es ihrem Entführer sehr endgültig heimzuzahlen würde er, Araghast Breguyar, zusehen, dass sie wahrgenommen werden konnte. Jeder gedankenmanipulierende Blutsauger weniger dort draußen machte die Scheibenwelt zu einem besseren Ort.
Der Kommandeur gönnte sich einen großen Schluck Rum und betrachtete die Flasche. Kanndra sah es nicht gern wenn er in ihrer Anwesenheit trank. Ein höhnisches Lächeln stahl sich auf Araghasts Lippen. Wäre es ihr lieber, wenn er stattdessen weiter B-Wort trinken würde, wie er es seiner vampirischen Seite in einer Mischung aus akutem Notfall und geistiger Umnachtung einmal versprochen hatte? Er hatte die Wahl zwischen B-Wort und Schnaps. Und der Schnaps war langfristig für alle Beteiligten das kleinere Übel.
Ein letzter Schluck Rum rann seine Kehle hinunter und er verstaute die Flasche wieder in der untersten Schreibtischschublade. Für Selbstmitleid blieb jetzt keine Zeit. Er musste eine der schwersten Fehleinschätzungen seiner Karriere irgendwie wieder ausbügeln.
Das größte Problem an der Sache war die Frage, wie man einen uralten Vampir am besten tötete. Araghast hatte bereits Ayami Vetinari höchstpersönlich gegenübergestanden und war sich sicher, dass es mit einem schnellen Pflock nicht so einfach getan war. Es brauchte wahre Expertise und er war sich auch schon sicher gewesen, wo er sie herbekommen konnte. Gestern Nachmittag, als er Raistan auf seiner Püschologen-Kautsch beherbergt hatte, hatte er einen Namen ausgesprochen an den er schon lange nicht mehr gedacht hatte. Edwina Dorothea Walerius. Die Überwaldianerin galt als Koryphäe im endgültigen Beseitigen von Vampiren. Doch leider hatte etwas Recherche am heutigen Morgen seine Hoffnungen in diese Quelle zerstört. Edwina Walerius hatte mit ihrem Sohn und ihrer Igorina bereits vor einigen Monaten die Stadt verlassen und die genaueste Ortsangabe die er hatte bekommen können war 'Überwald' gewesen. Frustriert schnaubte der Kommandeur durch die Nase. Genauso gut hätte jemand 'Viericks' als Adresse angeben können. Das hieß im Klartext: Sie mussten sich selbst etwas möglichst Todsicheres einfallen lassen um Ophelias Peiniger zu neutralisieren.
Es klopfte.
"Komm rein, Kanndra." rief Araghast und machte sich daran, Kaffeepulver auf zwei Tassen zu verteilen.
Die Späherin trat ein. Ihr Gesichtsausdruck sprach für den erfahrenen Püschologen Bände, als sie ihn grüßte. Etwas musste bei der Besprechung passiert sein, was ihr gehörig über die Leber gelaufen war.
"Wie ist es gelaufen?" erkundigte er sich.
"Es ist kompliziert." Unzeremoniell ließ sie sich auf die Püschologen-Kautsch sinken.
Araghast hob eine der Tassen.
"Kaffee? Oder was Stärkeres?"
"Kaffee reicht, danke." Kanndra schnitt eine Grimasse und sah ihm nach, als er den Raum durchquerte um den Wasserkessel vom Ofen zu holen. "Ich glaube, jetzt kann ich zumindest nachvollziehen warum Ophelias Verhalten dich damals so wütend gemacht hat." sagte sie leise. "Heute ist was ähnliches passiert."
"Was denn?" Kaffeeduft breitete sich im Büro aus als Araghast die Tassen füllte.
"Rogi wusste schon länger, dass Ophelia lebte und wo sie sich befand. Und anstatt Mina oder uns Bescheid zu sagen hat sie auf eigene Faust gehandelt."
"Was?" Vor Verblüffung wäre dem Kommandeur beinahe der Kessel aus der Hand gefallen.
Kanndra nickte. "Mit dem Ergebnis, dass der Alte sie sich geschnappt und ihr die Überzeugung eingepflanzt hat, dass alle Rettungsversuche sowieso hoffnungslos sind, weil er mächtig genug ist, alle zu töten die es versuchen. Und um uns zu schützen hat sie daraufhin nichts gesagt."
Araghast stellte die Tassen kräftiger als nötig auf dem Beistelltisch ab und Kaffeespritzer verteilten sich auf der Tischplatte.
"Ins Pandämonium mit diesem verdammten Vampir!" fluchte er und setzte sich neben seine langjährige Freundin. "Woher wisst ihr das mit Rogi denn überhaupt?"
"Sie tauchte plötzlich mitten in der Besprechung auf und wollte uns mit aller Macht zum Aufgeben überreden. So lange wie wir beide Rogi kennen - ich hatte noch nie erlebt, dass sie eine Sache einfach so für hoffnungslos und verloren erklärt hat. Natürlich waren wir alle wütend auf sie, weil sie mit niemandem über ihre Nachforschungen geredet hatte bevor es zu spät war. Der Inspektor ist ihr sogar mehrfach beinahe an die Gurgel gegangen."
Wider Willen musste Araghast schmunzeln. Die Vorstellung wie der verhasste Inspektor mit Schaum vor dem Mund von mehreren Wächtern im Schach gehalten werden musste war einfach zu amüsant.
"Eigentlich konnten wir froh sein, dass es diesen vampirischen Rekruten gibt, der sich auch für den Fall Ophelia interessiert," fuhr Kanndra fort. "Wilhelm Schneider. Weißt du, wer das ist?"
"Den Namen hab ich irgendwann mal gelesen." brummte Araghast.
"Jedenfalls äußerte der Rekrut den Verdacht, dass jemand in Rogis Kopf herumgespielt haben könnte und bot sich an, dort nachzusehen. Rogi war zuerst gar nicht begeistert von der Idee, aber ausgerechnet dein kleiner Zauberer hat ihr mächtig ins Gewissen geredet. Das Kerlchen kann Zähne zeigen wenn es will."
Der Kommandeur nickte versonnen. "Oh ja, das kann er, wenn es sein muss."
Kanndra räusperte sich.
"Um es kurz zu machen: Der Rekrut Schneider befreite Rogi unter mächtigem körperlichem Einsatz vom Einfluss des Alten und nun lässt sie ihrer Wut über die Manipulation freien Lauf und will uns helfen, Ophelia zu befreien." Sie griff nach ihrer Tasse und nippte vorsichtig an dem brühend heißen Getränk. "Allerdings wird es nicht einfach werden."
"Eben darum wollte ich mit dir reden." stimmte Araghast ihr zu. "Einen tausende Jahre alten Vampir bringt man nicht einfach mal eben so um. Da braucht es einen wirklich guten Plan."
Kanndra seufzte tief. "Das ist ein weiteres Problem. Laut Rogi sind Ophelias und sein Leben miteinander gekoppelt. Wenn der Alte eingeäschert wird, stirbt auch Ophelia."
"Verdammt." fluchte Araghast. "An der Geschichte ist auch wirklich nichts einfach, oder?"
"Genau das habe ich mir auch schon gedacht." antwortete die Späherin trocken.
Araghast sehnte sich nach einem ordentlichen Schluck Rum.
"Also gut." sagte er resigniert. "Was wissen wir nun genau?"
"Ophelias Entführer heißt mit vollem Namen Racul Alexeij Sargolan Pada Ivanowitsch der Dritte von Ankh, kurz Racul genannt, und ist mindestens tausend Jahre alt." begann Kanndra. "Fest steht, dass er einen ebenfalls vampirischen Assistenten namens Sebastian hat, der ein sadistisches Ungeheuer sein soll, dazu kommt noch ein ihrem Meister treu ergebenes Igor-Paar, das sich um den Haushalt kümmert. Es gibt ein Haus im Grüngansweg, das als Residenz benutzt wird. Ophelia selbst wird jedoch in einem weitläufigen Kellerlabyrinth irgendwo darunter festgehalten. Wahrscheinlich so ein richtiger Klassiker mit Fallen und allen Schikanen. Und irgendwo dort drin befindet sich eine Kammer mit einem Käfig über einem Abgrund." Ihre Stimme senkte sich. "Raistan ist nicht der einzige, der den Käfig gesehen hat. Ich habe auch in den letzten Monaten immer wieder davon geträumt. Wenn ich gewusst hätte, dass das nicht nur Hirngespinste waren..."
Araghast klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter.
"Du bist nicht die einzige, die sich Vorwürfe macht." erklärte er. "Ich hatte ganz schön zu knabbern daran, so falsch gelegen zu haben. Irgendwie haben meine Instinkte mich dieses Mal so richtig im Stich gelassen."
"Es ist noch nicht zu spät, das alles wieder gerade zu biegen." antwortete Kanndra.
Araghast nickte stumm und starrte in seine Kaffeetasse. Er hoffte von ganzem Herzen, dass es tatsächlich noch nicht zu spät war.
"Also das Labyrinth." kam die Späherin wieder auf das eigentliche Thema zurück. "Wie viele Zugänge es gibt und wo sie liegen wissen wir noch nicht, aber es gibt in der Nähe eine Benimmschule für höhere Töchter. Eine viel versprechende Tarnung für den Nahrungsnachschub, wenn du verstehst was ich meine. Deine Kusine arbeitet schon daran, sich Zugang zu verschaffen und dort nach einem Eingang zu suchen."
"Das kann ich mir so richtig vorstellen." bemerkte Araghast. "Sie hat die schlechte Angewohnheit, früher oder später so ziemlich überall reinzukommen wo sie will."
Kanndra grinste.
"Flanellfuß wollte sofort losstürmen, aber das haben wir ihm erfolgreich aus dem Kopf geschlagen." fuhr sie fort. "Wir brauchen einen anständigen Schlachtplan und Rogi hat schon die erste Anregung geliefert. Wenn wir dort reingehen, sollten wir es als klassischer wütender Mob tun. Damit wären wir die Igors schon mal los, denn jeder traditionelle Igor nimmt seine Reisetasche und geht, wenn der Mob mit Fackeln und Mistgabeln vor der Tür steht."
"Dann bleibt nur noch eine grundsätzliche Frage." Araghast stellte seinen Kaffee ab und sah Kanndra eindringlich an. Er hatte sich nicht umsonst stundenlang den Kopf darüber zerbrochen.
"Es gibt zwei Möglichkeiten, die Sache anzugehen. Wir können eine offizielle Wache-Ermittlung daraus machen. Das würde allerdings heißen, es dürfen keine Zivilisten beteiligt sein und alles muss seine Ordnung haben. Das heißt, dass alle Schuldigen offiziell verhaftet werden müssen und so weiter. Oder wir wählen Möglichkeit Nummer zwei. Ein traditioneller unbekannter wütender Mob dringt mit Fackeln und Mistgabeln in die Gruft eines Vampirs ein, tut dort was immer er tun will und verschwindet wieder. Ich habe nichts gehört und gesehen und werde auf eine anonyme Anzeige hin einen noch zu bestimmenden Ermittlungstrupp bei eben jenem Vampir vorbeischicken. Als die Wache eintrifft, ist der wütende Mob jedoch längst über alle Berge, jedoch werden die Ermittler bestimmt eine Menge interessanter Dinge finden die beweisen, dass der spitzzahnige Hausherr einen Haufen Dreck am Stecken hatte."
"Interessante Gedanken." Nachdenklich trank Kanndra einen Schluck Kaffee. "Und ich muss sagen, die zweite Version hat einiges für sich. Es würde auf jeden Fall einiges einfacher machen."
"Ihr sollt entscheiden." sagte Araghast. "Und egal wie ihr euch entscheidet, ich werde euch mit allen Mitteln unterstützen. Nur bei Möglichkeit zwei nicht offen."
"Das wäre auf jeden Fall eine große Hilfe." Kanndra nickte dankbar. "Sie sind zwar alle fest entschlossen, aber es ist halt kein eingespielter FROG-Trupp."
"Eben darum möchte ich, dass du beim Stürmen des Labyrinths den Oberbefehl übernimmst." erklärte der Kommandeur. "Chief-Korporal von Nachtschatten mag zwar die Leiterin des Rettungszirkels sein, aber von Rettungsmissionen unter Kampfbedingungen und Trupptaktik versteht sie nicht viel. Vielleicht..." Eine plötzliche Idee kam ihm in den Sinn. "Was hältst du davon, wenn wir uns die Rettungsgruppe mal vorknöpfen und ihnen zumindest einen Schnellkurs in FROG-Taktiken geben?"
"Das wäre eine sehr gute Idee." stimmte Kanndra ihm zu. "Wenn ich schon mit Anfängern arbeiten muss, dann wenigstens mit vorbereiteten Anfängern."
Die beiden altgedienten FROGs tauschten einen langen Blick. Sie hatten schon zu viel durchgemacht um sich der Illusion hinzugeben, dass ein solcher Einsatz selbst mit einem eingespielten, exakt für diesen Zweck trainierten Trupp ein Spaziergang geworden wäre.
"Wir haben zumindest Rogi und Magane." sprach Kanndra aus, was sie beide dachten.
Araghast grinste schief. "Nun, die beiden werden dann mal kennen lernen, was 'Einmal FROG, immer FROG' heißt." Feierlich hob er seine Kaffeetasse. "Auf den Freiwilligen Ophelia-Rettungstrupp ohne Gnade oder so."
Klirrend stießen ihre Tassen aneinander.
"Auch wenn wir ihn nicht töten können - Gnade wird dieser Racul von uns wirklich nicht erwarten können nach alldem was er Ophelia angetan hat." Kanndras Gesichtsausdruck war entschlossen.
"Ich sehe schon, es wird aller Wahrscheinlichkeit nach auf Option zwei hinauslaufen." stellte Araghast fest. "Zugegeben, das ist auch die Version, die mir und meinem Seelenfrieden wesentlich besser gefällt."
"Bleibt bloß die Frage, was der Patrizier davon halten wird." merkte Kanndra an.
Araghast winkte ab und ein hinterhältiges Lächeln stahl sich auf sein Gesicht.
"Wenn Lord Vetinari meine Methoden nicht schmecken hätte er mich nicht zum Kommandeur machen sollen. Es ist nicht so, dass ich mich um den Posten geprügelt hätte."
"Besser du als irgendwer anders. Auch wenn es jetzt im Fall Ophelia ein paar Umwege gab, am Ende lässt du niemanden im Stich und tust das Richtige. Und das ist es, worauf es ankommt."
"Danke." Araghast räusperte sich um seine plötzliche Verlegenheit zu überspielen. Dann straffte er sich. "Und was diesen verdammten Racul-Kerl betrifft - ich habe da schon ein paar Ideen. Was hältst du von einem luftdichten zugeketteten Sarg, der im Gorunna-Graben versenkt wird?"

15.04.2017 10: 36

Mina von Nachtschatten

Sie hatte es gewusst! Die ganze Zeit über! Sie hatte es gewusst und sich dafür entschieden, zu schweigen. Und es spielte nur eine geringe Rolle, ob diese Entscheidung ganz freiwillig getroffen worden war oder nicht. Frustriert gab Mina einem der kaputten Stuhlbeine einen Tritt, um es in ein noch handlicheres Format zu zerlegen. Das Chaos, in welchem sich der Raum direkt nach der Besprechung befunden hatte, war mittlerweile fast wieder beseitigt; der Großteil des zertrümmerten Mobiliars lag zu einem Stapel geschichtet an der Seite und musste im Grunde nur noch weggebracht werden. Die Tischplatte war sogar noch ganz in Ordnung, die würde man vielleicht irgendwann für eine Reparatur gebrauchen können, am Stall oder am Taubenschlag etwa. Das Kleinholz hingegen - nun, Mamsell Piepenstengel würde bestimmt nichts dagegen einzuwenden haben, erfuhr ihr Vorrat an brennbarem Material für den Herd eine Aufstockung. Mina warf die beiden neuen Holzklötze zu den anderen und wischte mit dem Fuß ein paar Splitter beiseite. Sie hatte mehr oder weniger darauf bestanden, das Aufräumen hier selbst zu übernehmen. Allein. Nicht einmal so sehr deswegen, weil sie sich davon eine Ablenkung erhoffte, eine kurze Pause von den sich immer wieder um die gleichen Fragen drehenden Gedanken. Ein solcher Plan wäre ohnehin nicht aufgegangen, schon der thematische Bezug war schlicht und einfach zu direkt und hätte sie stets unvermeidlich an den gleichen Punkt zurückgeführt. Nein, die Vampirin hatte die Zeit vielmehr gebraucht, um eben genau diese Gedanken zu sortieren, ungestört, und ohne, dass ein Teil ihrer Aufmerksamkeit dabei von aufgeregten Diskussionen beansprucht wurde. Oder von der Notwendigkeit, einen Inspektor ein ums andere Mal davon abzuhalten, sich wie von Sinnen auf eine Igorina zu stürzen. Ein weiteres Stück Holz brach unter unsanfter Behandlung. Insofern war es bestimmt günstiger, den eigenen Frust an derlei Material abzureagieren. Auch wenn sie dazu eher selten den Drang verspürte, war Mina gerade jetzt für diese Möglichkeit nicht undankbar. Sie fühlte sich dadurch zwar nicht weniger aufgewühlt - dennoch, es war um Längen besser, als in diesem Zustand nur im Büro zu sitzen und vor sich hinzustarren.
Wie hatte sie Rogi Feinstich nur derart falsch einschätzen können? Mina dachte zurück an ihr erstes Gespräch mit Wilhelm Schneider. Bei dieser Gelegenheit hatte der andere Vampir den Verdacht geäußert, seine Ausbilderin könnte mehr wissen, als sie preisgab. Und sie selbst? Sie hatte das damals nicht weiter beachtet; in Anbetracht der gemeinsamen Vorgeschichte, welche Rogi und Ophelia hinter sich hatten, war ihr das zu weit hergeholt erschienen. Zu abwegig. Und nun hatte sich herausgestellt, dass doch mehr der Wahrheit darin gelegen hatte, als es ihnen allen lieb sein konnte! Was hatte sich die Igorina nur dabei gedacht? Mochten die dahinterstehenden Absichten, ihre Beweggründe und ihr Antrieb in Rogis Augen vielleicht sogar gut und richtig gewesen sein - geholfen hatte sie damit niemandem, am allerwenigsten Ophelia. Ein stechender Schmerz gemahnte Mina daran, dass sie dabei war, ihre Fingernägel in die Handinnenflächen zu bohren. Mit einer bewussten Willensanstrengung löste sie die zu Fäusten geballten Hände. Der Zorn war berechtigt, kein Zweifel, ihr eigener und der der anderen. Gern hätte sie es sich einfach gemacht und die Angelegenheit in diesem deutlichen schwarz-weiß belassen, wäre einfach nur wütend und enttäuscht gewesen - aber so leicht war es leider nicht. Denn da war ja immer noch die Sache mit der geistigen Manipulation, welcher Rogi ausgesetzt gewesen und die von Wilhelm eindeutig bestätigt worden war. Ein Punkt, der sich nicht so einfach übergehen ließ... Die Vampirin schnaubte. Gut, es mochte also sein, dass Rogi in gewissen Punkten keine Wahl gehabt hatte. Dass man ihr in diesem Zusammenhang eine Art Opferstatus zugestehen musste. Zudem mochte sich die ihr auferlegte Zurückhaltung in einem eindrucksvollen Wutanfall entladen haben und sie selbst nunmehr wieder voll und ganz gewillt sein zu helfen. Dennoch! Selbst, wenn sie während der letzten Wochen eine weitere Suche nach Ophelia und alle Schritte, die dazu unternommen worden waren, als hoffnungslos oder gar selbstmörderisch abgelehnt hatte und persönlich nichts dergleichen zu tun im Stande gewesen war - warum hatte die Igorina dann nicht einfach eher den Mund aufgemacht? Nur ein einziges Wort! Immerhin hatte ihre Motivation ja auch dazu gereicht, Ophelia in ihrem einsamen Gefängnis aufzusuchen... Es war also egal, wie man es drehte und wendete: Das Gefühl, welches am Ende übrig blieb, war immer noch das von Verrat.
Je häufiger sich die Vampirin die Szene von vorhin ins Gedächtnis rief, umso mehr unterlagen die konkreten Erinnerungen einer gewissen Diskrepanz. Die Worte selbst waren Mina noch gut gegenwärtig: Rachs aufgeregter Bericht, welcher die ganze Besprechung aufgescheucht hatte. Rogis eigene Erklärung, ihre Weigerung... ihre Warnung. All das echote durch ihren Sinn, als stünde jemand direkt hinter ihr und würde es ihr immer und immer wieder ins Ohr flüstern:
"Ich... ich wollte doch nur alles richtig machen... alle Beteiligten beschützen... Ihr dürft da nicht rein gehen... Er wird euch allesamt umbringen, einen nach dem anderen!
Zum Henker damit! Warum mussten sie alle erst auf die harte Tour lernen, dass es nie der richtige Weg war, solcherart Entscheidungen für andere zu treffen? Über jemandes Wohl und Wehe zu bestimmen, indem man einen Schutz aufzwang, den der andere vielleicht gar nicht wollte? Denn was sie zu riskieren bereit waren, wie weit sie gehen würden - das konnte jeder Einzelne sehr gut für sich selbst entscheiden.
Im Gegensatz zu dem, was gesprochen worden war, schien der Rest des eigentlichen Geschehens in ihrer Erinnerung eigenwillig nebulös. Das anfängliche ungläubige Starren, dann langsames Verstehen, die Fassungslosigkeit, die Ungeheuerlichkeit dessen, was offenbart wurde... das Gewirr der Stimmen, als alle gleichzeitig anfingen zu sprechen. Mina war sich immer noch nicht sicher, wie sie in diesem Moment die Fassung hatte wahren können und auch direkt danach derart fokussiert die restliche Zeit durchgestanden hatte. Es hatte sich angefühlt, als wäre es gar nicht sie selbst, die sprach. Als würde sie nur jemanden dabei beobachten, unbeteiligt, ihr eigentliches Ich seltsam hohl und dumpf abwartend, bis es wieder gebraucht wurde. Was war es gewesen? Die Erkenntnis, dass es niemandem etwas brachte, die Nerven zu verlieren, vielleicht? Ebenso wie es nicht half, sich gegenseitig anzuschreien, so gern man diesem Impuls in jenem Moment auch nachgegeben hätte? Die Vampirin gab einen frustrierten Laut von sich. Die Stimme der Vernunft, wahrhaftig. Wie überaus lästig so etwas manchmal sein konnte. Aber vielleicht war ihr am Ende auch gar nichts anderes übrig geblieben. Denn wenn beispielsweise Rach die Nerven verlor, dann endete das vielleicht mit einem blauen Auge und ein paar Prellungen auf beiden Seiten. Nichts, was nicht nach ein paar Tagen wieder vergessen wäre. Sollte sie selbst die Kontrolle verlieren... nein, besser nicht darüber nachdenken. So betrachtet war sie den anderen die kalkulierte Selbstbeherrschung bis zu einem gewissen Punkt wohl irgendwie schuldig.
Der Gedanke an Rach ließ noch ein ganz anderes Problem unangenehm in den Vordergrund treten; etwas, was schon die ganze Zeit im Hintergrund gelauert und sich ab und an gezeigt hatte. Ophelias Verlobter mochte bei der Konfrontation mit Rogi überreagiert haben - wer konnte es ihm verübeln? Aber genau das war ja der Punkt: Sie versuchten die ganze Zeit, eine Art Ermittlungsgruppe auf die Beine zu stellen und solch eine sollte im besten Falle aus Leuten bestehen, welchen man im Notfall auch das eigene Leben anvertrauen konnte. Was sie hatten, waren Misstrauen, Vorurteile, Angst und Vorbehalte, Groll und Schuldzuweisungen in mehr als einer Hinsicht. Wie sollte das auf Dauer funktionieren? Was, wenn es urplötzlich darauf ankam? Und sie selbst war ja weit davon entfernt, sich davon auszunehmen. Das begann erneut bei Rogi: Das Schweigen mochte gebrochen sein, das Geständnis abgegeben - aber was Mina selbst betraf, war die Sache damit noch lange nicht vergessen. Dennoch: Das musste hintenan stehen, musste warten, so gut es eben ging. Sie konnten es sich nicht leisten, Zeit und Energie auf persönlichen Groll zu verschwenden. Aber wenn dann irgendwann alles vorbei war, mit hoffentlich gutem Ende: Machte es dann überhaupt noch Sinn, dem was währenddessen vorgefallen war, nachzuhängen?
Mina fuhr sich in einer resignierten Geste über die Augen. Sie war dabei, sich in ihren eigenen Überlegungen zu verheddern, kam vom Hundertsten ins Tausendste und das zu einem Thema, bei dem theoretische Vernunft ohnehin nicht den Kontakt zur emotional aufgeladenen Wirklichkeit überstand. Für den Moment konnte man der Sache eigentlich nur ihren Lauf lassen und versuchen, sich selbst so gut es ging immer wieder zusammennehmen und bewusst auf die Dinge konzentrieren, auf die es wirklich ankam: Kooperation. Effizienz. Prioritäten. Langes Sinnieren half da nicht wirklich weiter.
Mina nickte sich selbst bestätigend zu und lud sich dann entschlossen den ersten Holzstapel auf die Arme. Weitermachen. Der Krempel kam jetzt ins Erdgeschoß, mit zwei- oder dreimal treppauf und treppab sollten das erledigt sein. Und danach... da warteten noch ein paar Pflichten der Abteilungsleitung auf sie. Auch wenn sich Mina den Solchen selten ferner gefühlt hatte, als es dieser Tage der Fall war.

16.04.2017 17: 10

Senray Rattenfaenger

Senrays Kopf schwirrte. Auf dem Weg zum Boucherie jagte ein Gedanke den nächsten.
'Wir wissen jetzt, wo Ophelia genau ist. Aber wir können sie nicht sofort da raus holen. Sie ist nicht transportfähig...' Ein Knoten bildete sich im Hals der jungen Frau und ihr Herz wurde schwer. Wenn es Ophelia so schlecht ging, dass man sie nicht einmal sicher ins Wachhaus bringen konnte - wie konnte man sie dann dort lassen? Aber natürlich konnten sie nicht riskieren, dass sie selbst beim Versuch Ophelia zu retten, es verschlimmerten! Und was dergleichen medizinische Dinge anging, gab es wohl niemanden, der besser Bescheid wusste, als ein Igor.
Nur... konnte man Rogi wirklich vertrauen? Senray hatte davor nie bewusst mit der Igorina zu tun gehabt. Sie hatte viel Gutes über sie gehört, einige zweifelhafte Gerüchte, einiges Unglaubliche. Und, dass Ophelia und die Frau Freundinnen waren. Dies schien kein einfaches Gerücht zu sein, wie sich auch bei der eben stattgefundenen Besprechung wieder gezeigt hatte. Rogi und Opehlia waren Freundinnen und die Igorina hatte alles getan, um die andere zu finden und ihr zu helfen.
Eine plötzliche Bitterkeit lies Senray den Kopf schütteln und versetzte ihr einen Stich. Sie selbst dachte auch, alles getan zu haben. Aber was hatte sie schon versucht? Was hatte sie erreicht? Die junge Frau fragte sich, wie lange die aktuelle Ausbildungsleiterin jetzt schon wusste, wo Ophelia war. Wie lange hatte Senray selbst ihre Zeit mit einer dadurch eigentlich vollkommen sinnlosen Suche verbracht? Wie viel früher hätte man etwas tun können? Wenn sie vorher etwas gewusst hätten, vielleicht wäre es Ophelia dann nie so schlecht gegangen, dass sie jetzt auch noch warten mussten, bis sie sie retten konnten! Die junge Frau merkte, dass sie sich in den wütenden Teil des Gedankens hineinsteigerte, um sich nicht mit der anderen Seite eben jener gedanklichen Medaille zu beschäftigen. Mit keiner der anderen Seiten.
Ja, Rogi hatte nichts gesagt und das wohl über eine lange Zeit hinweg. Aber sie war manipuliert worden. Der Vampir, der Ophelia gefangen hielt, hatte es geschafft gehabt, Rogis Gedanken und Gefühle und damit ihre Handlungen zu manipulieren. Eigentlich war die Igorina damit nichts anderes als ein weiteres Opfer dieses Raculs, nur dass sie eben nicht verschleppt worden war. Stattdessen hatte er bei der Wächterin ihr Innerstes angegriffen, wenn Senray es richtig verstanden hatte. Der Gedanke machte ihr unsägliche Angst und sie merkte wie Mitgefühl für Rogi entstand. Dass diese trotz allem jetzt wieder bereit war die Truppe bei der Rettung zu unterstützen, dass sie sogar aktiv anfing sie zu beraten...
Sie wusste nicht, wo sie selbst die Kraft hernehmen sollte. Während Senray die Treppen im Boucherie erklomm um zu ihrem Büro zu kommen, merkte sie, wie die Müdigkeit sie packte. Es war kaum Mittag, doch es war seit dem Vortag so viel geschehen, dass die DOG sich fragte, ob wirklich nur ein Tag vergangen war. Die junge Frau ging leise über den Flur, verschwand in ihrem Büro und schloss die Tür hinter sich.
Ein Tag seit der ersten Besprechung des 'Rettungszirkels'. Doch was war in der Zeit alles passiert! Sie ließ ihren Blick durch ihr Büro schweifen und auch wenn noch etwas Zeit bis zu ihrem Training mit Magane war, beschloss sie, bereits alles bereit zu legen. Mit etwas Glück kam die Hexe etwas früher als sonst. Es gab so viel, was Senray ihr erzählen musste!
Sie selbst ging gedanklich die letzten Stunden noch einmal durch. Nach der Besprechung am Vortag war sie wie heute direkt ins Boucherie zurück gekommen, um ihre normale Arbeit zu erledigen. Sie musste Maggie dringend fragen, was sie Glum sagen konnte wegen dieser Besprechungen. Immerhin war es keine offizielle Ermittlung, an der sie teilnahm. Es konnte dem Zwerg allerdings schwerlich nicht auffallen, wenn sie von nun an häufig vormittags für mehrere Stunden verschwand, ohne an ihrem Einsatz weiterzuarbeiten. Eigentlich hatte Senray vorgehabt, das heute in der Besprechung anzusprechen. Aber durch Maggies Fehlen und alles was dann passiert war, hatte sie es schlichtweg vergessen. Nun gut, Glum würde schon nicht ausgerechnet jetzt an ihrer Tür auftauchen und sie fragen. Senray merkte, dass sie fast mit einem Klopfen rechnete und schalt sich selbst.
Gestern war sie nach ihrer normalen Schicht zu Bo gegangen, um mit ihm zu reden. Etwas, das sie heute erneut tun musste. Zum einen musste sie sich bedanken, dass er ihr geholfen hatte und seinen Stand heute extra für sie umgezogen hatte. Die junge Frau wusste, dass das alles andere als selbstverständlich war, zumal sie den Händler dann auch noch, entgegen ihrer Ankündigung, mit der Arbeit komplett allein gelassen hatte. Senray konnte sich zu gut an den Blick des Zwerges erinnern, als sie ihm heute morgen mit Wilhelm an ihrer Seite den Bauchladen zurückgegeben hatte. Sie war noch nicht lange mit den Fischen unterwegs gewesen und hatte gerade erst begonnen, kleine Informationen durch ihre Gespräche herauszukitzeln. Eigentlich hätte sie diese Rolle bis zum Ende ihrer Schicht durchziehen wollen, so war es auch mit Bo abgesprochen gewesen. Sie würde ihm erklären müssen, warum sie so früh und ohne ein echtes Wort gegangen war. Nur was sollte sie sagen? Sie wusste ja selbst nicht so wirklich, was die Aktion des Vampirs zu bedeuten hatte! Auch wenn sie einen Verdacht hatte...
Senray hielt inne und versuchte, sich wieder auf das Jetzt zu konzentrieren. An sich war alles bereit, sobald Maggie hier war konnten sie mit dem Training loslegen. Theoretisch zumindest. Die junge Frau kaute auf ihrer Unterlippe herum und sie machte sich einmal mehr daran, die Akten in ihrem Büro zu sortieren. Sie brauchte eine Beschäftigung, es würde sicher noch etwas dauern bis die Suse hier war. Die Verdeckte Ermittlerin merkte, wie sich erneut ihr schlechtes Gewissen meldete. Eigentlich sollte sie die Zeit nutzen und an ihrem Bericht weiterschreiben oder etwas anderes, für ihre Abteilung und die Wache Sinnvolles, tun. Aber sie war viel zu abgelenkt, viel zu aufgekratzt, um sich jetzt hinzusetzten. Also ließ sie ihre Hände über die Akten streichen und die Stapel neu ausrichten, während ihre Gedanken weiter um sich selbst jagten.
Der Rekrut Schneider hatte auf sie gewartet, er hatte ihr quasi im Schatten aufgelauert gehabt, während ihrer Späherschicht und sie sehr gezielt abgefangen. Um mit ihr zu reden, wie er selbst gesagt hatte. Senray spürte selbst bei der Erinnerung daran das unangenehme Ziehen in ihrem Magen und ihre aufsteigende Angst. Bevor sie auch nur hatte reagieren können, hatte er sie bereits untergehakt gehabt und ihre Versuche, seinen Arm abzuschütteln, sanft aber durchaus nachdrücklich unterbunden. Zusätzlich hatte er sie flüsternd gefragt, ob sie wirklich diese ganze Aktion gefährden wolle, indem sie unbedacht handelte und ihm und dem gewünschten Gespräch offensichtlich aus dem Weg ginge? Das hatte die Verdeckte Ermittlerin tief getroffen, sowohl in ihrem Gefühl von Professionalität, als auch in ihren Ängsten und Selbstzweifeln. Der Gedanke, dass sie selbst wegen ihrer Nervosität ein Hindernis oder sogar eine Gefahr für die Gruppe darstellen könnte, war ihr zu präsent, noch geschürt durch einige der Ereignisse in der letzten Zeit. Also war sie mit Wilhelm gegangen und hatte versucht, die Fassade zu wahren, so gut es eben ging. Sie hatte Bo ihren Bauchladen zurückgegeben und war mit dem Vampir durch die Straßen geschlendert, ganz wie dieser es gewollte hatte.
Nur das Gespräch, das er hatte führen wollen... Was auch immer er hatte sagen wollen – er tat es nicht. Senray wartete und auch wenn sie sich vor dem fürchtete, was Wilhelm sagen würde, sie wollte es hinter sich haben. Doch statt Klartext zu reden hatte der Vampir seichte Konversation betrieben. Nicht einmal auf eine unangenehme Art. Zumindest wäre es nicht unangenehm gewesen, wenn Senray nicht in diese Situation hineingezwungen worden wäre. Irgendwann hatte sie ihren Mut zusammengenommen und eine seiner Sprechpausen genutzt, um ihn nach dem gestrigen Tag zu fragen. Was auch immer mit ihm während der Besprechung vorgefallen war, sein entsetzter Blick hatte die junge Frau nicht losgelassen. Bis in ihren Traum hatte sie die Angst, mit der er sie angestarrt hatte, verfolgt. Und Senray merkte, dass sie einfach wissen musste, was da vorgefallen war. Warum er ausgerechnet sie so angestarrt hatte.
Doch nach ihrer Frage hatte Wilhelm sich endgültig verschlossen. Er war auf einen Schlag so kalt und unnahbar geworden, dass ihre sich langsam beruhigende Angst wieder hochgekommen war und Senray sich nur schnell entschuldigt und abgewandt hatte. War ihr die erzwungene Konversation davor schon unangenehm gewesen, so war das darauf folgende Schweigen aus mehreren Gründen ein Albtraum für Senray. Zum einen betonte es die Künstlichkeit und den Zwang der Situation noch mehr. Sie schlenderte hier nicht aus Zuneigung mit einem Mann den sie mochte durch die Straßen, nein, ihr waren sowohl seine Gesellschaft, als auch die rein körperliche Nähe durch den untoten Kollegen aufgezwungen worden. Und zum anderen gab das Schweigen Senray viel zu viel Zeit für ihre eigenen Gedanken. Gedanken, denen sie nicht nachgehen wollte, erst Recht nicht, wenn sie keine Antwort erwarten durfte. Wenn Wilhelm schließlich nicht über das Reden wollte, was am Vortag vorgefallen war, wofür dann das Ganze? Warum hatte er auf sie gewartet, wozu führte er sie jetzt herum?
Mit etwas verzögertem Schrecken war der jungen Frau dabei bewusst geworden, dass sie so sehr auf den Vampir neben sich und auf das Aufrechterhalten, einer ungezwungenen äußeren Fassade konzentriert gewesen war, dass sie nicht wusste, wo sie waren. Oder welchen Weg sie genommen hatten. Wilhelm hatte durch seine Aktion nicht nur ihre Vorbereitungen für ihre Späherschicht zunichte gemacht, er hatte ihre komplette Schicht ad absurdum geführt. Sie würde nicht mal sagen können, wo sie herumgelaufen war, geschweige denn, dass sie irgendetwas bemerkt hätte. Nur wozu das Ganze?
Um diese gedankliche Frage drehte sie sich im Kreis. Der Vampir neben ihr hatte sie am Vortag angestarrt, als hätte sie ihn bedroht oder ihm Leid zugefügt – und davor waren ihm Tränen die Wangen hinuntergeflossen und er hatte insgesamt nicht gut ausgesehen. Und auch wenn Senray selbst für nichts davon verantwortlich war oder auch nur in der Lage dazu gewesen wäre... sie wusste, dass es jemanden gab, der es sehr wohl war. Refizlak hatte mit Sicherheit das Zeug dazu, selbst einem Vampir Angst einzujagen. Und war Feuer nicht sowieso eines der wenigen gefährlichen Dinge für Vampire? Wenn also Wilhelm irgendwie auf Refizlak getroffen war... Aber wie sollte das möglich sein? Er konnte ja nicht einfach in ihren Kopf und die Flammenbarriere überwinden, um den Weg zu ihm zu finden. Oder? Der Gedanke, dass der Vampir dazu in der Lage sein könnte, hatte ihr Angst eingejagt. Noch mehr Angst jedoch machte ihr der Gedanke, dass er es nicht könnte. Dass Refizlak von sich aus sich dem Vampir, wie auch immer, gezeigt haben mochte, ihn vielleicht sogar angegriffen hatte. Das sollte unmöglich sein! Immerhin konnte nicht mal sie selbst Kontakt mit ihm aufnehmen, ohne Flammen auf ihrer Haut und die notwendige Konzentration. Sie selbst musste Refizlak quasi rufen und in ihren Teil ihrer Selbst einladen, anders war Kontakt nicht möglich.
Aber was, wenn doch? Was, wenn er irgendwie einen Weg hinaus gefunden hatte und Leute, wie eben Vampire, die mental empfänglicher waren, angreifen konnte?
Das Bild des Käfigs war ihr wieder in den Sinn gekommen, die Isolation in der Ophelia sich befand. War so etwas ihre eigene Zukunft? Wenn Refizlak einfach so, ohne dass sie selbst es merkte, andere angreifen konnte, konnte sie unmöglich hier bleiben, unmöglich unter Menschen bleiben!
Der Vampir, an dessen Arm sie immer noch lief, war ihr plötzlich weniger gefährlich erschienen. Viel zu groß war ihre Angst, das sie selbst die Gefahr war. Als ihre Schicht endlich um und das Arrangement damit aufgelöst war, war Senray geflohen. Sie hatte sowieso vorgehabt, sich wieder umzuziehen. Sie wollte nach Möglichkeit die Rolle der Marktfrau wieder benutzen können und in diesem Fall durfte sie auf keinen Fall als eben jene ins Hauptwachhaus gehen. Aber nun war es ihr doppelt wichtig.
Sie hatte viel kaltes Wasser gebraucht, bis sie sich selbst wieder im Griff gehabt hatte. Allein der Gedanke, dass sie womöglich eine Gefahr darstellte, war zu viel gewesen. Sie hatte an Ophelia gedacht – Ophelia, die damit ebenfalls von ihr bedroht wäre, war sie doch schließlich auch mental empfänglich. Ophelia, die in einem Käfig allein in der Dunkelheit war, eben wegen dieser mentalen Empfänglichkeit! Der Zauberer und Leutnant Kanndra hatten das Bild des Raums, des Käfigs, der Bedrohung, zu gut gezeichnet. Senrays Verstand hatte ihre Träume bereits mit diesen Bildern gefüttert und mit der Erinnerung an den gehetzten Blick des Rekruten Schneider. Sie hatte sich das eisige Nass ins Gesicht geschippt, bis ihre Hände vor Kälte zitterten. Doch es half nichts. Die Gedanken blieben. Und es war zu viel für Senray. Der Käfig, die Isolation. Ihre eigene Zukunft. Und Ophelia erlitt dies aktuell, hatte es viel zu lange erlitten und wer wusste schon, wann sie sie fanden! Der jungen Frau war es selten so schlecht gegangen wie in diesem Moment, in dem sie sich vollkommen allein mit sich selbst fühlte. Es gab nur einen Hoffnungsschimmer: Bei der Besprechung gleich würde sie Maggie sehen! Maggie würde ihr helfen können, sie beruhigen und ihr erklären können, was hier vor sich ging. Sie wüsste sicher, ob es möglich war, dass Refizlak von sich aus ausbrach oder nicht. Und selbst wenn sie es nicht sicher wüsste, würde sie wissen, was man dagegen tun konnte oder wie man es herausfand. Die junge DOG hatte sich also mit aller ihr verbliebenen Kraft zusammengerissen und war endlich zu der Besprechung aufgebrochen. Viel zu spät, wie sie selbst wusste. Aber solange sie Magane danach allein sprechen konnte, machte das nichts.
Als Senray jedoch verspätet im Besprechungsraum ankam, musste sie feststellen, dass die Suse nicht da war. Das hatte ihr einen Schlag versetzt. Durch das Fehlen von Maggie und Rach war die Besprechung etwas stockend in Gang gekommen. Während die anderen von ihren Späherschichten erzählten, fragte sich die DOG fieberhaft, was sie selbst sagen sollte, was sie sagen konnte. Sie wusste nicht, was sie aus Wilhelms Verhalten machen sollte, ob sie es ansprechen sollte oder nicht. Viel zu früh war sie selbst an der Reihe, ihre Observationsergebnisse vorzustellen. Sie hatte fast panisch den Vampir angesehen, ohne eine Antwort auf ihre ungestellte Frage in seinen Zügen zu entdecken. Schließlich hatte sie einfach gestammelt, dass sie keine nützlichen Informationen erhalten habe. Kein Wort von Wilhelm, kein Wort davon, dass der größte Teil ihrer Schicht durch einen Spaziergang eingenommen worden war, dessen Sinn sie nicht verstand und an dessen Route sie sich nicht einmal sauber erinnern konnte. Senray hätte sich am liebsten verkrochen. Es fühlte sich falsch an, nichts zu sagen. Aber die junge Frau hatte gemerkt, dass sie mehr Angst davor hatte, erklären zu müssen - oder schlimmer: die wirkliche Erklärung zu hören - warum Wilhelm sie begleitet hatte. Nicht zu diesem Zeitpunkt und nicht in dieser Runde! Wenn wenigstens Maggie dort gewesen wäre! So war sich Senray schlicht entsetzlich allein vorgekommen.
Alle Aktenstapel waren neu sortiert. Senray seufzte schwer. Wie lange war sie jetzt ihren Gedanken nachgehangen? Mit etwas Glück würde die Hexe jeden Augenblick an ihrer Tür klopfen, um zu ihrem gemeinsamen Feuertraining zu kommen. Dann konnte Senray ihr das Ganze erzählen, ihr ihre Fragen stellen. Und von der Besprechung berichten.
Rachs plötzliches Auftauchen und seine Worte hatten alle in Tumult versetzt. Aber noch ehe sie wirklich begriffen hatte, was er sagte, war Rogi selbst in der Tür aufgetaucht. Die Vorwürfe, die dann durch den Raum geflogen waren, der Versuch der Igorina, die Gruppe von ihrem Vorhaben abzubringen... dass Rogi forderte, dass sie alle Ophelia im Stich lassen sollten, war nicht nur für sie ungreifbar, unfassbar gewesen, da war sich Senray sicher. Und dann war der Vorschlag gekommen, Wilhelm könne als Vampir in den Kopf der Ausbildungsleiterin eindringen, um eine Manipulation durch den 'Alten' nachzuweisen! Senray war hochgeschreckt, für einen Moment war alles andere vergessen. Sie starrte Wilhelm an und es hatte sie einige Momente gekostet, wirklich zu begreifen, was die Worte bedeuteten. Desto mehr es ihr jedoch dämmerte, desto schlechter war ihr geworden. Als Wilhelm plötzlich zu Bluten begann...
Die junge Frau hatte nur zu gern die Möglichkeit genutzt, den Raum zu verlassen. Während sie Wasser schöpfte, rief sie sich das eben Geschehene in den Kopf. Wilhelm konnte einfach in die Köpfe anderer eindringen... und er zeigte auch körperliche Reaktionen darauf. Wenn sie jetzt noch das Entsetzen in seinem Blick bedachte, mit dem er sie am Vortag angestarrt hatte... es sprach so viel dafür, dass er in ihre Gedanken eingedrungen war! Aber konnte es sein, dass sie wirklich nichts davon mitbekommen hatte?
Da erinnerte sich Senray an das dumpfe Gefühl, das sie während der Besprechung am Vortag gespürt hatte. Es waren keine Kopfschmerzen gewesen, eher so, als hätte man ihre Gedanken in Watte gepackt.
Konnte es also wirklich sein, dass er in ihre Gedanken eingedrungen war? Und dort... musste er Refizlak begegnet sein.
Senrays Herz schlug schnell, als sie mit dem Eimer die Treppen zum Besprechungsraum hochstapfte. Ihre Gedanken wurden jedoch jäh unterbrochen, als sie wieder im Raum war. Kaum war sie selbst durch die Tür, war Rogi jäh aufgesprungen und Senray hatte die Frage, ob der Eingriff geklappt habe, nicht zurückhalten können. Statt zu antworten, hatte die Angesprochene begonnen, Tisch und Stuhl vor sich zu Kleinholz zu verarbeiten. Ein Anblick, der Senray von allem anderen abgelenkt hatte. Erst als sich die Igorina wieder beruhigte und damit begann, sich zu erklären, war sich die Verdeckte Ermittlerin wieder des Eimers in ihrer Hand bewusst geworden.
Schnell war sie durch den Raum gegangen und neben Wilhelm in die Hocke. Eigentlich hatte sie ihm Eimer und Lappen nur anbieten wollen - bei den Göttern, sie konnte ja schlecht einem ausgewachsenen Vampir das Gesicht abwischen! Aber er hatte nicht auf sie reagiert, war insgesamt... weggetreten. Auf ihre diesbezügliche Frage hatte Rogi nur geantwortet, dass er Ruhe bräuchte. Senray war kurz davor gewesen, einfach wieder aufzustehen und ihn sich selbst zu überlassen. Aber etwas hatte sie innehalten lassen. Aus einem für sie selbst kaum verständlichen Grund konnte sie Wilhelm nicht so sitzen lassen, blutbeschmiert und vollkommen erschöpft. Vielleicht lag es daran, dass er, egal was er in ihren Gedanken gesehen hatte, so er wirklich eingedrungen war, niemandem etwas gesagt hatte. Senray war sich sicher, hätte er das getan, hätte es Reaktionen darauf gegeben. Außer Maggie wusste niemand von Refizlak und die Verdeckte Ermittlerin konnte sich nicht vorstellen, dass seine Existenz einfach mit einem Schulterzucken abgetan werden würde. Außerdem hatte Wilhelm den ganzen Morgen über die Macht besessen, mit ihr zu tun, was er wollte. Er hätte sie irgendwann während ihrer Route in eine dunkle Gasse ziehen und aussaugen können. Aber er hatte es nicht getan, nichts davon. Und er war allein hier im Raum. Niemanden sonst schien es zu interessieren, was aus ihm wurde.
Senray hatte geseufzt und den Mann vorsichtig an der Hand berührt. Als er nicht reagiert hatte, hatte sie ihm zugeflüstert er solle nicht erschrecken, in der Hoffnung, nicht gleich Vampirzähne im Hals zu haben. Und dann hatte sie ihm sehr, sehr vorsichtig das Gesicht mit dem feuchten Lappen gereinigt. Als sie damit fertig war, hatte sie ebenso umsichtig seine blutverschmierte Hand mit dem Lappen gewaschen. Danach hatte sie sich einen Stuhl herangezogen und war den Rest der Besprechung neben dem Vampir sitzen geblieben. Sie hatte aufmerksam zugehört und für einige Momente ihre eigenen Gedanken vergessen können. Und sie hatte ein Auge auf Wilhelm behalten, um zu sehen, ob er reagierte. Sie wusste nicht, was sie von ihm denken sollte und war sich fast sicher, dass er einfach in ihre Gedanken eingedrungen war. Aber... es war trotzdem nicht richtig, einen Kollegen in diesem Zustand einfach zu ignorieren. Zumal er ihnen allen gerade einen großen Gefallen getan hatte. Rogi hatte selbst gesagt, dass sie Raculs Einfluss ohne den Vampir nicht los geworden wäre! Als alle dabei waren, den Raum zu verlassen und Senray selbst den Eimer wieder anhob, hatte er ihr schwach ein "Danke!“ zugeflüstert. Die junge Frau hatte innegehalten und ihn unsicher angelächelt. "Wir sind schließlich beide Wächter, nicht wahr?"
Senray brach abrupt in ihrer Runde durch ihr Büro ab und begann zu lachen. Maggie würde ihr nie glauben, dass ausgerechnet sie einem Vampir den Mund abgewischt hatte! Doch ihr Lachen war einen Tacken zu hoch und die junge Frau merkte die Veränderung. Wie aus einem Lachen ein Schluchzen und ein Zittern wurde.
Sie ließ sich auf den Boden sinken. Sie hatte zu viel in sich angestaut, zu viel zurückgehalten, um es jetzt noch zu können. Wenn die Hexe doch nur endlich käme!
Senray konnte die Einsamkeit ihres Büros kaum noch ertragen und sie fürchtete sich vor ihren eigenen Gedanken. War Maggie nicht überhaupt längst überfällig? Sonst kam sie nie zu spät. Andererseits war es auch gar nicht Maggies Art, ohne jemandem Bescheid zu geben, nicht zu einem Treffen wie der Besprechung am Morgen zu kommen.
Eine vollkommen neue Angst begann sich in Senray auszubreiten, die Angst, dass der Hexe etwas zugestoßen sein könnte. Was, wenn es heute morgen einen Unfall gegeben hatte? Warum nur hatten sie nicht nachgefragt?
Es kostete sie erneut einige Minuten, sich wieder zu beruhigen und sich so herzurichten, dass man ihr ihren kurzen Kontrollverlust nicht ansah. Dann ging sie erst vor ihre eigene Tür, um diese zu inspizieren. Keine Notiz, die irgendwohin geklemmt worden wäre und die sie in ihrer Eile vorhin übersehen hätte. Wenn die Nachricht also nicht ebenso verspätet oder übersehen worden war, dann hatte Magane das Training weder verschoben noch abgesagt. Aber es war mehr als untypisch für die Hexe, ohne ein Wort so massiv zu spät zu kommen. Auch heute Morgen schon...
Um sich Gewissheit zu verschaffen, ging sie hoch zu Bruder Laudes. Dieser versicherte ihr jedoch, keinerlei Nachricht für sie zu haben. Wenn die betreffende Taube nicht vorher gefressen worden war, dann gab es da nichts.
Senray zögerte, dann ging sie zu Glums Büro und klopfte.
"Was denn? Oh, Senray, du bist es." Der Zwerg betrachtete sie, während sie durch die Tür hereinschlüpfte und sie hinter sich schloss. "Solltest du nicht gerade mit Feldwebel Magane üben?"
"Ja, Sör, genau da ist das... also, das Problem, Sör. Feldwebel Magane ist noch nicht, nun ja, da, Sör. Hat sie dir vielleicht, also, Bescheid gegeben?"
Die junge Frau sah Glum hoffnungsvoll an. Dieser schüttelte jedoch den Kopf und verzog das Gesicht etwas.
"Sie hat den Termin nicht bei mir abgesagt oder verschoben, falls du das meinst. Sie ist jedoch Abteilungsleiterin, falls ich dich daran erinnern muss, Senray. In so einer Position hat man große Verantwortung und es kommen durchaus ungefragt und ungeplant Termine dazwischen, die man wahrnehmen muss. Schick' am besten eine Taube mit einem neuen Terminvorschlag los, wahrscheinlich wird Feldwebel Magane sich dann melden und es wird sich herausstellen, das alles ganz harmlos ist."
"Ja, Sör. Danke, Sör."
Wenig beruhigt ging Senray in ihr Büro zurück und schloss die Tür hinter sich. Sie sollte am besten wirklich eine Nachricht aufsetzen. Vielleicht war es ja nichts.
Aber so richtig glauben konnte es die junge Frau nicht, Angst und Unsicherheit hatten sie zu sehr im Griff.
An ihrem Schreibtisch wollte sie ein frisches Papier nehmen, doch ihre Hand zögerte über dem Papier.
Wollte sie wirklich wegen eventuell Nichts Alarm schlagen? Es musste sowieso jedem klar sein, das sie das schwächste Glied in der Gruppe war. Sie hatte bisher kaum nützliche Informationen beigetragen und fürchtete sich ja sogar vor zwei derjenigen, die Ophelia retten wollten! Gar nicht zu reden vom dem Vampir, oder eher den Vampiren, die sie gefangen hielten! Und sicher hatte Glum Recht und Magane war in einen ganz normalen Fall verwickelt, weswegen sie sich verspätet hatte. Oder eben nicht kam. Sicher war es nichts Schlimmes.
Senray saß an ihrem Schreibtisch und versuchte an das zu glauben, was sie sich selbst einredete. Aber sie schaffte es nicht. Stattdessen setzte ihr Gedankenkarussell zu einer neuen Runde an – diesmal mit dem bitteren Beigeschmack der Angst um die Kollegin, die ihr in der ersten Runde noch einen Ausweg aus ihren inneren Zweifeln geboten hatte.
Das einzige, was sie schaffte, war es, nicht auch noch jemandem anderen mit ihrer Furcht zur Last zu fallen.

17.04.2017 12: 20

Mina von Nachtschatten

Er war es ja so leid! Als ob es niemanden sonst gäbe, dem man die leidigen Nachtschichten am Tresen hätte auf's Auge drücken können! Aber nein, immer wenn er den Schichtplan einsah sprang ihm der eigene Name in der gleichen Zeile ins Auge. Wilhelm Schneider gestern, Wilhelm Schneider heute und wenn nicht zwischendurch die Scheibe verglühte, dann würde es auch ganz gewiss Wilhelm Schneider morgen heißen. Was sollte das? Nur weil er ein Vampir war und deshalb mit den dunklen Stunden naturgegeben besser zurecht kam, als menschliche oder sonst welche Kollegen? Nein, diese Erklärung war wohl zu einfach und lägen die Umstände so, dann würde es zudem an eine besonders subtile Art des Speziesismus grenzen. Eine derartige Raffinesse traute er der Feinstich nicht zu. Die Igorina schien über das Vermögen zu verfügen, dienstliches und... nun, anderes exzellent voneinander zu trennen, selbst wenn es die gleiche Person betraf. Nachdem er ihr derart selbstlos zur Seite gestanden und nicht unwesentlich dazu beigetragen hatte, einen entscheidenden Teil ihrer Persönlichkeit wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. Und das unter hohem persönlichen Risiko! Da war doch ein klein wenig Dankbarkeit oder wenigstens ein Entgegenkommen nicht zu viel verlangt. Aber wahrscheinlich zog sie einfach eine besondere Art der Genugtuung aus diesem Vorgehen, meinte vielleicht, ihn damit für seine Offenheit, seine in ihren Augen dreiste Einmischung in Dinge, die ihn nichts angingen, zu bestrafen. Sollte sie doch! Er würde sich nicht die Blöße geben und eine Reaktion zeigen, die sie auch noch in diesem nahezu kindischen Gebaren bestärkte. Andererseits... vielleicht stand der Schichtplan auch schon eine Weile. Warum also Zeit und Gedanken darauf verschwenden, ihn zu ändern, wo es doch weit Wichtigeres zu tun gab? Vielleicht war ihr doch keine Absicht zu unterstellen, keine tiefer gehende Motivation? Nun, wie es sich genau verhielt, das würde nur schwerlich festzustellen sein. Trotzdem, sein Unmut hatte sich ob der letzten Überlegungen ein wenig gelegt. Unter anderen Umständen hätte ihn diese spezielle Verteilung der Tresendienste auch nur wenig gekratzt - aber Wilhelm hatte aufgehört, in den Nachtschichten nichts als ein paar entspannte Stunden zu sehen, leichte Arbeit, während der ohnehin nichts von Interesse geschah. Und die leidvollen Mienen der Ablösung am Morgen, zur berüchtigten "Willichnicht-Schicht" - die hatten ihm den Feierabend regelmäßig versüßt. Menschen konnten ja so wunderbar zimperlich sein. Aber in letzter Zeit geschah einfach zu viel seltsamer Kram, meist unverhofft und wenn, dann auch gleich richtig. Wäre dieses "seltsam" lediglich ein anderes Wort für "interessant" gewesen, es hätte ihn entzückt. Aber er war mittlerweile mehr als einmal in direkte Mitleidenschaft gezogen worden und das gefiel dem Vampir ganz und gar nicht. Die letzten Ereignisse hatten ihn ordentlich mitgenommen und noch immer kämpfte er mit den Nachwirkungen. Alles tat ihm weh, jeder Schritt, jede schnelle Bewegung wurde von den immer noch schmerzenden Muskeln bestraft. Von seinem inneren Selbst ganz zu schweigen... Nicht, dass er das nach außen gezeigt hätte, bewahre! Aber die Erschöpfung ließ sich nicht verleugnen. Und dass die üblichen vampirischen Selbstheilungskräfte nur besorgniserregend langsam ihre Arbeit taten, diesen Gedanken versuchte er gekonnt zu ignorieren. Doch die Dinge, die geschehen waren... er war das nicht gewohnt - nicht Herr über die Szene zu sein, nicht im Gefühl der Überlegenheit zu baden. Sich fügen zu müssen. Die Flucht anzutreten. Echos von fremden Gedankenkonstrukten durchwehten seinen Sinn, verdreht, kompliziert, kopfschmerzerzeugend... der Geruch von Rauch, der Geschmack von Asche... Wilhelm registrierte, dass seine Hand angefangen hatte zu zittern. Er presste sie bewusst auf das Holz des Tresens, um die unangenehme körperliche Reaktion auf seine Erinnerungen zu unterbinden. Diese Dinge hatten nichts miteinander zu tun! Wenn er begann, sie zu vermischen und dadurch auf irrationale Weise mit der Nachtschicht zu verknüpfen - dann würde er die ganze Zeit nur hier sitzen und abwarten, dass der nächste persönliche Dämon durch diese Tür da hinten hereinspaziert kam, abgefeimt grinsend, bereit ihn zu quälen. Eine kleine Frau mit glutroten Augen... Mit einiger Willensanstrengung löste Wilhelm den Blick von der entfernten Eingangstür des Wachhauses und wandte ihn der Kollegin zu, welche sich heute den Dienst mit ihm teilte. Immerhin, er war nicht allein. Sollte also etwas vorfallen, dann würde er nur das halbe Elend zu ertragen haben. Hoffentlich.
"Es ist nicht einfach, ich zu sein", meinte er in belehrendem Tonfall an seine Mitwächterin gewandt.
Goldie Beifuß fiepte zustimmend und sah ihn aus großen dunklen Hundeaugen an. Die Werhündin lag lang ausgestreckt auf einer karierten Decke hinter dem Tresen, den Kopf auf die Vorderpfoten gebettet und schien mit sich und der Welt zufrieden. Beinahe beneidenswert. Tatsächlich handelte es sich bei Goldie um eine der angenehmsten Schichtpartnerinnen, mit denen der Vampir bisher das Vergnügen gehabt hatte zu arbeiten: Sie war eine exzellente Zuhörerin, unterbrach dabei nicht oder ging ihm mit lästigem Geschwafel über die Belanglosigkeiten eines sterblichen Daseins auf die Nerven. Und was vielleicht noch viel wichtiger war: Sie begegnete ihm mit einer unvoreingenommenen Freundlichkeit, welche man ansonsten ihm Kollegium nur schwerlich fand. Das war eine angenehme Abwechslung zu den sonstigen Spitzen und dummen Kommentaren, die er zu ertragen hatte. Jemand, dem es ganz egal schien, was oder wer er war.... Wilhelm nahm diesen Gedankengang mit einigem Erstaunen zur Kenntnis. Im Grunde war es ihm immer egal gewesen, was seine Kollegen von ihm hielten. Er war schließlich nicht der Wache beigetreten, um Freunde zu finden. Aber ständig die kalte Schulter gezeigt zu bekommen, deutlich zu spüren, dass man eigentlich nicht willkommen war - das konnte auch dem geduldigsten Zeitgenossen irgendwann sauer aufstoßen. Es gab bisher nur wenige Ausnahmen und umso erfreulicher erschien es Wilhelm, hier eine weitere gefunden zu haben. Ein irritierend angenehmer Gedanke. Er betrachtete die Werhündin mit einem wohlwollenen Blick. Goldies einziger Fehler war eigentlich, dass sie haarte - helle Hundehaare auf der Kleidung waren wenig adrett. Aber so lange er hier saß und sie dort drüben lag, wo sollte da das Problem sein? Beziehungsweise, so zumindest eine Handspanne Abstand zwischen ihrem Fell und seiner Kleidung bestand konnte man sich vielleicht auch ein wenig die Zeit vertreiben, ohne selbst allzu viel Einsatz zeigen zu müssen. Was in diesem Fall so viel hieß wie, dass er sitzen bleiben konnte. Denn einfach nur sitzen... das war gut.
Wilhelm nahm einen Bleistift und warf ihn probehalber zu Boden. Das längliche Holz kollerte in Richtung der Kollegin und kam kurz vor deren Nase zu liegen. Goldie schnüffelte interessiert, dann stubste sie den Gegenstand mit einer knappen Bewegung zurück. Der Stift kollerte erneut. Wilhelm fing ihn mit der Schuhspitze ab, hielt kurz inne, kniff die Augen zusammen - und spielte ihn lässig ein weiteres Mal der Gefreiten zu. Goldie legte den Kopf schief und etwas Fragendes trat in ihren Blick. Oder war da so etwas wie ein milder Vorwurf? Sie schnaubte und schüttelte den Kopf. Da Wilhelm keine Anstalten machte, zu reagieren, erhob sich die Gefreite schwerfällig, klaubte den Stift vorsichtig auf und trug ihn zu dem wartenden Vampir hinüber. Dort angekommen drehte sie sich so, dass der Kollege ihr den Stift bequem abnehmen konnte - Maul zu Hand sozusagen. Wilhelm erlaubte sich ein kurzes Grinsen und griff automatisch zu. In diesem Moment wurde ihm allerdings auch sein Fehler bewusst: Denn wie die besondere Natur dieses Austausches es schon hätte erahnen lassen sollen, war der Stift bedeckt mit Hundesabber. Wilhelm rümpfte die Nase und legte das besudelte Schreibgerät mit spitzen Fingern so weit entfernt ab, wie es sein Arm erlaubte.
"Äh... ja, besten Dank", murmelte er und sah sich nach einem Tuch um, mit dem er das klebrige Zeug von seinen Händen bekam.
Goldie ruckte mit dem Kopf und gab ein gutmütiges Kläffen von sich. Dann begab sie sich zurück auf ihren Posten und rollte sich dort zusammen.
"Du hast keine Lust auf das Spielchen, ich verstehe schon." Wilhelm hatte es geschafft, ein Taschentuch aus seiner Kleidung zu fischen, ohne die Jacke dabei zu beschmieren. Während er seine Finger sorgsam abwischte, schielte er zu der Kollegin hinüber. Hatte sich der Hund gerade einen Scherz mit ihm erlaubt? Einen kleinen und freundlichen, aber einen Scherz gleichwohl? Er erhielt jedoch keine Möglichkeit, dieser Frage weiter nachzugehen.
Die Eingangstür schwang auf und herein trat eine vierköpfige Gruppe. Mit ihnen gelangte ein kräftiger Windstoß in den Empfangsbereich des Wachhauses, der Kleider wehen und die Papiere auf dem Tresen sacht rascheln ließ. Den Sprühregen von draußen ließ er zwar gleich hinter der Tür zurück - an Wilhelms Nase jedoch trug er einen irritierenden Geruchscocktail aus recht alten und sehr jungen Menschen. Die Ankömmlinge vergeudeten keine Zeit damit, sich zunächst umzusehen, so wie es viele taten um zu kaschieren, dass sie noch nach den richtigen Worten suchen mussten, bevor sie an den Diensthabenden herantraten. Nein, sie hielten zielstrebig auf Wilhelm zu. Zivilisten, die wussten, was sie wollten. Na, wenn's denn sein musste. Bedächtig richtete der Vampir sich aus seiner bequemen in eine halbwegs akzeptable Sitzhaltung auf. Hoffentlich ging Zielstrebigkeit hier mit einer schnellen Abhandlung des Anliegens einher.
Vorweg marschierte eine rüstige ältere Dame in schwarzer Kleidung, einen hohen spitzen Hut auf dem zusammengesteckten weißen Haar. Hätte sie das noch nicht zu einer bemerkenswerten Erscheinung gemacht, so wäre spätestens der ausdrucksstarke strenger Blick durch die vergrößernde Brille genug gewesen, um jedermann zu verdeutlichen, dass man es hier mit einer Frau zu tun hatte, die Respekt einforderte und für gewöhnlich auch erhielt. Das leichte oktarine Glühen ihrer Aura tat das übrige. Wilhelm erkannte eine Hexe, wenn er sie sah und wie automatisch setzte er sich noch etwas gerader auf. Mensch hin, Mensch her, hier war ein gewisser Grundrespekt angeraten. Der Hexe folgte ein Mann, der allerdings um einiges älter wirkte[12]. Er stützte sich auf einen Stock, aber im Gegensatz zu der gebrechlichen Erscheinung funkelten zwei lebhafte Augen in dem faltendurchzogenen, auffallend narbigen Gesicht. Den Abschluss bildeten zwei Kinder, dem Geruch nach eindeutig Geschwister: Ein schlanker Junge mit ernstem Gesichtsausdruck, dessen 10. Geburtstag bestimmt schon einige Jahre zurücklag, und ein kleines Mädchen auf dem Arm des Ersteren. Ihr Blick irrte verstört durch den Raum und sie klammerte sich nahezu krampfhaft an den Hals ihres großen Bruders.
Eher beiläufig registrierte Wilhelm die Qualität der Kleidung, die Auswahl der Farben, Materialien und Verarbeitung - eine Berufskrankheit. Doch Kleider konnten ja so viel über die Leute verraten: Wenn man einmal die Hexe in ihrem berufstypischen Aufzug außen vor ließ, sprach alles für eine typische Familie aus dem Mittelstand, nicht allzu reich, aber es reichte für eine gute Lebensweise. Die Garderobe war sauber und in ordentlichem Zustand, eher praktisch ohne unnötigen Schnickschnack, was auf eine pragmatische Grundhaltung hinwies. Das meiste wurde augenscheinlich schon eine Weile getragen und gerade bei dem Jungen hatte man wohl wachstumsbedingt immer wieder Anpassungen vornehmen müssen. Sparsam war man also auch. Einzig das Mädchen in seinem grünen, offenbar recht neuen selbstgenähten Kleid stach als schick gemachter kleiner Farbtupfer hervor - der Augenstern der Familie? Warum hatte man sie nicht in der Obhut ihres Bruders gelassen, sondern beide Kinder mit zur Wache genommen? Und das zu dieser späten Stunde? Es musste sich also um eine äußerst wichtige Angelegenheit handeln, kombinierte Wilhelm. Gleich würde er mehr wissen. Der Vampir setzte ein professionelles Lächeln auf - freilich ohne die Zähne zu zeigen, man wollte ja niemanden verschrecken. Oder auch nur ansatzweise bedrohlich wirken, dass wäre ihm speziell im Hinblick auf die Hexe wohl nicht sonderlich gut bekommen.
"Guten Abend, wie kann ich..."
Sie ließen ihn nicht ausreden.
"Unsere Magane ist verschwunden." Die alte Frau platzierte mit Nachdruck einen zerknitterten Zettel auf dem Tresen. Er war in einer Handschrift beschrieben, welche Wilhelm vage bekannt vorkam. Mehr noch war es allerdings der Name der Vermissten, welcher ihn aufhorchen ließ. Konnte das ein Zufall sein?
"Dann sind Sie die Familie Schneyder?", fragte er langsam.
"Wechter. Mein Gatte, ich und unsere Urenkel. Aber wenn Sie damit andeuten wollen, junger Mann, dass wir der hier arbeitenden Magane Schneyder sehr nahe stehen, dann haben Sie recht. Und wir verlangen, dass umgehend etwas unternommen wird."
Das Geräusch von krallenbewehrten Pfoten auf Steinboden wurde laut und kurz darauf streckte Goldie die Nase über den Tresen. Sie schnupperte nach dem Zettel und gab dann ein aufgeregtes Jaulen von sich. Aber dieses Signal wäre gar nicht mehr nötig gewesen: Wie die Teile eines Puzzles fügte sich Information an Vermutung, Ahnung an Wissen und im Bruchteil einer Sekunde war sich Wilhelm sicher, dass diese Meldung hier verdammt ernst zu nehmen war. Die Dinge wiederholten sich: Plötzliches Verschwinden einer Wächterin - während der Bearbeitung der gleichen Sache. Auf der Spur des gleichen Vampirs, dem auch Ophelia ausgeliefert gewesen war.
Die Hand des Rekruten schnellte zu den Fächern mit den Fallaufnahmeformularen - zu schnell für seinen momentanen Zustand. Er biss die Zähne zusammen, ignorierte das schmerzhafte Ziehen von der Schulter bis in die Fingerspitzen, zog eines der Papieren zu sich heran und drehte es um. Hierfür war es einfach nicht ausreichend, nur vorgegebene Felder auszufüllen.
"Was ist vorgefallen?"
Die Hexe stemmte die Hände in die Seiten.
"Magane ist seit gestern Abend nicht mehr gesehen worden, das ist vorgefallen. Alles, was sie hinterlassen hat, ist dieser Zettel vor Ihrer Nase."
Wilhelm beugte sich vor und las: Unterziegenstrasse Hausnummer 8, Hexeneinsatz, alte Frau liegt im Sterben
"Es kann ausgeschlossen werden, dass dies einfach, nun ja, länger gedauert hat? Oder sie danach noch etwas anderes erledigen wollte?"
Die Frau schnaubte.
"So lange stirbt es sich nicht und wenn doch, dann hätte sie uns verständigt. Einfach wegzubleiben, das passt nicht zu ihr. Erst recht nicht wegen der Kinder."
Sie klang vollkommen überzeugt. Trotzdem, es konnte nicht schaden, auf Nummer sicher zu gehen und eine weitere Option zu überprüfen. Wilhelm lehnte sich leicht in Goldies Richtung und murmelte:
"Schau doch einmal kurz in Maganes Büro und dann in der Pathologie nach, nur für den Fall." Selbst bei geschlossenen Türen würde sie die Kollegin ganz bestimmt erschnüffeln können.
Die Werhündin bellte bestätigend und wedelte mit dem Schwanz. Dann drängelte sie sich eifrig an Wilhelm vorbei und wetzte die Treppe hinauf. Der Rekrut betrachtete einen Moment indigniert die goldgelben Haare auf seiner Hose. Ein weiteres Opfer auf der langen Liste derer, welche er für diesen Fall brachte. Aber das musste jetzt zurückstehen. Er wandte sich wieder der wartenden Familie zu.
"War jemand bei der angegebenen Adresse?"
Der alte Mann stützte sich schwer auf den Tresen.
"Nein, das wäre wohl höchst unklug gewesen - Zivilisten an einem potenziellen Tatort. Unsere Kleine erzählt zwar nicht viel von ihrer Arbeit, aber so viel ist uns klar..."
"Und die Kinder", unterbrach ihn seine Frau unwirsch, "solange wir nicht wissen, was hier vor sich geht, werden wir Tom und Elisa bestimmt nicht aus den Augen lassen."
"Mama..." Ein klägliches Wimmern drang aus Richtung des Mädchens. Tränen rannen über das von Müdigkeit und Angst gezeichnete Gesicht und sie reagierte in keiner Weise auf die Versuche ihres Bruders, sie abzulenken. Aber schließlich gab es hier ja auch nicht viel, was für ein Kleinkind derart interessant hätte sein können, dass es die Furcht vertrieb.
"Ach Elisa, die Mama kommt doch wieder, keine Sorge mein Schatz." Die Miene der Hexe wandelte sich schlagartig von streng zu mitfühlend und sie kramte ein Taschentuch aus den Tiefen ihrer Gewänder. Sie wischte dem Mädchen über Nase und Wangen, bevor sie dem Bruder das Tuch in die Hand drückte. Dabei löste sich etwas silbern-glitzerndes und fiel ihr auf die Brust - ein Anhänger, der sich bisher wohl im Kragen verfangen Wilhelms Aufmerksamkeit entzogen hatte. Es war nicht genau zu erkennen was er darstellte, doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund überlief den Vampir bei seinem Anblick ein Frösteln. Und gleichzeitig war da eine Art hypnotische Kraft, die es ihm nicht möglich machte, den Blick abzuwenden... In diesem Moment wandte sich die Wechter-Hexe wieder zu ihm um - und Wilhelm prallte zurück. Und starrte. Das war nicht nur irgendein Schmuckstück. Das war eine Om-Schildkröte! Sowas hatte ihm gerade noch gefehlt! Ein flaues Gefühl machte sich in seiner Magengrube breit und begann, sich von da aus schleichend im ganzen Körper zu verbreiten. Nicht gut, gar nicht gut!
"Langweilen wir Sie, junger Mann?"
Der schneidende Tonfall ließ Wilhelm aufblicken - direkt in die veilchenblauen Augen der Alten. Welche es unglücklicherweise auch noch für notwendig erachtete, sich nach vorn zu beugen, sodass der Anhänger nun nur noch eine Nasenlänge entfernt von Wilhelms Gesicht hin- und herpendelte. In seinem momentanen Zustand hatte er dem von dem Symbol ausgehenden unguten Einfluss noch viel weniger entgegenzusetzen, als es sonst der Fall gewesen wäre. Seine übliche Schlagfertigkeit ließ ihn im Stich. Dennoch, irgendeine Antwort würde er sich abringen müssen, schon allein, um den Unmut der Hexe nicht noch stärker auf sich zu ziehen.
"Also... äh... nein, ich..."
Fantastisch, welch rhetorische Meisterleistung!
Sie zog ungehalten die Augenbrauen zusammen.
"Ja?"
"Magitt, bitte."
"Was heißt hier bitte? Vielleicht sollten wir uns besser an einen Vorgesetzten wenden, jemanden der uns ernst nimmt."
Wilhelm biss sich auf die Zunge. Verdammt nochmal, reiß dich zusammen! Das hier ist wichtig.
"Es tut mir leid, ich wollte nicht...", er bemühte sich um einen möglichst zerknirschten Gesichtsausdruck. "Ich... habe überlegt, ob... hat vielleicht irgendjemand etwas beobachten, was uns weiterhelfen könnte? Ist an dem Abend des Verschwindens etwas Ungewöhnliches passiert?" Er wandte sich eilig den restlichen Familienmitgliedern zu und brachte somit gleichzeitig etwas Raum zwischen sich und die konkrete Bedrohung.
"Ich." Der Junge trat nach vorn. "Ich habe den Wicht gesehen, der meiner Mutter die Nachricht überbracht hat, dass seine Oma im Sterben läge." Er verlagerte den Griff um seine Schwester und war einen zögerlichen Blick auf den Tresen selbst. "Darf ich?"
"Klar", meinte Wilhelm eher nebenbei, während er versuchte, das irritierende silberne Objekt in seinem linken Augenwinkel möglichst auszublenden. Allerdings ließ sich auch die Übelkeit immer schwerer ignorieren.
Tom setzte die kleine Elisa behutsam auf der hölzernen Konstruktion ab. Sie ließ die Füße baumeln, dann wandte sie ruckartig den Kopf und sah Wilhelm aus großen traurigen Augen an.
"Bringst du mir meine Mama wieder?", brachte sie mit zitterndem Stimmchen hervor.
Wie ging man eigentlich professionell mit den Kindern von Entführungsopfern um? Wilhelm hätte nie gedacht, dass er sich einmal solch eine Frage stellen würde. Aber das konnte eigentlich nicht viel anders sein, als im Gespräch mit verstörten Menschen generell. Man musste nette Dinge sagen, beruhigende Dinge, im Notfall lügen.
"Wir werden sie ganz bestimmt finden." Die Schildkröte blinkte im schwachen Licht. "Wir haben das schon ganz oft gemacht. Manchmal dauert es zwar länger, manchmal auch sehr lange, aber irgendwann tauchen die meisten wieder auf."
Das Mädchen starrte ihn an und Wilhelm ging auf, dass das nun vermutlich nicht die beste Formulierung gewesen war, die er hätte wählen können. Wenn doch nur die alte Hexe diesen Anhänger weggesteckt hätte!
Elisa begann wieder zu weinen und er hörte Magitt Wechter bereits Luft holen, bestimmt um ihm gehörig den Kopf zu waschen. Es war wohl einer glücklichen Fügung zu verdanken, dass ausgerechnet in diesem Moment Goldie mit hängendem Kopf von ihrem Botengang zurückkehrte. Offensichtlich hatte sie die harmloseste Lösung für Maggies Abwesenheit daheim ausschließen können. Die Werhündin hielt einen Moment im Durchgang inne, dann tappte sie in den öffentlichen Bereich vor den Tresen und stupste gegen Elisas Bein.
Das Mädchen schniefte.
"Hallo Goldie", murmelte sie leise. Dann griff sie ins Fell der Gefreiten und ließ sich auf den Boden hinab. Goldie Beifuß vergrub ihre Nase in dem vollen schwarzen Haarschopf und brummte freundlich, was Elisa sogar ein mattes Kichern entlockte. Wilhelm machte sich eine gedankliche Notiz, sich bei Gelegenheit mit einem Hundekuchen oder etwas in der Art bei der Kollegin zu bedanken. Er atmete bewusst tief durch und wandte sich dann wieder Tom zu.
"Also, was genau konntest du beobachten?"
Maggies Sohn machte ein konzentriertes Gesicht.
"Es hat nach 10 Uhr abends bei uns an der Tür geklingelt", berichtete er, "Ich konnte nicht schlafen... ich hatte mich mit Mama gestritten, und..." Er kaute betreten auf seiner Unterlippe. Sein Urgroßvater legte ihm ermutigend die Hand auf die Schulter. "Auf jeden Fall bin ich aufgestanden und habe mich hinter der Wohnungstür versteckt und ins Treppenhaus geschaut. Wenn so spät jemand vorbeikommt, dann ist meistens etwas passiert." Er machte eine kurze Pause und man sah ihm regelrecht an, wie wichtig es ihm war, sich an jedes Detail zu erinnern.
Gut so, dachte Wilhelm. Dann würde er sich überflüssige Fragen sparen können und die Familie wäre umso schneller wieder verschwunden. Insbesondere Magitt Wechter.
"Vor dem Haus stand ein Junge", fuhr Tom fort, "Etwa einen Kopf kleiner als ich, dürr und mit Dreck im Gesicht. Seine Sachen waren ihm zu groß und er hatte eine hässliche graue Schiebermütze auf dem Kopf. Dunkelblonde Haare konnte ich erkennen. Er hat meiner Mutter gesagt, worum es ging, sie schrieb einen Zettel für uns, nahm Mantel und Tasche und ist ihm dann gefolgt. Aber bestimmt hat er gelogen - das war eine Falle. Ich würde ihn wieder erkennen, sollte ich ihn noch einmal sehen", fügte er noch im Brustton der Überzeugung hinzu.
"Und du bist dir auch ganz sicher?", hakte Wilhelm nach. Er wusste, dass Zeugenaussagen nach den ersten 24 Stunden oft nicht mehr ganz zuverlässig waren.
Tom hob trotzig das Kinn.
"Natürlich bin ich mir sicher!", gab er beleidigt zurück.
"Tom!"
"Was denn?"
"Schon gut, schon gut, wenn er sagt, er sei sich sicher...", meinte der Vampir, während seine Hand flink über die Seite vor ihm glitt und alles haargenau notierte. Einen familiären Zwist konnte er nun wirklich nicht auch noch gebrauchen. "Hat noch jemand etwas hinzuzufügen?"
Leider konnten Maganes Großeltern keine näheren Angaben zu dem fraglichen Abend machen - sie seien zwar zu Hause gewesen, hätten von den Ereignissen aber nichts bemerkt. Allerdings ließen sie es sich nicht nehmen, erneut darauf hinzuweisen, dass ihre Maggie nie einfach so verschwinden würde und höchste Eile in diesem Fall geboten sei. Wilhelm schrieb - den Blick auf das Papier gesenkt kam er wenigstens nicht in Versuchung, die vermaledeite Schildkröte anzustarren. Wenn er hier fertig war, würde er die Informationen so schnell wie möglich weiterleiten, am besten an die von Nachtschatten. Eine weitere Gelegenheit, sie von seiner Nützlichkeit zu überzeugen - oder zumindest weiter daran zu arbeiten. Vielleicht war sie ja sogar noch im Haus? Die Vampirin ging immer spät. Es wäre nun ein Leichtes gewesen, die geistigen Fühler auszustrecken und bis in die zweite Etage zu horchen. Aber das wagte Wilhelm nicht - nicht nachdem, was in den letzten zwei Tagen vorgefallen war. Er blieb zunächst lieber in seinem eigenen Kopf, sicher und unantastbar. Schließlich konnte man auch mal seine Füße benutzen und selbst nachschauen gehen. Zwei Etagen weiter oben... Treppenstufen... Vielleicht vollkommen vergebens... Er knirschte mit den Zähnen. Aber sollte die Kollegin doch nicht vor Ort sein, dann würde er sie zumindest am nächsten Morgen hier erwarten.

18.04.2017 10: 26

Magane

Sie erwachte und war schlagartig wütend. Das 'Wo bin ich?' war unbedeutend, weil sie nahezu sicher war, an welchem Ort sie sich befand. An das 'Was ist passiert?' erinnerte sie sich glasklar bis zu dem Moment, als sie das Bewusstsein verlor. Und für das 'Warum?' brauchte man nun wirklich nicht viel Phantasie. Also hatte sie all diese Fragen übersprungen und war gleich wütend geworden. Wütend auf die Kerle die sie angegriffen hatten, den Blutsauger der offenbar das Hirn der ganzen Sache gewesen war, ihre eigene Unvorsichtigkeit und überhaupt auf alles. Was hatte sie auch in diese blöde Falle tappen müssen, als hätte sie in all den Jahren in der Stadt überhaupt nichts gelernt? Bei dem Jungen hätte sie nun wirklich Verdacht schöpfen müssen! Der Junge, er war tot, da war sie sich sicher. Er hatte sich total willenlos dem Vampir hingegeben - vielleicht würde er die Kollegen auf die richtige Fährte bringen?
Sie machte eine Bestandsaufnahme. Sie lag auf einem Bett, ziemlich an der Kante, die Hände und Füße gefesselt, der Kopf dröhnte, ihr Körper war, so wie es sich anfühlte, übersät mit Blutergüssen. Aber keine ernsthafteren Verletzungen. Im Großen und Ganzen war sie schon in schlimmeren Lagen gewesen. Der Raum, in dem sie sich befand, war anscheinend unterirdisch gelegen. Zumindest hatte er keine Fenster und man hörte auch nichts von der Straße. Das Bett, auf dem sie lag, war nicht grade neu aber auch nicht übel. Außerdem gab es einen Tisch, zwei bequem aussehende, stabil wirkende Stühle, eine kleine Truhe und einen Kamin. Die große Öllampe an der Decke war nicht erleuchtet aber die beiden Wandlampen tauchten den Raum in warmes Licht. Früher einmal musste dieser Raum beinahe prächtig gewirkt haben. Die rissige hellblaue Seidentapete zeugte von besseren Tagen und den Boden bedeckte, soweit sie es erkennen konnte, ein alter aber kostbarer Teppich, der, so fadenscheinig er an manchen Stellen sein mochte, an den weniger begangenen Stellen noch immer leuchtende Muster zeigte. Hier konnte es wahrscheinlich recht gemütlich sein. Wenn man nicht gerade gefesselt und wütend war.
Magane zerrte an den Fesseln und die gaben kein bisschen nach. Ihre Entführer waren auch nicht so doof gewesen sie mit den Händen vor dem Bauch zu fesseln, so dass sie den Knoten mit dem Mund hätte lösen können. Sie musste schon warten, bis einer der Entführer sich wieder mit ihr beschäftigte.
Eine unmögliche Situation, darauf zu warten, dass einer dieser groben Kerle - oder möglicherweise der Blutsauger - kamen, während sie sich nicht wehren konnte! Naja, zur Not konnte sie ja immer noch treten. So unbefriedigend ihre eigene Lage auch war, sie war wenigstens nicht wirklich aussichtslos. Ihrer Einschätzung nach wurde sie lebendig gebraucht, sonst hätten die Männer mehr Gewalt angewandt gehabt. Was ihr allerdings wirklich Sorgen bereitete, war, welche Auswirkungen ihr Verschwinden auf ihre Kinder haben mochte. Tom war in einer schwierigen Phase, in der er umso mehr unter der Vaterlosigkeit litt. Wie sollte er jetzt auch noch ohne seine Mutter klarkommen? Und Elisa war noch so klein, so hilflos...
Magane fühlte sich an ihre eigene schreckliche Kindheit nach dem Tod ihrer Eltern erinnert und konnte nur inständig hoffen, dass ihren Beiden so etwas erspart blieb, sollte sie tatsächlich nicht zurückkehren.
Aber die Kollegen würden sie finden. Sie würden eins und eins zusammenzählen, aus den beiden vermissten Kolleginnen einen Fall machen, FROG offiziell einschalten und sie hier raus holen. Bis dahin musste sie nur durchhalten. Die Kinder, sagte sie sich, waren bei ihren Großeltern und bei Laurentia in guten Händen.

Die Hexe musste inzwischen wach sein und auch die zweite Dosis des Betäubungsmittels ausgeschlafen haben. Vielleicht war es an der Zeit, ein kleines Gespräch mit ihr zu führen? Er schloss die Tür auf und trat ein.
Bei seinem letzten Besuch war er sicher gewesen, dass sie noch nicht wach war. Trotzdem hatte er die Fesseln für sie beibehalten. Sie sollte sich keine Hoffnungen machen, sie könne ihre Freiheit wiedergewinnen, indem sie einen Stuhl zerschlug und den ersten, der die Tür öffnete, mit einem Stuhlbein attackierte. Außerdem wäre das jammerschade um die Möbel gewesen, die so perfekt auf diesen Raum abgestimmt waren. Die Hexe lag still und rührte sich nicht. Sie hatte sich auch nicht bewegt, seit er vor ein paar Stunden nach ihr gesehen hatte. Sie war doch nicht etwa immer noch betäubt?
Er schloss die Tür ab und wartete kurz auf eine Reaktion ihrerseits. Als nichts kam, beschloss er nachzusehen. Er konzentrierte sich auf die Grenze zwischen seinem Geist und dem ihren - und prallte ab! Einen kurzen Moment sah er eine glatte weiße Oberfläche, wie von poliertem Mamor. Aber dann war auch dieses Bild verschwunden.
"Da wo ich herkomme, läd man ein Mädchen zum Essen ein, bevor man ihre Festung erstürmt."
Dieses Biest hatte doch tatsächlich die mentale Stärke, sich gegen sein Eindringen zu behaupten? Wie konnte das sein? War es ein Zufall, dass er so schnell nach Ophelia jetzt schon auf das zweite schwache Menschlein traf, in dem er nicht lesen konnte, wie in einem Buch? Konnte es sein, dass seine Kräfte nachließen? Oder war die mentale Stärke der Hexe eine ganz andere Besonderheit und nicht mit der merkwürdigen Reaktion auf Ophelia vergleichbar?
Er beschloss, vorerst so zu tun, als sei nichts geschehen. Er schenkte ihr ein Raubtierlächeln, das die volle Länge seiner Reißzähne demonstrierte. "Zum Essen kommen wir später." Er ging ein paar Schritte auf das Bett zu, "bist du heute etwas friedlicher gestimmt?"
"Ich habe mich nur gewehrt."
"Ja und das wirklich ansehnlich. Aber jetzt und hier ist nicht die Zeit zum Kämpfen. Ich würde dir gerne die Fesseln abnehmen und möchte dir raten, dich nicht zu wehren."

Die Drohung stand im Raum und sie wusste, dass es sich nicht um leere Worte handelte. Zwar war dieser Blutsauger passiv gewesen und hatte seine Handlanger kämpfen lassen aber deswegen war er trotzdem nicht zu unterschätzen. Magane wusste sehr genau, ohne Waffen und mit schmerzenden Gliedern hatte sie keinerlei Chance gegen einen Vampir. Und dieser sah auch nicht so aus, als habe er irgendein Interesse daran, dass es ihr gut ginge.
Sie streckte ihm die gefesselten Füße entgegen und sagte: "Ich werde mich nicht wehren."
Er durchschnitt ihre Fußfesseln mit einem Messer, das vorher nicht zu sehen gewesen war. Und welches auch sofort wieder verschwand, ohne dass man erkennen konnte wohin. Danach ergriff er ihre Schultern und setzte sie ohne erkennbare Mühe auf, um auch die Handfesseln zu durchtrennen.
"Danke aber ich bewege mich lieber selbst!" Der bissige Kommentar war raus, bevor sie drüber nachgedacht hatte. Andererseits hatte sie auch nicht versprochen, nichts zu sagen.
"Gut, weißt du, warum du hier bist?"
"Da ich noch lebe und anscheinend auch niemand an meinem Hals war, soll ich wohl etwas für euch tun. Und dieses Etwas kann eigentlich nur etwas sein, was ihr nicht selber hinbekommen habt. Also vermutlich eine meiner Teemischungen. Trotzdem spricht es für sich, dass ihr zu denken glaubt, dass ich keineswegs freiwillig kooperieren könnte."
"Freiwillig...", der Gedanke war ihm tatsächlich nicht gekommen.
"Ja, ich habe bisher noch nie jemanden abgewiesen, der mich um Hilfe gebeten hat. Und wenn man mich einfach gefragt hätte, wäre ich gerne zu helfen bereit gewesen... es war übrigens auch nicht nötig mich zu bestehlen."
"Aber...", weiter kam er nicht, denn was auch immer er hatte entgegnen wollen, Mag ließ ihn nicht.
"Du hast dir sicher gedacht: Ophelia ist ihre Freundin, wir haben sie entführt, halten sie gefangen und quälen sie, also wird sie uns als ihre Feinde betrachten und nicht zur Kooperation bereit sein. Nun, das stimmt. Ich betrachte dich und deinen Herrn als meine Feinde. Aber wenn ich kooperiere, dann helfe ich nicht euch, sondern ihr. Was auch immer ihr in den vergangenen Monaten gemacht habt um sie abzuschirmen, es hat nicht funktioniert. Zumindest nicht gut genug. Und es hat ihr geschadet, auch wenn ich nicht einschätzen kann, in welchem Maße. Mein Tee funktioniert und er schadet ihr nicht."

Das war zu einfach, Zusammenarbeit ohne Gegenwehr. So machte das keinen Spaß. Er hatte wirklich gehofft, etwas überzeugender werden zu müssen. Er wollte seine Macht ausspielen, den Widerstand in den Augen des Opfers brechen sehen, wenn sie erkannte, dass sie keine Wahl hatte. Wenigstens ein bisschen Spaß hatte er sich von dem Kampf mit der Hexe erhofft gehabt. Und jetzt kooperierte sie einfach freiwillig? Welch eine Enttäuschung!
Sie stand auf und inspizierte die Vorräte, die für sie bereit standen. Ihre Bewegungen waren geschmeidig und ließen weder Schmerzen, die aus dem Kampf resultierten, noch die Steifheit nach der langen Zeit in Fesseln, vermuten. Er konnte nicht umhin dies zu bewundern. Vielleicht war sie doch eine lohnende Beute, auch wenn sie sich nicht wehrte? Oder sie brauchte nur einen Grund sich zu wehren? Darüber lohnte es sich jedenfalls nachzudenken.
Er ließ die Hexe vorerst allein.

Magane hatte mit Mischung 42 lange genug herumexperimentiert, um das Rezept perfekt im Kopf zu haben. Als sie nun die Vorräte durchging, die sie ihr zur Verfügung gestellt hatten, musste sie anerkennend bemerken, dass ihre Entführer ihre Hausaufgaben gemacht hatten. Die stofflichen Zutaten waren, bis auf wenige Ausnahmen, vorhanden. Sie griff nach einem ebenfalls bereitliegenden Stift und Block und begann einen Einkaufszettel, auf dem sie zuerst die vier Zutaten notierte, die zur ursprünglichen Zusammensetzung noch fehlten. Sie musste auf jeden Fall mit dem unveränderten Rezept beginnen und Ophelia zunächst effektiv abschirmen, damit diese ihre eigenen Kräfte für eine Genesung einsetzen konnte. In diesem Zustand sprach sie sowieso mit niemandem, da konnte die Nebenwirkung vorerst warten. Außerdem konnte Magane nicht wissen, wie ihre geschwächte Freundin auf die angepasste Mischung reagieren würde. Ob sie nicht vielleicht irgendetwas Dummes tat, wenn ihr klar werden würde, dass sie nicht mehr die einzige Gefangene war. Sie musste die Opferbereitschaft der Anderen auf alle Fälle bedenken. Und dann war da noch die Gefahr anderer Nebenwirkungen, schließlich hatte sie 42a bisher nur an dem Frosch getestet. Der zwar nun wieder munter quackte aber nicht über besondere geistige Fähigkeiten verfügte. Damit war er für seine Spezies genau richtig. Doch wie ein menschlicher Geist, noch dazu ein so beschädigter wie Ophelias, auf die veränderte Rezeptur reagieren mochte, ließ sich unmöglich abschätzen. Trotzdem schrieb sie die Zutaten, die sie für die geänderte Teemischung brauchte, mit auf den Einkaufszettel und ergänzte ihn dann noch um ein paar getrocknete Früchte und andere Dinge, die man immer brauchte beim Teemischen, selbst wenn sie nicht in diese spezielle Mischung gehörten. Sie ahnte, dass die Zeit für Ophelia drängte, deswegen begann sie, obwohl noch Kleinigkeiten fehlten, bereits mit dem Zusammenstellen der Mischung. Sie würde wahrscheinlich, bis zu einem gewissen Grad, auch ohne die fehlenden Bestandteile funktionieren, die sie dann später hinzufügen wollte. Das Langwierigste an der ganzen Sache war sowieso das Abwiegen der Zutaten. Wenigstens hatte sie dafür fürs Erste ihre Ruhe. Sie konnte es absolut nicht leiden, wenn ihr jemand bei der Arbeit zusah. Das war einer der wenigen Vorteile ihrer aktuellen Spezialisierung. Dass ihr dabei niemand gerne zusah.
Sie dachte kurz an die Leichen im Keller, die noch auf ihre Aufmerksamkeit gewartet hätten. Sollte sich doch jemand von den Anderen drum kümmern. Richtigen Urlaub, den hätte sich brauchen können! Mal raus aus der Stadt, den Kopf frei bekommen und entspannen. Herausfinden, was wirklich Toms Problem war. Und was sie dagegen tun konnte. Aber das hier, das kam mehr als einfach nur ungelegen. Hier festzusitzen war nun wirklich das Letzte. Das passte so gar nicht in ihren Plan. So wie es aussah, bestand auch kaum Hoffnung, dass sie zum Monatsende wieder frei wäre. Sie würde zu Toms Geburtstag nicht zurück sein.
Ihr stiegen Tränen in die Augen.
Die Geburtstage hatte sie doch immer mit ihm verbracht, nichts hatte sie in den letzten Jahren davon abhalten können... nichts und niemand... und jetzt war sie durch ihre eigene Dummheit in diese Falle getappt.
Die anfängliche Wut kehrte zurück und verdrängte zumindest kurzfristig die Selbstzweifel.
Sie würden dafür bezahlen! Jemand würde dafür bezahlen und der Preis war klar davon abhängig, wie lange sie hier festsaß. Und aus dieser Gefangenschaft würde sie trotz allem das Beste machen. Wenn sie schon die Zeit hatte, um an ihren Rezepten zu arbeiten, ohne dass lästige Leichen sie immer wieder störten, dann sollten diese wenigstens perfekt werden. Davon abgesehen war ihre Hauptaufgabe hier, unbeschadet wieder herauszukommen. Nicht nur lebendig, sondern unbeschadet! Und das würde nicht so einfach werden. Offensichtliche Auswege gab es keine. Der einzige Weg aus diesem Raum führte durch die Tür und die war immer verschlossen. Also bestand nur dann eine Chance, wenn jemand mit Schlüssel bei ihr war. Nur, dass die Personen mit Schlüssel, aller Wahrscheinlichkeit nach deutlich stärker waren, als sie. Allen voran dieser dreiste junge Vampir, der nicht nur stärker, sondern auch schneller als sie war. Darüber hinaus konnte sie in diesem Haushalt vermutlich mit wenigstens einem Igor rechnen und ihre bisherigen Erfahrungen hatten gezeigt, dass sie einem Igor nicht das Wasser reichen konnte. Der hätte sie im Zweifel schnell auseinandergenommen. Außerdem war da noch der mysteriöse große Alte, dessen Fähigkeiten Mag nicht nur nicht einschätzen konnte, sondern ihnen auch überhaupt nichts entgegenzusetzen hatte. Und selbst wenn sie das unwahrscheinliche Glück hatte, hier herauszukommen, hieß das ja noch lange nicht, dass sie frei war! Sie wusste nichts über das Gebäude, in dem sie gefangen war. Magane konnte nur vermuten, dass es sich um das Internat handelte. Oder vielmehr um einen Kellerraum des Internats. Über die Mädchenschule wusste sie auch nur das, was sie in ihrer dreistündigen Späherschicht, bei der sie mit allergrößter Wahrscheinlichkeit alles Wichtige übersehen hatte, herausgefunden hatte. Das Bisschen, was sie damals in ihrer Ausbildung zum Triffinsziel über das Ausspähen von Gebäuden gelernt hatte, lag zum Einen sehr lange zurück und war zum Anderen bei Tag kaum durchführbar. Da hätte sie schon mehrere Nächte und die Informationen der Anderen gebraucht, um das richtig einsetzen zu können. Außerdem war ihre Ausbildung damals ein Witz gewesen, hatte es doch zu der Zeit keinen voll ausgebildeten Triffinsziel gegeben, so dass die beiden damaligen Abteilungsleiter sich ihre Ausbildung geteilt hatten. Die Eine schrie einem dauernd ins Ohr und tropfte die Uniform mit Würstchenfett voll, während der Andere einen aus gutem Grund nicht leiden konnte und auch keine Gelegenheit ausließ, um einem das zu zeigen. Dazu war dann noch die allgemeine familiäre Situation gekommen. Kurzum, als Späherin taugte sie nicht viel. Und ein vernünftiger Triffinsziel war sie nur gewesen, weil sie gut kletterte und schoss.
Ob die Anderen erfolgreicher gewesen waren?
Kanndra als Späherin mit ewig viel Erfahrung, Mina und Senray als verdeckte Ermittlerinnen, Nyria als Szenekennerin, Rach als... was auch immer er genau war, er war wie die Anderen ein ausgezeichneter Beobachter. Genaugenommen waren sie alle besser als sie, keiner von denen wäre in die Falle gelatscht. Und wahrscheinlich hatten sie auch alle brauchbare Ergebnisse. Das einzig Positive, was sie in dieser Nacht erreicht hatte, war, dass sie schon drinnen war, während die Anderen noch einen Weg hinein suchten! Damit blieb ihr eigentlich nur, hier ihre Rolle zu spielen und so gut sie konnte, Ophelia zu beschützen. Vielleicht bekam sie ja wenigstens irgendwann die Chance, darüber hinaus etwas Nützliches zu tun? Vielleicht bot ihr der Vampir ja doch irgendwelche Angriffspunkte...

19.04.2017 0: 00

Araghast Breguyar

Die Herausgabe der Anweisung, ihn bei Fällen die auf vampirische Aktivität hindeuteten sofort zu informieren, hatte sich eindeutig als gute Idee erwiesen. Gleich zwei verdächtige Fälle hatten auf ihn gewartet, als der Kommandeur am heutigen Morgen zum Dienst erschienen war.
In der Nähe des Latschenden Tors war von Paul Königs Mitarbeitern beim Leeren einer Abfallgrube die Leiche eines Straßenjungen gefunden worden. Eigentlich kein besonderes Ereignis in einer Stadt wie Ankh-Morpork abgesehen von der Tatsache, dass der Tote zwei äußerst verdächtige Löcher in der Halsschlagader aufwies und in seinen Adern ein beträchtlicher Mangel an Blut herrschte. Araghast knirschte mit den Zähnen. Vampire die sich an Kindern vergriffen waren der niedrigste Dreck der ganzen der B-Wort-saugenden Bande von der er schon in ihrer Gesamtheit milde ausgedrückt keine besonders hohe Meinung hatte.
Der zweite Fall jedoch hatte den ersten vorübergehend aus seinem Gedächtnis verdrängt. Feldwebel Magane Schneyderin, Abteilungsleiterin von SuSi, war verschwunden und von ihrer Familie als nach einem Hexeneinsatz vermisst und vermutlich entführt gemeldet worden.
Magane Schneyderin. Araghast konnte nicht behaupten, dass sie sich immer grün gewesen wären. Als die Omnianerin vor vielen Jahren zur Wache gekommen war, hatte sie ziemliche Schwierigkeiten gehabt, sich einzufügen, und war einige Male mit ihrem Ausbilder Humph MeckDwarf und später mit Intörnal Affärs und auch ihm selbst aneinander geraten. In diese Zeit fielen auch ihre unglückliche, von ihrer Familie aufgezwungene Ehe mit einem Kerl namens Schneyder und die Affäre mit ihren Mit-FROG Ktrask. Dann hatte sie FROG verlassen und in anderen Abteilungen gedient und der Kommandeur hatte sie etwas aus den Augen verloren, bis sie schließlich in ihrer Persönlichkeit und Einstellung gereift als ausgebildete Gerichtsmedizinerin und Abteilungsleiterin von SuSi wieder vor ihm gestanden hatte. Seitdem war ihr Verhältnis, wenn auch kein freundschaftliches, zumindest ein gutes kollegiales.
Und der Feldwebel war klug genug, ihrer Familie vor einem Hausbesuch grundsätzlich die fragliche Adresse zu hinterlassen. Romulus hatte sofort gehandelt und ein Tatortteam sowie den Püschologen Dagomar von Omnien zu dem Haus in der Unterziegengasse geschickt. Was der Gefreite an Verhörprotokollen mit zurück gebracht hatte war jedoch bestenfalls verwirrend. Die fragliche Wohnung sah aus, als hätte dort jemand in aller Eile versucht, die Spuren eines Kampfes zu beseitigen, doch niemand konnte sich daran erinnern, eine Frau auf die Maganes Beschreibung zutraf gesehen zu haben. Eine im Sterben liegende Großmutter hatte ebenfalls nie existiert. Stattdessen hatte der Püschologe die wildesten Geschichten zu hören bekommen. Der Nachbar war der festen Überzeugung, mehrere eindeutig zur Achatenen Yakuzza gehörende Schläger gesehen zu haben, die am fraglichen Abend vor dem Haus herumgelungert und sich anschließend an der Tür zu schaffen gemacht hatten, kurz bevor es plötzlich eine Menge Krach gab. Die Bewohner der Wohnung selbst, ein Ehepaar und sein erwachsener Sohn, behaupteten, Opfer eines unlizenzierten Einbruchs geworden zu sein. Die Nachbarin auf der anderen Seite hatte mit verschwörerischer Miene von einem aus dem Ruder gelaufenen Ehestreit berichtet Sie hätte deutlich gehört wie sich die beiden erst lautstark angekeift und dann mit Einrichtungsgegenständen nacheinander geworfen hätten.
Araghast runzelte die Stirn. Derart miteinander kollidierende Aussagen und die Tatsache, dass am fraglichen Abend tatsächlich etwas im Haus mit der Adresse Unterziegengasse 8 geschehen war - das roch geradezu nach geistiger Manipulation. Und er kannte nur eine Spezies, die dazu in der Lage war. Wahrscheinlich hatte dieser verdammte B-Wort-Sauger es auch noch lustig gefunden, all diese falschen Erinnerungen zu verteilen.
Unausweichlich fügten sich die Puzzleteile im Kopf des Kommandeurs zusammen. Magane war Teil des Ophelia-Rettungstrupps gewesen. Sie war zudem eine Hexe, die bereits früher diverse Versuche unternommen hatte, Ophelias Gedankenleck mit verschiedenen Mitteln zu verstopfen. Ihr Entführer war aller Wahrscheinlichkeit nach ein Vampir. Ein Schelm, der Böses dabei dachte...
Araghast legte die RUM-Berichte beiseite und griff nach dem Fallaufnahmeprotokoll, das der Rekrut Wilhelm Schneider von seiner Begegnung mit Maganes Familie am Wachetresen angefertigt hatte. Eins musste der Kommandeur dem Rekruten lassen - er war sehr gründlich vorgegangen, auch wenn seine Handschrift gelegentlich zitterig wirkte.
Die Aussage von Maganes Sohn Tom über den Boten, der seine Mutter weggelockt hatte, ließ Araghast inne halten und nach der Ikonographie des Toten greifen, der dem SuSi-Bericht beigelegen hatte. Die Beschreibung stimmte verdächtig überein.
Die Hände des Kommandeurs ballten sich zu Fäusten. Also hatte dieser Mistkerl nicht nur Magane entführt sondern auch noch einen wahrscheinlich zufällig angeheuerten Botenjungen als kleine Mahlzeit zwischendurch ausgetrunken und die Leiche dann einfach weggeworfen wie eine leere Flasche. Das passte zu der Charakterisierung des vampirischen Assistenten von Ophelias Entführer als skrupelloses Monster. Wie hieß er gleich noch mal? Richtig, Sebastian Irgendwas.
Araghast zog die unterste Schreibtischschublade auf und gönnte sich einen Schluck Rum für seine Nerven. Wenn sie schon den Racul den Dritten von Ankh körperlich ungeschoren davonkommen lassen mussten - dieser Sebastian war eindeutig ein Fall für einen zufälligen Kollateralschaden.
Hastig kritzelte der Kommandeur eine Notiz, sich die beiden Fallakten anzusehen, an Mina von Nachtschatten und Kanndra. Dann brüllte er nach Reggie.

20.04.2017 9: 36

Nyria Maior

Wie man es auch drehte und wendete und wenn jeder Außenstehende es als solches bezeichnen würde, der Begriff 'Gassi gehen' erschien Raistan einfach nicht richtig für das, was sie da taten. Zähneknirschend hatte Nyria nach längerer Diskussion eingesehen, dass die Leine für ein unauffälliges Auftreten notwendig war, aber dennoch war ihm nicht wohl dabei, sie auf diese Weise durch die Gegend zu führen. Gemächlichen Schrittes flanierten sie den Grüngansweg entlang und Nyria nahm sich auf dem Hinweg demonstrativ ihre Zeit, jeden Baum der halben Allee einer gründlichen Untersuchung zu unterziehen.
Das Haus, das Rogi Feinstich ihnen genannt hatte und in dessen Richtung Raistan immer wieder einen verstohlenen Blick warf, wirkte genauso gewöhnlich kleinbürgerlich wie alle anderen Häuser der Straße. Die Igorina hatte berichtet, dass dort offiziell eine reichlich betagte Dame residierte, die das Gebäude und das dort lebende Igor-Ehepaar von einer verstorbenen Freundin geerbt hatte. In Raistans Augen ergab das eine Menge Sinn. So konnten die Igors völlig offiziell ihrem Tagesgeschäft für ihren wahren Meister Racul den Dritten von Ankh nachgehen ohne dass jemand unangenehme Fragen stellte. Irgendwie mussten der Vampir oder sein Assistent die alte Dame dazu gebracht haben, in dieses Arrangement einzuwilligen. Vielleicht auch durch die gleiche Methode die auch bei Rogi angewandt worden war?
Mit einer Kopfbewegung bedeutete Nyria Raistan, dass sie an den Bäumen nichts interessantes gerochen hatte und strebte dem Gullideckel in der Mitte des Weges zu. Der junge Zauberer folgte dem Zug der Leine, während seine Gedanken wieder zurück zum Thema der geistigen Beeinflussung wanderten. Bis auf das brennende Jucken seiner Brandwunden hatte sich sein Körper wieder halbwegs von den Auswirkungen des Experiments erholt. Aber war sein Verstand wirklich so ungeschoren davon gekommen wie er glaubte? Theoretisch musste HEX verhindert haben, dass Racul irgendwie an sein Bewusstsein herangekommen war und er verspürte auch kein dringendes Bedürfnis, sich den Bemühungen des Rettungstrupps entgegenzustellen. Aber nachdem er erlebt hatte, was der alte Vampir mit Rogi Feinstich angestellt hatte, hatte sich ein nagender Zweifel in seinen Gedanken festgesetzt. Was wäre, wenn es Racul doch gelungen war, etwas in sein Bewusstsein zu pflanzen? Etwas von dem er selbst nichts wusste, was ihn aber zu einer potentiellen Gefahr für den Rettungszirkel machte? Etwas, das erwachte und ihn den Zirkel sabotieren ließ, wenn die richtige Zeit gekommen war?
Nyria gab ihm zu verstehen, dass sie mit dem Gullideckel fertig war, nichts besonderes bemerkt hatte und sich nun diverse von Hunden gern frequentierte Ecken an der Häuserzeile vornehmen wollte.
Es half alles nichts. Er musste Klarheit darüber gewinnen, dass wirklich nicht mit seinem Bewusstsein herumgespielt worden war. Auch wenn ihm die Vorstellung, einen Vampir in seinen Kopf zu lassen, nicht vollends behagte. Es gab genug Erinnerungen und Gedanken, die er mit niemandem teilen wollte. Aber was war schon das Pandämonium durch das Ophelia Ziegenberger seit ihrer Entführung ging gegen ein paar Hemmungen seinerseits? Wenn sie sie wirklich retten wollten, musste er jedes Risiko ausschließen, das er eventuell für den Rettungszirkel darstellte.
Gemächlich von Laternenpfahl zu Laternenpfahl schlendernd näherten sie sich dem Haus der alten Dame und Nyria pirschte sich mit der Nase am Boden an das Gebäude heran. Unwillkürlich wanderte Raistans Blick zur tadellos dunkelgrün gestrichenen Haustür mit ihrem perfekt polierten Messingklopfer der, wie ihm auffiel, eine besonders abweisende Wasserspeierfratze darstellte. Was würde er tun, wenn sie doch verdächtig wirkten und urplötzlich ein wütender Vampir vor ihm stand? Unter seiner Robe befand sich in einer Scheide, die um seinen linken Unterschenkel geschnallt war, ein scharf angespitzter Pflock, dessen Spitze mit dem Gott Om geweihtem und zusätzlich mit Knoblauch versetztem Wasser imprägniert war. Aber wie schnell konnte er diese Waffe tatsächlich ziehen, wenn er gleichzeitig noch seinen Zauberstab und Nyrias Leine irgendwo unterbringen musste? Raistan atmete so tief durch wie seine vernarbten Lungen es erlaubten. Am besten kam es gar nicht zu einer solchen Situation. Schließlich war er nur ein harmloser Zauberer der mit dem Wolfshund seiner Schwester spazieren ging...
Nach einer gründlichen Beschnüffelung der Türschwelle gab Nyria ein leises Knurren von sich und lief demonstrativ weiter.
Raistan verstand. Sie hatte etwas Vampirisches gewittert. Äußerlich gelassen folgte er dem Zug der Leine, während er innerlich dagegen ankämpfen musste, über seine Schulter die Haustür im Auge zu behalten. Bei angemessener Vorwarnung hatte er ein genügendes Arsenal von Zaubersprüchen im Kopf um sich gegen Angreifer zur Wehr zu setzen. Aber wenn ihm plötzlich jemand in den Rücken fiel, hatte er ein ernstes Problem. Und was war, wenn Raculs Scherge nur ein Wort sagen musste, das ihn plötzlich zu seinem willenlosen Diener machte?
Raistan biss die Zähne zusammen. Es führte kein Weg daran vorbei. Er musste mit dem Rekruten Wilhelm Schneider reden.
Während Nyria vorgab sich für eine Nische neben der Taverne zur grünen Gans zu interessieren gestand sich Raistan einen weiteren Fakt seiner derzeitigen Situation ein. Insgeheim war er schon seitdem er Zeuge der Untersuchung von Rogi Feinstichs Kopf geworden war neugierig darauf, wie eine solche Prozedur funktionierte. Welche bessere Gelegenheit zur Erforschung gab es also, als es selbst durchzumachen? Und wenn er Wilhelm freiwillig einließ war er derjenige, der die Spielregeln bestimmte. Raistan war sich vollends bewusst, dass er trotz seines magischen Könnens, das die Anforderungen eines Zauberers dritter Stufe weit überschritt, auch nur ein Mensch war. Er war gewappnet gegen alle Versuche pandämonischer und kerkerdimensionaler Kreaturen die versuchten, ihn zu manipulieren und verführen. Vampire arbeiteten jedoch auf einer gänzlich anderen Ebene. Er konnte ihnen vielleicht Widerstand leisten wenn er tatsächlich merkte, dass sie an seinem Bewusstsein herumspielen wollten, aber ihnen den Zutritt zu seinem Kopf per se zu verwehren hatte er nie gelernt. Deshalb konnte er aus der Erfahrung, Wilhelm bewusst in seinen Kopf zu lassen, angesichts der drohenden Konfrontation mit Racul auch noch etwas lernen.
Nyria erklärte mit ihrer Körpersprache einen weiteren Gullideckel für uninteressant. Raistan trat an sie heran und tat so als würde er ihr Halsband richten.
"Wenn du das nächste Mal den Rekruten Wilhelm Schneider siehst - kannst du ihm sagen, dass ich ihn sprechen will? Es ist wichtig." flüsterte er ihr ins Ohr.

21.04.2017 12: 15

Wilhelm Schneider

Es wäre sträflich gewesen, sich weiter davor zu drücken. Er musste sich der Angelegenheit stellen! Allerdings machte diese Erkenntnis es ihm noch lange nicht einfacher, die Treppen ins Untergeschoss des Wachhauses hinabzusteigen. Weder körperlich, noch seelisch.
Wilhelm Schneider stützte sich schwer ab an dem Treppengeländer, als seine Füße auf dem Steinboden des Kellers am Pseudopolisplatz auftrafen. Er schloss für einen Moment die Augen, um das Ziehen und Pochen in seinen überlasteten Muskeln auszublenden und den Schwindel in den Griff zu bekommen, mit welchem sein Körper ihn betrog. Lange würde er seinen Zustand nicht mehr verheimlichen können. Zumal dieser sich immer weiter zu verschlimmern schien.
Er dachte wieder an den seltsam anrührenden Moment, als ausgerechnet die Kollegin mit der in ihr innewohnenden, bösartigen Wesenheit – die an seiner Lage Schuld war – sich so unaufdringlich um ihn gekümmert hatte. Er war zwar nicht aufnahmefähig gewesen zu diesem Zeitpunkt. Und obendrein hatte ihm massiv die Kraft dazu gefehlt gehabt, auf irgendetwas auch nur ansatzweise zu reagieren. Aber er hatte ihre leise Stimme, ihre respektvolle Umsicht... ihren Beistand gespürt. Und dabei wusste er doch, wie viel Angst sie vor seinesgleichen hatte, wie viel Unsicherheit sogar sein eigenes rigoroses Vorgehen in ihr ausgelöst haben musste. Ihr schneller Herzschlag flatterte wie ein kleiner Vogel um ihn herum, leichte, sachte Berührungen seiner überempfindlichen Haut, inmitten der Kriegstrommeln die den Raum ansonsten füllten. Alles war zu laut gewesen, zu grell... zu schmerzhaft. Nur sie nicht! Ihr Blick, als sie seinen nur mit viel Mühe zustande gebrachten Dank sehr wohl wahrnahm, ihr Trost, gingen ihm nicht mehr aus dem Sinn. "Wir sind schließlich beide Wächter, nicht wahr?" Das alles setzte ihm noch immer zu, auf andere Art als die vorangegangenen Belastungen.
Er richtete sich auf, langsam, mühevoll, und atmete tief durch. Auch so etwas, das er für seinen Geschmack in letzter Zeit zu oft tat. Atmen.
Er verbot sich den Gedanken und ging möglichst aufrecht den Gang des Zellentraktes hinunter, vorbei an den geschlossenen Räumen links und rechts, hin zu der Tür, kurz vor dem Ende des Ganges. Raum K07, das Büro der Igorina. Er blieb vor der relativ neuen Tür stehen. Er zögerte. Er versuchte, sich zu überwinden!
Allerdings taumelten Bilder durch seinen Sinn, die es schwer machten, so schwer, sein Schicksal in ihre Hände zu legen. Selbst wenn die Alternative nicht tragbar war.
Rogi Feinstich, wie sie mit grimmiger Häme ihrer Arbeit nachging, indem sie ihm sehr schmerzhaft seinen Kiefer wieder einrenkte. Der unbarmherzige Blick ihres inneren Ichs, bevor sie ihm eine mentale Wand vor den Kopf schlug und ihn dadurch mit einer zusätzlichen Verletzung aus ihrem Bewusstsein schleuderte. Das unschuldige Lachen in ihrer kindlichen Gedankenstimme, als sie ihn entwürdigend verwahrt hatte und mit völligem Selbstverständnis dazu aufforderte, sich gefälligst selbst zu helfen. Und nicht zuletzt die eisige Routine ihrer Reaktionen auf die Notwendigkeit hin, einen Vampir beseitigen zu müssen. Ihre Gefühlskälte beim Handhaben dieser grausigen Waffe...
Er musste schwer schlucken.
Aber er hatte ihr geholfen! Sie war ihm etwas schuldig! Und davon abgesehen...
Eine erinnerte Stimme flüsterte ihm mit unnachgiebiger Härte ins Ohr: "Dein Preis, Wilhelm Schneider, besteht darin, dass du die Frau, die du als Senray Rattenfaenger kennst, beschützen wirst..."
Angst fraß sich durch seine Eingeweide und trieb ihn den entscheidenden Schritt vor, um anzuklopfen.
Die Bürotür öffnete sich und seine Ausbildungsleiterin blickte ihm entgegen.
Seine Stimme klang selbst in den eigenen Ohren mehr als zurückhaltend.
"MaÂ’ am?"
Ihr Blick wirkte wissend und distanziert, doch sie zögerte nur eine Sekunde, ehe sie einen Schritt zur Seite trat und wortlos in den hinter ihr liegenden Raum deutete.
Er folgte ihrer Aufforderung, schritt an ihr vorbei.
Hinter ihm fiel leise die Tür zu und ihre Schritte überbrückten fast augenblicklich die winzige Distanz zu ihm. Die Geräusche hatten etwas Unwiderrufliches an sich und er fühlte einen panischen Impuls: Im geschlossenen Raum mit der Gefahr!
Dann war sie an ihm vorbei und nahm mit emotionslosem Blick vor ihrem Schreibtisch Platz.
"Fetz dich, Rekrut!"
Er tat, wie ihm befohlen. Seine Nervosität nahm zu.
"Nun? Waf willst du?"
Skepsis schlug ihm entgegen und er konnte nicht anders, als ihrem Blick auszuweichen. Unsicher nahm er den Faden auf... verwarf ihn aber sogleich wieder.
"Ich... ich wollte mich erkundigen... nach unser beider Erfahrung in der Besprechung... meiner Hilfe für dich... geht es dir inzwischen besser, Ma’ am?"
Die Vorgesetzte streckte den Rücken durch und in ihrer Stimme klang eine gewisse Schärfe mit, als sie erwiderte:
"Defwegen bist du hier? Wenn ich mich recht erinnere, müffte ich die Frage wohl eher dir ftellen!"
Er konnte mehr als deutlich spüren, wie er auf diesen Vorstoß hin zusammenzuckte. Doch sie gab ihm keine Zeit, sich zu fassen, hakte sofort mit autoritätsgewohnter Stimme nach:
"Waf ist passiert?"
Die Resignation lauerte knapp außerhalb seiner Reichweite. Es war ausgeschlossen, ihr die ganze Wahrheit zu sagen! Aber gänzlich ohne Antworten würde sie sich weigern, ihm beizustehen.
"Ein... Zwischenfall..."
"Ähnlich dem mit der Prügelei mit einem Bürger?"
Beißender Sarkasmus.
Wilhelm runzelte verärgert die Stirn.
"Wenn du es so ausdrücken möchtest, Ma’ am."
Die Igorina wartete einen Moment, ob er dieser Aussage noch etwas hinzufügen wollte, dann sagte sie in leisem, sehr nachdrücklichem Tonfall:
"Ich laffe mich nicht gern zum Narren halten, Rekrut. Ich nehme an, du brauchft Hilfe. Alfo wäre ef von Vorteil, zu wiffen, was geschehen ift."
Er sah vorsichtig zu ihr auf, schließlich ließ er seine Schultern hängen und nickte langsam.
Rogi Feinstich blickte ihn gerade heraus an. "Gut."
Er begann zögerlich. "Ich... Ich war auf der Suche... nach Informationen."
Wieder einmal das Falsche, was er zu sagen gedachte, eine Erklärung, die offenbar nicht gut ankam. Die Igorina presste ihre Lippen aufeinander, als wenn sie sich damit davon abbringen müsste, etwas Vorwurfsvolles einzuwerfen. Stattdessen schwieg sie. Was ihre Augen allerdings nicht davon abhielt, verräterisch zu glimmen. Schnell redete er weiter.
"Nach Informationen, die helfen könnten, in Ophelias Fall weiterzukommen. Es ist nun mal so, dass die Wenigsten ehrlich Auskunft geben... Ma' am!"
Die Betonung ihrer Anrede konnte er nicht unterdrücken. Allerdings war es für ihn nicht ersichtlich, ob das kurze Zucken ihrer Mundwinkel davon kündete, dass sein Trotz sie amüsierte oder ob es vielmehr daher gerührt hatte, dass sie darin versagt hatte, einen abfälligen Gesichtsausdruck gänzlich von ihrer Mimik zu verbannen.
Er straffte die Schultern. So oder so, jedenfalls kam nun der Teil, der am schwierigsten werden würde, falls sie sich von ihrem Vorsatz, echte Antworten aus ihm herauszubekommen, nicht abbringen lassen wollte.
"So wie es dir nicht leicht fiel, meine Hilfe anzunehmen... so gibt es noch andere Personen im Rettungszirkel, die nicht vollständig zu dem stehen, was ihren... Beitrag zur Suche ausmacht."
"Ift das fo?" Sie runzelte besorgt ihre Stirn.
"Ja, ist es.", antwortete er ihr mit leichter Verbitterung in den Worten.
Sie beobachtete ihn.
"Verftehe... und du denkft also, es wäre befonderf schlau, sich die Information einfach zu holen?"
Was sollte er darauf schon erwidern? Schlau war es ganz offensichtlich nicht gewesen. Aber davon, mit leeren Händen dazustehen, weil er ein Risiko gescheut hätte, hielt er ebenso wenig.
Wilhelm zuckte andeutungsweise mit der Schulter.
Sie durchbohrte ihn fast mit einem ihrer unnachgiebigen Blicke.
"Wer?"
In seinem Inneren schlug die gewünschte Information wie mit Fäusten an eine Scheibe, um nach draußen zu gelangen. Nach Außen hin jedoch konterte er ihren Blick schweigend. Dachte sie wirklich, er wäre so leichtsinnig, den nächsten Eklat loszutreten, indem er eine Information preisgab, die unabsehbare Konsequenzen für jeden davon Betroffenen nach sich ziehen konnte? Sie hatte seine inneren Wunden gesehen, besser noch als er selbst! Seine Schwierigkeiten waren nichts Alltägliches. Diese Unfähigkeit zur Selbstheilung wäre selbst für die Ältesten bedrohlich gewesen, da war er sich sicher. Tatsächlich war ihm bereits kurz der Gedanke gekommen, wie es wohl sein mochte, die Kräfte der Feuerfrau gegen ihn ins Feld zu führen! Eine Idee, die sich sofort darauf von selbst verbot, natürlich. Nicht nur, weil Ophelia solch einen Versuch vermutlich ebenfalls nicht überleben würde, auch deswegen, weil Senray Rattenfänger, wenn irgend möglich, nicht auch nur in die Nähe des mächtigen Alten geraten sollte.
Und dann kam noch dazu, dass ihr dominantes Auftreten gewisse Mechanismen bediente, die auch ihm geläufig waren und er sich aus Prinzip in seinem Stolz gekränkt sah bei dem Gedanken, diesen Wirkweisen offenen Auges nachzugeben. Dachte sie, er würde ihr Auftreten nicht lesen können? Er war immerhin selbstständig! Auch ihm waren die kleinen Taktiken und Strategien geläufig, mit denen man Meinungen schweigend beeinflussen und lenken konnte! Wie oft hatten ihm ein fast unmerkliches Zögern, ein verhaltenes Räuspern oder eben ein ungerührter Blick in schwierigen Situationen mit Kunden weitergeholfen! Zumal seine Schneiderwerkstatt nicht unbedingt nur von den leicht nachvollziehbaren monetären Strömen getragen wurde, die durch seine Hände und die Kasse flossen. Zu seiner bevorzugten Währung hatten schon immer Informationen und kleine Gefallen gezählt. Und um diese einzufordern, war mehr als ein rein verbales Verhandeln nötig.
Die Igorina trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte und noch immer sah sie ihn berechnend an, fordernd.
Ein Gedanke drängelte sich vor, beanspruchte plötzlich mehr seiner Aufmerksamkeit: Nicht sie war diejenige, der die Zeit davon lief!
Ein eisiges Frösteln kroch sein Rückrat hoch und er gab nach.
"Es... es war meine eigene Schuld, Ma' am. Ich möchte niemanden ungebührlich ins Rampenlicht rücken. Ich habe auf meine Art gesucht... und statt einer zielführenden Antwort eine effektive Verteidigung gefunden, mit der ich nicht gerechnet hatte. Das ist alles."
Rogi Feinstich lehnte sich an die Stuhllehne zurück und verschränkte ihre Arme. Sie wusste um ihre stärkere Position, natürlich. Aber würde sie bis zum Äußersten gehen, diese durchzusetzen? Oder blieb ihm eine letzte Chance dazu, einen Mittelweg aufzuzeigen?
"Ma’ am, ich möchte das keinem Kollegen zur Last legen. Ich suche nur nach Hilfe. Falls diese überhaupt möglich sein sollte. Und... ich dachte halt... da du mich ohnehin bereits so gesehen hast..."
Er sah sie unsicher an und lächelte matt. Vielleicht, wenn er wirklich offen seine Unterlegenheit eingestand? Wenn er ihr die Führung überließ, ihr quasi die Kehle darbot?
Ihr kritischer Blick lastete lange auf ihm, ebenso wie ihr Schweigen. Dann seufzte sie.
"Nun gut... waf ist daf Problem?"
Erleichterung perlte in ihm empor. Der erste Schritt war getan! Wenigstens anhören würde sie ihn.
"Abgesehen von... allem?"
Sie zog die Brauen hoch.
"Allem?"
Wilhelm hob hilflos die Hände und versuchte, ihr seine aktuelle gesundheitliche Situation zu schildern, sich dabei gewahr, dass er diese nicht einmal selber verstand.
"Ich habe das Empfinden, als wenn ich innerlich verbrannt wäre. Alles schmerzt. Es heilt nicht. Und ich kann... ich kann nicht einmal trinken, um den Heilprozess zu unterstützen."
Ein Eingeständnis, welches ihm mehr als nur peinlich war - was sie aber nicht weiter beindruckte. Dafür schien stattdessen die zugrunde liegende Aussage zu interessant zu sein. So etwas wie professionelle Neugier leuchtete in ihren Augen auf und ihre Stimme klang fordernder.
"Ef heilt nicht?"
Er schüttelte den Kopf.
"Und jedes Mal, wenn ich zu trinken versuche, ist es, als wenn ich Feuer zu mir nähme. Ich habe es inzwischen mehrmals versucht und bin... bin erst danach wieder unter Schmerzen zu mir gekommen."
"Wie lange ist daf schon fo?"
Er sah auf seine Hände. Die Information wäre für sie nicht gänzlich überraschend, schließlich hatte er bereits zugegeben, dass in dem zugrunde liegenden Vorfall auch ein Mitglied des Kollegiums verwickelt sein musste. Dennoch...
"Seit... der ersten Besprechung des Rettungszirkels."
"Waf ist mit anderen... Flüssigkeiten? Wasser, Kakao... Kaffee?"
Er schluckte trocken bei den aufsteigenden Erinnerungen, die diese Frage auslöste.
"Sie haben alle einen ähnlichen Effekt. Aber Blut... ist das Pandämonium! Und... ich bin nun mal kein Schwarzbandler. Ich bin am Ende meiner Kräfte, Ma' am!" Er spürte, wie die tief in ihm festsitzende Unruhe sich zu regen begann und sah sie nun doch mit einem ehrlichen Flehen im Blick an. Zu den Kerkerdimensionen mit seinem Stolz! Der würde ihn auch nicht retten, wenn er den Punkt erreichen würde, an dem sein Körper der steigenden Belastung endgültig nicht mehr gewachsen wäre! Er wollte nicht unter schrecklichsten Schmerzen in irgendeiner Ecke verenden, komatös von innen heraus zu Asche zerfallen oder was auch immer dann passieren mochte, wenn ihr Fluch ihn endgültig einholte!
"Ma’ am! Ich weiß mir nicht mehr zu helfen. Ich muss doch einsatzbereit sein für diese Suche! Und seitdem ich dir geholfen habe, ist es noch schlimmer! Ich fühle mich so schwach, dass selbst die Wachhaustreppen zu viel sind! Ich weiß nicht, wie lange ich das noch schaffe..."
Er hielt inne, sucht nach weiteren Worten. Doch die wollten nicht zu ihm finden. Es gab einfach nichts Weiteres zu sagen, was sie hätte überzeugen können! Er war so ehrlich zu ihr gewesen, wie es ihm möglich war.
Die Vorgesetzte ihm gegenüber senkte ihren Blick und dachte angestrengt nach. Ihre Stimme klang zögerlich.
"Ich bin nicht ficher ob ich dir helfen kann... waf ich gefehen habe... daf waren flimmfte Verbrennungen dritten Grades. Ich kann wohl kaum in deinen Kopf und dort eine Brandfalbe zubereiten."
Der Vampir versuchte, diese Aussage möglichst gefasst aufzunehmen.
Das war es dann wohl!
Er nickte langsam.
Rogi Feinstich stützte die Ellenbogen auf ihren Knien ab und legte die Stirn gegen ihre Fäuste. Er war sich nicht sicher, ob sie noch immer über eine mögliche Lösung nachdachte oder ob sie damit lediglich der Gefahr aus dem Wege ging, seinem hoffnungslosen Verstehen entgegenblicken zu müssen.
"Nun... wenn du auch keine Lösung weißt, dann... muss ich warten. Und hoffen. Darauf, dass die Schmerzen von selber weniger werden und dass ich es wenigstens bis dahin schaffe, die Schwäche irgendwie anders auszugleichen."
Er strich sich entmutigt mit den Händen über die Hose.
Dann aber sah sie langsam wieder auf und blickte ihn eindringlich an. Ihre Aufmerksamkeit schien ihn zu prüfen, die Gedanken hinter ihren Augen waren zum Greifen nahe, huschten dicht vor ihm durch ihren Geist. Und obgleich er sich schon aus reinem Selbsterhaltungstrieb verbot, auch nur ansatzweise danach zu greifen, wusste er, dass sie ein Für und Wider erwog. Sie überlegte, irgendeine Art von Risiko einzugehen, irgendeinen Einsatz zu erhöhen, war sich jedoch nicht sicher, ob er es wert wäre. Dann:
"Ef gibt eine Sache... ich könnte ef herstellen. Doch ich kann nicht garantieren, daf es dir hilft."
Er merkte auf.
"Eine Sache?"
Die Igorina verzog ihr Gesicht zu einem schiefen Grinsen.
"Du haft deine Geheimnife, ich habe meine, Rekrut."
Er blickte sie erschrocken an und winkte mit beiden Händen ab. Er würde um keinen Preis der Welt riskieren wollen, dass sie dem Irrtum verfiele, er könne es nochmals auf ihre geistigen Gefilde abgesehen haben, wofür auch immer.
Sie wirkte fast ein wenig verloren, als sie ergänzte:
"Ein altef Familienrezept."
Wilhelm war überrascht.
"Gegen innere Verbrennungen? Sehr... ungewöhnlich."
Der Gedanke an eine Familie, in der sie groß geworden sein musste, irritierte ihn sowieso aus irgendeinem Grund, doch wenn er sich die Umstände vorzustellen versuchte, die ausgerechnet ein solches Familiengeheimnis begründet haben mochten... aber er kannte sich mit der Igorsippschaft ohnehin nicht aus. Es hatte seiner Meinung nach viele Vorteile, als moderner Großstadt-Vampir aufgewachsen zu sein, der nicht dazu gezwungen war, sich mit dem Ballast der Traditionen herumzuschlagen. Der Nachteil bestand jedoch eindeutig darin, sich eben auch nicht mit einem geradezu unüberschaubar weiten Themenkomplex auszukennen.
Sie unterbrach diesen Gedanken, indem sie eine Entscheidung traf. Und zwar eine, zu seinen Gunsten!
"Wir werden fehen! Komm morgen wieder und wir werden herauffinden, ob ef hilft!"
Er beeilte sich, zu nicken. Was blieb ihm auch anderes übrig?
Die Vorgesetzte sah ihn an.
"Fonft noch etwas?"
Er schüttelte den Kopf und erhob sich vom Stuhl. Ein Vorgang, der seine Lage deutlich unterstrich. Die Anstrengung, die es ihn kostete, war nicht zu übersehen. Und es kostete Konzentration, sich gerade zu halten. Er lächelte sie – wie er hoffte – nonchalant an.
"Nein, keine weiteren Fragen, Ma' am. Danke!"
Sie stand ebenfalls auf, deutlich energischer, und sie winkte auf seinen Dank hin ab.
"Noch ift dir nicht geholfen... und nach deinem Einschreiten bin ich dir wohl einfach noch was schuldig."

22.04.2017 0: 00

Kanndra

Langsam schlug Kanndra die Akte zu und schluckte. Wie viel man auch immer schon gesehen hatte in diesem Beruf, die Kinder waren immer die Schlimmsten. Sie legten sich als Schatten auf die Seele und gingen einem lange nach. Und in diesem Fall kam noch hinzu, dass sie zu dem gleichen Schluss gelangte wie ihr Kommandeur. Sie konnte die Falle erkennen, die Magane gestellt worden war. Sie hatten sie bei ihrer Hilfsbereitschaft und ihrem Pflichtbewusstsein gepackt. Das hätte ihr genauso passieren können. Die Späherin fröstelte bei dieser Erkenntnis.
Höchstwahrscheinlich befanden sich nun also zwei Kolleginnen in den Händen der Vampire.
Es hielt sie nicht auf ihrem Stuhl bei diesem Gedanken. Unruhig begann sie in ihrem Büro auf und ab zu laufen. Ja, Rogi hatte ihnen klar gemacht, dass ein sofortiges Eingreifen nicht viel Sinn machte bei Ophelias Zustand. Doch das hier veränderte die Situation! Es war zum Haareraufen. Alles in ihr wollte das Vampirnest stürmen, doch nicht nur der körperliche Zustand der Ermittlerin sprach dagegen, auch der Rettungstrupp war noch nicht bereit. Ohne es zu wissen, stellte die Späherin die gleichen Überlegungen an wie Araghast am Morgen. Die Vampire mussten selbst wissen, in wie weit sie es mit einem überlegenen Alten ihrer eigenen Spezies aufnehmen konnten und wollten – in allgemeiner körperlicher Hinsicht machte sie sich allerdings keine Sorgen. Dasselbe galt für Rogi und vermutlich auch Nyria. Rachs Bewegungen ließen darauf schließen, dass er kein reiner Schreibtischhengst war – doch Senray und Raistan blieben vermutlich besser aus der Schußlinie, wenn es um Handgreiflichkeiten ging. Was alle jedoch gebrauchen konnten, war eine Auffrischung in Taktik, in Späherfähigkeiten, in... ach, allem Möglichen. Kurz fuhr ihr wieder ein Schauer über den Rücken, wenn sie daran dachte, dass sie so schwer einschätzen konnte, was sie eigentlich erwartete. Es war wie ein dunkler Tunnel, in den sie laufen sollten, gespickt mit unbekannten Fallen. Was durchaus der Realität entsprechen konnte, wie ihr bewusst wurde.
Verdammt, sie konnten einfach nicht nur untätig herum sitzen und reden... sie mussten die Zeit, die sie neben ihren sonstigen Pflichten erübrigen konnten, sinnvoll nutzen! Und zwar, solange sie noch genug Leute hatten, um die Entführten zu befreien... Sie musste mit Bregs reden, und zwar bald!

22.04.2017 12: 36

Senray Rattenfaenger

Glum sah auf die Eilnachricht in seinen Händen. Wie immer war es an ihm, Senray die schlechten Nachrichten zu übermitteln. Und was für eine Nachricht es diesmal war!
Es klopfte zögerlich an seiner Tür. Es gab keinen Zweifel daran, wer davor stand.
"Komm rein, Senray!"
Er beobachtete, wie sich die Tür gerade weit genug öffnete, damit Senray hereinschlüpfen konnte, um sie – noch aus derselben Bewegung heraus – wieder zu schließen. Und wie die Frau sich unsicher davor stellte um des Kommenden zu harren.
"Du wolltest mich sprechen, Sör?" Ihr Blick suchte seinen und er musste wieder daran denken, wie unsäglich jung die Obergefreite war.
"Ja. Senray, ich habe eine Nachricht vom Hauptwachhaus bekommen." Er sah, wie sich ihre Augen weiteten und sie sich versteifte. Was hatte sie dieses Mal angestellt? Jedes Mal wenn sie ins Hauptwachhaus ging, ging irgendetwas entsetzlich schief! Aber jetzt war sicher nicht der richtige Zeitpunkt.
"Es geht um Feldwebel Magane. So wie es aussieht, war es kein Zufall, dass sie gestern nicht zu eurem Training erschienen ist. Ebenso wenig, wie es ihre Absicht gewesen sein dürfte. Es scheint sie..."
"Oh nein, ist ihr etwas passiert?! Wie geht es ihr?" Jede Farbe war aus Senrays Gesicht gewichen und sie war einige Schritte auf ihn zu geeilt, ehe sie sich eines Besseren besann.
Glum sah sie mit steinerner Miene an. Es kam nie vor, das Senray ihn unterbrach. Nun, zumindest so gut wie nie. Und wenn doch, so folgte stets ein Schwall von Entschuldigungen. Er ahnte, was seine nächsten Worte anrichten würden und zögerte sie einen Moment hinaus, auch wenn das gewählte Füllmaterial sich wohl kaum als Trost eignen würde.
"Wie ich dir eben mitteilen wollte, Senray", er sah sie streng an, "bevor du mich so ungestüm unterbrochen hast, sieht es so aus, als wäre sie gestern nicht nur nicht zu eurem vereinbarten Training erschienen, sondern insgesamt nirgendwo gewesen. Im Hauptwachhaus geht man von einer Entführung aus und wie es dieser Nachricht", er zeigte vage hinter sich auf eines der Papiere, "nach aussieht, nimmt sich der Kommandeur selbst der Sache an. Wir können also davon ausgehen, dass sie in wenigen Tagen wieder wohlbehalten bei ihrer Familie ist und ihre Dienste, sowie euer Training, ableisten wird. Bis dahin..."
Glum zögerte. Auch wenn er Senray zuvor dafür zurechtgewiesen hatte, das sie ihn unterbrochen hatte, hatte er doch nicht damit gerechnet, so weit zu kommen, ohne erneut unterbrochen zu werden. Dafür war die Nachricht zu sensationell und betraf Senray zu direkt. Er musterte sie also genauer und was er sah, gefiel ihm nicht. Sie war in sich zusammengesunken, ihr Gesicht aschfahl und ihre Augen schienen den Glanz verloren zu haben. Wie leer schien sie ihn anzustarren, durch ihn hindurch zu sehen, als wäre er nicht mehr hier.
Sie war schon von Anfang an unsicher und emotional instabil gewesen, daran bestand kein Zweifel. Dennoch hatte er sie Lilli empfohlen und er sah es immer noch als richtige Entscheidung und vertraute Senray. Sie gab sich alle Mühe, mehr als man wohl erwarten konnte. Und sie schlug sich gut. Allein, dass sie trotz regelmäßiger Einsätze in Bruderschaften und um Gilden herum immer noch lebte, zeigte das wohl sehr gut. Allen berechtigten Zweifeln zum Trotz, die man an ihr hegen musste. Dennoch: sie hatte von Anfang an auf wackeligem Grund gestanden. Und es war durch Ophelias Verschwinden damals erst einmal viel schlimmer geworden. Ihm war noch viel zu präsent, wie Senray tagelang, ja wochenlang, jeden Tag jeden im Boucherie geradezu um Informationen angefleht hatte! Damals hatte schon etwas in ihr Schaden genommen, da war er sicher, auch wenn der Zwerg nicht einschätzen konnte, wie tief es ging. Aber neben ihrer Arbeit war Magane für Senray da gewesen. Sie hatte mit Glum abgesprochen gehabt, dass das Feuertraining, auch als Ophelia fort war, weiter ging – weniger als "Feuertraining" dann, als vielmehr, um die junge Frau zu stabilisieren und ihre Emotionen ins Gleichgewicht zu bringen. Es war dringend nötig und sehr willkommen gewesen, auch wenn es Zeit kostete. Zeit, die niemand bei DOG hatte. Die wahrscheinlich niemand in der Wache hatte, sicher auch Magane nicht.
Und jetzt diese Nachricht. Magane auch verschwunden, so wie Ophelia!
Er konnte sich grob ausmalen, wie es jetzt in Senray aussehen musste. Er würde sie beobachten müssen, aufpassen, dass seine Obergefreite nicht den Halt verlor. Sie war entsetzlich zerbrechlich. Definitiv viel zu jung.
"Ich werde dich auf dem Laufenden halten, Senray. Einverstanden?"
Sie starrte ihn nur leer an, ehe sie schwach nickte.
Glum räusperte sich. Es gab nichts weiter zu dem Thema zu sagen, zumindest nicht in diesem Moment. Vielleicht jedoch konnte er Senrays Gedanken wenigstens kurz auf eine andere Bahn lenken, damit sie sich fing?
"Jedenfalls... Nun, wie läuft es mit deinem jungen Mann? Habt ihr endlich ein Treffen arrangiert oder muss immer noch..." Er brach ab. Offensichtlich das falsche Thema. Der Obergefreiten rannen nun stumm die Tränen hinunter, die sie davor noch zurückzuhalten vermocht hatte.
Innerlich schalt der Zwerg sich selbst. Er hatte bei weitem genug Lebenserfahrung, um zu wissen, wie gefährlich das Thema Liebe war! Alte Liebe war ja schon an manchen Tagen wankelmütig, junge hingegen war definitiv nichts, worauf man bauen sollte.
Während er nach den richtigen Worten suchte, um die junge Frau vor sich doch noch irgendwie zu beruhigen, fing sie schwach an zu sprechen.
"Sör..." Sie schluckte schwer.
"Ja, Senray?" Er betrachtete sie kritisch. Ihr Gesicht nahm einen Ausdruck an, der ihm nicht sonderlich gefiel. Verschlossenheit ersetzte die Leere. Er hatte den Verdacht, dass sie dabei war, einen Entschluss zu fassen. Nur welchen?
"Sör, ich... könnte ich für den Rest des Tages bitte frei haben, Sör? Ich... würde mich gerne zurückziehen und..."
Er winkte ab. "Gewährt, Obergefreite. Solange es weiter nichts ist. Morgen erwarte ich dich allerdings pünktlich zum Schichtbeginn hier. Und an dem Rattentraining mit Mimosa hat sich trotz allem nichts geändert, verstanden?"
Sie nickte. "Jawohl, Sör. Ich werde da sein. Guten Tag, Sör."
Und damit ging sie, ohne etwas Weiteres zu sagen oder abzuwarten, was – oder ob überhaupt – er erwidern würde! Das war... ungewöhnlich. Sie hatte bei der Erwähnung des verhassten Rattentrainings nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Geschweige denn, dass es ihre Art gewesen wäre, so den Raum zu verlassen!
Glum begann sich bereits zu fragen, für was er ihr gerade das Frei genehmigt hatte. Sollte er ihr hinterher und sie vor Dummheiten bewahren? Andererseits hatte Senray schon vor Wochen aufgehört, ihren Überstundenzettel aktuell zu halten. Es gab einfach zu viel Schreibarbeit. Ihr hätte schon längst einmal so etwas wie ein langes Wochenende zugestanden gehabt. Vielleicht war es ganz gut, wenn sie etwas Zeit für sich hatte, um sich wieder zu sammeln?
Sicher würde sie nichts zu Dummes anstellen. Nicht in der kurzen Zeit.

Refizlak betrachtete die traumartigen Bilder, die Senrays Erinnerungen und Gedanken für ihn waren.
Die Hexe war also entführt worden? Das war schlecht. Sie hatte einen nicht zu verleugnenden Einfluss auf sein Gefäß und er konnte es nicht gebrauchen, dass sie emotional noch instabiler wurde. Besonders, wenn sie sich immer wieder freiwillig in die mentale Reichweite von Ophelia Ziegenberger begab! Er wünschte sich, Senray würde seine Reaktion auf den Einfluss der Anderen nicht dazu missbrauchen, einen Bereich in einer Karte abzustecken! Nicht nur war das weit unter seiner Würde! Es zeigte ihm auch, dass er dank der Ziegenberger-Frau nicht die volle Kontrolle über sich hatte. Aber wie sollte er auch? Sie verpestete das Umfeld mit mächtigen vampirischen Einflüssen, die sonst klein und unbedeutend für sich geblieben wären!
Und Senray hatte ihn jetzt schon wieder in eben jenen Bereich gebracht. Wollte sie jetzt auch noch zur Beruhigung hierher kommen? Wenn das so weiter ging, konnte sie sich auch gleich den Vampiren, gegen die die Gruppe vorzugehen gedachte, an den Hals werfen! Wäre er an den Körper gebunden, mit dem er sich der Frau bevorzugt zeigte, er wäre sich entnervt mit der Hand durchs Haar gefahren. So fauchte er – und mit ihm die Flammen – auf. Er konzentrierte sich wieder auf sein Gefäß und ihre nähere Umgebung. Wo befand sich eine Wärmequelle? Er musste die Kontrolle behalten, jetzt noch mehr als sonst. Sie war viel zu unausgeglichen. Wenn sich ihre Emotionen nun, durch seine Macht in den umliegenden Flammen kanalisiert, zeigten, musste man damit rechnen, dass es ihnen beiden unangenehme Aufmerksamkeit einbringen würde.
Etwas, das Refizlak vermeiden wollte.
Es wussten sowieso bereits zu viele Leute über Senrays ‚Fähigkeit‘ Bescheid. Jeder Mitwisser bedeutete ein Risiko für sie – und damit für ihn! In dieser Stadt konnte die Frau zwar schwer im Fluss ertränkt werden aber das machte sie noch lange nicht unverwundbar oder unsterblich.
Dazu kam die Information, die der Truppe ausgerechnet von dem dreisten kleinen Vampir zugespielt worden war – sie wurden beobachtet!
Refizlak konnte sich aufgrund seiner eingeschränkten Wahrnehmung durch Senray nicht sicher sein, ob diese aktiv verfolgt wurde. Aber auf Dauer musste sie einfach Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wenn sie immer wieder so kopflos in den Bereich kam! Alles was er tun konnte, war die Reaktionen zu beschränken. Doch es brachte ihn halb um den Verstand, dass sich sein Gefäß allein hier bewegte und er durch die Einschränkung quasi blind war! Waren Vampire als Gegner nicht an sich schlimm genug? Erneut fauchte er wütend auf und konzentrierte sich auf Senrays kleine Laterne. Es half nichts! Wenn er sie nicht verstärkte, fühlte er sich blind - und damit machtlos. Etwas, was er nicht akzeptieren konnte. Auch wenn eine Reaktion seinerseits an zwei Stellen sichtbar wurde. Er spürte den Sog, der durch die sonderbare Leitfähigkeit der Ziegenberger-Frau entstand. Dieser Sog war es, ebenso wie das kurze Aufleuchten von Wärme in der Ferne, die ihn in seiner Überzeugung bestärkten, dass immer dann, wenn er direkt bei Senray die vampirische Verseuchung, welche durch die andere entstand, ausglich, auch bei jener eine Reaktion stattfand. Senrays natürlicher magischer Einfluss, den er eigentlich gleich zu Anfang verborgen und versiegelt geglaubt hatte, musste auf der Verbindung mitschwingen, ihre Emotionen mittragen. Und sie war sich dessen nicht einmal bewusst! Sie hatte nicht die geringste Ahnung davon, dass auch an anderer Stelle eine sichtbare Reaktion auftrat! Nicht, dass er sich allzu viel Hoffnung machen durfte, dass sie ausnahmsweise mal ihn um Rat fragen würde! Er hätte sie als einziger warnen können, ihr sagen können, dass sie damit nicht nur diese lächerliche Rettung, sondern auch ihr Leben aufs Spiel setzte!
Refizlak knurrte frustriert.
Solange sie lebte, war er an sie gebunden. Und wenn sie meinte, ihr Leben ausgerechnet an elendige, kaltblütige Zecken ausliefern zu müssen... es war einfach inakzeptabel! Es musste einen Weg geben, wie er mit ihr in Kontakt treten konnte, ohne dass sie ihn aufsuchte!
Er horchte auf ihre Gedanken. Diese waren eine chaotische Masse, verwirbelt und verknotet, nichts woraus er schlau werden würde. Aber das war nicht anders zu erwarten gewesen. Wenn die Hexe wirklich entführt worden war, würde er in nächster Zeit keine Ruhe mehr finden. Als ob er davor, das letzte Jahr über, welche gehabt hätte! Mit ihren sich dauernd steigernden Selbstvorwürfen, den aberwitzigen Ideen und den selbstgebauten Albträumen! Seit diesem ersten für seinen Schlaf so verhängnisvollen Treffen mit der Ziegenberger-Frau, war er sich der Gefahren, die Senray umgaben, viel zu bewusst um wieder so tiefe Ruhe wie davor zu finden. Manchmal wäre Ignoranz ein Segen gewesen!
‚Refizlak.‘
Er horchte auf. Sie dachte an ihn! Selbst in Gedanken vermied sie es normalerweise, seinen Namen zu nutzen. Doch jetzt dachte sie jenen immer und immer wieder, forderte ihn geradezu dazu auf, ihr unbemerkt zu lauschen. Sie dachte nicht nur einfach an ihn, sie dachte darüber nach, ihn zu rufen! Ihn sogar um Hilfe zu bitten!
Er spürte, wie sich dunkle Vorfreude in ihm ausbreitete. Hier tat sich die Chance auf, welche er erhofft hatte. Und nicht nur konnte er sie warnen, ihr so ins Gewissen reden, dass sie aufhörte, ihr Leben zu gefährden! Wenn sie ihn um Hilfe bat, wurde sie ihm etwas schuldig! Das wiederum bedeutete mehr Freiheiten für ihn. Etwas, dass er nur begrüßen konnte. Allerdings musste sie ihn dafür erst wirklich rufen, der schlichte Gedanke daran reichte nicht.
Refizlak konzentrierte sich auf das Umfeld der Frau, die sein Wirt geworden war. Es gab genug Flammen um sie herum aber sie berührte keine von diesen und es schien keine von ihr ausgelöst zu werden. Allerdings hatte sie, wenn er die Eindrücke richtig deutete, ein Streichholz in der Hand und spielte damit. Wie so oft. Süßer Schwefelgeschmack breitete sich in seinem Mund aus.
Die Vorfreude steigerte sich. Wenn er sie dazu brachte, einen gültigen Pakt mit ihm zu schließen...
Etwas in ihren Gedanken ließ ihn innehalten. Nein! Ausgerechnet der Gedanke an die Hexe, die sie eben noch mithilfe seines Beistands hatte retten wollen, hatte sie zögern lassen! Aber die Idee... Der Same war gesät.
Er fühlte nach, sah, wie sie den Gedanken nach hinten drängte, versuchte, andere Wege zu finden. Wie sie verzweifelt einen Ausweg ohne seine Hilfe suchte. Nur, dass am Ende dieser Überlegungen immer dieselbe Erkenntnis auf sie wartete: Sie war zu schwach, zu klein, zu ängstlich. Zu menschlich.
Und später, in der Dunkelheit, in der Einsamkeit, wenn das einzige, was Senray beruhigen würde, das Licht der Kerzenflamme war – dann würde die Idee wieder kommen. Und mit jedem Mal würde sie stärker werden, reizvoller werden. Sie wusste um seine Macht. Oder zumindest erahnte sie Teile davon. Mit seiner Hilfe wäre ihr so viel mehr möglich. Der Gedanke würde sich festsetzen, bis er zu einem Entschluss wurde.
Und Refizlak kannte Senray! Es mochte Tage dauern, vielleicht Wochen von nun an. Aber wenn sie den Entschluss gefasst hätte, würde sie es durchziehen und die Kosten für sich selbst ignorieren. Sie würde ihn um Hilfe bitten! Um die Hexe und die Ziegenberger zu retten, sicher. Aber das war ein geringer Preis für mehr Freiheiten, mehr Macht über sein Gefäß. Immerhin konnte er mit letzterer auch erreichen, dass sie selbst, während einer eventuell anstehenden Rettung der anderen Frau, nicht in den Gefahrenbereich geriet. Und alles, was er fürs Erste dafür tun musste, war, sich zurückzulehnen und darauf zu warten, dass es endlich soweit war.
Es blieb nur zu hoffen, dass sie sich schnell zu einem erneuten Pakt mit ihm entschloss.
Ehe die Vampire, die die Hexe und die Ziegenberger-Frau gefangen hielten, etwas von den Flammenreaktionen bemerkten. Und deswegen sein Gefäß beseitigen würden.

23.04.2017 1: 02

Rogi Feinstich

Wäre er nicht zu ihr gekommen, sie hätte ihn selbst aufsuchen müssen. Was sie gesehen hatte, war nicht normal und die Vorstellung, ein Kollege sei dazu im Stande gewesen, machte es nicht gerade besser.
Rogi seufzte und schnitt weitere Kräuter vom Strauch. Sie hätte nur zu gerne gewusst, was vorgefallen war. Doch sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass er lieber ohne ihre Hilfe davongezogen wäre, als zu verraten was passiert war. Nach allem was Wilhelm gesagt hatte, konnte sie es sich nur allzu gut vorstellen. Seine Neugierde suchte ihresgleichen und solange er noch Rekrut war, würde sie ihn nicht mehr aus den Augen lassen. Wer auch immer für Wilhelms Zustand verantwortlich war - die Hauptschuld traf ihn selbst!
Sie hoffte nur, sie würde nicht bereuen, was sie nun für ihn tat. Schuldigkeit hin oder her. Es gab Dinge im Leben, die sich besser nicht wiederholten. Schon so lange hatte sie diese Rezeptur nicht mehr hergestellt und sie war nicht einmal sicher gewesen, ob sie alle Zutaten bekommen würde. Allerdings, in einer Stadt wie Ankh-Morpork gab es alles, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Zur Not ging man eben auf traditionelle Weise einkaufen. [13] Sie hatte beinahe gehofft gehabt, dass es ihr nicht gelingen würde, alle nötigen Ingredienzen zu erhalten. Andererseits hatte sie ihm ihre Hilfe nur zugesagt, weil er ihr geholfen hatte, Raculs Bann zu brechen. Wer wusste schon, wie lange der Alte sie sonst noch im Griff gehabt hätte?
Allein der Gedanke, ließ ihre Wut wieder hochkochen.
Doch warum ausgerechnet Wilhelm Schneider? Jeder andere Vampir wäre ihr lieber gewesen – sogar Ayami Vetinari! Kräuterblut, ausgerechnet für ihn! Ein junger, moderner Vampir, der die Traditionen nur aus Geschichten kannte und dennoch die Dreistigkeit besaß, auf sie als Igorina hinabzusehen. Dass sich die Schwarzbandler in Ankh-Morpork durchsetzen konnten, war abzusehen gewesen und selbst die Vampire, die dem Blut abgeschworen hatten, wussten um die Traditionen. Wilhelm allerdings gehörte zu einer neuen Sorte, die es irgendwie geschafft hatte, das kühle Verwegene der Vampire zu erhalten. Und es gab sogar Freiwillige, die diesen Lebenswandel unterstützten! Lokale, die Blut ausschenkten, Frauen und Männer, die die Erfahrung als Rausch ansahen. Die Scheibe war wirklich verrückt geworden!
Doch wer war sie schon, darüber zu urteilen? Sie war schließlich die Eine. Die selben verachtenden Gedanken machte man sich über sie.
Sie wandte sich wieder den Kräutern zu und begann damit, diese langsam einzukochen. Es würde nur für eine kleine Flasche genügen und sie wagte es nicht einmal daran zu denken, Vorkehrungen für eine zukünftige Herstellung zu treffen. Dabei war die Beschaffung der Kräuter schon immer das geringste Problem gewesen. Kräuterblut kannte fast jeder in ihrer Familie. Allerdings nicht die Erweiterung der Rezeptur. Damals, in ihrem jugendlichen Leichtsinn, hatte sie kaum wahrgenommen, wie aufopfernd die Prozedur war. Es brauchte zwar nur etwa einen Tropfen Blut. Allerdings zur rechten Zeit. Nicht zu früh, nicht zu spät. Und es musste frisch sein. Jedes Mal!
Sie rieb sich unbewusst mit den Daumen über die Fingerkuppen.
Und die nächste Gefahr war, dass es süchtig machen konnte. Vampire konnten, was das Verlangen nach Blut anbetraf, schon unberechenbar genug sein. Wenn es um Kräuterblut ging, war es ähnlich. Und je älter ein Vampir, desto mehr benötigte er. Immerhin konnte sie also sicher sein, dass das kleine Fläschchen für Wilhelm ausreichen würde.
Sie hoffte es zumindest.
Allein die Vorstellung, er könne mehr verlangen, weckte unangenehme Erinnerungen.
Doch seinen jetzigen Zustand konnte er nicht mehr lange durchstehen und so sehr sie den Gedanken auch verabscheute - Wilhelm konnte noch nützlich sein.

23.04.2017 1: 04

Magane

Igor war da gewesen und hatte die Einkäufe gebracht. Wann er sich den Zettel geholt hatte, hatte Magane nicht mitbekommen. Offenbar ließ sich diese Tür sehr leise öffnen, sodass sie nicht wach wurde, wenn sie kamen, während sie schlief. Der Gedanke daran war zwar nicht besonders angenehm, beunruhigte sie aber auch nicht übermäßig. Was sollten sie schon tun? Im Schlaf verschleppen wäre witzlos. Und töten konnten sie sie auch nicht. Bisher war sie sowieso die meiste Zeit allein gewesen, anscheinend hatten die Herren Besseres zu tun, als sich mit ihrer neuen Gefangenen zu beschäftigen. Ihr sollte es recht sein. Sollte es allerdings so bleiben, würde sie sich ein Hobby suchen müssen. Dazu kam dass der einzige, den sie, seit der Vampir sie allein gelassen hatte, gesehen hatte, Igor gewesen war. Und der hatte ziemlich mürrisch gewirkt und kein Wort mit ihr gesprochen; vermutlich hatte man ihm entsprechende Anweisungen erteilt.
Was ihr aber neben Ablenkung am meisten fehlte, war eine Möglichkeit, die Zeit zu messen. Eine Uhr hatte sie keine dabei gehabt und hier war ebenfalls keine. Tageslicht konnte sie keines sehen. Ein Umstand, der unter anderem zu der Erkenntnis geführt hatte, dass sie sich in einem Kellerraum aufhielt. Zeiträume in denen sie wach war konnte sie wenigstens ungefähr abschätzen. Aber was war mit der Zeit, die sie verschlief? Und wie lange war sie betäubt gewesen? Das waren auf jeden Fall mehr als ein paar Stunden gewesen, soviel hatten ihr die Blutergüsse verraten. Allerdings war das keine besonders genaue Methode und bei den schlechten Lichtverhältnissen hier, konnte sie die feinen Unterschiede in den Schattierungen nicht erkennen. Außerdem war es etwas vollkommen Anderes, wenn man versuchte, seine eigenen schmerzenden Flecken zu interpretieren. Sie ging mal großzügig von mindestens einem Tag aus, den sie komplett verloren hatte.
Mag beschloss, die Wachphasen zu zählen, in der Hoffnung, dass sie damit in etwa einen Tagesrhythmus einhielt. Das war alles andere als sicher aber wenigstens ein Anhaltspunkt. Wenn man also den verlorenen Tag als den ersten zählte, war heute Tag drei ihrer Gefangenschaft.
Sie war die Einkäufe durchgegangen, hatte festgestellt, dass Igor alles hatte besorgen können was sie aufgeschrieben hatte und hatte sich dann wieder an die Zubereitung der Teemischung gemacht. 42 war nun komplett. Die komplexen eingearbeiteten Hexereien waren noch immer geheim, wobei sie das auch mit Zuschauern gewesen wären. Schließlich war sie kein Zauberer! Die mussten ja immer alles laut aussprechen oder aufzeichnen, damit es wirkte.
Kaum hatte sie an Zauberer im Allgemeinen gedacht, hatte sie auch schon wieder den zerbrechlich wirkenden kleinen Zauberer vor Augen, der so gar nicht in das Klischee zu passen schien. Seine Beschreibung von Ophelias Zustand klang in ihr nach. Demnach musste sie halb tot sein... halb tot und in den Händen dieser Monster, die nichts Besseres zu tun hatten, als sie zu quälen. Aber sie konnte nichts tun. Sie würden sie nicht zu ihr lassen. Und, ohne dass sie genau wusste, was der Kranken fehlte, konnte sie ihr auch keine Medizin in den Tee schmuggeln. Wenn sie sie wenigstens sehen könnte, dann ließe sich vielleicht etwas erahnen! Fieber. Der Zauberer hatte von Fieber und Schwäche gesprochen. Aber aufgrund einer Infektion oder einfach nur aus Erschöpfung? Hatte sie überhaupt noch Fieber? Hoffentlich steckte sie nicht immer noch in diesem Käfig? Nein, das konnte nicht sein. Sie hatte sich ja vor der Rückkehr in den Käfig gefürchtet... Nur lag das jetzt auch schon wieder ein paar Tage zurück... Vielleicht, wenn sie überzeugend genug log... Vielleicht hatte sie dann doch eine Chance? Und schließlich hatte jedes lebendige Wesen seinen Preis. Und was den dreisten Vampir anging, hatte sie zumindest eine Ahnung, welcher das sein könnte.
Magane zog sich einen der Stühle näher ans Feuer und wartete.

"Ich muss sie sehen, sonst kann ich die Dosis nicht abschätzen", Magane hoffte inständig mit der glatten Lüge durchzukommen. Eigentlich war lügen ja nicht ihr Weg zum Erfolg aber vollkommen unbedarft war sie auf dem Gebiet auch nicht. Sie stand auf, ging ein paar Schritte auf ihn zu, während er die Tür abschloss und den Schlüssel verschwinden ließ, ohne das sie erkennen konnte wohin.
"Na und?"
"Sonst könnte der Tee ihr ernsthaften Schaden zufügen." Sie sah ihm tief in die Augen und versuchte dabei, Puls und Atmung ruhig zu halten.
"Wieso sollte mich das kümmern?" Sein kalter Blick ließ sie erschauern. Konnte es wirklich sein, dass Ophelia ihm so egal war?
"Wenn ihr ihren Geist hättet zerstören wollen oder sie einfach hättet umbringen wollen, dann hättet ihr das sicherlich längst getan."
"Was bietest du mir dafür?"
"Was könnte ich dir in meiner Position schon anbieten?" Sie versuchte so kokett mädchenhaft und harmlos zu wirken, wie ihr Stolz es gerade so noch ertragen konnte.
"Nun...", er grinste ein Grinsen, das unter anderen Umständen hätte anzüglich wirken können und entblößte dabei seine eindrucksvollen Fangzähne. Natürlich konnte ein Vampir nur das eine wollen.
"Mein Blut, na klar..." So berechenbar! Sie mochte zwar nicht mehr die zarte Jungfrau von damals sein. Aber ihr Blut hatte seinen Wert dennoch nicht verloren. Im Gegenteil. Heute war sie eine voll ausgebildete Hexe und die tanzende Magie hatte vermutlich ihren ganz eigenen Reiz.
"Du bist einverstanden?" Er war überrascht. Hatte sie zu schnell nachgegeben? Hätte sie sich mehr zieren sollen?
"Das habe ich nicht gesagt", sie überlegte fieberhaft welche Bedingungen sie jetzt noch stellen konnte.
"Das ist aber der Preis."
"Das akzeptiere ich. Aber die Bedingungen sind noch nicht klar. Ich darf sie einmal sehen und du darfst einmal von mir trinken. Nur sehen reicht vielleicht nicht. Es kann sein, dass ich sie berühren muss. Trotzdem darfst du nur einmal trinken."
"Harte Bedingungen. Und was ist, wenn ich mir einfach nehme, was ich will?"
"Von einer Hexe nimmt man nicht, man bekommt gegeben."
"Wie wolltest du mich daran hindern?"
"Oh, hindern könnte ich dich nicht. Aber ich könnte anderes tun, um es dir zu verleiden"
Er sah sie skeptisch an. Das konnte nur ein Bluff sein. Sie konnte nicht wirklich etwas tun... oder etwa doch? Vampire wurden immer wieder davor gewarnt, sich mit Hexen anzulegen. Es gingen schauerliche Geschichten um. Von Vampiren, denen alle Zähne ausgefallen waren, die von innen heraus verbrannten oder grauenhafte Schmerzen litten. Aber dabei ging es um mächtige Hexen! Diese hier konnte ja wohl kaum als mächtig gelten, mit ihrer Teilzeitmagie. Nein, er hatte zwar nicht vor, das auszuprobieren. Aber erschrecken konnte sie ihn nicht.
"Ich bringe dich zu ihr. Versuche nichts, was dir hinterher leid täte! Du kommst hier nicht raus."
Sie begann sich langsam zu fragen, warum er das immer wieder betonen musste. Als ob sie sich der Illusion hingeben würde, sie könne ihm entkommen. Er legte ihr etwas zu vertraut den Arm um die Schulter und führte sie zur Tür.

Der Weg war erstaunlich kurz und sie blieben vor einer Tür stehen, die äußerlich derjenigen glich, durch die sie gerade den anderen Raum verlassen hatten. Allerdings hatte sie mehr als das eine Schloss und die Schlösser machten mehr Geräusche beim Aufschließen. Magane konnte sich lebhaft vorstellen, welche Wirkung diese Geräusche auf den Eingesperrten hatten und war dankbar, dass ihr diese Art von Terror erspart blieb. Nach einem endlosen, beinahe rituellen Aufschließen, öffnete er endlich die Tür zu Ophelias aktuellem Gefängnis und schob sie hinein. Der Raum war kleiner als ihrer aber auch hier ließ sich vergangener Prunk erahnen, nur in noch schlechterem Zustand. Die vorherrschende Farbe war rot und es war beinahe unerträglich warm. Das Zimmer versprühte den Charme eines noblen Krankenzimmers, komplett mit einer Igorina, die in diesem Moment Einstellungen am Tropf vornahm.
Auf den Tropf war Magane nicht gefasst gewesen. Sie schluckte und trat näher an das Bett.
"Ift fie daf, die Hexe, die den Tee gemifft hat?" Igorinas Frage richtete sich zwar an den Vampir, den sie mit starrem Blick ansah, aber Mag entschied sich trotzdem selbst zu antworten.
"Ja, bin ich." Sie ging einen weiteren Schritt auf das Bett zu und beugte sich zu dem bedauernswerten Geschöpf in den Kissen und Decken herunter. "Ist sie betäubt, oder einfach nur weggetreten?"
"Fie ift fon feit drei Tagen fo." Also war sie erst seit Kurzem in diesem Zustand. War das eine direkte Folge von Raistans Experiment?
Nach dieser ausweichenden Antwort zog sich Igorina etwas zurück und signalisierte so das Ende des Gespräches. Also wurde es Zeit sich mit dem Grund ihrer Anwesenheit in diesem Raum zu beschäftigen.
Sie legte Ophelia die Hand auf die Stirn. Sie war warm, wärmer als normal, aber nicht glühend heiß. Also war wenigstens das Fieber einigermaßen unter Kontrolle. Ophelia sah furchtbar aus, abgemagert und anscheinend von einer schweren Krankheit gezeichnet. Ihr Atem ging rasselnd und sie erschien so zerbrechlich, wie noch nie. Magane schluckte. Für ihren Tee war der Zustand des Trinkenden bedeutungslos. Aber andere Mittel könnten durchaus ihr Leben gefährden.
"Der Tee muss getrunken werden, über den Tropf kann sie den nicht bekommen." Das war keine Lüge, sondern eine Erkenntnis, die sie bei ihren Experimenten erlangt hatte.
Sie musste an den Rettungszirkel im Wachhaus denken, die hochkochenden Emotionen, den bedauernswerten Rach, der, wenn er sie so sähe, vermutlich wieder durchdrehen würde.
Magane sah sich zu der Igorina um, die ihr allerdings nur zunickte. Sie hatte verstanden. Wie gerne würde sie mit der Igorina länger über den Zustand und die Pflege ihrer Patientin reden! Doch dazu würde sie jetzt nicht die Gelegenheit bekommen. Und später würde es davon abhängen, dass Igorina den Wunsch teilte und sie in ihrem Gefängnis aufsuchte.
Sie ließ ihren Blick auf dem ausgezehrten Gesicht der Freundin ruhen. Es war kaum noch etwas von der jungen Kollegin über. Sie musste unbedingt wieder zu Kräften kommen! Und zwar bevor die Anderen kamen, sonst konnte schon die Rettung zu viel für sie sein.
Plötzlich stand der Vampir wieder direkt hinter ihr und flüsterte in ihr Ohr, dass sie genug gesehen habe und jetzt wieder in ihr Zimmer müsse.
Magane fiel es extrem schwer, dieser Aufforderung zu folgen. Aber sie hatte es vorher gewusst. Er gab ihr, was sie verlangte - und sie würde den vereinbarten Preis zahlen.
Er schob sie halb, halb ging sie freiwillig wieder in den Raum zurück. Es war nicht weit, nur ein paar Meter den Gang herunter, nicht viel Zeit zum Nachdenken. Irgendwie musste es ihr gelingen, Ophelias Situation zu verbessern. Dazu war das Wichtigste, herauszufinden, was genau sie in diesen jämmerlichen Zustand gebracht hatte...
Sie spürte den Vampir hinter sich, sie konnte ihn riechen. Der Minzgeruch erinnerte sie stark an ihre eigenen Versuche, die Gerüche der Pathologie loszuwerden. Der bestimmte Druck seiner Hand zwischen ihren Schulterblättern, mit dem er ihre Schritte lenkte, war sanfter als sie erwartet hatte. Offenbar hatte er verstanden, dass er mit Gewalt bei ihr nicht weit kam.
Er öffnete die Tür, schob sie als erste hinein, kam hinterher und schloss dann hinter sich zu. Er kam ihr näher, wollte seine Belohnung eindeutig sofort. Nun, zum Reden war ja auch hinterher noch genug Zeit. Er versuchte sie in eine Ecke zu drängen aber das kam nicht in Frage. Sie wollte nicht zwischen zwei Wänden und einem Vampir eingeklemmt sein.
Magane stellte sich direkt vor ihn und öffnete die oberen Knöpfe ihrer hochgeschlossenen Bluse. Der silberne Schildkrötenanhänger glitzerte im flackernden Licht der Öllampen.
"Nimmst du den bitte ab?" Eine beinahe freundlich Frage mit einer Bitte, statt einem Befehl. Erstaunlich, wozu er in der Lage war.
Die Wächterin nickte lächelnd und hob die Arme, um die Kette in ihrem Nacken zu öffnen. Sie nahm das religiöse Symbol ab und brachte es zu ihrer Tasche, die auf dem Tisch lag. Als sie sich umdrehte, um die zwei Schritte zu ihm zurück zu gehen, stand er schon wieder direkt vor ihr. Die Bewegung war vollkommen lautlos gewesen. Das Glitzern in seinen Augen verriet ihr, dass es zu keinen weiteren Verzögerungen kommen würde. Er griff in ihr Haar und strich es zur Seite, als hätte er sich auf halbem Weg von roh zu sanft umentschieden. Sie legte den Kopf schräg, sodass er leichter an die Halsseite kommen konnte, für die er sich entschieden hatte. Den Biss selber spürte sie kaum, er war ausgesprochen sanft, beinahe wie ein Kuss. Nur mit deutlich schärferen Zähnen.

Er hatte sich schon immer gefragt, ob Zauberer und Hexen anders schmeckten, als gewöhnliche Menschen. Zunächst bemerkte er nichts Besonderes. A positiv, nicht mehr jung, ernährte sich gesund, trank anscheinend viel Kaffee oder Tee. Dann merkte er es! Ein merkwürdiges Kribbeln, das sich anfühlte, als würden kleine Funken durch das Blut der Hexe tanzen! Das war die Freundlichkeit allemal wert gewesen! Widerstrebend löste er sich von ihr. Er wollte mehr. Aber er durfte ihr nicht schaden. Da waren seine Anweisungen unmissverständlich. Trotzdem durfte dies keine einmalige Gelegenheit bleiben. Er musste einen Weg finden, hier zu einem dauerhaften Arrangement zu kommen.
Er trat drei Schritte zurück und sah sich sein Opfer etwas genauer an. Sie war bei weitem nicht so zart gebaut und hübsch, wie er es gerne gehabt hätte. Zu alt, zu trainiert. Obgleich ihre Stärke ihm durchaus gefallen hatte. Aber er wollte sie ja nicht als Gladiatorin... kurz geisterte der Gedanke an kämpfende Menschenfrauen durch seinen Geist, den er aber sofort beiseite schob, in der Hoffnung, dass sein Herr noch immer zu abgelenkt war, um sich mit ihm näher zu beschäftigen. Ihr Alter spielte keine große Rolle. Wahrscheinlich war es ihm sowieso nicht lange gestattet sie zu behalten. Obwohl er die Wunde an ihrem Hals verschlossen hatte, war diese noch deutlich zu erkennen. Und es war nicht die erste Bissspur! Es hatte also schon früher jemand von ihr getrunken. Aus irgendeinem Grund störte ihn das. An der Kleidung würde man etwas tun müssen, diese dunkelblaue Arbeitskleidung war einfach nicht passend für ihre Situation.
"Wieso ist Ophelia in diesem Zustand?" Die Frage riss ihn unvermittelt aus seinen Gedanken.
"Sie war krank." Er beobachtete, wie der Körper der Hexe sich, auf seine ausweichende Antwort hin, kampfbereit machte, das Spiel der angespannten Muskeln, das Funkeln ihrer Augen, untermalt von der Melodie ihres beschleunigten Herzschlages. Dann plötzlich, als hätte man eine Kerze ausgeblasen, war sie wieder ruhig. Beeindruckende Selbstkontrolle! Einem Menschen wäre ihre nun mühsam unterdrückte Wut nicht aufgefallen. Das musste er unbedingt nochmal ausprobieren.
"Und was hat sie krank gemacht? Sicherlich nicht der Aufenthalt in dem Zimmer, in dem wir grade waren?" Sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Aber er würde nicht zulassen, dass sie von dem Käfig erfuhr. "Ich formuliere meine Frage um: Bist du Schuld an ihrem Zustand?" Woher wusste sie das? Konnte sie das wissen? Oder gab sie ihm einfach sowieso an Allem, was hier geschah, die Schuld? Sie sah ihm direkt in die Augen, mit einem bohrenden Blick, der fast körperlich weh tat. Ganz so, als ob sie hier in der Machtposition und er das Opfer wäre. Und das Schlimmste war, es funktionierte! Ihr Blick war so durchdringend, dass er beinahe glaubte, sie könne in seinem Geist lesen. Aber dann würde er ihre Präsenz spüren und dem war nicht so.
"Dein Schweigen ist Antwort genug. Ich möchte, dass du sie in Ruhe lässt", ihre Kampfbereitschaft war ungetrübt, auch wenn sie jetzt nicht mehr an den körperlichen Merkmalen zu erkennen war... eine wirklich lohnende Beute. Möge das Spiel beginnen! Er setzte ein selbstsicheres Grinsen auf.
"Was bekomme ich dafür?"
"Was willst du haben?"
"Dich!"
"Inwiefern?"
"Deine Magie, dein Blut, deinen Gehorsam, deine Dienste... dich halt."
"Für welchen Zeitraum?"
"Ah, du denkst daran, dass eure Freunde euch sicher bald retten kommen. Nein, so entkommst du mir nicht. Selbst, wenn dich jemand retten sollte, kommst du entweder freiwillig zurück oder ich komme dich holen. Und dann werden deine reizenden Kinder uns begleiten." Ein Flackern in ihren Augen verriet zum ersten Mal Verunsicherung. Die Kinder waren eindeutig ihr wunder Punkt, nun, das war zu erwarten gewesen.
"Lass meine Kinder aus dem Spiel und ich bleibe freiwillig. Dir schwebt also ein dauerhaftes Arrangement vor."
"Lebenslang wäre der korrekte Terminus", er grinste anzüglich und setzte hinzu: "Dein Leben betreffend natürlich."
"Lebenslang...", sie zögerte einen Augenblick, dann trat sie einen Schritt auf ihn zu, "in Ordnung. Aber ich stelle Bedingungen."
"Ich höre."
"Keiner von uns schadet dem jeweils anderen dauerhaft. Es geschieht nichts ohne die Erlaubnis des anderen und du versuchst nicht, mir deinen Willen aufzuzwingen."
"Einverstanden."
"Und du lässt sie in Ruhe?"
"So lautet unsere Vereinbarung. Die wir ganz nebenbei auch schriftlich fixieren lassen sollten. Ich werde das entsprechend in die Wege leiten."
"Mach das. Ich würde mich jetzt gerne ein Wenig ausruhen, bevor ich den Tee fertigstelle. Besteht die Möglichkeit, dass du mich dazu allein lässt?"
"Was immer du wünscht, meine Rose." Er deutete einen Diener an und wandte sich zur Tür.
Nur wenige Atemzüge später war Magane allein.

24.04.2017 0: 10

Wilhelm Schneider

Der Vampir war stark in Versuchung, nach der Anstrengung des Abstiegs in das Reich der Sanitäterin, einen Moment innezuhalten. Vielleicht würde es niemand bemerken, wenn er sich erst an der Wand des Ganges im Zellentrakt anlehnte, sich vielleicht sogar auf den Boden setzte? Aber nein! Sollte dann eben doch jemand vorbeikommen, so musste er sich eingestehen, würde er hoffnungslos daran scheitern, sich noch rechtzeitig vor einer Entdeckung wieder aufzuraffen. Dann lieber die Zähne zusammenbeißen und es hinter sich bringen.
Er klopfte an die außergewöhnlich stabile Bürotür... und hielt fast erschrocken inne, als selbige sich sofort öffnete.
Rogi Feinstich blickte ihm entgegen und er registrierte mit Verwunderung, dass sie deutlich übermüdet wirkte.
"Darf ich eintreten? Oder komme ich noch zu früh, Ma’ am?"
Sie hatte am vorigen Tag keine Uhrzeit angegeben gehabt, zu der er wieder auftauchen sollte. So hatte er die Tageseinteilung mehr schlecht, als recht hinter sich gebracht. Aber er war wohl nicht der einzige gewesen, der den Tag ziemlich verbissen abgearbeitet und dabei Scheuklappen getragen hatte. Er hatte das Gefühl gehabt, dass sämtliche Kollegen stumm und übermüdet zu Gange gewesen waren und sich dabei kaum gegenseitig wahrgenommen hatten, sowohl in der Kröselstraße, als auch hier, wo er zum Schichtende in der Kantine aufgelaufen war. Dort hatte er zum Schein in einem Buch gelesen. Als wenn es für mehr gereicht hätte! Er war schon froh gewesen, das Buch auf dem klapprigen Tisch ablegen zu können und es nicht hochhalten zu müssen! Sollte also ein Kollege ihn dabei beobachtet haben, wäre diesem vermutlich irgendwann aufgefallen, dass er nicht einmal umgeblättert hatte. Aber wer interessierte sich schon für ihn?
Die Vorgesetzte bat ihn herein.
"Nein, ef ist allef bereit."
Sie schloss hinter ihm die Tür, doch seine Nervosität wandte sich diesmal ganz anderen Dingen zu. Sein Blick folgte ihr zu der schweren Truhe, welche sie schnell öffnete und wieder zufallen ließ, nur um ihr ein kleines Fläschchen zu entnehmen. Sie kam auf ihn zu und reichte im dieses.
"Trink daf!"
Wilhelm hielt das unbeschriftete Behältnis vorsichtig in der Hand. Er drehte es zwischen den Fingern und hielt es misstrauisch gegen das Licht. Die Farbe der Flüssigkeit darin stimmte zwar nicht ganz. Aber deren Verhalten blieb verräterisch.
"Ist das... Blut?"
Die Igorina hob tadelnd den Finger, um ihn wortlos daran zu erinnern, dass die Zusammensetzung dessen, was sie ihm zugesagt hatte, nicht zu seiner Kenntnis bestimmt war.
Und er verstand und akzeptierte das wohl! Nur war da diese Unsicherheit!
"Ma' am, ich weiß nicht, nach den letzten Versuchen..."
Sie fiel ihm wirsch ins Wort, als wenn sie beinahe hoffte, dass er es sich anders überlegen und einfach wieder gehen würde.
"Ich werde nach dir fehen. Falls ef nicht den gewünschten Effekt haben follte. Doch daf ift daf Befte, waf ich dir bieten kann. Trink ef oder gib ef zurück!"
Fast instinktiv schlossen sich seine Finger um die kleine Flasche. Plötzlich ging alles so schnell! Er musste schwer schlucken. Was sie einforderte, war Vertrauen. Solches in ihr Wissen – aber auch solches in ihre Person. Er war sich fast sicher, dass er noch nicht so weit war. Die Worte "Manus Refelli!" echoten düster durch seine Tagträume. Andererseits... sie hatte ihm diese Hilfe nach eingehender Überlegung von selbst angeboten gehabt! Und offenbar hatte es sie, wenn er ihre erschöpfte Erscheinung richtig deutete, seit dem gestrigen Abend auch Mühe gekostet, diesen Trunk extra für ihn herzustellen...
So oder so, es gab keinen anderen Weg.
Er ging zu dem Stuhl, auf dem er bereits zuvor gesessen hatte und ließ sich schwer darauf fallen. Ein letztes Mal betrachtete er die dunkle Flüssigkeit, dann öffnete er das zarte Fläschchen... und kippte dessen Inhalt vorsichtshalber auf ex.
Für einen kurzen Moment noch sah er, wie seine Ausbildungsleiterin beobachtend vor ihn trat. Dann setzte die Wirkung ein.
Es war Blut darin gewesen und, gleichgültig in welchem Mengenverhältnis, es ergoss sich in ihn, wie ein feuriger Dammbruch. Schmerzen flammten auf, erblühten gleich Blättern, die sich im Frühling entrollten und ausbreiteten, immer noch mehr Raum einnehmend, explodierten wie die Dunkelheit in sich weitenden Pupillen, bis jeder Zentimeter seines Innersten lichterloh brannte.
Die Vorgesetzte verschwand aus seinem Blick, als er sich keuchend zusammenkrümmte. Sie tauchte aber sofort wieder auf, als sie dicht neben ihm in die Hocke ging. Sie betrachtete ihn mit Sorge. Immerhin das!
Er kämpfte gegen den blendend weißen Schmerz an, der durch seinen gemarterten Körper tobte. Die Sekunden seiner Pein verstrichen quälend langsam, es war wie ein ewiger Tod, den es auf alle Zeiten zu ertragen galt! Kein Ende in Sicht! Das Bewusstsein gehalten, gerade eben noch so auf der Kippe, noch eine Ewigkeit, noch eine...
Doch mit jeder verstrichenen Sekunde, veränderte sich der Schmerz, wurde auf schwer zu beschreibende Weise milder. Es war, als wenn das blaue Feuer einer Eisenesse seine unbeschreibliche Hitze verlor und langsam in sich zusammensank. Als wenn ein wütendes Flammeninferno alles verzehrt hätte, was als Nahrung infrage gekommen wäre oder als wenn Gift durch ein Gegengift ausgebrannt worden wäre und nur noch kleine Tropfen versprengten Öls nachflackerten.
In einer seltsam klaren Sekunde dachte er: Aber ich bin noch da, bei Bewusstsein!
Und dann, fast unmerklich, veränderte sich etwas. Die Flammen verloschen, eine nach der anderen. Es blieb nur noch das Flimmern der Glut in seinem Körper, wie die seltsamen Verzerrungen heiß aufsteigender Luft.
"Allef in Ordnung?"
Der Vampir merkte, wie er noch immer hastig um Atem rang. Er schloss die Augen und versuchte dies wenigstens gleichmäßiger zu tun, wenn es denn schon sein musste. Doch obendrein kämpfte er darum, die Erinnerungen an sie zurück zu drängen, welche mit dem heftigen Ausschlagen der Hitzeschmerzen an die Oberfläche seiner bewussten Überlegungen gedrängt waren. Ihr bösartiges Lächeln, als sie ihn mit der Flammenwand umarmte. Der Genuss, den es ihr bereitet hatte, ihre Hand an seinem Brustkorb empor gleiten zu lassen und ihn zu zeichnen. Ihr unübersehbarer Triumph, als sie ihm in seiner Agonie nicht nur den Namen entrang, sondern ihn auch dazu brachte, sich ihr mit seiner Zustimmung vollends auszuliefern.
Wie von Ferne nahm er wahr, wie sein Körper mit geschlossenen Augen leicht im Fieber schwankte.
Eine Berührung legte sich auf seine Stirn und verschwand wieder. Ein leises Seufzen erklang.
Er fühlte sich inzwischen seltsam benommen, wie eine dösende Katze in flirrender Mittagshitze. Die bisher verbliebenen Schmerzen schienen wegzuschmelzen und er entspannte sich wie von selbst. Seine Stimme klang schwerfällig, als er diesen Eindrücken Ausdruck verleihen wollte.
"Das... das ist gar nicht mal so... schlecht. Was... was ist... das?"
"Ef hat geholfen?"
Wilhelm horchte in sich hinein und blinzelte dabei träge.
"Ja... es hilft..."
Ein Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie zufrieden antwortete:
"Mehr brauchft du nicht zu wissen."
Er lächelte... und dann kippte tief in ihm drinnen eine Blockade, wie eine altersschwache Ziegelmauer, eine rußgeschwärzte Ruinenwand, und eine mächtige Welle aus dunkelster Müdigkeit überrollte ihn, als sein Körper den Tribut der letzten Tage mit einem Schlag einforderte. Sein Sichtfeld schrumpfte im Sekundenbruchteil zusammen und die Muskeln, die ihn bisher nur noch mühsam aufrecht gehalten hatten, ließen ihn vollends im Stich. Dass er fiel, merkte er schon gar nicht mehr.

25.04.2017 0: 07

Rogi Feinstich

Er fiel ihr direkt in die Arme und sie packte überrascht zu. Allerdings verlor sie gleichzeitig das Gleichgewicht und landete mit ihm auf dem Boden. Staub wirbelte auf und sie hielt automatisch den Atem an. Der Vampir lag auf ihr und rührte sich nicht. Er hatte tatsächlich das Bewusstsein verloren!
Sie schob ihn schnell beiseite und stand wieder auf. Kurz darauf, setzte sie den Rekruten wieder zurück an seinen Platz und hielt seinen Kopf in beiden Händen. Sie öffnete mit den Daumen seine Augenlider und betrachtete Mund und Zähne. Keine Veränderungen.
"Wilhelm?"
Nichts. Keine Reaktion.
Sie hatte mit so ziemlich Allem gerechnet. Aber nicht damit, dass er einschlafen würde.
Sie ging wieder in die Hocke und tippte ihn leicht an, doch er war vollkommen weggetreten. Sie rieb sich mit beiden Händen müde über ihr Gesicht und sah Wilhelm für einen Moment nachdenklich durch ihre Finger an.
Das Brandmal auf seiner Brust, das sie in ihrem Bewusstsein wahrgenommen hatte, war ihr immer noch so klar präsent, als hätte es sich selbst bei ihr eingebrannt.
Mit zusammengepressten Lippen begann sie schließlich, sein Hemd aufzuknöpfen. Sie hielt kurz inne, als sie es tatsächlich sah, knöpfte das Hemd dann aber hastig komplett auf.
Tatsächlich! Ein Handabdruck.
Sie ließ ihre eigene Hand zum Vergleich über seiner Brust schweben und zog erstaunt die Brauen zusammen. Sie richtete sich schließlich wieder auf und ging zu ihrer Apothekerkommode. Sie hatte sicher noch irgendwo eine Salbe gegen Brandwunden. Wenn alles klappte, würde sein Vampirmetabolismus bald wieder eingetaktet funktionieren. Wenn nicht... konnte sie zumindest seine äußerliche Verletzung behandeln.
Selbst, als sie die Salbe vorsichtig auf seiner Brust verteilte, reagierte er nicht. Langsam würde sie sich Gedanken darüber machen müssen, was sie mit ihm anstellen sollte? Wer wusste schon, wann er aufwachen und wie sehr der Hunger ihn dann plagen würde?
Sie war so weit weg von Überwald! Und doch trug sie immer noch die selben alltäglichen Kämpfe aus, wie sie es dort getan hatte! Es war wie ein Fluch, der sie einzuholen schien. Doch sie würde nicht zulassen, dass die Geschichte sich wiederholte.
Sie betrachtete noch einmal den Rekruten, der zusammengesunken auf dem Stuhl saß und knirschte mit den Zähnen.
Vampir-Und-Igor-Verhältnis hin oder her... wenn sie nur eine Sekunde länger darüber nachdachte, würde sie noch wahnsinnig werden! Solange der Vampir hier war...
Es packte sie eine gewisse Unruhe und sie konnte das Gefühl nicht greifen, um es niederzuringen.
Sie schloss ihre Tür zur Sicherheit ab.
Dann widmete sie sich dem Schichtplan für die Rekruten. Wie es aussah, musste sie die eine oder andere Korrektur vornehmen.

25.04.2017 0: 17

Magane

Ein leises Geräusch an der Tür weckte Magane aus ihrem unruhigen Schlaf. Sie lauschte und da war es wieder, ein Klimpern wie von einem Schlüsselbund. Ein Schlüsselbund, eindeutig, also vermutlich nicht Sebastian, dann kam eigentlich nur Igor in Frage. Sie rührte sich nicht, wenn Igor schon immer dann kam wenn sie schlief, um einem möglichen Gespräch mit ihr aus dem Weg zu gehen - bitte, das konnte er haben. Sie hörte das Knacken des Schlosses und zu ihrer Verwunderung kam nicht etwa der grummelige Igor sondern Igorina herein. Sie hatte einen Kerzenleuchter in der Hand, mit dem sie aber nur wenig Licht in die Dunkelheit brachte.
"Bift du wach?"
"Ja, jetzt ja", es gelang ihr nicht vollständig die Bitterkeit aus ihrer Stimme zu vertreiben, als sie hinzufügte: "Ich muss mich erst daran gewöhnen, dass alle rein können aber ich nicht raus."
"Ich möchte Febaftianf Abwefenheit nutfen um mit dir fu reden." Er war also abwesend, Magane hätte gerne mehr darüber erfahren, aber sie beherrschte ihre Neugier, zugunsten des von Igorina begonnenen Gesprächs.
"Worüber?" Sie machte eine einladende Geste in Richtung des Stuhles, den sie am Abend vor den inzwischen heruntergebrannten Kamin gerückt hatte und setzte sich selbst im Bett auf.
"Opheliaf Fuftand und wie wir fie weiter pflegen", Igorina stellte die Kerze auf dem Tischchen neben dem Bett ab und holte den Stuhl näher heran, bevor sie sich setzte. Sie wirkte sehr müde, offenbar ließ ihr die Arbeit im Haus und die Sorge um die kranke Gefangene nicht genügend Zeit sich selbst zu erholen. Aber auch wenn Magane diesen Zustand nur zu gut kannte und um die Anstrengungen solcher Doppelbelastungen wusste, musste sie sich dennoch Klarheit verschaffen.
"Ihr Zustand ist jämmerlich, könnt ihr sie überhaupt wecken, sodass sie etwas trinken kann?"
"Ihre Bewufftlofigkeit ift nicht befonderf tief, ich könnte fie wecken, aber ef wäre wohl beffer fie erft fu wecken, wenn fie die erfte Dofif deinef Teef eingenommen hat", das wäre vielleicht wirklich eine gute Lösung, so müsste sie nicht sofort wieder die volle Last ihrer misslichen Lage tragen, trotzdem drängte sich die Nachfrage auf: "Wie soll das gehen?"
"Ef gibt verschiedene Wege einem Bewufftlofen Flüffigkeit fufuführen, mit winfigen Einheiten über den Fluckreflex, oder gleich über eine Magenfonde...", Igorina sah so aus als wollte sie zu einem längeren Vortrag ansetzten deswegen beeilte die Hexe sich sie zu unterbrechen.
"Gut, ich will's gar nicht wirklich wissen, du möchtest sie also erst aus der Bewusstlosigkeit holen, wenn sie durch den Tee abgeschirmt ist."
"Ja, wann ift der Tee fertig?"
"Er ist fertig, das war er auch schon heute morgen, aber ich habe Sebastian belogen um Ophelia sehen zu können", Igorina schaute sie mit einem Mischung aus Erstaunen und Respekt an, es gehörte schon einiges dazu ihn zu belügen und sie wollte nicht in der Haut der Wächterin stecken, wenn er dahinter kam. "Mit etwas Glück glaubt er, dass man mit der Dosis vorsichtig sein muss. Das ist zwar Quatsch, aber es wäre schön, wenn du es trotzdem bei einer Tasse täglich beließest. So toll schmeckt der Tee nicht, dass sie ihn kannenweise trinken wollen wird."
"Muff ich bei der Fubereitung etwaf beftimmtef beachten?"
"Ich habe immer einen Teelöffel in ein Teeei gegeben, mit kochendem Wasser aufgegossen und dann eine Viertelstunde ziehen lassen. Kein Zucker, keine Milch, keine Zitrone und auch sonst nichts zusätzlich rein tun", ein entscheidender Punkt, jede Verunreinigung konnte die Wirkung verändern. Magane war froh, dass sie diese Information noch vor Ophelias Entführung hatte gewinnen können, dazu hätte der Frosch kaum getaugt.
"Gut." In etwa so hatten sie es auch mit der gestohlenen Teemischung gemacht. Es entstand eine kurze Pause wärend Igorina nach den richtigen Worten suchte. "Wenn fie nicht mehr foviel Kraft für die geiftigen Heraufforderungen braucht, wird ef ihr fnell beffer gehen."
Igorina sah die Hexe prüfend an.
So vergnügt wie Sebastian bei seinem Aufbruch gewesen war, lag der Schluss nahe, dass die Hexe zwar fachlich durchaus kompetent war, dass sie sonst aber nicht unbedingt wusste, was sie tat. Und bei genauerem Hinsehen zeigte sich auf ihrem, vom Nachthemd nicht verdeckten, Hals ein frisches Bissmal. Sie hatte eine große Dummheit begangen.
"Laff dich nicht auf Gefäfte mit Febaftian ein, er fpielt nicht fair", diese Warnung musste genügen, vermutlich war die Wächterin sowieso verloren, aber vielleicht hatte sie so wenigstens den Hauch einer Chance.
"Ich weiß was ich tue, bitte sorge dafür, dass Ophelia den Tee trinkt und gesund wird. Ich kümmere mich um Sebastian und lenke ihn ab sogut ich kann", Magane versuchte soviel Selbstvertrauen und Optimismus auszustrahlen wie ihr in diesem Moment zur Verfügung stand, leider war das nicht besonders viel und sie konnte die Igorina auch nicht überzeugen.

26.04.2017 0: 01

Rach Flanellfuß

Er hasste es, tatenlos rumsitzen zu müssen! Er fühlte sich wie ein Gefangener in seinem Büro am Pseudopolisplatz! War es Ophelia jemals so ergangen, während ihres Hausarrests? Mit Mühe ging er seinen Verpflichtungen im Wachhaus nach. Allein diesem Umstand, eben dazu gezwungen zu sein, hatte er es zu verdanken, dass er zumindest den Bericht an den Patritzier vollendet hatte. Alles in ihm drängte ihn dazu, das Haus des alten Vampirs zu beschatten. Sich wieder im Grüngansweg umzusehen, um irgendeinen Zugang zu finden. Er musste – Sie mussten so schnell es ging auf alles vorbereitet sein!
Doch zu viel war passiert in der Zwischenzeit und es kostete ihn alle Beherrschung, einfach nur seinem Alltag nachzugehen.
Sie wurden beobachtet! Das hieß: keine Abweichungen vom Schichtplan, keine Aufenthalte an ungewöhnlichen Orten. Am besten er ließ sich so wenig wie möglich draußen blicken. Er wusste nur zu gut worauf er zu achten hatte und er musste gestehen, der Kerl, der ihm an den Fersen klebte, war gut.
Kurz nach den Ereignissen in der Unsichtbaren Universität hatte er gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Das Gefühl, beobachtet zu werden, war als Palastangestellter nur zu vertraut. Doch er hatte es auf die Ereignisse geschoben. Als Mina ihn nach dem letzten Treffen auf den neuesten Stand gebracht hatte, auf dem der Rekrut Schneider die Meinung vertreten hatte, dass das Wachhaus beobachtet werde, wusste er genau, dass etwas nicht in Ordnung war. Als er schließlich Jules davon erzählte, hatte dieser sich bereit erklärt, der Sache auf den Grund zu gehen. Ja, wozu habe man schließlich Freunde?
Sicherlich nahm Jules einfach jede Gelegenheit wahr, die sich ihm bieten mochte, ihn eine Weile nicht aus den Augen zu lassen.
Anfangs hatte sein Kollege noch gescherzt gehabt, ob er sich mit ihrem ehemaligen Mitschüler Ettark Bergig geprügelt habe. Nachdem er seinem Freund aber von den Ereignissen berichtet hatte, waren selbst Jules die Gesichtszüge entgleist. Im selben Moment hatte er seinen Freund um Hilfe gebeten. Sie waren beide schon immer ein gutes Team gewesen. Auch wenn sie beruflich unterschiedlichen Tätigkeiten nachgingen, in der Gilde hatten sie immer zusammengehalten. Er wusste noch nicht, wie die Wache das Ganze angehen würde, doch er wollte die Chancen auf Erfolg definitiv erhöhen.
Rach ballte die Fäuste zusammen, als ihm der vergangene Abend durch den Kopf ging.
Er hatte geduldig zu Hause in seinem Sessel gewartet. Seine Lektüre waren die Aufzeichnungen und Abschriften zu Ophelias Akte gewesen, dabei kannte er deren Inhalt von vorne bis hinten. Allerdings befürchtete er schon die ganze Zeit, irgendetwas zu übersehen. Ihm war schließlich auch entgangen, das Rogi ihre Suche aufgegeben hatte.
Er hörte das Türschloss und Jules kam endlich nach Hause. Doch, er war nicht allein.
"Hallo, Bruderherz!", sagte seine Schwester und ließ sich aufs Sofa, ihm schräg gegenüber, fallen.
"Du hattest Recht. Du wirst beobachtet.", sagte Jules ruhig und setzte sich zu ihr. "Und es ist niemand den wir kennen..."
"Jules!", brachte Rach nur hervor.
Hatte dieser tatsächlich seine kleine Schwester in die Sache involviert? Das war doch absurd!
"Du hast es ihr gesagt? Warum..."
"Rach, nach allem was dir passiert ist wunderst du dich noch? Sieh dich mal an! Und das war eine Igorina, die eigentlich auf deiner Seite sein sollte... wir werden es sicher nicht so einfach haben"
"Ja und genau deswegen..." Er wusste, nicht wie er den Satz beenden sollte.
"Deswegen was?" Sie funkelte ihn wütend an. Dabei wollte er nur nicht noch jemanden verlieren, der ihm nahestand.
"Du bist meine Schwester... ich... ich will dich nur beschützen. Das weißt du doch!"
In dem Moment, als er es ausgesprochen hatte, wusste er, dass es Unsinn war. Er sagte die Wahrheit! Aber seine Schwester war eine ausgebildete Assassinin. Sie behauptete sich als Frau in einer Männerdomäne. Sie war fast fertig mit Ihrer Promotion!
Dennoch, sie war nun mal auch seine kleine Schwester.
"Rach", sagte sie kühl. "Werd‘ erwachsen."
"Das hat gesessen!" Rach fasste sich gespielt an die Brust und Esther rollte mit den Augen.
"Ich bin dabei, ob du willst oder nicht."
"Hab‘s verstanden... Schwesterchen", sagte er und grinste sie an.
Trotz aller Umstände, war es noch ein heiterer Abend geworden. Doch dann hatten ihn mal wieder die Ereignisse überrollt.
Maganes Verschwinden hatte alles geändert. Warum hatte er es nicht kommen sehen? Es war offensichtlich, wenn man nur kurz darüber nachdachte. Die Teemischung 42, die Ophelia zwar verstummen ließ, allerdings auch deren Gedankenleck blockierte, war kurz nach Ophelias Verschwinden, gestohlen worden. Der Zusammenhang war ihnen schon damals klar gewesen. Und jetzt, nach der Entführung der Hexe... nach dem Experiment! Bei den Göttern, was hatte er getan? Der gestohlene Vorrat musste dem Alten ausgegangen sein. Racul hatte innerhalb von 24 Stunden nach dem Experiment Magane entführt. Was waren die nächsten Schritte des Vampirs?
Rach raufte sich die Haare.
Nachdenken hatte er anscheinend wirklich verlernt. Das Experiment, Rogi Feinstich... er hatte in letzter Zeit zu viel einstecken müssen.
Er stand abrupt auf. Er konnte nicht weiter dumm rumsitzen und er konnte sich nicht auf den Papierkram oder weitere Recherchen konzentrieren. Er konnte sich zwar nicht bei Magane entschuldigen, doch er schuldete nicht nur der Hexe eine Entschuldigung.
Er atmete tief durch - und bereute dies gleich wieder, als die geprellten Rippen protestierten. Während seines Ganges ins Kellergeschoss, kreisten seine Gedanken um Ophelia und deren Entführer.
Vorausgesetzt, sie schafften es, alle Hindernisse zu überwinden und konnten zu Ophelia gelangen... wozu wäre der Vampir in der Lage? Worauf mussten sie achten? Ein Kampf gegen ihn war schon von vornherein zum Scheitern verurteilt. Niemand, der von der Verbindung zwischen Racul und ihr wusste, würde sich ihm entgegenstellen wollen. Der Vampir war sich eventuell dessen bewusst, dass ihm die Lebenskopplung zum Vorteil gereichte. Spätestens aber wenn er das begriff, war es um sie alle geschehen! Das durfte nicht passieren. Wie also bekämpfte man einen Vampir, ohne ihm zu schaden?
Im Zellentrakt steuerte er direkt auf das Büro der Igorina zu und sie öffnete schon beim ersten Klopfschlag schnell - und völlig lautlos - die Tür.
Sie presste die Lippen aufeinander, als sie ihn sah. Er konnte nicht anders, als dies mit einem charmanten Lächeln zu erwidern.
"Fass dich kurz. Ich habe zu tun."
Er nickte schnell und blieb wie angewurzelt in der Tür stehen. Die Fronten waren verhärteter als er gedacht hatte.
"Es tut mir leid, Rogi. Ich bin zu weit gegangen..."
Sie hob die Brauen und neigte leicht den Kopf und er hatte den Eindruck, als würde sie lauschen. Schließlich bat sie ihn herein. Kommentarlos deutete sie auf den Stuhl neben der Tür, während sie diese verschloss.
Er setzte sich verwundert.
"Wie geht es dir?", fragte er vorsichtig. "Das Mittel hatte keine weiteren Auswirkungen hoffe ich..."
Sie war an der Apothekerkommode angelangt und hielt mitten in ihrer Bewegung inne. Die Igorina starrte einen Moment auf ihre Hände, ehe sie etwas aus einer Schublade nahm und wieder auf ihn zu kam.
"Waf hast du bifher gemacht?", fragte sie und deutete dabei auf seine linke Gesichtshälfte.
Die Igorina zog ihren Stuhl zu sich und setzte sich ihm gegenüber.
Sie ignorierte seine Fragen vollkommen!
"Ich habe es gekühlt und Schmerzmittel genommen", antwortete er und sie nickte zufrieden.
"Damit follte die Schwellung fneller zurück gehen", sagte sie und öffnete dabei eine flache Metalldose.
Sofort breitete sich der Geruch von Kräutern und Alkohol aus und er nickte ihr verstehend zu. Sie begann sofort damit die Salbe aufzutragen und er biss die Zähne zusammen. Die Stille zwischen ihnen beiden konnte er allerdings nicht ertragen.
"Rogi, es tut mir wirklich leid... ich..."
"Fei einfach still", unterbrach sie ihn und beendete die Behandlung des Auges. "Du hatteft deine Gründe. Ich hatte meine... können wir daf Ganze bitte einfach vergessen?"
"Natürlich", sagte er schnell, auch wenn er immer noch das Gefühl hatte, dass es Rogi durchaus noch beschäftigte.
Und nicht nur sie! Jeder hatte seine Bedenken zur Igorina und er wusste nicht mal, ob er selbst soweit war, ihr zu verzeihen. Ja, Racul hatte sie manipuliert. Doch was war davor gewesen? Sie hätte doch etwas sagen können! Nie hatte sie auch nur im Ansatz verlauten lassen, dass sie eine Spur hatte, dass sie wusste wer der Vampir war, ja sogar seinen vollen Namen kannte.
"Mach deinen Oberkörper frei", brachte sie ihn nicht nur aus den Gedanken, sondern auch völlig aus dem Konzept.
"Wie bitte?", fragte er irritiert, während sie aufgestanden war und weitere Utensilien aus den Schubladen der Kommode zusammensuchte.
"Du haft richtig gehört. Ich will fehen, was ich angerichtet habe und du willft sicher fo schnell wie möglich einsatzbereit sein, richtig?"
Resigniert stand er auf und legte langsam seine Kleidung ab. Hätte er doch besser zur Uniform gewechselt, statt in seinem Anzug zu bleiben. Der Blick, der auf ihm ruhte, während er seine Kleidung fein säuberlich über die Lehne des Stuhls legte, behagte ihm überhaupt nicht. Er streifte die Hosenträger beiseite und knöpfte so schnell er konnte sein Hemd auf, während Rogi ungeduldig mit dem Fuß wippte. Die innere Unruhe der Igorina war beinahe schon ansteckend. Für sie war es ähnlich unangenehm. Sie hatte ihn schließlich so zugerichtet. Mit zusammengepressten Lippen starrte sie auf seinen Oberkörper und er setzte sich wieder, als sie auf ihn zukam. Sie hatte eine weitere Salbe zur Hand und er ließ es diesmal kommentarlos über sich ergehen.
"Wieviel Schmerzmittel nimmft du?"
Diesmal hatte sie das Schweigen gebrochen und sah ihn eindringlich an.
"Genug... ich komme zurecht."
"Genug? Oder Zuviel?"
"Du machst dir doch nicht wirklich Sorgen um mich", sagte er mit einem Lächeln und sie rollte mit den Augen.
"Fon gut. Keine weiteren Fragen."
Es fröstelte ihn kurz als sie eine weitere Schicht der Salbe auftrug. Wenn er schon hier war, konnte sie ihm vielleicht bei einer ganz bestimmten Überlegung weiter helfen. Er hatte schon mit seiner kleinen Schwester und Jules darüber geredet und er hoffte, sie würden etwas finden. Allerdings wettete man nie auf nur ein Pferd. Es konnte nicht schaden, ihre Meinung einzuholen.
"Weißt du ein Mittel, das Vampire betäuben kann?"
"Die befte Betäubung ist Hammer und Pflock...", war ihre prompte Antwort auf seine Frage.
"Du weisst, dass das nicht geht. Racul und Ophelia..."
"Ich weif. Doch waf, wenn es nicht anders geht?"
Ihr Tonfall gefiel ihm gar nicht. Sie hatte gerade nicht ernsthaft vorgeschlagen, Ophelias Leben zu Opfern?
Rach setzte an, etwas zu sagen, doch er wusste nicht mal was er darauf erwidern sollte. Der einzige Grund warum er nicht auf sie losging war, dass sie gerade dabei war, ihm einen Stützverband anzulegen! Sein angehobener Arm war absolut ungeeignet für solche Aktionen!
Und dann hatte ihn die Vernunft längst wieder eingeholt.
Jedes Misstrauen, jede Aggression gegeneinander, würde nur die Chancen, Ophelia zu retten, verschlechtern.
"Tut mir leid", sagte sie schnell und er klappte den Mund wieder zu. "Ich... nun, wir follten auf alles gefafft sein."
Er sah sie für einen Moment nachdenklich an. Auf alles gefasst sein... Er wollte es sich nicht einmal vorstellen! Und so sehr er sich auch bemühte, der Igorina wieder Vertrauen entgegen zu bringen - er kannte Rogi vor allem in der Hinsicht, dass sie Vampire hasste. Er hatte genug miterlebt und mitansehen müssen, dazu noch diese Aussage...
Er schob Rogi von sich, um sich etwas Raum zu verschaffen. "Denk bloß nicht dran!" Er war aufgestanden und sein Finger deuete zitternd auf Rogi. "Wenn Ophelia etwas passiert... wenn sie stirbt, weil du meinst, es wäre besser, einen weiteren Vampir zu vernichten, dann..."
Sie hob beschwichtigend ihre Hände und lächelte ihn an.
Als ob ihn das beruhigen würde. Das war seine Masche!
"Ich bin nicht daf Problem. Ophelia ift derzeit sehr fwach und Sebastian..." Sie ließ ihre Hände in ihren Schoß sinken. "Ef wird nicht einfach..."
Damit hatte sie leider Recht. Es würde nicht einfach werden.
Er ließ sich resigniert wieder auf seinem Platz nieder und sie setzte ihre Behandlung dort, als wäre nichts gewesen. Er war wirklich gewillt, ihr zu glauben. Doch sein Misstrauen war, gegen alle Vernunft, immer noch zu deutlich präsent. Er seufzte innerlich und schob den Gedanken beiseite. Es gab nun andere Prioritäten.
"Du kennst also kein Mittel?", hakte er nach und versuchte sich zu beruhigen. "Vielleicht auch etwas, das ihn nur schwächt, seine vampirischen Kräfte blockiert? Etwas in der Art?"
Sie schüttelte den Kopf und widmete sich wieder seinen Bandagen.
"Noch nicht."
"Gibt es vielleicht Aufzeichnungen deiner Familie? Vielleicht in eurer Geschäftsstelle? Irgendwas?"
Bei dem Wort Familie verzog sie ihre Mundwinkel und hatte in ihrer Behandlung kurz innegehalten.
"Ich werde mich umhören."
"Danke", sagte er nur und war ob dieser Antwort tatsächlich erleichtert.
Gemeinsam würden sie eine Lösung finden.

27.04.2017 22: 14

Magane

'Du wagst es, mir mit leeren Händen unter die Augen zu treten?' Die vorwurfsvolle Frage hallte in ihm nach und steigerte seine Wut. Als ob die verpatzte Jagd nicht schon schlimm genug war. Und alles nur, weil der Meister zu schnell neue Beute brauchte. Früher hatte er für jede Jagd Wochen der Vorbereitung und Planung gehabt und jetzt nur noch wenige Tage. Es hatte nur schief gehen können! Er kannte ja noch nicht einmal den Tagesablauf des Opfers und seiner Familie.
Das hatte letztlich auch zum Misserfolg geführt. Das Mädchen war nicht so allein und schutzlos gewesen, wie er gedacht hatte. Er war von einem anderen Familienmitglied, vermutlich dem Vater, angegriffen worden.
'Keine Ausflüchte, du enttäuschst mich - erneut!'
Er war kaum zu Wort gekommen. Mal wieder! Natürlich interessierten den Meister die Probleme der Jagd nicht mehr. Dafür hatte er schließlich ihn! Wie überhaupt für alles, was ein Erheben aus der Gruft erfordert hätte. Es war eine Sache, für alles Unangenehme seine Bediensteten zu haben. Aber eine ganz andere, vollkommen von ihnen abhängig zu werden. Es war wirklich schade, dass er die ganzen jungen Mädchen nur willenlos beim Meister abzuliefern hatte. Dabei hätte er zu gerne einmal selbst eins von den Objekten seiner langen Beschattungen gekostet. Sozusagen auf eigene Rechnung gejagd. Aber für seinen eigenen Durst blieb ja kaum Zeit.
'Dann wirst du heute Nacht wieder auf die Jagd gehen! Und wage es nicht, mich noch einmal zu enttäuschen! Ich werde dein Versagen nicht länger dulden!'
Wie stellte er sich das vor? Verletzt und noch schlechter vorbereitet? Er konnte doch nicht einfach irgendwen nehmen! Es war ja auch nicht so, als wenn er keine Ansprüche stellen würde! Und ihm eine Näherin als Jungfrau verkaufen, konnte er auch nicht. Das bemerkte Racul sofort. Also woher ein Opfer nehmen? Die Kleine von letzter Nacht war die Letzte, die er in der Hinterhand gehabt hatte. Aber die stand ja jetzt nicht mehr zur Debatte. Oder konnte er es wagen, zwei mal hintereinander die gleiche Familie anzugreifen? Sie würden sicherlich nicht mit einem erneuten Angriff rechnen. Nur hätten sie den Pflock auch noch nicht weggepackt...
Wie auch immer, bevor er sich wieder auf den Weg in die Stadt machte, musste er sich um die Verletzung kümmern. Die logische Wahl wäre die Hilfe eines der Igors in Anspruch zu nehmen. Aber er war sich nicht sicher, ob das eine gute Entscheidung wäre. Hinterher müsste er auch noch einen neuen Igor organisieren. Die beiden nervten schon unter normalen Umständen.
Es half alles nichts, er brauchte frisches Blut um seine Selbstheilung in Schwung zu bringen.
Er merkte kaum wie die Wut seine Schritte in Richtung der Gefangenen lenkte. Dabei waren sie beide als Opfer tabu. Genau wie die Mädchen im Obergeschoss. Aber er konnte auch kaum verletzt und im hellen Tageslicht in der Stadt auf die Jagd gehen, weder für sich, noch für den Meister. Die eigentlich oberflächliche Verletzung brannte unangenehm und verheilte auch nicht so gut, wie sie es hätte tun müssen. Er vermutete Weihwasser oder etwas ähnliches, das nun wie Gift seine Selbstheilung einschränkte.
Lebendig und einsatzbereit, rief er sich ins Gedächtnis, so musste sein neues Spielzeug sein. Das hieß nicht, dass sie jederzeit fit sein musste, eigentlich hieß das nur eines: Er durfte sie nicht töten!
Vor der Tür zögerte er und warf einen Blick auf die Wunde, die ihn, schon auf Grund der Lage, in der Bewegungsfreiheit einschränkte. Dieser aufgebrachte Vater hatte auf sein Herz gezielt und nur seiner Geschwindigkeit und seinen Reflexen verdankte er es, dass er sich jetzt noch darüber aufregen konnte, dass er den Anzug von gestern wohl würde vergessen müssen! Seit wann hatte man immer einen weihwassergetränkten Pflock zur Hand?
Lautlos öffnete er die Tür zum Blauen Zimmer. Eine großartige Idee, diese Tür gründlich schmieren zu lassen. Normalerweise hielt er ja bei Gefangenen nicht viel vom Überraschungseffekt aber bei ihr hatte es nur Vorteile.
Die Hexe stand mit dem Rücken zur Tür am Tisch, wog duftende Kräuter ab und sang leise vor sich hin. Sie hatte ihn nicht bemerkt. Jetzt wäre es so einfach. Nur wenige Schritte trennten ihn von ihrem schlanken Hals, die waren schnell überwunden. Sie sang weiter und merkte nichts.
Durfte sie nicht töten.
Sebastian schlang den rechten Arm so um sie, dass sie keine Möglichkeit hatte, sich zu befreien. Zog mit der Linken ihren Kopf zur Seite und hatte beinahe freies Feld. Sie hatte die Kette wieder umgelegt, allein die Nähe zu dem religiösen Symbol reichte jetzt schon. Seine Wunde pochte schmerzhaft, vielleicht eine Art religiöse Rückkopplung? War das vermaledeite Weihwasser etwa ausgerechnet Om geweiht gewesen?
Er schleuderte sie gegen die Wand, wo sie langsam zu Boden sackte. Es war nicht nötig, sich zu vergewissern. Er konnte ihren Herzschlag hören. Nicht tot, aber auch nicht in der Lage sich zu wehren. Gut. Die Hemdbluse leistete keinen nennenswerten Widerstand, war auch nicht schade drum. Dieses hochgeschlossene Ding würde sie jedenfalls nicht mehr anziehen. Er riss ihr die Kette vom Hals und warf sie angeekelt weg; sie landete irgendwo unter dem Bett. War ihm egal. In seiner rechten Hand bildete sich eine Brandblase. Auch egal. Würde weggehen.
Sie nicht töten.
Er beugte sich zu ihr runter. Keine gute Position. Vielleicht sollte er sie anders hinlegen, damit er besser an ihren Hals kam. Egal. Er wählte eine Stelle und biss zu. Das nahrhafte prickelnde Blut der Hexe ließ beinahe augenblicklich den Schmerz der Wunde verstummen. Es erfüllte seinen Zweck, war aber nicht der erhoffte Genuss. Vielleicht trank er zu schnell oder es lag an der unwürdigen Haltung am Boden. Wie ein wildes Tier über seiner hilflosen Beute. Davon abgesehen machten bewusstlose Opfer bei Weitem nicht so viel Spaß, wie solche die mitbekamen, was mit ihnen geschah. Abwesend lauschte er ihrem Puls, um sofort reagieren zu können. Seine Wunde begann sich zu schließen und auch die schildkrötenförmige Brandblase wurde kleiner. Zeit sich zurückzuziehen. Er schloss den Biss.
Nicht töten.
Seine Verletzungen würden jetzt allein heilen, rechtzeitig zur nächsten befohlenen Jagd. Seine starke Hexe würde sich erholen und ihm das vermutlich heimzahlen. Ein wenig freute er sich schon auf ihren Versuch ihn dafür büßen zu lassen. Er ließ sie liegen wie eine fallengelassene Stoffpuppe und ging. Er hatte zu jagen und diesmal würde er nicht versagen.
Töten.
Irgendwen.

28.04.2017 0: 10

Wilhelm Schneider

Wilhelm dämmerte der Realität entgegen und das war tatsächlich mal ein angenehmer Vorgang. Wärme und Zufriedenheit erfüllten ihn, das Gefühl von Kraft, von prickelnder Energie, die seinen Körper durchfloss. Geborgen in der Vertrautheit eines ruhigen Herzschlages an seiner Seite. Er fühlte sich großartig! Die Schmerzen der letzten Tage waren wie fortgewischt, als wenn es sie nie gegeben hätte! Kein Schwindelgefühl, kein Zittern in den Muskeln... überhaupt! Seine Selbstheilung war endlich zum Zuge gekommen, er konnte sie in sich leuchten spüren, sie arbeitete besser denn je! Und obendrein die berauschende Wirkung dieses Wundermittels! Was hatte sie ihm da nur gegeben? Die Wache-Igorina war wirklich ein Kuriosum! Was auch immer sie für ihn hergestellt hatte... wenn bestimmte Kreise davon wüssten, dass es solch ein "Familienrezept" gab, dann hätte Rogi Feinstich für den Rest ihres Lebens ausgesorgt. Insofern sie das wollen würde. Da war er sich sicher.
Er holte lächelnd Luft, ein wohlig tiefer Atemzug, wie von einem glücklichen Neugeborenen.
Eine Hand strich ihm das Haar von der Stirn, langsam, fast zärtlich.
Wilhelm hielt inne, in der Bewegung, mit der er sich hatte strecken wollen.
Er war nicht allein!
Nein, natürlich nicht, er hatte ja eben noch den Herzschlag dicht neben sich wahrgenommen. Aber... wer auch immer neben ihm lag... es war nicht Hanna!
Eine Ahnung stieg in ihm auf und es war keine schöne. Seine Umgebung roch unzweifelhaft nach den typischen Geruchskomponenten einer Mischung aus Stein, Holz, Staub und Lampenöl, wie sie die Kellerebene des Wachhauses kennzeichneten. Dazu kam eine stark alkoholische Note, wie sie beim Desinfizieren von Körpern entstand. Sowie ein unterschwelliger Hauch von Arzneien und Salben. Das waren exakt die Gerüche in Rogi Feinstichs Büro gewesen. Hatte er den Raum der Sanitäterin noch verlassen? Wie lange war er nicht aufnahmefähig gewesen? Und... was, verflucht noch mal, hatte sie ihm in den Trank getan?!
Der Vampir versuchte fieberhaft, sich an irgendein Detail der letzten Stunden zu erinnern, doch da war nichts. Nichts! Hatte sie sein Gedächtnis etwa manipuliert? Konnte sie das? Würde sie das?!
Ihm wurde bewusst, dass er seine Rechte noch immer halb neben sich in die Höhe hielt, in der Bewegung erstarrt, verkrampft, panisch. Er ließ sie vorsichtig sinken. Dann öffnete er langsam die Augen und wandte sein Gesicht nach links, dorthin, wo der Pulsschlag nistete.
Er hatte richtig vermutet. Neben ihm stützte Rogi Feinstich sich mit angewinkeltem Arm auf ihrem Kopfkissen ab und blickte ihm, sichtlich amüsiert, auf gleicher Höhe entgegen.
Ihre nackten Schultern und Arme boten sich seiner lichtempfindlichen Vampirsicht mit geschwungenen Kurven dar. Eine Landschaft warmer, weicher Haut, gezeichnet vom Leben, ebenso wie vom Tod. Narbige Grenzen, die Territorien markierten. Ihr Körper glich einem exotischen Schatz, der des Tages unter dem Deckmantel der Kleidung verborgen lag, zu selten, zu kostbar, um von jedem zufälligen Betrachter bestaunt zu werden. Ihre Narben waren so vielfältig wie die Blüten des Wiewunderlands, einige kunstvoll und dezent, wie halb verborgene Ranken, andere kräftig hervortretend, wie symbolträchtige Aussagen. So reich an Strukturen - wie Silberbrokat! Sie wirkte im diffusen Licht der Nacht wie ein mystisches Wesen, das durch all die aufgetragenen Zeichnungen in diesen Körper gebannt wurde. Eine dunkle Macht, die sich mit einem irdischen Dasein arrangiert haben mochte, die sich aber niemals in ihrem wilden Wollen beschneiden lassen würde! Die groben Linien einer Y-Narbe liefen von den delikaten Vertiefungen ihrer Schlüsselbeine schicksalsgebunden aufeinander zu, gestaltgewordene Beschwörungen, die sich mittig treffen mussten, die dazu gezwungen waren, nur um von dort aus, vereint, in die schattigen Gefälle ihrer weiblichen... die bleiche Barriere des Deckenrandes verwehrte ihm tiefere Einblicke, seine Aufmerksamkeit schnellte ertappt zu ihrem Gesicht zurück.
Die verschiedenfarbigen Augen glommen regelrecht mutwillig in dem morgendlichen Zwielicht, das nur ansatzweise in diese dunkle Zelle fiel. Es konnte keinesfalls später als vier Uhr in der Frühe sein und er lag neben seiner nackten Vorgesetzten in deren Bett!
Er musste schwer schlucken.
Ihr Lächeln wurde breiter.
Das Gefühl sagte ihm, dass er seine Kleidung noch an sich trug. Wobei... sein Hemd! Es spannte sich nicht mehr wie sonst straff über seiner Brust, fest im Hosenbund verankert, wie es sich gehörte... es fiel ihm aufgeknöpft an die Seiten, heruntergerutscht, beiseite gestrichen, seinen Oberkörper entblößend...
Warum zum Pandämonium konnte er sich nicht daran erinnern, wie es soweit hatte kommen können?! Sie war nicht nur seine Vorgesetzte, nein, sie war auch gefährlich! Was, wenn er ihr in seiner anzunehmenden Umnachtung irgendwas versprochen hatte, was sie von ihm einfordern würde? Konnte er dezent durchblicken lassen, dass er nichts weiter von ihr wollte, keine... zärtlichen Ambitionen hegte? Aber was, wenn sie sich dadurch zurückgestoßen fühlen, wenn sie ihn für ihr Gefühlschaos verantwortlich machen würde?
Er wollte es sich nicht mal ansatzweise ausmalen!
Rogi Feinstich ließ ihren Blick lasziv über ihn wandern, über all das, was unter der gemeinsam genutzten Zudecke verborgen liegen mochte, ehe sie ihn regelrecht provokativ wieder ansah.
"Haft du endlich ausgeflafen, hm?"
Seine Stimme wollte ihm nicht richtig gehorchen, als er krächzte. "Ma' am?"
"Fon ungewöhnlich, weift du? Eben redet man noch miteinander und dann... hat meine Behandlung dich fo fehr erschöpft? Oder passiert dir daf häufiger, daf du mittendrin einfläfst?"
Wilhelm reagierte im hastigen Impuls, indem er sich aufrappelte, vor ihr zurückwich und sein Hemd mit beiden Händen vor seiner Brust zusammenkrallte - alles in seiner endlich wieder hergestellten, normalen Geschwindigkeit. Also innerhalb eines Wimpernschlags. Die Wand in seinem Rücken war ihr nur leider immer noch viel zu nahe, es trennte sie beide keine Armeslänge.
Mit ihrer freien Hand deutete sie auf ihn und er wich unwillkürlich zurück. Zumindest hätte er das, wenn hinter ihm noch Platz gewesen wäre. So wurde nur ein ängstliches Zucken daraus und seine Hände kreuzten den offenen Stoff des nutzlosen Kleidungsstücks übereinander, als wenn eine doppelte Lage ihm mehr Schutz vor ihrem Zugriff bieten mochte.
"Weift du, wenn du nicht hätteft durchblicken lassen, daf du deine Wunden einem Kollegen zu verdanken haft, dann hätte ich auf ein Kind getippt. Die Perfon ift klein, habe ich recht?"
Seine Augen mieden ihr taxierendes Sondieren und huschten flatterhaft durch den Raum. Er suchte nach einem Ausweg aus der Situation aber es wollte sich kein leichter bieten. Sie befanden sich tatsächlich noch immer in ihrem Büro, nur dicht unter dessen Decke, auf einem abgehangenen Zwischenboden über der Tür - sie hatte sich hier oben ein robustes Hochbett eingerichtet. An der Seitenwand hinunter konnte er angeschlagene Holzlatten als Trittstufen erkennen. Aber dazu hätte er dicht an ihr vorbeigemusst.
Sie schnippte laut mit den Fingern, um seine ungeteilte Aufmerksamkeit einzufordern. Er sah sie reflexhaft an und wollte eigentlich sofort wieder fortsehen, doch sie hielt ihn davon ab, indem sie andeutungsweise den Kopf schüttelte. Sie überbrückte die Distanz zwischen ihnen ohne nennenswerte Antrengung, indem sie ihre Hand an seine Wange schmiegte.
Wilhelm wagte es nicht, sich auch nur einen Milimeter zu rühren, als ihre Daumen sanft über seine Haut strichen.
"Du willft alfo immer noch nicht reden."
Eine Feststellung. Welcher er nicht widersprach. Er wollte alles andere als reden! Ihr kräftiger Herzschlag brandete gleichmäßig über ihn hinweg, ihr warmer Duft füllte ihn aus und der Anblick ihres kunstvollen, durchtrainierten Körpers in dieser halb verborgenen Nacktheit... Instinkte regten sich in ihm, verschiedene. Hunger! Er wurde sich mehr als intensiv des Umstandes bewusst, seit Tagen nicht getrunken zu haben. Und mehr als das! Selbst der rein männliche Anteil seines Wesens räkelte sich, dürstete plötzlich danach, dieses narbige Prunkgewand, das sie ihm präsentierte, zu erkunden... er wollte so viel mehr, als nur reden!
Gar nicht gut, verdammt! Das war noch viel weniger gut, als alles andere in diesem Moment! Ausgerechnet hier und jetzt?! Sie musste einfach wissen, was sie ihm gerade antat, was sie heraufbeschwor!
Er starrte sie an, wie ein hypnotisiertes Kaninchen, darauf bedacht, keinerlei verräterische Körperreaktionen zuzulassen.
Sie zog ihre Hand zurück, ließ sie resigniert auf das Bettzeug fallen.
Die Bewegung zog seine Aufmerksamkeit instinktiv auf sich, wie ein reflexhaftes Zucken nach allem, was sich regte. Seine Augen fokussierten automatisch auf das bloße Handgelenk, dessen Haut so dünn wie eine Membran war, die nur darauf wartete, dem roten Strom zuliebe durchlässig zu werden. Sein Augenmerk sprang sofort über auf die anderen leicht zugänglichen Stellen der Nahrungsaufnahme: Halsschlagadern, das dort nahebei aufgestützte Handgelenk... und blieben gebannt daran hängen. Dunkle Schemen zierten dieses rundum, wie animalischer Schmuck. Jemand hatte sie vor Kurzem erst daran gepackt gehabt, sie festgehalten... sie bezwungen...
Etwas Schwarzes rührte sich in ihm, weitaus gefährlicher, als die Instinkte, die sie bis zu diesem Moment in ihm entfesselt hatte. Etwas, das seine Hände passgenau auf diese Schatten legen und sie sich ebenfalls darum schließen lassen wollte. Etwas, das sehen wollte, wie weit es dabei gehen durfte, sich mit lustvoller Gewalt zu nehmen, was sie ihm so bereitwillig darbot.
Etwas, dem er bisher niemals gestattet hatte, zum Zuge zu kommen... auch weil es noch niemals gänzlich erwacht war.
Ihr Blick wurde kälter, der humorvolle Unterton verschwand aus ihrer Stimme.
"Wir find quitt. Verfwinde, Rekrut!"
Seine Kraftreserven waren mehr als randvoll, trotz des Hungers, der nun, da er ihn bewusst wahrgenommen hatte, in ihm zu beißen begann. Die Verwandlung war ihm noch nie so geschmeidig gelungen. Ein Geräusch, wie von einem ausgeschlagenen Fensterleder, ein kurzes, nahezu lautloses Flügelschlagen und schon schoß er in einem waghalsigen Flugmanöver haarscharf am Fußende ihrer Liegestatt vorbei, keinen Milimeter über der senkrechten Wandfläche entlang. Eine extrem spitzwinklige Kehrtwendung, ein Sturzflug und schon raste er dem Boden entgegen. Noch im Fallen die Rückverwandlung, die Kleidung tadelos in Form und ordentlich geschlossen. Seine Schuhe setzten mit deutlichem Rutschen auf, so schnell trug es ihn der Tür entgegen. Keine Sekunde später hatte er sich auch schon, an der knarrenden Zellentür vorbei, hinaus gewunden und floh in den grauen Morgen.

29.04.2017 0: 00

Rogi Feinstich

Sie wartete darauf, dass das Quietschen verklungen und seine Schritte im Gang verhallt waren, bevor sie schließlich aus vollem Halse lachte.
Oh, er hatte sich im Griff, das musste sie ihm lassen! Es war ihr dennoch eine Freude gewesen. Allein für seinen Gesichtsausdruck war es das wert gewesen! Und er würde sie sicher nicht so schnell noch mal mit irgendwas behelligen. Mit etwas Glück, hatte er diesmal vielleicht sogar seine Lektion gelernt? Auch wenn sie das bezweifelte. Das Kräuterblut hatte jedenfalls nicht seine Wirkung verfehlt.
Rogi musste immer noch lachen. Und sie kaute kurz, vom schlechten Gewissen eingeholt, auf ihrer Unterlippe.
Was auch immer er nun denken mochte... es war nichts passiert. In diesem Fall überwog ihre Schadenfreude tatsächlich.
Er war in ihrem Kopf gewesen, hatte miterlebt, was Racul mit ihrem Geist getan hatte. Und sie hatte gesehen, wie es um ihn selbst bestellt war. Nur aus diesem Grund hatte er es überhaupt über sich gebracht gehabt, um ihre Hilfe zu bitten. Weil sie schon davon wusste. Und dennoch weigerte er sich zu reden!
Immerhin wusste sie jetzt, dass ein Kollege des Rettungszirkels dahinterstecken musste. Und, dem Brandmal auf Wilhelms Brust nach zu urteilen, kamen dafür nicht viele Personen in Frage. Doch konnte sie das wirklich beruhigen?
Als sie sein verbranntes Innerstes gesehen hatte, fürchtete sie erst um eine weitere Gefahr. Unabhängig von Racul aber dennoch eine Gefahr, die man nicht ignorieren durfte. Ein Kollege allerdings, der dazu imstande sein sollte? Was konnte das bedeuten? War sich die Person dessen überhaupt bewusst? Sie selbst hatte Wilhelm ganz unbewusst in ihrem Geist eingesperrt gehabt, als er ihr helfen wollte.
Sie seufzte und erhob sich schließlich von der dünnen Matratze.
Sie würde es hoffentlich beim nächsten Treffen des Rettungszirkels herausfinden. Wenn nicht, würde sie ihn schon noch zum Reden bringen! Falls sie gemeinsam in Raculs Labyrinth eindringen würden, wollte sie keine bösen Überraschungen erleben müssen, nur weil zwei Kollegen eine geistige Auseinandersetzung hatten.
Sie kletterte vom Hochbett, um ihre Uniform anzulegen.
Sie musste wieder grinsen bei dem Gedanken an Wilhelms entsetzten Gesichtsausdruck, als er sich ihrer Nacktheit bewusst wurde.
Erst hatte sie sich nichts dabei gedacht gehabt. Er hatte immerhin über 24 Stunden geschlafen und ihr Hochbett war der einzige Ort, an dem sie ihn sozusagen unbemerkt verstecken konnte! Allerdings war sie dadurch in dieser Zeit ebenfalls an ihr Büro gebunden gewesen und sie hatte hier keine Ersatzuniform gehabt. Dann aber...
Ihr war klar, dass er Hunger haben musste. Und sie hatte es dennoch provoziert. Hätte er seinem Verlangen nachgegeben, sie hätte es ihm nicht verübelt. Sie hatte sich den Spaß bewusst erlaubt und er hatte nicht angebissen.
Sie schüttelte über sich selbst den Kopf, während sie sich ihr Hemd zuknöpfte.
Sie bereute es fast schon, dass er sich so im Griff gehabt hatte. Denn nun musste sie sich eingestehen, dass sie ihm mehr Vertrauen entgegenbringen müssen würde. Zumindest für einen Vampir.

29.04.2017 0: 01

Magane

'Was zum Pandämonium?'
Der Schmerz war das erste was Magane wahrnahm, Schmerz und Kälte. Der Schmerz schien von Kopf und Nacken auszugehen, die Kälte war überall. Sie öffnete vorsichtig die Augen und sah sich um. Das Licht brannte, somit blieb ihr wenigstens erspart es im Dunkeln entzünden zu müssen. Aber das Licht verstärkte auch die Schmerzen. Sie schloss die Augen wieder und dachte nach. Aus der Position der Lichtquellen schloss sie, dass sie sich am Boden befand. Mit dem Rücken lehnte sie merkwürdig schräg an der Wand. Sie musste aufstehen und herausfinden was geschehen war. Der Schmerz in Schultern flammte auf als sie versuchte sich an dem Tisch hochzuziehen. Was war nur passiert? Sie erinnerte sich an nichts, was erklären würde wie sie sich fühlte. Unter extremer Anstrengung gelang es ihr sich auf den Stuhl zu hieven. Dieser Zustand war neu, sowas kannte sie von ihrem Körper nicht. Er erinnerte an einen Knieweichkater, war aber schmerzhafter. Die Hexe bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und versuchte noch einmal die Augen zu öffnen.
Auch das Licht, das sich an ihren Fingern vorbei stahl, war noch unangenehm hell. Aber sie musste sich zusammenreißen und etwas trinken. Sie ließ langsam die Hände sinken, was auch immer passiert war, die Symptome deuteten auf Flüssigkeitsmangel und Alkohol hatte mit Sicherheit keine Rolle gespielt. Blinzelnd suchte sie nach der Wasserkanne und einem Becher, beides stand in ihrer Reichweite auf dem Tisch. Wenigstens musste sie nicht aufstehen. Mag goss sich zitternd den Becher voll und trank ihn in einem Zug leer. Dann warf sie einen Blick in die Kanne. Es war noch etwas übrig, vielleicht genug für zwei Becher, aber nicht genug um den Durst effektiv zu bekämpfen. Sie beschloss sich den Rest einzuteilen, lehnte sich zurück und begann mit sanft tastenden Fingern ihren Kopf zu untersuchen. Nach dem Einschätzen von Blutergüssen war das schon die zweite Untersuchungsmethode, die sie normalerweise höchstens an Anderen anwendete. Da die Anderen dabei entweder tot waren oder unter Schmerzmitteln standen, hatten sie sich nur selten beschwert. Trotzdem musste Magane feststellen, dass, egal wie vorsichtig sie mit ihren kalten Fingern nach Verletzungen suchte, es weh tat. Die schmerzhafteste Stelle fand sich über ihrem linken Ohr, wo sich eine eindrucksvolle Beule gebildet hatte. Zu ihrem Glück war die Stelle aber nicht aufgeplatzt, bluten war hier mit Sicherheit keine gute Idee. Das würde heilen, aber hatte sie damit den einzigen Grund für die Kopfschmerzen und die Bewusstlosigkeit gefunden? Der kaum beherrschbare Durst deutete allerdings auf einen anderen Ursprung hin. Sie griff sich an den Hals. Die Kette war fort. Dabei hatte sie sie ganz sicher wieder umgelegt und die Bluse bis auf den Kragenknopf zugeknöpft. Die Bluse hatte auch schon bessere Zeiten gesehen, sie zeigte deutliche Spuren eines gewaltsamen Öffnens. Ein paar ausgerissene Knöpfe fehlten ganz und außerdem klaffte unterhalb des Kragens ein etwa zehn Zentimeter langer senkrechter Riss.
Magane goss sich Wasser ein und trank, diesmal ließ sie sich etwas mehr Zeit und bemerkte, wie es ihr Schluck für Schluck leichter fiel ihre Gedanken zu ordnen. Sebastian hatte ja nicht lange gebraucht um ihr Abkommen zu brechen. Auch wenn sie keine Chance hatte eventuelle Bisse zu sehen oder mit ihrem eingeschränkten Tastsinn zu ertasten, konnten die Indizien doch nur das eine bedeuten. Er hatte sei bewusstlos geschlagen und von ihr getrunken, nicht wenig getrunken. Und wenn er so leicht sein Wort brach, stand zu befürchten, dass das nicht das einzige Mal bleiben würde. Langsam setzte sich in ihrem Kopf die Erkenntnis durch, dass Hauptmann MeckDwarf damals während ihrer Grundausbildung recht gehabt hatte. Er hatte ihr prophezeit, dass sie sich eines Tages mit ihrem Talent sich in Schwierigkeiten zu bringen umbringen würde. Und dieser Tag war jetzt nahe, aus diesen Schwierigkeiten würde sie nicht lebend herauskommen. Was hatte sie nur getan, wie hatte sie nur zustimmen können? Magane sank im Stuhl zusammen und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Er war absolut skrupellos und sie hatte sich ihm ausgeliefert, gänzlich ausgeliefert. Wie konnte sie nur so dumm sein? Er würde weiß-Om-was mit ihr anstellen. Blut war nur der Anfang, das hatte sie deutlich gespürt. Seine Gier war so offensichtlich und sie würde nun ihr Leben lang ihm gehören, als seine Sklavin, Gespielin, Spielzeug. Nichts und Niemand würde sie retten können. Er würde mit ihr spielen bis sie kaputt war, und dann würde er sie entweder aussaugen und töten oder, wenn sie noch gebraucht würde, aussaugen und verwandeln. Hervorragende Aussichten. Sie war quasi tot.
Manchmal half nur noch beten. Sie goss sich das restliche Wasser ein und trank. Tee wäre besser gewesen, aber sie hatte keine Möglichkeit selbst Wasser zu erhitzen. Vielleicht bot sich morgen eine Gelegenheit Igor oder Igorina danach zu bitten. Als der Becher leer war stand sie auf, es half ihr nicht weiter hier zu sitzen. Ihr Körper brauchte Wärme und Ruhe, wenn er schon keine weitere Flüssigkeit bekam. Magane knöpfte die verbliebenen Knöpfe ihrer Bluse auf und zog sie aus. Die Bluse war nicht mehr zu retten, zumindest nicht in der bisherigen Form. Damit würde ihr von jetzt an nichts anderes übrig bleiben, als es mit der Kleidung aus der Truhe zu versuchen. Aber damit würde sie sich beschäftigen nachdem sie geschlafen hatte, vorerst brauchte sie nicht mehr als das, auf dem Bett liegende, Nachthemd. Sie legte die kaputte Bluse auf den Tisch und ging zum Bett hinüber. Der Weg erschien ihr beinahe endlos weit, dabei waren es doch nur ein paar Schritte. Erschöpft sank sie auf die Bettkante und atmete erst mal tief durch. Dann legte sie die übrige Kleidung ab und zog sich das Nachthemd über. Die Hexe entschied sich erst unter die Decke zu kriechen und dann mit Om Zwiesprache zu halten. Selbst das richtige Hinlegen und Zudecken war unheimlich anstrengend. Erst als sie vollkommen still lag und die dröhnenden Kopfschmerzen langsam wieder abflauten, begann sie über ein passendes Gebet für ihre Situation nachzudenken.
Die vertrauten Worte des Propheten fanden schnell ihren Weg zu Maganes Zunge, sie erinnerte sich zwar nicht an das gesamte Bittgebet, aber doch an die für sie wichtigsten Zeilen. Als Kind hatte sie es in der Oktotagsschule auswendig lernen müssen. Damals hatte sie immer ihre Tante, mit ihren unbarmherzigen Strafen, vor Augen gehabt. Jetzt drängten sich allerdings andere Bilder auf.
"Weatah, Om, al-tirhaq" - Du aber, Om, sei nicht ferne
Dabei gab es im Moment kaum einen Ort an dem sie Om ferner hätte sein können, hier gab es nichts was eine Verbindung zu dem einen Gott darstellen konnte. Fast nichts... nur ihre zerrissene Kette. In der hintersten Ecke unterm Bett hatte sie die Kette wiedergefunden. Der Anhänger war unversehrt, aber die Kette würde die liebevolle Zuwendung eines Goldschmiedes brauchen, bevor sie sie wieder tragen konnte. Sie konzentrierte sich auf den Anhänger, er stellte den großen Gott in seiner schwächsten Gestalt dar, eigentlich kein Wesen das man um Kraft und Hilfe anflehte.
"Eyaluti, lezrati husah" - meine Stärke, eile mir zu helfen!
Nein, nicht Om würde ihr zur Hilfe eilen, sie rief sich das Treffen mit den Kollegen vor Augen, sie würden kommen. Ihre Hoffnung ruhte da besonders auf Kanndra, die einen Weg finden würde, aus dem bunten Häufchen Wächter ein Team zu schmieden. Noch fehlte der Truppe einiges, das war Magane nicht entgangen, aber unter der Anleitung einer erfahrenen FROG mochten sie der Aufgabe gewachsen sein.
"Haschilah meḥereb napsi" - Errette meine Seele vom Schwert,
Schwert... eigene Dummheit traf's da wohl besser. Die Vereinbarung mit Sebastian war zwar kein dämonischer Pakt, aber doch nah genug dran um ihre Seele ernsthaft in Gefahr zu bringen. Wenn er sich wenigstens an die Bedingungen halten würde. Aber sein gewaltsames Vorgehen hatte gezeigt, dass er keines Wegs brav um Erlaubnis fragen würde.
"Miyad keleb yeḥidati" - mein Leben von den Hunden!
Hatte sie ihn unterschätzt? Sie war sich sicher gewesen, dass der Vampir nicht nur grausam, sondern auch verspielt war. Und spielerisch hatte sie mit ihm umgehen wollen. Ihn reizen, mal williges Opfer, mal gefährliche Hexe. Aber war sie nach dieser Attacke noch fähig die Kontrolle über das Spiel zurückzugewinnen? Hatte sie je die Kontrolle gehabt? Die Erinnerung an das Funkeln in seinen kalten Augen, das seine Gier verraten hatte, jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken.
"Howosi eni mippi aryeh" - Hilf mir aus dem Rachen des Löwen,
Der Rachen des Löwen, des Jägers an der Spitze der Nahrungskette. Lange eindrucksvolle Fangzähne, beiläufig mit einem spöttischen Grinsen entblößt. Wie lange hatte er wohl diese Geste geübt, bis sie so beängstigend war. Aber dieses Grinsen war weit mehr als nur beängstigend, es brachte einen dazu zu glauben, dass man gebissen werden wollte. Dass gebissen werden Teil der natürlichen Ordnung war und einem die Opferrolle gefallen würde. Dass man nichts sehnlicher wollte, als ihm zu willen zu sein.
"Umiqarne remim anitani" - und vor den Hörnern wilder Stiere.
Bisher hatte er nur ihr Blut gewollt. Aber was würde er wollen wenn er keinen Durst hatte? Sie konnte sich so einiges vorstellen, was er darüber hinaus wollten könnte. Es gab diese lüsterne Hintergrundspannung, die auf eine gewisse Körperlichkeit ihrer zukünftigen Beziehung hindeutete. Darüber wollte sie sich aber noch nicht den Kopf zerbrechen, es reichte vollkommen vorbereitet zu sein, um bösen Überraschungen zu entgehen. Davon abgesehen hatte er schon mindestens einmal versucht in ihren Geist einzudringen. Von diesen Angriffen ging die größte Gefahr für die Kollegen aus, weil in ihren Gedanken Informationen über den Rettungszirkel steckten, die nicht in Sebastians Hände fallen durften. Hatte er das während ihrer Ohnmacht auch versucht? Wenn, dann waren sie alle verloren. Sie konnte nur hoffen, dass er es nicht versucht hatte, in der Bewusstlosigkeit konnte sie ihren Geist nicht abschirmen. Sie musste unbedingt verhindern, dass er das herausfand.
Sie brauchte dringend Schlaf und nahm ihre letzte Kraft zusammen um ihren Geist zu leeren. Keine aktiven Gedanken an die Freunde und Kollegen durften sich in ihre Träume verirren. Die Erschöpfung machte es ihr nicht unbedingt leichter, aber sie durfte nicht riskieren mit dem Gedanken an Kanndra an der Spitze eines FROG-Rettungstrupps einzuschlafen. Auch wenn diese momentan ihre größte Hoffnung auf Rettung verkörperte, wäre sie nur das nächste Opfer, sobald das Interesse der beiden Vampire an ihr geweckt wurde.

02.05.2017 10: 07

Kanndra

Kanndra schreckte hoch. Sie keuchte und ihr Herz hämmerte gegen die Rippen, als wollte es sich aus dem Brustkorb befreien. Doch sie lag warm und sicher in ihrem Bett, wie sie einen Moment später feststellte. Sie atmete tief durch. Langsam beruhigte sie sich und horchte dabei auf Julians leises Schnarchen neben sich.
Was hatte sie geweckt? Sie versuchte, sich an ihren Traum zu erinnern, doch es blieb nur ein Gefühl der Bedrohung. Dafür fiel ihr der gestrige Abend ein. Wie so oft hatte sie sich mit Julian gestritten, sie hatten sich über irgendeine Kleinigkeit in die Haare gekriegt, die sie schon wieder vergessen hatte. Doch mittendrin hatte sie sich plötzlich zu fragen begonnen, was zum Pandämonium sie eigentlich ritt. Sie hatte einen liebevollen Ehemann, einen Sohn, auf den sie stolz war und eine unverhofft gefundene Halbschwester, die mit ihr in einem wundervollen Zuhause lebten. Einem Zuhause, das sie immer noch genießen konnte, im Gegensatz zu zwei ihrer Kolleginnen. Dieser Gedanke, die immer größer werdende Erschöpfung und die Anspannung der letzten Zeit führten dazu, dass sie anfing zu weinen. Und als sie erst einmal angefangen hatte, konnte sie nicht mehr aufhören. Julian hatte der Wandel von einer streitlustigen zu einer flennenden Ehefrau zunächst überrascht. Doch dann hatte er das einzig Richtige getan: er hatte sie in die Arme genommen und stumm getröstet, bis sie sich beruhigt hatte.
Danach war es ihr ein wenig peinlich gewesen, dass sie sich so hatte gehen lassen und sie hatte den Abend nur noch irgendwie herum gebracht. Später war ihr Mann schnell eingeschlafen, während sie selbst sich noch gefühlte Stunden herumgewälzt hatte, an das Training für den Rettungstrupp dachte und an Benjamins Mathelehrer, der ihren Sohn anscheinend auf dem Kieker hatte. Irgendwann musste sie wohl doch weg geschlummert sein. Doch was hatte sie geträumt?
Das graue Licht hinter den Vorhängen verriet ihr, dass die Dämmerung schon begonnen hatte. Nicht mehr lange und sie musste aufstehen und sich einem neuen Tag stellen. Doch bis dahin hatte sie noch etwas Zeit. Nein, noch wollte sie nicht aufstehen. Die Wächterin drehte sich auf die andere Seite und schloß die Augen. Es würde ihr schon wieder einfallen oder es war nicht wichtig...

Kanndra träumte. Es war nicht das erste Mal, dass ihre Träume mehr waren als nur Verarbeitung des Tages. Wat wählte auch diesen Weg hin und wieder, um sich ihr mitzuteilen. Doch seltsamerweise war ihr diesmal völlig bewusst, dass sie träumte. Sie sah sich sozusagen dabei zu.
Mein Schwert glänzt in der Sonne, während ich es in den Himmel recke und den Rettungstrupp antreibe über Hürden aus Zahlen zu springen. Neben mir brüllt Bregs: "Dividieren sollt ihr, dividieren!"
Plötzlich kommt ein Rudel Hunde kläffend um die Ecke gelaufen. Während sich alle in Sicherheit bringen, werde ich selbst neugierig, woher sie kamen. Ich gehe nachsehen und finde Magane, die mit einem Löwen kuschelt. Dieser reisst gerade sein Maul auf und präsentiert ein gewaltiges Gebiss, die Eckzähne noch viel länger und spitzer als sie normalerweise bei den Raubkatzen vorkommen. Sie sehen eigentlich eher aus wie die Zähne eines Vampirs. Und im nächsten Augenblick war es dann auch ein solcher, der sich über Magane beugt. Er ist sogar recht gutaussehend, wie Mitte zwanzig mit schulterlangem schwarzen Haar. Während er die Wächterin, die wie ich jetzt sehe, völlig zerschlagen und bewusstlos ist, in den Hals beisst, wirft er mir aus dunkelblauen Augen einen Blick zu, der gleichzeitig verstörend und anziehend ist. Ein Blick voller Arroganz und Verachtung. Und voller Herausforderung... Er zieht sich zurück und ruft mit blutverschmierten Fängen: "Kanndra!" Etwas zieht an meiner Schulter


"Kanndra! Aufstehen! Du willst doch nicht etwa zu spät zur Arbeit kommen?", der letzte Satz hatte einen leicht ironischen Unterton, der der Späherin keineswegs entging. "Ausserdem hast du versprochen, dass du heute Benjamin in die Schule bringst."
Kanndra ignorierte ihr schon wieder heftig klopfendes Herz und tat so, als wäre nichts. "Schon gut. Ich stehe ja schon auf." Sie öffnete die Augen und sah Julians besorgtes Gesicht. Die Neckerei war ihm anscheinend schon wieder vergangen. "Bist du sicher, dass du in Ordnung bist? Gestern abend..."
Energisch schlug die Späherin die Decke zurück, um ihrem Mann die Erinnerungen an ihren Zusammenbruch aus dem Kopf zu treiben. "Alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen, ich komme schon klar."
Julian nickte, auch wenn er nicht ganz überzeugt schien. "Du musst es ja wissen."
"Natürlich weiss ich das. Frühstück, Benjamin in die Schule bringen, zur Arbeit gehen. Kein Problem."
Der Alltag mit seinen tausend kleinen Pflichten hatte sie wieder. Doch an den Traum konnte sie sich noch in aller Einzelheit erinnern. Und nicht nur das. Sie hatte das eindeutige Gefühl, dass er wichtig war. Mindestens genau so wichtig wie der Traum von Ophelia im Käfig. Magane war ebenso in Gefahr wie die Verdeckte Ermittlerin. Auch sie benötigte ihr Eingreifen. Gleich nachdem sie im Wachhaus angekommen war, würde sie sich an den Trainingsplan setzen, nahm Kanndra sich vor. Und bei Gelegenheit musste sie Rogi nach dem Aussehen von diesem Sebastian fragen. Obwohl sie sich ziemlich sicher war, dass sie dieses bereits kannte.


03.05.2017 17: 19

Araghast Breguyar

Araghast hatte von Anfang an geahnt, dass er diese Debatte früher oder später führen musste und obwohl es ihm auch irgendwie leid tat, je früher er diese Angelegenheit klärte, desto besser.
"Dein Mut und deine Entschlossenheit in allen Ehren - du wirst dich nicht in den Kampf gegen Vampire stürzen." erklärte er mit strenger Miene.
"Und warum nicht?" hielt Raistan Quetschkorn dagegen. Er hatte sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet und seine stahlgrauen Augen funkelten. "Meine Recherchen in der Bibliothek haben ergeben, dass Feuer eines der wenigen endgültigen Mittel gegen Vampire ist. Was ist, wenn ein ordentlicher Feuerball den Unterschied machen könnte?"
"Und was würdest du tun, wenn der Vampir urplötzlich mit ausgefahrenen Krallen und Zähnen direkt vor dir steht?" Araghast hielt dem durchdringenden Blick des jungen Zauberers stand. "Bevor du irgendwas machen kannst, hat er dich schon bei der Kehle. Ich weiß, dass du ein wirklich kompetenter Zauberer bist, aber im Nahkampf bist du schlechter als eine seekranke Wahoonie."
An Raistans verletztem Gesichtsausdruck konnte Araghast erkennen, dass dieser Hieb gesessen hatte. Er teilte nur ungern auf diese Art aus, aber manchmal musste es einfach sein.
"Ich will einfach nicht, dass du dich zu sehr in etwas verrennst und dabei sinnlos draufgehst. Damit hilfst du niemandem." sagte er in versöhnlicherem Tonfall. "Dass wir jede Hilfe brauchen um Ophelia und Magane zu befreien steht außer Frage. Aber dein Dschob ist nicht die vorderste Front. Deine Talente werden anderswo gebraucht."
"Und wo?" schnappte Raistan, sich immer noch nicht geschlagen gebend. "Was bleibt mir noch zu tun wenn sich nun alles darauf konzentriert, eine Strategie für das Eindringen in Raculs Lauer zu finden? So unfähig bin ich auch nicht. Denk daran, damals in der Assassinengilde und später im Palast habe ich dir den Rücken frei gehalten. Und auch im Fall von Offlerberg habe ich nicht gekniffen." Er legte zwei Finger an seine Schläfe. "Ich habe Ophelia Ziegenberger gespürt. Ihre unendliche Verzweiflung. Ich lasse sie nicht im Stich, Bregs, nur weil du der Meinung bist, dass ich es sollte weil ich zu schwach bin."
"Eben das, was du gesagt hast, sollst du tun." Warum hatte Araghast nur damit gerechnet, dass Raistan seine Zähne nicht so schnell wieder einfahren würde? "Den anderen den Rücken frei halten." Er verzog das Gesicht. "Glaub mir, du bist nicht der einzige, der lieber vorne dabei sein würde als sich zurückzuhalten. Ich täte selbst nichts lieber als dem Herrn Racul mit meinem Entermesser ordentlich eins überzubraten. Aber es gibt da so einen einzelnen goldenen Stern auf meinen Schulterklappen, der mich daran hindert."
"Na gut." Miene und Haltung des jungen Zauberers waren immer noch kämpferisch und der Kommandeur fühlte sich unwillkürlich an ein flauschiges Kaninchen erinnert, das plötzlich seine Reißzähne entblößte. "Du bist der FROG. Wenn du meinst, dass es wirklich so am Besten ist."
Immer noch leicht verstimmt nahm Raistan das Klemmbrett mit den Namen der Rettungstruppmitglieder und die Stoppuhr an sich und folgte Araghast in die Küche des Flanellfuß-Anwesens, wo die übrigen Mitglieder des Rettungstrupps bereits warteten.
Kanndra stand am Fenster und spähte aus einem Schlitz zwischen den Gardinen in den im Dämmerlicht liegenden Garten.
"Nichts zu sehen da draußen, Bregs." erklärte sie.
Der Kommandeur nickte. Nicht umsonst hatte er sich bei beginnender Dämmerung aus dem Fenster der Asservatenkammer über die Dächer davon gemacht. Lord Vetinaris Spitzel und IA brauchten nicht unbedingt zu wissen, was er heute Abend trieb. Von Kanndra wusste er, dass diese sicherheitshalber den Weg über die Gartenmauer des Anwesens genommen und den Garten, in dem die erste Trainingseinheit stattfinden sollte, einer gründlichen Überprüfung unterzogen hatte, bevor sie sich zusammen mit dem Inspektor um einen Trainingsparcours gekümmert hatte. Zwar hätten sie beide lieber auf das angestammte Trainingsgelände der FROGs zurückgegriffen, aber bei einer potentiell halb illegalen Operation wollten sie die Gefahr des Auffliegens so gering wie nötig halten.
"Haben alle darauf geachtet, dass ihnen niemand gefolgt ist?" erkundigte er sich.
"Falls es jemand versucht hat bin ich mir sicher, ihn abgeschüttelt zu haben, Sör." erklärte Mina von Nachtschatten.
Der Rest der Truppe nickte, mehr oder weniger deutlich Zustimmung murmelnd.
Araghast nahm Haltung an und musterte die bunte Mischung aus Wächtern diverser Abteilungen und Zivilisten, die angetreten war um Ophelia Ziegenberger und nun auch Magane Schneyderin aus den Fängen Raculs des Dritten von Ankh zu befreien.
Leutnant Kanndra Mambosamba, FROG-Urgestein und Araghasts langjährigste Freundin in der Wache, hielt weiterhin am Küchenfenster Stellung. Sie war diejenige um die er sich am wenigsten Sorgen machte. Alles was er konnte und wusste, konnte und wusste sie mindestens genauso gut und ihre Fähigkeiten mit der Armbrust waren den seinen haushoch überlegen. Araghast genehmigte sich den Hauch eines schiefen Grinsens. Der letzte Fakt traf auf so ziemlich die gesamte Wache zu.
Rach Flanellfuß brachte es fertig, selbst auf einem Küchenstuhl sitzend und in bequem sitzender unauffälliger Kleidung einen Hauch von Eleganz auszustrahlen. Araghast wusste, dass Flanellfuß die Schule der Assassinengilde besucht hatte, aber wie es nach Jahren des Bürostuhlwärmens und Institutionen Inspizierens um seine Kondition und Kampffertigkeiten aussah wussten allein die Götter. Insgeheim erwartete er nicht viel von dem Palastschnösel.
Chief-Korporal Mina von Nachtschatten lehnte am Spültisch. Die verdeckte Ermittlerin hatte ihre RUM-Uniform abgelegt und trug robuste, unauffällige Kleidung in dunklen Farben die ihre Bewegungsfreiheit nicht einschränkte. Ihr langes schwarzes Haar war zu einem festen Zopf geflochten. Auch wenn sie mit der Wahl ihrer Garderobe und Frisur schon mal bewiesen hatte, dass sie wusste worum es ging, wie es um ihre Kampffähigkeiten aussah war eine ganz andere Frage. Als Vampirin standen ihr die körperlichen Vorteile ihrer Spezies zur Verfügung, aber wie viel tatsächliches Training an der Waffe hatte sie außerhalb der Grundausbildung erhalten? Immerhin musste sie als verdeckte Ermittlerin allerlei Erfahrung in verdeckten Operationen und Infiltration mitbringen. Damit konnten Kanndra und er vielleicht arbeiten.
Die Obergefreite Senray Rattenfänger hatte Araghast zum letzten Mal zu Gesicht bekommen als sie nach einer Stotterorgie panisch aus seinem Büro geflohen war. Ein schwaches Echo der gleichen Angst konnte er auch jetzt in ihrer Miene erkennen, auch wenn sie tapfer seinem prüfenden Blick standhielt. Auch sie hatte sich für praktische Zivilkleidung entschieden. Die Tapferkeit der Obergefreiten in allen Ehren - wenn sie schon vor ihm vor Angst geflohen war, wie wollte sie dann erst in einem Kampf gegen mehrere Vampire bestehen? Und konnte sie überhaupt irgendwie kämpfen? Nach seiner derzeitigen Einschätzung war Senray das schwächste Glied der Kette. Wenn sie im unpassenden Moment in Panik geriet konnte sie den Einsatz und alle ihre Kameraden gefährden. Vielleicht war es am Ende besser für alle, wenn sie zurück blieb.
Rogi Feinstich. Die treue Igorina, auf die er sich so viele Jahre als seine Stellvertreterin bedingungslos verlassen hatte. Doch seit ihrer Rückkehr von den Toten hatte sich etwas in ihr verändert und diese Beobachtung betraf nicht nur ihr seltener gewordenes Lispeln. Ihr Geständnis, auf eigene Faust nach Ophelia geforscht zu haben und dabei in die Fänge Raculs geraten zu sein, schien einige Mitglieder des Rettungstrupps ziemlich geschockt zu haben und laut Nyria war auch der Begriff Verräterin gefallen, aber wenn Araghast sich in einem sicher war, dann darin, dass Rogi niemals einer geliebten Person absichtlich schaden würde. Kampftechnisch machte er sich um die Igorina keine Sorgen. Wegen einer Schulterverletzung hatte sie darum gebeten, von Kletterübungen verschont zu bleiben, aber Rogi hatte lange genug bei FROG gedient um Araghast nicht mehr von ihren Fähigkeiten überzeugen zu müssen.
Nyria hatte sich einen der Küchenstühle geschnappt und sich verkehrt herum darauf niedergelassen. Ihre Arme hatte sie auf der Stuhllehne verschränkt und den Kopf darauf gelegt. Araghast kannte seine chaotisch veranlagte Kusine gut genug um sich sicher zu sein, dass sie vor keinem Kampf zurückschreckte. Sie war eine ausgezeichnete Degenfechterin und besaß als Werwölfin auch einige andere nützliche körperliche Eigenschaften. Aber würde diese ausgesprochene Individualistin auch in einem straff organisierten Trupp arbeiten können? Es würde ihr auf jeden Fall einiges an Selbstbeherrschung abverlangen.
Der Rekrut Wilhelm Schneider war für den Kommandeur ein unbeschriebenes Blatt. Außer dass er ein Vampir war und Rogi vom Einfluss Raculs des Dritten von Ankh befreit hatte, wusste Araghast eigentlich nichts über ihn. Auch er hatte genug Verstand besessen, sich für die Trainingseinheit angemessen zu kleiden. Trotzdem wirkte er auf den ersten Blick nicht gerade wie ein erfahrener Kämpfer. Es würde sich zeigen müssen, wie nützlich er, abgesehen von seinen vampirischen Fähigkeiten, im Einsatz sein konnte.
Und dann waren da noch die beiden Assassinen, die Rach Flanellfuß angeschleppt hatte. Die schlanke junge Frau namens Esther war dem Kommandeur als die Schwester des Inspektors vorgestellt worden und wirkte äußerst kompetent, was das Beenden von Leben und Unleben betraf. Jules Ledoux war ein Quirmianer mit offensichtlich gennuanischen oder klatschianischen Wurzeln, der ebenfalls in seinem Erscheinen sehr kämpferisch wirkte. Trotz des Ernstes der Situation spielte ein fröhliches Lächeln um seine Mundwinkel. Nein, bei diesen beiden machte sich der Kommandeur keine Sorgen um ihre Kampfstärke. Aber waren sie, ähnlich wie Nyria, wirklich gute Teamspieler? Soweit er wusste, arbeiteten Assassinen meistens allein.
Blieb nur noch Raistan, mit dem Araghast sich bereits befasst hatte. Der kleine, schwache Zauberer hatte auf einer solchen Mission nichts zu suchen. Punkt. Auch wenn es ihm nicht schmeckte.
Ein letztes Mal ließ der Kommandeur den Blick über die so bunt gemischte Gruppe schweifen. Dann räusperte er sich laut und vernehmlich, um die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zu lenken.
"Wächter und Zivilisten," begann er als er sich sicher war, dass sie ihm alle zuhörten. "Wir sind heute hier, weil ein ganz spezieller Einsatz ansteht. Ein Einsatz, der nicht nur in einer Hinsicht kritisch ist. Deshalb sind wir, und vor allem ich, was die Wache und vor allem Intörnal Affärs betrifft, auch eigentlich gerade nicht hier." Er sah, wie Kanndra schmunzelte.
"Nun, wie ihr alle wisst geht es darum, die Wächterinnen Ophelia Ziegenberger und Magane Schneyderin aus ihrer Gefangenschaft bei einem äußerst alten Vampir und seinen Schergen zu retten. Die beiden befinden sich in einem unterirdischen Verließ, das möglicherweise bewacht und mit Fallen ausgestattet ist. Hinzu kommt, dass zumindest der Vampir Racul der Dritte von Ankh, der der Kopf hinter den Entführungen ist, unbedingt lebend überwältigt werden muss, weil sein Tod auch den von Ophelia Ziegenberger zur Folge haben würde. Mit anderen Worten: Es wäre selbst mit einem voll ausgebildeten FROG-Trupp ein riskantes Unternehmen. Deshalb haben Kanndra und ich beschlossen, euch bei der Vorbereitung auf diesen Einsatz zu helfen. Wir können euch nicht in ein paar Wochen zu ausgebildeten FROGs machen. Aber wir können euch auf diesen einen ganz speziellen Einsatz so gut wie möglich vorbereiten. Das wichtigste ist nicht, ob jemand nun ein absoluter Profi an allen Waffengattungen ist. Das wichtigste ist, dass ihr ein eingefleischtes Team werdet. Ihr müsst euch bei einem solchen Einsatz blind auf die anderen verlassen können, darauf, dass sie im Sinne des Trupps handeln. Darauf, dass sie standfest bleiben und nicht zögern, in Panik geraten und dadurch die Existenz aller gefährden." Bei diesen Worten blickte er Senray an. Die Obergefreite blickte trotzig zurück, doch Araghast konnte sehen, wie ihre Hände zitterten.
"Das Ziel des heutigen Treffens besteht darin, erst einmal herauszufinden, wo die Stärken und Schwächen der einzelnen Truppmitglieder liegen. Kanndra und der Gefreite Flanellfuß haben dazu einige Hindernisse draußen im Garten aufgebaut. Außerdem werden wir einige der Standard-Anti-Vampirtaktiken aus dem FROG-Arsenal durchgehen. Zumindest alle solchen die dazu dienen, einen Vampir explizit uneingeäschert festzunehmen." Er nickte in Richtung der beiden Assassinen. "Falls es in der Richtung sonst noch Vorschläge geben sollte, immer heraus damit. Wir können alles gebrauchen, was wir kriegen können."
Araghast klatschte in die Hände.
"Und nun ab nach draußen! Zeigt, was ihr könnt, Rettungstrupp!"
Durch die Küchentür traten sie eine Reihe von Stufen hinab ins Freie. Der Garten des Flanellfuß-Anwesens entpuppte sich als eine edle, jedoch nicht gekünstelt wirkende Angelegenheit. Um eine zentrale, recht große Wiese waren zahlreiche Bäume und Sträucher angeordnet. Von der Tür aus betrachtet auf der rechten Seite erkannte der Kommandeur eine große, trotz der frühen Jahreszeit reich bestückte Kräuterschnecke und daneben einen filigranen Pavillon aus Metallstreben, der im Sommer sicherlich von Schatten spendenden Rankpflanzen überwuchert wurde. Unter dem Pavillon standen eine hölzerne Bank, zwei ebensolche Stühle sowie ein passender Tisch.
Sehr gut, das wird unsere Basis, dachte Araghast, winkte dem Rettungstrupp, ihm zu folgen und schritt auf den Pavillon zu. Unterwegs musterte er die Hindernisse und nickte schließlich zufrieden. Kanndra und der Inspektor hatten in den wenigen Stunden ganze Arbeit geleistet. Es gab ein Kriechhindernis, mehrere aus Gartengeräten improvisierte Hürden, Balance-Vorrichtungen verschiedener Art und es war ihnen sogar gelungen, einen der Bäume in eine Kletterherausforderung zu verwandeln. Ein wenig bedauerte Araghast das Fehlen eines Gartenteichs. Das Drohen nasskalter Konsequenzen gab einer Geschicklichkeitsübung doch eigentlich erst das besondere Etwas. Denn nur die wirklich Harten wurden FROGs.
Raistan ließ sich auf einem der Stühle nieder und legte Klemmbrett und Stoppuhr vor sich auf den Tisch. Der Kristall auf der Spitze seines Zauberstabs tauchte den Pavillon in eine Insel aus Licht.
Araghast beobachtete die Reaktionen der anderen auf den Parcours. Kanndra und der Inspektor wirkten zufrieden, Esther selbstbewusst. Jules schien die Sache immer noch für einen großen Spaß zu halten, während Mina von Nachtschatten, Nyria und Rogi die einzelnen Hindernisse gründlich musterten. Sichtliche Unruhe zeigten Rekrut Schneider und Obergefreite Rattenfänger.
Der Kommandeur wies auf einen roten Gartenschlauch, der quer über der Bahn lag.
"Ihr habt fünf Minuten Zeit, euch aufzuwärmen oder was auch immer ihr tun wollt. Dann geht es hier vorne los." Mit diesen Worten trat er zu Raistan um mit ihm die Aufteilung des Klemmbretts zu besprechen. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie der Rekrut Schneider immer wieder zu ihnen herüber sah. Ob die Gerüchte über die berüchtigten FROG-Trainingseinheiten wohl schon bis zu ihm in die Kröselstraße gedrungen waren?
Exakt fünf Minuten später standen alle nebeneinander an der Start- und Ziellinie.
"Also." erklärte Araghast. "Der Parcours geht über drei Runden. Rogi wird aufgrund einer Verletzung die Kletterübungen auslassen, das ist abgesprochen. Schnelligkeit ist nicht das einzige Kriterium, auch Balance und Geschicklichkeit werden wichtig sein. Und dies ist kein Wettrennen im eigentlichen Sinne. Es ist egal, was die anderen tun oder wie schnell sie sind. Wichtig ist, was ihr tut. Sind alle bereit?"
Der Rettungstrupp bejahte. Kanndra zwinkerte Araghast mit einem Lächeln zu.
"Dann auf die Plätze - Fertig - Los!"
Die drei Runden waren eine gute Idee gewesen um wirklich allen genug Aufmerksamkeit schenken zu können und das eine oder andere Mal bedauerte der Kommandeur, sich dieses Mal auf die Rolle des Beobachters beschränken zu müssen. Nur zu gern hätte er sich auch der Herausforderung gestellt. Wie zu erwarten sprinteten die beiden Assassinen vorn weg und nahmen sämtliche Hindernisse mit Leichtigkeit, dicht gefolgt von Kanndra. Auch Rogi war an den Hindernissen die für sie in Frage kamen ihr jahrelanges FROG-Training deutlich anzumerken. Die Obergefreite Rattenfänger überraschte den Kommandeur. Auch wenn sie nicht die schnellste war und bei den Balance- und Geschicktlichkeitsparts ihre Schwierigkeiten hatte, ihre Kletterfähigkeiten waren beeindruckend. Beinahe mühelos hangelte sie sich die Äste und Hilfsstricke hoch, nur um auf der anderen Seite mit ähnlichem Geschick wieder abzusteigen. Auch Rach Flanellfuß schlug sich sehr viel besser als erwartet. In dem Palast-Federlecker steckte anscheinend doch wesentlich mehr von einem Assassinen als Araghast ihm zugetraut hätte. Nyria erledigte den Parcours wie sie alle Pflichtarbeiten erledigte - ganz gut aber nicht überragend. Mina von Nachtschatten erarbeitete sich mit entschlossener Miene ein Hindernis nach dem anderen. Ihre vampirischen Reflexe gereichten ihr sicher zum Vorteil und ganz passabel klettern konnte sie auch. Es war ihr jedoch anzumerken, dass sie eher instinktiv als nach einer gelernten Technik handelte. Auch Wilhelm Schneider fehlte es eindeutig an Erfahrung. Während sich Mina jedoch voll auf ihre Aufgabe konzentrierte, wirkte der Rekrut nicht ganz bei der Sache und hielt manchmal sogar in seinen Bewegungen so gut wie inne, um sich nach seinen Kameraden umzusehen. Einmal brachte ihn dabei eine Baumwurzel fast zu Fall. Araghast seufzte innerlich. Wilhelm Schneider hatte eindeutig noch viel zu lernen und es war kein Wunder, dass es Esther und Jules am Ende beinahe gelungen war, ihn zu überrunden.
Der Quirmianer hechtete zuerst über die Ziellinie und überquerte sie in einer eleganten Rolle.
"Erster!" rief er und strahlte über das ganze Gesicht.
"Alter Angeber." Esther folgte ihm auf dem Fuße.
Nur wenige Sekunden später überquerte auch eine erschöpfte aber zufriedene Kanndra sehr knapp vor Rach Flanellfuß den Gartenschlauch und die anderen folgten nach und nach.
"Danke!" rief der Kommandeur, als schließlich auch Wilhelm Schneider ins Ziel gekommen war. "Fünf Minuten Pause, dann schauen wir mal nach euren Kampffertigkeiten!"
Die Eindrücke aus dem Parcourstest bestätigten sich im Verlauf der nächsten Stunde größtenteils. Kanndra und Rogi waren routiniert wie immer. Esther und Nyria lieferten sich ein spektakuläres Fechtduell, das die Assassinin nur knapp gewann. Jules Ledoux kämpfte mit einem Lächeln auf den Lippen. Wieder überraschte Rach Flanellfuß und der Kommandeur wurde das Gefühl nicht los, dass der Inspektor für einen reinen Schreibtischtäter doch etwas zu erfahren war. Chief-Korporal von Nachtschatten bewies wenig Erfahrung, aber schnelle Reaktionen und hohe Konzentration. Senray Rattenfänger zeigte zwar großes Talent im Umgang mit einer Schleuder, ihre Nahkampffähigkeiten waren jedoch selbst nach den niedrigen Maßstäben der Wache-Grundausbildung gerade mal mäßig und so musste sie nach zu langem Zögern bei einem einfachen Angriff einen stumpfen Schlag an der Schulter einstecken. Auch Rekrut Schneider hatte sich vor seinem Eintritt in die Wache eindeutig noch nie ernsthaft im Umgang mit Waffen geübt. Einzig das Ausweichen beherrschte er aufgrund seiner vampirischen Reflexe besser als die Obergefreite Rattenfänger und so kam er ohne Treffer davon. Araghast seufzte leise und tauschte einen Blick mit Kanndra. Diese zuckte mit den Schultern und der Kommandeur war sich sicher, dass sie das gleiche dachte wie er. Wenn sie aus dieser vom Schicksal zusammengewürfelten Gruppe ein schlagkräftiges Team mit realistischen Erfolgsaussichten formen wollten, hatten sie noch eine Menge Arbeit vor sich und würden so manchen ungewöhnlichen Weg gehen müssen um die Stärken der einzelnen Truppmitglieder sinnvoll einsetzen zu können.
Nach einer weiteren Ruhepause ließ Araghast den Beutel, den er die ganze Zeit über der Schulter getragen hatte, auf den Gartentisch gleiten und entnahm ihm eine Reihe feinmaschiger Netze mit Zugvorrichtung.
"Diese Fangnetze benutzen wir zum Einfangen von fliehenden Vampiren in Fledermausgestalt." Er warf eines von ihnen Kanndra zu. Die Späherin fing das Netz geschickt auf, ließ es einige Male über ihrem Kopf wirbeln und warf es zielgenau über einen Vorsprung des nächsten Hindernisses.
"Jeder nimmt sich jetzt ein Netz und lässt sich von Kanndra und Rogi zeigen, wie es funktioniert." erklärte Araghast. "Und Rekrut Schneider - Dir wird eine ganz besondere Aufgabe zufallen."
"Sör." Der Vampir nahm Haltung an, aber an seinem angespannten Gesichtsausdruck konnte der Kommandeur erkennen, dass er schon ahnte, was auf ihn zukommen würde. Tut mir leid, dachte Araghast. Aber du bist der einzige, der diese Rolle übernehmen kann.
"Du bist der Lockvogel, Rekrut. Deine Aufgabe besteht darin, zur Fledermaus zu werden und dich von den anderen nicht fangen zu lassen. Du musst im Garten bleiben, aber ansonsten sind sämtliche Manöver und Versteckversuche, die dir gerade einfallen, erlaubt."
Der Rekrut nickte resigniert. "Ich habe verstanden, Sör."
Und mit einem leisen 'Plopp' verwandelte er sich ein eine Fledermaus, die wild flatternd in der Luft schwebte und die ersten Wurfübungen mit dunklen Knopfaugen beobachtete.
"Haben alle verstanden wie es geht? Gut. Dann: Drei - zwei - eins - los!"
Die Fledermaus stob davon und zwei geworfene Netze verfehlten sie nur knapp.
Und so begann die wilde Jagd durch den Flanellfuß'schen Garten. Netze flogen, blieben in Bäumen und Büschen hängen und trafen gelegentlich auch die Kameraden. Hindernisse wurden durchsucht und auseinander genommen, immer auf der Jagd nach der Fledermaus, die sich als erstaunlich schwer zu fangen erwies. Eines musste Araghast dem Rekruten lassen. So ungeschickt er sich auch bei den bisherigen Übungen angestellt hatte, so sicher und pfeilschnell bewegte er sich in der Luft und seine engen Haken und Kapriolen brachten die Jäger an den Rand der Verzweiflung. Der Kommandeur war mehr als zufrieden.
"Ich frage mich ja, wie sie es schaffen, ihre Kleidung mitzuverwandeln." erklang Raistans Stimme dicht neben seinem Ohr. "Bei Werwölfen funktioniert das ja nicht." Araghast hatte den Zauberer nicht herankommen hören. Wenn er es wollte, konnte Raistan so leise sein wie eine Katze auf der Pirsch.
"Keine Ahnung." brummte der Kommandeur. "Vielleicht weil nacktes Verwandeln zu uncool für Vampire ist?"
"Hm." Die steile Falte, die so untrüglich anzeigte, dass er angestrengt über etwas nachdachte, erschien zwischen Raistans Augenbrauen. "Aber irgendwo muss die Kleidung doch hin. Es ist äußerst schwierig, etwas in Luft aufzulösen und dann wieder genauso zu materialisieren wie es vorher..." Erschrocken sprang er einen Schritt zurück als die Wilhelm-Fledermaus in einem waghalsigen Manöver zwischen Araghast und ihm hindurchschoss, in eine Haarnadelkurve ging und nicht mehr gesehen wurde.
Der Rettungstrupp, der eben noch mit schwingenden Netzen hinter dem Rekruten hergerannt war, blieb stehen und sah sich unschlüssig um. Araghast bemerkte einen kurzfristigen verwunderten Ausdruck auf Raistans Gesicht. Dann zwinkerte sein Freund ihm zu und der Kommandeur verstand. Nicht dumm, der Rekrut. Schmunzelnd trat er einige Schritte zurück um bei den kommenden Ereignissen nicht im Weg zu stehen.
"Er ist zwischen eurem Kommandeur und dem Zauberer durchgeflogen!" rief Jules aus. Sein Blick schweifte suchend über die sich vor dem fast dunklen Himmel abzeichnenden Metallstreben des Pavillons.
"Und dahinter ist das Grundstück schon fast zu Ende." überlegte Kanndra. "Das heißt, weit kann er nicht sein."
"Kreisen wir ihn ein." schlug Mina vor. "Wir verteilen uns."
"Und dann ziehen wir das Netz von allen Seiten zu." ergänzte Esther.
Araghast nickte zufrieden als sich der Trupp auffächerte. Endlich taten sie das, worin der tiefere Zweck der ganzen Übung bestand. Hatten sie zu Beginn jeder für sich den Rekruten verfolgt und sich dabei so manches Mal gegenseitig im Weg gestanden, arbeiteten sie nun zusammen. Schritt für Schritt, aufmerksam die Umgebung absuchend und die Netze wurfbereit, pirschten sich die Wächter und Assassinen an den Pavillon heran. Raistan lehnte sich auf seinen hell leuchtenden Stab und betrachtete die näher rückenden Jäger mit mildem Interesse.
"Da! In der Kapuze!" flüsterte Rogi plötzlich und zeigte mit dem Finger. Dann stürzte der gesamte Trupp los. Wie eine Feuerwerksrakete schoss Rekrut Wilhelm Schneider senkrecht in die Höhe und entwischte durch eine der Lücken im Pavillondach. Ein von Rach Flanellfuß geworfenes Netz streifte seine Hinterkrallen. Zwei weitere Netze trafen Raistan, der unter dem Ansturm des Trupps zu Boden ging.
Araghast lachte. "Herzlichen Glückwunsch, ihr habt soeben einen Zauberer gefangen." kommentierte er.
Kanndra lachte ebenfalls. "Nun ja, Bregs, du musst zugeben, mit den schwarzen Gewändern und dem Umhang bestand da schon eine gewisse Verwechslungsgefahr. Aber der Rekrut ist extrem gut und mal wieder eine richtige Herausforderung. Valdimiers Manöver sind mittlerweile so vorhersehbar."
Nachdem sie Raistan von den Netzen befreit und wieder auf die Beine gestellt hatten, legte sich der Trupp eine neue Taktik zu. Einen wilden Zickzackkurs fliegend floh der Rekrut vor Kanndra, Esther, Nyria und Rogi, die ihn in einem Bogen vor sich herjagend auf die übrigen Truppmitglieder zutrieben. Ob es ein Glückstreffer war oder ihre Erfahrung mit der Schleuder ihr half, den Wurf richtig einzuschätzen konnte Araghast nicht sagen - Das Netz der Obergefreiten Rattenfänger wickelte sich um den fliehenden Vampir. Wie ein Stein stürzte er zu Boden, nur um von Jules aufgefangen zu werden.
"Haben wir dich!" rief der Assassine triumphierend aus und reckte seine Beute in die Höhe.
Die Fledermaus fiepte leise, hilflos in das Netz verstrickt.
Senray nahm dem Quirmianer das Bündel aus Fell, Flügeln und Netz aus der Hand und machte sich daran, den Rekruten aus seiner misslichen Lage zu befreien. Araghast trat heran.
"Gut gemacht, alle." verkündete er. "Sowohl ihr Jäger, nachdem ihr euch endlich auf eine vernünftige gemeinsame Strategie geeinigt habt, als auch du, Rekrut Schneider. Das war wirklich eine spannende Jagd. Fünf Minuten Pause, dann machen wir mit etwas anderem weiter."
Kaum dass die letzte Masche des Netzes von seinem Körper gezogen worden war, nahm der Rekrut wieder seine menschliche Gestalt an. Er wirkte völlig durch den Wind.
"Alles in Ordnung, Rekrut?" erkundigte sich Araghast.
"Danke, Sör, es... geht gleich wieder." antwortete Schneider. "Von allen gejagt zu werden ist bloß eine sehr... intensive Erfahrung." Er blickte kurz zu Raistan, der auf der Bank saß und mit den Fingern sein Haar wieder in Ordnung brachte. Der junge Zauberer hob verschwörerisch eine Augenbraue und deutete einen Salut an.
"Gib mir... nur einen Moment um mich... zu sammeln, Sör." stammelte der Rekrut.
Araghast klopfte ihm wortlos auf die Schulter. Er selbst war bereits unzählige Male der Köder bei simulierten Verfolgungsjagden gewesen und auch wenn er mittlerweile in dieser Hinsicht abgebrüht war - das leichte Kribbeln im Nacken, das Gefühl, Beute zu sein, änderte sich nie. Er hatte vollstes Verständnis dafür, dass der Rekrut nach seinem ersten Mal als Köder etwas neben sich stand. Nach einem letzten Blick auf den Vampir ging er weiter, um mit Kanndra das weitere Vorgehen zu besprechen.
Doch bevor er seine Kollegin erreicht hatte, trat Rach Flanellfuß, begleitet von Jules und Esther, auf ihn zu.
"Es gibt da noch etwas, was uns im Kampf gegen einen Vampir nützlich sein könnte, Sör." begann der Inspektor ohne Umschweife.
Araghast nickte. "Erzähl."
"Ich habe mich während meiner Ausbildung in der Gildenschule unter anderem auf Gifte spezialisiert, Sör. Dort habe ich eine Substanz kennen gelernt, die den Metabolismus von Vampiren herunterfährt und sie schwächt, sodass sie leichter zu überwältigen sind." Flanellfuß griff in den Halsausschnitt seiner unauffälligen dunkelgrauen Jacke und zog ein kurzes Blasrohr hervor. "Ich habe mir erlaubt, zu Demonstrationszwecken eine Portion vorzubereiten. Mit deiner Erlaubnis, Sör, würde ich es gern vorführen."
"Nur zu, wenn du einen Freiwilligen findest, Gefreiter. Vielleicht erklären sich Rekrut Schneider oder Chief-Korporal von Nachtschatten ja als Testpersonen bereit."
Araghast sah dem Inspektor nach, wie er entschlossenen Schrittes an Wilhelm Schneider herantrat und auf ihn einzureden begann. Ein Betäubungsgift speziell für Vampire. So etwas konnte nützlich sein. Ebenso wie die Information, dass Rach Flanellfuß offensichtlich die komplette Assassinenausbildung durchlaufen hatte.
Wenig später hatten sich alle um den Inspektor und den sichtlich nervösen Rekruten Schneider versammelt. Die beiden hatten sich fünf Schritte voneinander entfernt aufgestellt und Flanellfuß peilte seinen Kollegen über sein Blasrohr hinweg an.
"Bist du bereit?" erkundigte er sich.
Wilhelm Schneider nickte mit zusammengebissenen Zähnen.
Ein letztes Mal wog der Inspektor das Blasrohr prüfend in der Hand, dann setzte er es an seinen Mund. Einige Sekunden geschah bis auf minimale Bewegungen der Rohrmündung nichts. Dann blähten sich Flanellfuß' Wangen plötzlich auf.
Das Projektil war so winzig, dass Araghast sein Abfeuern erst bemerkte als sich Rekrut Schneider verwirrt an den Hals griff, dort herumtastete und anschließend etwas musterte, das zwischen seinen Fingern klemmte.
"Merkst du schon etwas, Rekrut?" erkundigte sich Araghast.
"Ich... äh..." Wilhelm Schneider runzelte die Stirn. "Äh... denken... schwer..." Er machte einen Schritt nach vorn und schwankte dabei wie ein Pirat nach mindestens zwei Litern Grog. "Komisch im Kopf."
Flanellfuß, der sein Blasrohr inzwischen wieder in seiner Jacke verstaut hatte, trat neben den Rekruten und packte ihn am Arm. Dann drehte er ihn mehrere Male im Kreis. Die Verwirrung auf den Zügen Schneiders wuchs und seine Knie sackten unter ihm weg, während er scheinbar ins Leere starrte und dabei schief ein Liedchen summte.
"Eindeutig kampfunfähig." stellte Araghast fest. "Wie lange hält die Wirkung an, Gefreiter?"
Flanellfuß ließ den Arm des Rekruten los und dieser kippte hintenüber auf die Wiese.
"Etwa zehn Minuten, Sör. Danach dürfte er wieder der alte sein."
"Dann hätten wir also im Zweifelsfall zehn Minuten, uns Ophelia und Magane zu schnappen und den Rückzug anzutreten." merkte Kanndra an.
"Das ist nicht viel, falls das Verließ groß ist." Nachdenklich klopfte Chief-Korporal von Nachtschatten mit dem Zeigefinger gegen ihr Kinn. "Und wir haben es mit einem Uralten zu tun und nicht einem vergleichsweise jugendlichen Vampir wie Wilhelm."
"Es glaube, es gibt da eine Möglichkeit, das Mittel erheblich zu verstärken." meldete sich Jules Ledoux zu Wort und trat vor. "Allerdings müsste ich dazu noch einmal gründlich in der Gildenbibliothek recherchieren und es ist wahrscheinlich, dass die Zutaten sehr schwer zu beschaffen sind. Aber wenn ich mich dransetzen soll?"
"Schaden kann es jedenfalls nicht, sich die Sache anzusehen." antwortete ihm Araghast. "Wir sollten wirklich nichts unversucht lassen, was helfen könnte, mit diesem Racul fertig zu werden."
Während sie noch über Möglichkeiten diskutierten, die Wirksamkeit des Betäubungsmittels zu verbessern, kniete Senray neben dem Rekruten nieder, während Nyria sich über ihn gebeugt hatte, ihn mit dem Zeigefinger in die Schulter piekte und mit ihm sprach. Raistan stand nur einen Schritt dahinter und beobachtete alles interessiert.
Nach einigen Minuten wich der verwirrte Ausdruck von Wilhelm Schneiders Miene und er betrachtete seine Hände, als würde er sie zum ersten Mal sehen.
"Besser." murmelte er immer noch leicht benommen und schüttelte den Kopf. "Viel besser."
Nyria grinste ihn an. "Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich vermutet, du wärst sternhagelvoll gewesen." Sie reichte ihm die Hand und zog ihn auf die Beine.
Der Rekrut massierte sich die Schläfen. "Wenn sich so betrunken sein anfühlt, verzichte ich auf diese Erfahrung lieber."
"Du hast den Spaß vorher, das eigentliche Trinken, ja auch ausgelassen und gleich mit den Nachwirkungen angefangen." bemerkte Nyria trocken.
Araghast verkniff sich ein Grinsen und gab dem Rettungstrupp ein Zeichen, ihm wieder zum Pavillon zu folgen. Dort angekommen griff er wieder in seinen Beutel und holte eine faustgroße, nach Harzen und Ölen duftende Wachspapierkugel hervor aus der eine Zündschnur ragte.
"Das hier ist eine Weihrauchbombe." erklärte er der Gruppe. "Wir verwenden sie um Vampire aus größerer Entfernung zu schwächen. Außerdem verhindert sie eine Verwandlung des Vampirs in seine Nebelform. Unser Alchemikexperte stellt die diese Bomben üblicherweise in drei Konfessionen her: Blinder Io, Offler und Om. Die Schnur brennt etwa zehn Sekunden bevor sie das Räucherwerk erreicht, es bleibt also genug Zeit zum Werfen oder Rollen. Nyria, könntest du mir bitte mal ein Streichholz leihen, damit ich..."
"Sör?" meldete sich Mina von Nachtschatten zu Wort.
"Ja, Chief-Korporal?"
"Nun, ich kann bereits aus eigener Erfahrung bestätigen, dass Weihrauch äußerst unangenehm ist, und der Rekrut Schneider bestimmt auch. Außerdem," Die Verdeckte Ermittlerin warf einen Blick in Richtung des Rekruten, "hat er heute Abend bereits eine Menge durchgemacht. Wenn er jetzt noch eine Weihrauchwolke ertragen muss ist er im schlimmsten Fall für mehrere Tage außer Gefecht gesetzt. Es ist natürlich deine Entscheidung, ob wir weiter machen, Sör, aber ich wollte es zu bedenken geben."
Nachdenklich musterte Araghast erst die Weihrauchbombe, dann den recht elend aussehenden Rekruten Schneider und musste zugeben, dass der Chief-Korporal recht hatte. Einen Ausfall für mehrere Tage konnten sie sich nicht leisten.
"Na gut." sagte er und hielt die Bombe noch einmal für alle sichtbar hoch. "Dann glaubt auch ohne praktische Demonstration, dass diese kleinen Freunde hier sehr wirksam sind. Hiermit ist das Training dann für heute auch beendet. Hat noch jemand Fragen?"
Esther und Jules erkundigten sich, wie die weitere Kommunikation mit ihnen aussehen würde und Araghast versprach, allen beteiligten Zivilisten Passierscheine auszustellen, die ihnen den Zugang zum Wachhaus ermöglichen würden. Mögliche Termine für ein weiteres Treffen wurden ausgelotet. dann zerstreute sich der Trupp in kleinere Grüppchen. Nyria lehnte an einem der Pfosten des Pavillons und gönnte sich eine verdiente Zigarette. Kanndra und die Assassinen machten sich mit der Unterstützung von Rogi, dem Inspektor und der Obergefreiten Rattenfänger an den Abbau des Parcours. Raistan und Rekrut Schneider standen ein wenig abseits von den anderen und sprachen miteinander. Araghast verdrehte innerlich die Augen. Es war so klar gewesen, dass seinem Freund die Frage, wohin die Kleidung von Vampiren beim Verwandeln verschwand, keine Ruhe ließ und er die nächstbeste Gelegenheit nutzte, den Rekruten Schneider danach auszufragen - selbst nach alldem was dieser heute über sich hatte ergehen lassen.
Araghast war gerade dabei, die Fangnetze wieder einzupacken, als Chief-Korporal von Nachtschatten plötzlich neben ihm stand.
"Störe ich, Sör?" fragte sie.
Araghast schüttelte den Kopf und sah auf.
"Was gibt's?"
"Nun, in Anbetracht der Umstände wollte ich fragen, ob wir uns mal unter vier Augen unterhalten könnten."
"Gerne. Wann denn?" Araghast bemerkte, dass Mina von Nachtschatten auf den üblichen abgedroschenen Witz mit der Augenanzahl verzichtet hatte.
"Wann hast du denn Zeit, Sör?" erkundigte sie sich. "So bald wie möglich wäre am besten."
Araghast warf einen Blick auf den nun dunklen Himmel.
"Wie wäre es mit nachher in meinem Büro, etwa in einer halben Stunde?" fragte er. "Dann sind die Eindrücke vom Training noch frisch."
"Einverstanden, Sör." Der Chief-Korporal nickte ihm noch einmal zu und ließ ihn dann allein.
Soso, Mina von Nachtschatten wollte also mit ihm reden. Vielleicht war es auch gut so, dass sie sich mal gründlich unterhielten. Schließlich war sie der Kopf der inoffiziellen Ermittlungsgruppe Ophelia Ziegenberger und es gab noch einiges zu diskutieren - unter anderem wie sie die Operation am besten vor dem Rest der Wache tarnten.
Arahast ließ seinen Blick ein letztes Mal über den Garten und die versammelten Leute schweifen. Ja, diese Trainingseinheit war wirklich sehr aufschlussreich gewesen.

04.05.2017 17: 07

Mina von Nachtschatten

"Reggie, du bist'n Trottel!" Mit verkniffener Miene kippte sich Aaps den letzten Rest billigen Fusels in den Schlund, dann warf er den als Becher benutzten Fingerhut achtlos beiseite. Es klackerte leise, als das kleine blecherne Ding wahrscheinlich auf Nimmerwiedersehen in den Tiefen der Röhre verschwand. "Jetzt hocken wir hier schon seit 'ner Ewigkeit und es is rein gar nix passiert. Und du hast uns eine "absolut sehenswerte Abendunterhaltung" versprochen, wenn ich mich nicht irre." Der Dämon wies unwillig in Richtung der halb offen stehenden Rohpostklappe. "Was das da draußen nich ist."
"Genau!", grunzte Stuff, "Voll lahm hier. Und dafür verpass ich, wie so'n Grünschnabel versucht, Ein-Ohr-Eddie wegen was dranzukriegen, was der garantiert auch getan hat, hehehe. Das hätte sich gelohnt!"
"Wie, läuft das schon?"
"Klar, Verhörraum 2."
Aaps gab ein enttäuschtes Stöhnen von sich.
"Ein Klassiker! Und ich verpass's!"
"Na, noch können wir's zum Finale schaffen, wenn wir jetzt los machen." Stuff grinste. "Ne Wochenration Tabak auf Eddie. Steigst du ein?"
"Klappe, ihr Knalltüten! Wenn ich sage, hier passiert gleich was, dann ist das auch so."
"Aber klar doch!" Aaps rappelte sich auf und richtete seinen Schlips. "Das gleiche wie in der letzten halben Stunde: Einauge starrt böse vor sich hin und säuft. Mag sein, dass du das spannend findest - ich hab meine Zeit nich gestohlen."
"Würdest du aber, wenn du könntest", witzelte Stuff.
Die beiden brachen in meckerndes Gelächter aus.
Reggie warf den anderen Dämonen vernichtende Blicke zu. Nicht bereit, mal ein bisschen Zeit und Geduld zu investieren. Nur auf die schnelle Effekthascherei aus. Typisch! Aber dummerweise hatten sie ja Recht. Wenn nicht bald etwas geschah, dann würde er seine in dieser Hinsicht bisher einwandfreie Quote ruinieren. Und die beiden Deppen würden ihm das ewig auf's Butterbrot schmieren. Undankbares Pack! Dabei gingen die legendärsten Vorstellungen der letzten Zeit einzig und allein auf sein Konto! Der Zuber, der Freifahrtschein für den Vampir, das Hirn der Igorina durchzusieben, die geballte Hexenfamilie am Tresen - immer war er es gewesen, der darauf aufmerksam gemacht hatte. Vielleicht sollte er seine beiden Kollegen in Zukunft einfach außen vor lassen, mal sehen, wie denen das dann schmecken würde!
Mittlerweile waren Aaps und Stuff dazu übergegangen, den dritten Rohrpostdämon im Bunde mit großen Gesten zu imitieren.
"Leute, das dürfen wir nich verpassen", äffte der eine.
"Das hat Potential. Da kann 'ne Menge passieren", mimte der andere. Und sie kicherten wie eben erst beschworene Rohrpostfrischlinge.
"Dann rutscht doch die Röhre runter und nervt woanders", knurrte Reggie und schob die Lippe vor. "Aber jammert mir nachher nich die Ohren voll. Ich weiß, was ich gehört habe."
Aaps kratzte sich hingebungsvoll an der Nase.
"Mal ehrlich, Reggie: Bist du dir sicher, dass du da nich vielleicht einfach was falsch verstanden hast? Kann ja mal vorkommen. Man wird ja auch nich jünger." Er bemühte sich um einen versöhnlichen Tonfall. "Lass uns einfach abhauen, ehe Einauge noch spitzkriegt, dass wir hier faul rumhängen und sich wieder irgendwas ausdenkt, von dem er glaubt, uns damit einen Denkzettel zu verpassen."
"Ich werde..."
Jenseits der Röhre ertönte ein deutliches Klopfgeräusch. Die Bürotür.
"Ha!" Reggie bedachte Aaps und Stuff mit einem triumphierenden Grinsen. "Und wer ist jetzt der Trottel?"
Der Dämon mit der Nickelbrille schlich zur Klappe und riskierte einen Blick.
"Äh... also momentan immer noch du, Kumpel." Er zuckte mit den Schultern. "Ist nur das blonde RUM-Jüngelchen, dieser Püscho-Typ. Hat 'nen Haufen Papierkram für den Schäff dabei."
"Ich habe hier das angeforderte Material, Sör", erklang die Stimme von Dagomar Ignatius Volkwin von Omnien, nur minimal gedämpft, an die Ohren der lauschenden Rohrpostdämonen.
"Was du nicht sagst, Gefreiter." Der Kommandeur. Er klang nicht begeistert. "Leg es hier hin. Danke, Gefreiter."
"Sör."
Schritte, die sich entfernten. Das Klacken einer ins Schloss fallenden Tür. Dann das unverkennbare Geräusch einer Schreibtischschublade, die geöffnet und wieder geschlossen wurde.
"Jetzt hat er seine Flasche wieder herausgeholt", informierte Aaps seine Kollegen und machte sich auf den Rückweg zum aktuellen Horchposten. "Tja Reggie. Was auch immer du dir erhofft hast - es dauert wohl doch noch 'ne Weile."
Stuff gähnte demonstrativ und zog sich sein Stirnband über die Augen.
"Weckt mich, wenn's soweit ist."
Reggie biss sich auf die Unterlippe. Er gab es ungern zu, aber... Der Gedanke, Ein-Ohr-Eddie mal wieder in Aktion zu erleben wurde von Minute zu Minute attraktiver.
"Vielleicht sollten wir..."
Erneutes Klopfen. Entschiedener diesmal.
"Ja, was denn?"
"Sör."
"Ah ja, Chief-Korporal. Setz dich."
Aaps seufzte pflichtschuldig und schlurfte ein weiteres Mal zum Ausgang der Röhre. Er spähte in den Raum - und fuhr wie elektrisiert zusammen.
"Die von Nachtschatten! Alter Röhrenputzer, du hattest doch Recht!"
Schneller als ein Gedanke drängten sich mit einem Mal drei Dämonenköpfe an der Rohrpostklappe links neben dem Schreibtisch des Kommandeurs der Stadtwache. Es gab ein kurzes Gerangel um die besten Plätze, dann harrte man mucksmäuschenstill der Dinge, die da kommen würden. Natürlich war das Risiko entdeckt zu werden hier größer, dabei die Sicht eingeschränkt und die Perspektive auch nicht ideal - aber nur den Ton ohne ein Bild zu haben, das brachte es meistens einfach nicht.
Die RUMlerin ließ sich ohne große Umschweife auf der Breguyar gegenüber gelegenen Seite des Schreibtisches nieder.
"Entschuldige die Verspätung, Sör - Abteilungsinterna."
"Die lassen sich wohl nicht vermeiden." Breguyar winkte ab. Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. "Also, du hast mich um dieses Gespräch ersucht - um was geht es?"
"Tatsächlich würde ich gern einen Punkt betreffend deiner Trainingseinheit ansprechen. Aufgrund der Kurzfristigkeit meines Anliegens hast du dir das wahrscheinlich schon denken können."
Der Kommandeur nickte und forderte sie mit einer Geste auf, weiterzusprechen.
"Das sieht jetzt aber nicht so aus, als würde es gleich einen großen Knall geben", flüsterte Stuff enttäuscht.
Reggie rammte ihm den Ellenbogen in die Rippen.
"Ruhe, du Pappnase! Das is doch noch die... Äckspostion. Ein großer Knall braucht Anlauf."
"Selber Ruhe, Herr Neunmalklug!"
Die von Nachtschatten nahm sich unterdessen einen Moment, ihre nächsten Worte sehr genau abzuwägen.
"Mit Verlaub Sör", begann sie dann und legte nachdenklich die Handflächen aneinander, "und ohne dir zu nahe treten zu wollen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob Experimente an Kollegen eine geeignete Methode sind, wenn es das eigentliche Ziel ist, den Zusammenhalt in der Truppe zu stärken. Oder auch generell."
Der Chef hob die Augenbrauen.
"Der Rekrut Schneider? Er hat sich zum einen freiwillig gemeldet und zum anderen müssen wir alle Möglichkeiten nutzen, die sich uns bieten. Denn von einer kompetenten Eingreiftruppe seid ihr noch weit entfernt."
"Das ist mir vollkommen bewusst. Aber Sör, du kannst doch nicht ernsthaft erwägen, die Wirkung einer Weihrauchbombe an einem angeschlagenen Vampir zu demonstrieren, nur weil es sich gerade anbietet."
Aaps wandte sich mit leuchtenden Augen seinen Kollegen zu und seine Lippen formulierten stumm die Worte "Experiment" und "Bombe". Er erntete aufgeregtes Nicken. Aber trotz dieser verheißungsvollen Schlagworte weigerte sich die Szene direkt vor ihnen immer noch, die erhoffte dramatische Wendung anzunehmen.
Breguyar nickte langsam, wenn auch widerwillig.
"Damit hast du natürlich nicht ganz unrecht, Chief-Korporal", erwiderte er. "Auch wenn es ein kalkulierbares Risiko gewesen wäre. Denn du kannst dir sicher sein, dass ich mit dem FROG zur Verfügungen stehenden Arsenal und seiner Wirkweise gut vertraut bin."
"Darum geht es mir nicht. Und ich sage das auch nicht, weil Schneider und ich der gleichen Spezies angehören. Doch selbst ein Vampir, der eine Menge aushält und der keine bleibenden Schäden davontragen wird, kann Schmerz empfinden. Demütigung. Irgendwann ist dann eine Grenze erreicht und wie du vorhin ebenfalls angemerkt hast, können wir keine internen Unstimmigkeiten gebrauchen, Sör. Kurz gesagt, ich würde gern verhindern, dass irgendjemand anfängt auf eigene Faust zu handeln, weil er sich von der Gruppe nur in die Rolle des nicht ganz ernst genommenen Versuchskaninchens gezwungen sieht." Sie sah in geradeheraus an. "Deswegen heiße ich solche Test nicht unbedingt gut. Auch wenn sie noch so verlockend sein mögen, wenn man einen Freiwilligen hat."
"Holala. Nicht schlecht." Aaps blies die Backen auf und ließ die Luft langsam wieder entweichen. "Also eins muss man der Blutsaugerin ja lassen. Ich weiß nicht, ob ich so ruhig wäre, wenn jemand euch, was weiß ich... irgendwelchen alchimistischen Giftmüll auf den Kopf hätte kippen wollen. Die Frau bleibt sachlich." Er richtete seine Brille. "Wie langweilig."
Reggie wiegte zweifelnd den Kopf. Beim letzten Satz seitens der von Nachtschatten war ihm gewesen, als hätte er etwas in deren Augen aufblitzen sehen, etwas, das hier eigentlich nicht hingehörte. Ganz kurz nur und auch nicht mit absoluter Sicherheit. Hätten sie doch nur einen besseren Beobachtungsposten gehabt!
Dem Kommandeur schien es allerdings auch aufgefallen zu sein. Seine Stimme bekam einen seltsamen Unterton, als er antwortete:
"Das mag sein, aber ich kann ja schlecht die ganze Zeit daneben stehen und Wächter vor ihrer eigenen Motivation bewahren. Denn das entscheidende Wort hier lautet in der Tat freiwillig."
Die RUM-Vampirin verschränkte die Arme. Sie schien nicht gewillt zu sein, diesen Einwand gelten zu lassen.
"Wenn wir noch einen Moment beim Beispiel Wilhelm Schneider bleiben", fuhr sie ungerührt fort. "Ich weiß nicht, wie genau du mit den Umständen des Zustandekommens der neuen Ermittlungsgruppe vertraut bist, aber der Rekrut hatte nicht unbedingt den besten Start. Nun versucht er mit allen Mitteln, sich irgendwie einzubringen und möglichst nützlich zu machen, am besten wahrscheinlich sogar unentbehrlich. Und wir sind gerade dabei, diesen Umstand gnadenlos auszunutzen. Nicht nur heute. Im wird zwar zunehmend bewusst, worauf er sich da eingelassen hat, zumindest habe ich den Eindruck. Aber das ändert nichts. Er wird weitermachen. Ich denke einfach, dass man diesen Sachverhalt im Hinterkopf behalten sollte. Denn wie du weißt, Sör - manche Leute sind bereit, absurde Risiken einzugehen wenn sie der Ansicht sind, damit helfen zu können."
Da war es schon wieder gewesen! Reggie machte einen langen Hals, streckte sich so weit es ging nach vorn, ignorierte Stuffs Schnauben, der sein Knie dabei gegen die Wange bekam. Hier ging es doch eindeutig noch um etwas anderes. Eine gewisse Anspannung hatte sich über den Raum gelegt, erzeugt von einem weiteren Sinn hinter den eigentlichen Worten, von Andeutungen, die beide Gesprächspartner anscheinend sehr gut verstanden. Und mit ein bisschen Pech würden sie ihnen nicht den Gefallen tun, es laut auszusprechen. Reggie betrachtete die Haltung der beiden Wächter eingehend. Wenn man sich die halben Geschichten immer selbst zusammenreimen musste, dann lernte man, auf bestimmte Details zu achten. Auf der einen Seite lag darin ein gewisser Reiz, auf der anderen Seite war es oft genug frustrierend, der eigenen Neugier trotz allem nicht das bieten zu können, was sie verlangte.
Die von Nachtschatten zum Beispiel saß leicht zurückgelehnt auf dem Besucherstuhl, die Arme immer noch vor dem Oberkörper überkreuzt und damit eigentlich in der abwehrenden, passiveren Haltung. Während das einäugige Wacheoberhaupt sich während der letzten Worte wie lauernd nach vorn gebeut hatte und die rangniedrigere Wächterin mit einem durchdringenden Blick bedachte. Eindeutig die aggressivere Haltung. Aber warum wirkte die Vampirin dann, als sei sie sich ihrer Sache vollkommen sicher, während der Chef... na Hoppla, was war das denn? Keine Unsicherheit, aber vielleicht ein Anflug von Zwiespalt?
"Willst du noch auf etwas bestimmtes hinaus?", knurrte Breguyar.
"Im Hinblick auf Wilhelm Schneider? Nein, da habe ich tatsächlich alles gesagt, was ich zu sagen hatte." Sie hielt dem Blick stand.
Jetzt, dachte Reggie, Jetzt knallt's gleich.
Aaps bohrte ihm vor Aufregung die Klauen in die Schulter und Stuff hielt die Luft an.
Die beiden Wächter verharrten noch einen Moment in ihrer jeweiligen Position und in der umfassenden Stille hätte man wohl eine Maus husten hören können. Dann löste sich der Kommandeur Millimeter für Millimeter aus seiner angespannten Haltung und nickte langsam.
"Dann werde ich versuchen, diese Betrachtungsweise bei zukünftigen Entscheidungen, was das betrifft, mit zu berücksichtigen", meinte er lediglich. Zwar nicht unbedingt freundlich, aber man hatte sich offenbar wieder ein paar Meter vom Abgrund zurückgezogen.
"Danke Sör." Die RUM-Stellvertretende legte die Hände in den Schoss.
Allgemeines Durchatmen. Da hatte nicht mehr viel gefehlt, aber offenbar gab es heutzutage vernünftige Wächter, die imstande waren den letzten Funken zurückzuhalten, der das Pulverfass in die Luft gejagt hätte.
Stuff grinste seine Kumpane an.
"Schade eigentlich."
"Ja, man kann nicht alles haben." Aaps zuckte mit den Schultern und machte Anstalten, sich von der Rohrpostklappe zurückzuziehen. "Aber Einauge wird wohl langsam weich."
Im Büro selbst hatte man begonnen, für Dämonen eher uninteressante Themen zu erörtern, irgendetwas von Gegebenheiten vor Ort, Bewohnern eines bestimmten Hauses - öden theoretisch-taktischen Kram.
"Was mich außerdem noch interessieren würde ist, ob ihr euch schon Gedanken dazu gemacht habt, wie ihr diese Operation vor dem Rest der Wache zu tarnen gedenkt", meinte der Kommandeur gerade.
"Dass wir neue Ansätze in einer bestimmten Sache verfolgen, dürften die meisten Wächter mittlerweile zumindest vermuten. Das Problem mit Ophelia war zu lange zu präsent, um nicht noch in den Köpfen zu sein. Daher denke ich, es ist am besten, es einfach weiter wie bisher zu handhaben: inoffiziell. Oberfeldwebel Feinstich hatte da eine interessante Idee hinsichtlich des Einsatzes eines Mobs..."
"Wie, willst du schon abhauen?" Reggie warf Aaps einen verständnislosen Blick zu.
Der andere Dämon zuckte mit den Schultern.
"Schätze, das war's. Sie sind sich nicht an die Kehle gegangen. Tut mir leid, dass du deinen großen Paukenschlag nicht bekommen hast."
"Du hast eine Aufmerksamkeitsspanne wie'n Goldfisch, Aaps. Komm schon, bisschen mehr Geduld bringt dich nicht um." Er wandte sich an den dritten Dämon. "Stuff, bleibst wenigstens du noch?"
"Naja..." Der Angesprochene machte ein unschlüssiges Gesicht.
"... und wirklich vorbereiten kann man so etwas ohnehin nicht, Sör. Alle Eventualitäten abdecken. Zumal wir nur eine ungefähre Ahnung davon haben, was uns am Ende tatsächlich erwartet. Was wir neben allem anderen brauchen werden, ist demnach vornehmlich Glück. Eine ganze Menge Glück."
"Daher sind hier auch unorthodoxe Methoden gefragt. Ihr müsst flexibel agieren können..."
"Das Beste ist wohl tatsächlich vorbei." Stuff streckte sich.
Reggie machte eine wegwerfende Handbewegung. "Nichts los mit euch, ihr Banausen. Aber macht doch was ihr wollt." Dann stützte er den Kopf auf die Fäuste, entschlossen nicht eher zu weichen, als bis die RUM-Vampirin das Büro endgültig wieder verlassen hatte. Immerhin bestand ja zumindest die Chance, dass noch etwas Interessantes geschah, egal wie klein diese auch sein mochte. Er würde weiter beobachten. Ja, das war Trotz, na und?
Draußen hatte der Chief-Korporal erneut ein ernstes Gesicht aufgesetzt.
"Was das betrifft, Sör... ich halte diesen Ansatzpunkt für schwierig", sagte sie gerade. "Nichts gegen die Kenntnisse des Inspektors auf diesem Gebiet, aber... Sör, du weißt von der mentalen Koppelung zwischen Racul und Ophelia?"
"Der Wurzel allen Ãœbels?" Er schnaubte. "Mittlerweile schon."
"Ich frage mich: Hat sich schon einmal jemand Gedanken darüber gemacht, was am anderen Ende dieser Verbindung passiert, wenn wir Racul mit einer Dosis Einhalt zu gebieten versuchen, die ein Pferd betäuben könnte, oder vielleicht sogar noch mehr? Ich werde das auch Rach gegenüber noch einmal ansprechen. Soweit wir wissen, ist es um Ophelias Gesundheit nicht gut bestellt. Ich mache mir Sorgen, dass sie es nicht verkraften könnte. Und wir können es auch vorab nicht irgendwie ausprobieren oder an Vergleichen festmachen. Was wenn..." Sie schüttelte den Kopf, wie um einen unangenehmen Gedanken abzustreifen. "Ich bin mir nicht sicher, ob ich bereit bin, dieses Risiko einzugehen."
"Ich würde es dennoch weiter in Betracht ziehen. Unsere Möglichkeiten sind begrenzt und es wäre dumm, eine realistische Option gleich zu Anfang zu verwerfen, nur weil sie potenziell riskant ist. Wir brauche taktische Vorteile." Für Breguyar schien der Punkt damit hinreichend erörtert.
"Mit Verlaub, Sör, Racul wird sich nicht so brav wie Wilhelm hinstellen und darauf warten, getroffen zu werden." Die Stimme der Vampirin hatte eine neue Schärfe gewonnen, die Reggie aufhorchen ließ." Der Alte ist in der Lage innerhalb des Bruchteils einer Sekunde in feinen Nebel zu zerstäuben und wenn der Pfeil einmal fliegt, dann kann ihn nichts mehr aufhalten. Was, wenn sich jemand in diesem Augenblick hinter Racul befindet? Und ich spreche hier nicht nur vom Einsatzteam."
Die Stirn des Kommandeurs legte sich verärgert in Falten.
"Dann beantworte mir eine einfache Frage: Wie würdest du einen uralten, erfahrenen Vampir ohne Hilfsmittel lebendig fangen?"
"Das ist so gut wie unmöglich, Sör", antwortete sie, ohne mit der Wimper zu zucken.
"Eben." Er machte eine Miene wie ein Anwalt, der dem Richter gerade ein absolut unschlagbares Argument vorgelegt hatte. "Entsprechend werden wir gewissen Unwägbarkeiten einfach in Kauf nehmen müssen."
Die von Nachtschatten atmete einmal tief durch.
"Eine Unwägbarkeit..." Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. "Das ist es also? Das ist alles?"
Die Luft wurde abrupt aus Reggies Lungen gepresst, als sich links und rechts von ihm die beiden anderen Dämonen ohne Rücksicht auf Verluste wieder nach vorn zu drängen versuchten. Offenbar befanden sie das Schauspiel jetzt wieder als ihrer Aufmerksamkeit wert.
"Uff!"
"Was hat das Bleichgesicht da gesagt?"
"Klappe halten!"
"He, lasst mich auch gucken!"
Wenn auch die Meinungen schon eher an diesem Abend auseinander gegangen waren, es schien als Nebensächlichkeit im Vergleich dazu, was sich jetzt anbahnte. Jetzt ging es hier tatsächlich um etwas ganz anderes, wesentlich essenzielleres. Das, was schon die ganze Zeit ungesagt mitgeschwungen hatte.
Die Augen der Vampirin hatten sich zu schmalen Schlitzen verengt.
"Es ist dir immer noch vollkommen egal!", zischte sie. "Sie ist dir egal!"
"Nicht in diesem Ton, Chief-Korporal."
"Der Zweck heiligt nicht immer die Mittel."
"Aber die Mittel müssen dem Zweck entsprechen."
"Hast du dich jemals gefragt, wie es Ophelia in all dem ergangen ist? Was sie durchgemacht hat, ängstlich darum bemüht, niemandem zur Last zu fallen, darin immer wieder versagend?"
"Oberfeldwebel Ziegenberger hatte in dem Moment bei mir verspielt, in dem sie mich einmal zu oft getäuscht hat. Mit ihren süßlichen Attitüden, ich konnte mich nicht weiter davon einlullen lassen!"
"Das ist dein Argument? Dafür, dass es dir von Anfang an gleichgültig war, was mit Ophelia geschieht? Dir war nur wichtig, dass wir das Problem sauber aus der Welt schaffen, koste es was es wolle! Als ob sich die Angelegenheit einfach nur durch ein paar Anweisungen von oben regeln ließe!"
Mittlerweile standen sich die beiden Wächter gegenüber; die Hände auf die jeweilige Seite des Schreibtisches gepresst funkelten sie sich böse an, wobei der Kommandeur die Vampirin um ein gutes Stück überragte - was diese allerdings nicht sonderlich zu beeindrucken schien. Nein, hier war keiner gewillt, vor der Herausforderung zurückzustecken.
"Im Rahmen meiner Möglichkeiten und als Kommandeur der Stadtwache habe ich gehandelt und dafür werde ich mich nicht entschuldigen!", donnerte er.
"Ja, du hast ihr diese Pillen verschafft. Sie wäre beinahe vom Dach gesprungen, Araghast! Weil sie sich verpflichtet gefühlt hat, das Zeug zu schlucken, nur um dir gerecht zu werden. Man kann Wächter nicht vor ihrer eigenen Motivation schützen, aber man kann verdammt noch mal dafür sorgen, ihnen keine Munition zu liefern, um sich selbst umzubringen."
"Ich habe sie nicht dazu gezwungen."
"Und dann hast du sie in diese Maschine stecken lassen; schließen wir sie an HEX an und brennen ihr das Problem aus dem Kopf, dadurch wird bestimmt alles besser! Du hast ihr das aufoktroyiert, von oben herab, ohne eine Gedanken an die Konsequenzen für sie als Person zu verschwenden. Solange es dich nur nicht direkt betroffen hat."
"Wenn du mir hier unterstellen willst, ich würde meine Pflichten gegenüber den mir Untergebenen nicht kennen, dann hast du keine Ahnung von dem, was mein Posten mir abverlangt. Ja, ich treffe harte Entscheidungen, verantworte sie vor dem Patrizier. Ich bin es, der den Kopf hinhalten muss, wenn etwas schief geht. Da kann ich nicht immer Rücksicht auf Einzelne nehmen." Er knallte die Faust auf den Tisch. "Es tut mir leid, verflucht, dass ich mich geirrt habe, was ihr Verschwinden betrifft. Aber wirf es mir nicht vor, wenn ich in einer Frage des Vertrauens gezwungen war, abzuwägen."
Die Vampirin sah aus, als stünde sie kurz davor, etwas sehr Unbedachtes zu tun - doch dann verschloss sich ihr Gesichtsausdruck und sie trat einen Schritt vom Tisch zurück.
"Wie es aussieht haben wir alle ein paar Fehler gemacht", meinte sie mit gefestigter Stimme. "Aber so lange wir es jetzt schaffen zu kooperieren, können diese Dinge wohl beiseite gelassen werden."
"Ich weiß nicht, können sie das tatsächlich?" Im Auge des Kommandeurs lag immer noch ein gefährliches Funkeln. "Ich würde gern wissen, worauf ich mich bei einer weiteren Zusammenarbeit einlasse."
Sie sah ihn an, nun wieder die Beherrschung in Person.
"Es wird in dieser Hinsicht keine Probleme geben", versprach sie. "Und es tut mir leid, wenn ich eben ein wenig die Fassung verloren habe, Sör. Es handelt sich um ein... sensibles Thema für mich."
Der Kommandeur schien noch etwas sagen zu wollen, beließ es dann aber bei einem weiteren Nicken.
"Dann wäre das geklärt", meinte er schlicht. "Sonst noch etwas?"
"Nein, Sör."
"Dann gute Nacht, Chief-Korporal."
"Gute Nacht, Sör."
Und sie ging - nicht panisch, fluchtartig den Raum verlassend, wie es gelegentlich vorkam, wenn ein Wächter mit dem Kommandeur aneinandergeraten war. Mina von Nachtschatten verließ gemessenen Schrittes das Büro und ließ die Tür mit einem sanften Klacken ins Schloss fallen.
Die Dämonen in der Röhre sahen sich bedeutungsvoll an.
"Das... war doch mal was."
"Ganz schönes Drama."
"Aber wenn ich mich an den Drogentrip der Ziegenberger erinnere... die Nacht ist an der Blutsaugerin ja auch nicht spurlos vorbeigegangen."
"Reggie, wenn ich dich das nächste Mal als Trottel bezeichne, dann hau mir auf den Kopf." Aaps legte seinem Kollegen den Arm über die muskulösen Schultern. "Saubere Arbeit, Kumpel. Hast echt ein Näschen dafür. Aber jetzt sollten wir wirklich abhauen."
"Warte noch kurz - ich will noch sehen, was Einauge macht", hielt Stuff die beiden anderen auf.
Araghast Breguyar starrte grimmig vor sich hin. Dann ließ er sich auf seinen Stuhl zurückfallen, riss eine ganz bestimmte Schublade auf und das bauchige Blubbern verriet, womit er sich nun noch einmal sehr intensiv befassen würde. Der gereizt zur Seite gepfefferte Flaschenkorken verfehlte die Rohrpostklappe nur knapp.

Draußen vor der Tür hielt Mina kurz inne. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und vergrub das Gesicht in den Händen. Was war das denn eben gewesen? Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Gar nichts, gab sie sich selbst die treffende Antwort, es ist einfach mit dir durchgegangen.
Diese Sache, die Art und Weise wie der Kommandeur während der Auseinandersetzung mit Ophelias Problem vorgegangen war, hatte schon so lange in ihr gegärt, Aufmerksamkeit gefordert, einem gerechten Zorn immer wieder neue Nahrung gegeben. Dennoch, das hätte nicht passieren dürfen. Wie konnte sie sich so gehen lassen? Mina gab ein frustriertes Stöhnen von sich. Andererseits... wahrscheinlich war das in Anbetracht der Umstände nur noch eine Frage der Zeit gewesen. Wenn man der Sache also etwas Gutes abgewinnen wollte, dann vielleicht die Umstände. Wenn sie schon die Nerven verlor, dann besser so, als vor versammelter Mannschaft.
"Ist alles in Ordnung, Mä'äm?", drang eine Stimme an ihr Ohr.
Mina sah auf.
Die RUM-Gefreite Remedios von Schwarzfell stand im Treppenaufgang und sah sie fragend an.
"Ja, es... ich habe nur gerade..." Mina machte eine vage Geste, entschied dann aber, dass es nur Breguyar und sie zu interessieren hatte, was eben vorgefallen war. "Es ist nichts." Außer dass ich eben den Kommandeur angeschrieen habe... unter Verwendung seines Vornamens... "Danke Gefreite. Alles in Ordnung." Sie zwang ein schnelles Lächeln auf ihr Gesicht und machte sich dann zügigen Schrittes auf den Weg zu ihrem eigenen Büro. Dort konnte sie sich erst einmal wieder fassen. Und dann in aller Ruhe die Konsequenzen abwarten.

05.05.2017 15: 52

Ophelia Ziegenberger

Kälte. Alles umfassende, durchdringende Kälte. Sie fror erbärmlich und hatte doch keine Kraft, um auch nur zu zittern.
Der Schwindel legte sich allmählich, ebenso wie das Rauschen. Sie war also bewusstlos gewesen. Wieder einmal... Die Lücken wurden größer, häuften sich...
Es war vermutlich sinnlos, danach zu fragen, wie lange sie dieses mal 'fort' gewesen war.
Der Angriff!
Diese unbekannte Stimme in ihrem Sinn...
Racul hatte sich mit Sicherheit darum gekümmert, während sie nicht ansprechbar gewesen war...
Der einzige Trost bestand darin, dass sie nichts Vertrautes erkannt hatte, was ihr nun Trauer abverlangt hätte. Wer auch immer ihn herausgefordert hatte, er war selbst Schuld gewesen an den zu erahnenden Folgen.
Die Kälte lähmte sie regelrecht, ihre Bewegungen, ihre Gedanken...
Zu lange. Diese Gefangenschaft würde sie umbringen, da war sie sich inzwischen fast sicher. Sie wollte das nicht, natürlich nicht. Sie kämpfte noch immer um ihre Hoffnungen. Und jeden wachen Moment rang sie darum, ihre Menschlichkeit zu bewahren. Was wäre sie schließlich, als eine leere Hülle, bedeutungslos und verloren, wenn sie die sanfteren Seiten ihres Wesens endgültig verlieren würde? Der Moment, in dem sie ihr Leiden durch Gleichgültigkeit beenden, in dem sie die letzte lächelnde Erinnerung begraben würde, das wäre eben jener Augenblick, in dem die beiden Wächter ihres Schicksals sich arrogant beglückwünschen würden. Einen Triumph, den sie ihnen nicht gönnte. Sie wollte Mensch sein, fühlen. Selbst wenn das bedeutete, den Schmerz aushalten zu müssen.
Aber sie spürte doch, wie ihr diese Entscheidung immer mehr entglitt. So viele Nächte in der absoluten Dunkelheit, so viele endlose Stunden des Wartens über einem Abgrund, der tiefer ging, als der finstere Schacht unter ihr.
Immerhin... wenn sie starb, würde sie ihn mitnehmen. Ein kleiner Trost. Eine späte, dafür aber umso nachhaltigere Rache. Für alles, was er ihr zugemutet hatte. Und nicht nur ihr! Auch für das, was er den toten Mädchen angetan hatte. Und was er ihren Freunden antat, ihrer Familie. Was er Rach antat...
Ophelia spürte Tränen in sich aufsteigen, etwas, das lange nicht mehr geschehen war. Weinen war anstrengend, Trauer kam auch ohne Tränen aus. Aber der Gedanke an ihn... sie hatte zu deutlich Rogis Zögern vor Augen, wie diese sich bei der Frage gewunden hatte, wie es seit ihrem Verschwinden um Rach stünde...
Sie drängte Bilder und Gefühle zurück, weit fort, in den Hintergrund. Rach gehörte ihr allein! Weder Racul, noch Sebastian, sollten sein Andenken beschmutzen. Es war ihr ohnehin kaum noch möglich, die Konzentration aufzubringen, die für den Gedankenwall nötig war. Wenn sie ausgerechnet ihre Trauer um ihn zuließ, dann verdammte sie sich von vornherein zum Scheitern. Und sie hatte nicht das kleinste Quentchen Kraft über, um es zu vergeuden!
Ihre Gedanken huschten unkontrolliert voran.
Feuer... warmes Licht, das über ihre Lider spielte...
Sie öffnete langsam die Augen und wandte ihr Gesicht zur Seite.
Sie befand sich im Roten Zimmer, immer noch. Oder wieder? Im Kamin brannte ein tüchtiges Feuer, sonst schien sie allein zu sein.
Allein...
Der Gedankenwall!
Der war wichtig!
Sie musste ihn wieder aufbauen.
Aber warum?
Racul, genau! Sie wollte ihn nicht ertragen müssen.
Sie spürte regelrecht, wie seine eisige Aufmerksamkeit sich ihr zuzuwenden begann, kaum, dass sie seinen Namen gedacht hatte.
Ophelia fühlte sich unsagbar schwach aber allein das Wissen darum, dass seine Präsenz sich ihr auf geistiger Ebene wieder einmal annäherte, ließ sie nach jedem Tropfen Brennstoff für ihr geistiges Feuer graben, den sie zusammenbringen konnte. Und - mochte der Gedankenschleier auch noch so zart sein, sie schaffte es gerade noch rechtzeitig, ihn zwischen sich und ihm in die Höhe zu reißen. Zitternd lag sie mittig der mentalen Barrierefetzen. Denn so sehr sie sich auch bemühte, sie brachte keinen umlaufenden Schutz zustande. Dafür reichte ihre Kraft einfach nicht mehr. Sie konnte nicht viel aufweisen, nur noch sich überlappende Tücher, dünne Papierwände, die beim geringsten Windhauch zerreißen oder umstürzen würden.
Er streifte um sie herum, begutachtete ihr Werk von allen Seiten, berührte es jedoch nicht.
Dann zog er sich wieder zurück.
Sie bebte regelrecht vor Erleichterung.
Und vor Entkräftung.
Sie lag auf der Seite und sah, von ihrem Bett aus, zum Kamin. Es wunderte sie nicht, dass sich ihrem angestrengtem Atem auch ein starkes Flimmern der Sicht zugesellte. Das war keine ungewöhnliche Erfahrung mehr. Die Anforderung der mentalen Barriere war zu hoch. Ihr Körper war drauf und dran, sie wiederholt in eine gnädige Ohnmacht hinabzuzerren. Ihr Herz schlug rasend schnell, fast im gleichen Rhythmus, in dem die Flammen in der Feuerstelle an den Abzugswänden emporleckten.
Sie konnte nur einen kleinen Teil ihrer Aufmerksamkeit von der Gedankenwehr abzweigen, doch dieser war irritiert. Dann verblüfft. Und dann...
Ophelias Augen weiteten sich panisch, als Verstehen sich in ihr ausbreitete.
"Oh nein! Nein! Bitte nicht!"
Sie atmete tiefer ein, das schwere Rasseln in ihren Lungen ignorierend.
Die Barriere! Sie musste nun halten, es führte plötzlich kein Weg mehr daran vorbei. Denn welche Erinnerung sich in ihren Gedanken gerührt hatte, welche Ähnlichkeit zu dem, was sie dort direkt vor sich beobachtete ihr Gedächtnis zum Vergleich hervorholte, welche vergangenen Erfahrungen aus einem früheren Leben sie sich dort wiederholen sah... das durfte keiner der beiden Vampire erfahren!
"Zu nah! Kein Zufall! Sie sucht nach mir! Wenn das jemand merkt!"
Mit Entsetzen sah sie dabei zu, wie die Flammen in der Feuerstelle pulsierten, wie sie hoch ausschlugen, fast schon wütend fauchten. Sie wimmerte leise, als ihre Angst um die Freundin in einem Maße anzusteigen begann, das ihre lächerlichen Barrieren zu sprengen drohte. Ein Flüstern löste sich von ihren trockenen Lippen.
"Geh weg! Ich flehe dich an! Lass mich hier, vergiss mich! Warum überhaupt? Rogi hatte gesagt, mehr als ein Jahr! Warum jetzt? Geh! Oh, bitte!"
Stattdessen öffnete sich nach scharfem Klappern hastig die Tür. Igorina eilte in den Raum, das Teetablet frisch zubereitet auf den Händen. Sie nahm sich nicht einmal die Zeit dazu, die Tür wieder zu schließen, so dass diese gänzlich aufschwang und erst an der Wand zum Stehen kam.
Ophelia verbot sich jeden überflüssigen, oder gar gefährlichen, Gedanken. Sie atmete ein und aus, schluckte, konzentrierte sich auf die Tücher ihrer inneren Barriere, versuchte, jeden Windhauch rund um diese aufzuhalten.
"Nicht zum Kamin sehen! Nicht an Senray denken! Nicht..."
Sie versuchte, sich auf die Igorina zu konzentrieren. Doch aus den Augenwinkeln heraus sah sie noch immer die hoch ausschlagenden Flammen im Kamin, das leichte Pulsieren der Petroleumlampen, im Takt ihres Herzschlags.
"Sie muss es sehen! Das ist zu deutlich...
Igorina war allerdings voll und ganz darauf konzentriert, ihr den Tee anzureichen. Mischung 42, keine Frage.
"Sie hat den Tee dabei, gerade frisch aufgebrüht... woher wusste sie, dass ich jetzt zu mir kommen würde? Und warum ist sie, wenn sie es wusste, trotzdem so hektisch? Wurde sie aufgehalten?"
Die alte Igorina setzte sich wortlos an ihr Bett, nahm die Tasse in die eine Hand und stützte ihren Kopf beim Trinken mit der anderen.
Ophelia konnte nur mühsam und in winzigen Schlucken der Aufforderung Folge leisten. Sie wusste, dass sie die Geduld ihrer deutlich übermüdeten Pflegerin damit jedes mal auf die Probe stellte. Und trotzdem.
Igorina assistierte ihr mit einer Routine, die erahnen ließ, wie lange sie inzwischen miteinander zu tun hatten. Ein Verlagern ihres Kopfes in deren Hand... und sie nahm die Tasse abwartend von ihren Lippen. Ein kurzes Schließen der Augen... und die Ältere bettete sie für einen Moment wieder auf dem Kopfkissen. Ein sachtes Lecken ihrer Lippen... und die langwierige Prozedur begann von Neuem.
Schon allein zum Binden der Aufmerksamkeit ihrer Betreuerin mühte sie sich wirklich sehr, diesen Prozess aufrecht zu erhalten. Aber es war so kräftezehrend! Und Igorinas Gedanken entfernten sich von ihr, ihre Blicke begannen zu wandern.
Und noch immer brannten die Feuer im Zimmer mit einer unregelmäßigen Intensität, die nicht normal war!
"Es kann nur noch Sekunden dauern!"
Die alte Frau rieb sich in der neuen Trinkpause müde mit den Händen über die Augen. Und wollte sich irritiert umsehen, als das Erschöpfungsflackern in deren Sicht offenbar trotzdem nicht nachließ.
Ophelia versuchte gleichzeitig, die innere Barriere mit allem, was sie an Konzentration aufbringen konnte, aufrecht zu erhalten - und Igorinas Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, an sich zu binden. Sie griff nach deren Hand.
Igorina hielt inne und starrte sie an.
Die Anstrengung war zu groß. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.
"Muss halten! Muss...
Igorina hob die ineinander verschränkten Hände vorsichtig etwas an und blickte fragend.
"Ophelia, waf foll daf?"
"Lass mich nicht los! Schau nicht woanders hin! Hier! Schau her! Nicht weggucken! Muss die Barriere weiter halten...
Sie konnte nicht antworten. Ihr fehlten die Worte. Und wie sie zu ahnen begann, das sogar in zweifacher Hinsicht - Mischung 42 begann langsam, ganz allmählich zu wirken!
"Nur noch kurz durchhalten... nur kurz... bis die Wirkung vollständig ist... dann ist sie in Sicherheit..."
Alles, was sie zustande brachte, war ein hilfloses Lächeln, durchtränkt von Erleichterung, ebenso wie von Verzweiflung. Und sie ließ nicht los!
Die Igorina seufzte schwer.
"Du weift, dass daf nichtf fwischen unf ändert. Nichtf an der Gefamtfituation ändert."
"Doch! Tut es! Ich schütze sie... bis sie weit genug weg ist!"
Die Igorina betrachtete noch einen Moment lang ihrer beider Hände, nachdenklich, fast verkrampft, wie es ihr schien.
Dann spürte Ophelia das Einsetzen der vollen Wirkung. Wie mit verdichteter Watte füllten sich die Lücken in ihrer Barriere, eine Stille legte sich um ihr Inneres, tiefer als ein Tauchgang in dunkle Gewässer.
Und sie sah aus den Augenwinkeln, wie gleichzeitig die Flammen in sich zusammensanken und sich beruhigten.
Sie wollte sichergehen, setzte dazu an, sich bei der anderen Frau zu bedanken - ein Überbleibsel ihrer Zeiten als Verdeckte Ermittlerin; es konnte nie schaden, in keiner denkbaren Situation, sich mit dem Personal vor Ort gut zu stellen - aber kein Ton löste sich aus ihrem Mund.
Ihr Gegenüber lächelte sie kurz an und strich ihr dann zaghaft über den Kopf.
"Ich weif. Ich verftehe dich auch fo. Ef ift anftrengend und fast fu viel. Aber du schaffst daf. Du machft deine Fache gut. Ef tut mir leid, daf ich erft fo fpät darauf aufmerkfam... geworden bin, daf du erwacht bift. Eigentlich hatte ich erft etwaf fpäter damit gerechnet. Die Dofierung scheint nicht mehr ganf fu ftimmen, fo mitgenommen wie dein Körper infwischen ift... Aber keine Forge! Gleich haft du daf Flimmste hinter dir und kannft dich ganf darauf konfentrieren, gefund fu werden. Und ich paffe auf dich auf!"
Ophelia merkte, wie sie die Erschöpfung der letzten Minuten übermannte. Sie ließ sich dem Rauschen der Ohnmacht entgegenfallen, froh darum, dass sie loslassen konnte, dass die Barriere für den Moment durch die Wirkung der Teemischung ersetzt war.
Dass sie nichts verraten hatte.

06.05.2017 0: 23

Senray Rattenfaenger

Heute versuchte Senray es morgens. Irgendwann musste sie doch einfach irgendetwas von diesen Dieben mitbekommen! Außer, die Informationen die sie erhalten hatten waren komplett falsch. Senray seufzte. Ein Gutes hatte es immerhin: Sie konnte ihre Versuche, als Köder für die vielleicht-nicht-wirklich-lizensierten Diebe herumzulaufen mit dem Ablaufen des Feuerradius verbinden.
Eigentlich war Letzteres nicht mehr notwendig. Dank Rogi wussten sie genau, wo Ophelia sich befand. Allerdings gab die kleine Flammenreaktion Senray das sichere Gefühl, das die Freundin auch wirklich noch dort war. Und am Leben. Gerade jetzt, wo Magane auch verschwunden war, brauchte sie diese Sicherheit einfach.
Senray betrachtete die Flamme in ihrer Laterne. Sie war überraschend unruhig dafür, dass sie selbst sich eigentlich relativ gelassen gab. Aber vielleicht war hier das Problem? Es herrschte schon lange ein Chaos in ihrem Inneren. Während sie nach außen hin noch eine Fassade aufrechterhalten konnte, war dies für das Feuer vollkommen egal. Sie seufzte leicht und ging weiter.
‚Wenn sie –‘ Die junge Frau unterbrach sich selbst in ihren Gedanken und blieb abrupt wieder stehen. Von einem Moment auf den anderen war jegliche Reaktion der Flammen verschwunden. Etwas, das unmöglich war! Sie war noch im Radius, nicht einmal wirklich nah an der schon abgesteckten Grenze!
Nervosität überfiel Senray. Spätestens jetzt müsste sich eine deutliche Reaktion zeigen. Doch da war nichts! Was hatte das zu bedeuten? Es war doch nichts passiert?
Angst packte die Wächterin und für einen kurzen Moment war sie wie gelähmt. Dann orientierte sie sich und lief los, in Richtung des Herzens ihres Kreises. Es konnte nicht sein, es durfte nicht sein!
Während sie durch die Straßen eilte, beobachtete Senray ihre kleine Sturmlaterne. Doch es tat sich einfach nichts! Keine Reaktion, nichts! Hieß das...? Nein, es durfte einfach nicht sein! Ophelia durfte nicht...!
Mit jedem Schritt, den sie sich dem Mädcheninternat und der Adresse, die Rogi genannt hatte, näherte, wuchs ihre Verzweiflung. Es gab nur wenige Möglichkeiten, die das plötzliche Abbrechen der Reaktion erklären konnten. Keine davon war gut.
Senray nahm aus dem Augenwinkel ein Aufflackern war und blieb wie angewurzelt stehen. Endlich! Eine Reaktion in ihrer Laterne! Aber warum erst hier? Sie war viel zu nah an dem Haus, unter dem Ophelia gefangen gehalten wurde. Was hatte das zu bedeuten? Waren sie dabei, Ophelia zu verlegen? Aber sie war doch noch gar nicht in dem Zustand dafür!
Die junge Frau wartete im Schatten einer Gasse und betrachtete lange die hektisch brennende Laterne. Erst als sie sich sicher war, dass es sich wieder um die ‚normale‘ Reaktion handelte, zog sie sich langsam zurück. Sie war zu nah an dem Gefängnis der Freundin und weder konnte, noch wollte sie riskieren, dass sie die Aufmerksamkeit der Vampire auf sich zog. Bereits jetzt hatte Senray ein schlechtes Gefühl wegen ihrer unbedachten Reaktion.
Aber was hatte das Ganze zu bedeuten? Es ging Ophelia doch nicht noch schlechter, oder? Während sich Senray ihren Weg zurück bahnte, fragte sie sich, wie sie Antworten auf diese Fragen finden sollte. Maggie hätte sicher gewusst, was los war, was das zu bedeuten hatte.
Und mit dem Gedanken an Maggie kam Senray eine Idee. Eine nicht ganz ungefährliche Idee. Sie konnte Refizlak fragen, er wusste sicher, was die sonderbare Reaktion der Flammen bedeutete! Sie hatte unter Anleitung der Hexe bereits Kontakt mit ihm aufgenommen, es war also nicht unmöglich! Nur hatte Magane sie immer gewarnt, nie alleine oder unvorbereitet mit dem Flammenen zu sprechen und sich auf keinen Fall auf einen Handel mit ihm einzulassen. Wobei Senray Letzteres ja gar nicht vorhatte. Und wie sollte sie ohne Maggie sonst an die Informationen kommen?
Die junge Frau nickte, als müsse sie sich selbst bestätigen. Sie musste zurück ins Boucherie. Dort konnte sie versuchen, Kontakt mit Refizlak aufzunehmen. Ihre mit Glum abgesprochene Runde schien der Verdeckten Ermittlerin plötzlich eine Unendlichkeit zu dauern. Sobald sie guten Gewissens verschwinden konnte, würde sie keine Zeit mehr verlieren. Alles was sie brauchte war sowieso in ihrem Büro – dort würde sie endlich Antworten finden.

Endlich! Refizlak hatte ihren Entschluss verfolgt, den Geschmack des Schwefelholzes, den Duft des schmelzenden Kerzenwachses durch ihre Sinne schwach wahrgenommen. Und endlich hatte sie die Grenze zu ihm überquert, die Flammen ihre Haut küssen lassen. Er wartete auf sie in ihrer bevorzugten Gestalt.
Senray erschien wie immer aus dem Rauch und öffnete zögernd die Augen. Ein gewinnendes Lächeln umspielte seine Lippen als er sie betrachtete.
"Du wolltest mich sprechen?" Er beobachtete die Wirkung seiner Stimme auf sie und stellte zufrieden fest, dass ihre Vorbehalte, ihn zu fragen, sofort in sich zusammenfielen. Er kannte ihr Innerstes zu gut um sie hier nicht auch noch lesen zu können.
"Ich... es... es geht um..."
"Die Ziegenberger-Frau.", half er ihr auf die Sprünge. Die Hexe hatte ihr wohl doch zu gut eingetrichtert, ihm nie den Namen von jemandem zu nennen. Zu schade!
Senray nickte scheu.
Refizlak trat näher an sie heran und lächelte wieder.
"Ich... weißt du, was mit ihr ist? Der Radius ist plötzlich eingebrochen und ich habe Angst, das ihr..."
Er wischte ihre Bedenken ungeduldig beiseite. "Dasselbe wie schon unzählige Male davor. Nichts worüber du dir deinen Kopf zerbrechen solltest. Stattdessen solltest du dich lieber damit auseinandersetzten, in welche zusätzliche Gefahr du sie und vor allem dich gebracht hast, Senray!"
"Ja, aber was?", sie hatte die Frage gestellt, ehe sie wirklich begriffen hatte, was er danach gesagt hatte. Er sah den plötzlichen Schrecken in ihrem Gesicht, den Unglauben. Refizlak fing ihren Blick und hielt ihn.
Sie schluckte. "Gefahr?" Ihre Stimme war nur noch ein Wispern, sie begann endlich die Auswirkungen ihres Handelns zu erahnen. Er kostete den Moment und ihre Unsicherheit aus, ehe er selbst wieder sprach.
"Dir kam nie in den Sinn, das sich dein Triangulieren auch an anderer Stelle bemerkbar machen könnte." Er fragte nicht. Er wusste es ja. Senray sah ihn nur mit Furcht im Blick an. "Aber das hat es. Die Ziegenberger-Frau verstrahlt nicht nur einen ganzen Block dieser Stadt, betrittst du ihren ‚Radius‘, wie du es nennst, dann... den einen Teil der Reaktion kennst du. Deine Emotionen werden in die Flammen in deiner Umgebung geleitet. Und du ahnst nicht einmal, mit wie viel Arbeit es für mich verbunden ist, den Wirkradius nur auf die Flammen, die dir am nächsten sind, einzuschränken! Du gehst damit um, als wäre es ein Spiel. Albernes Verstecken. Und unsere kombinierte Reaktion wäre ein Hinweis."
In ihren Augen funkelten die Tränen, sie sah ihn weiter an. Seine Fesseln hielten sie noch, doch er spürte auch keinen Widerstand. Sie wollte ihn ansehen, wollte die Wahrheit hören. Sie war wie ein kleiner Hund, der immer wieder zu seinem Herrchen zurückkam, selbst wenn er geschlagen und getreten worden war.
Er beruhigte sich etwas, legte wieder eine gewisse Wärme in seine Stimme.
"Aber gut, woher solltest du es auch wissen, nicht wahr? Du fragst ja nicht mich. Dabei bin ich der einzige, der dir in diesem Bereich echte Antworten geben kann."
Er hielt kurz inne, betrachtete sie. Doch weder war es seine Art, schonend mit seinen Gefäßen umzugehen, verhielten sie sich seinen Erwartungen entgegen, noch konnte er sich diese Art von Schwäche leisten. "Der andere Teil der Reaktion", fuhr er also fort, ohne Senrays Reaktion aus den Augen zu lassen, jedoch auch ohne deswegen innezuhalten oder die Worte zu ändern, "findet auf der anderen Seite, bei der Ziegenberger-Frau statt. Hat sie Feuer in der Nähe reagiert es exakt so, wie die Flamme, die du immer beobachtet hast. Hatte sie vorher keines in der Nähe... nun, seien wir froh, das fast immer eine Wärmequelle in ihrer Nähe war, nicht wahr? Es wäre doch sehr auffällig, wenn vorher verloschene Kerzen wieder brennen. Aber selbst mit nur der Reaktion der Flammen auf deine Emotionen grenzt es an ein Wunder, dass du noch keinen Besuch von einem ihrer blutsaugenden Gefängniswärter bekommen hast!" Seine Züge wurden strenger und seine Stimme lies keinen Zweifel mehr daran, wer hier der Herr war und die Macht hatte.
"Ich werde dies in Zukunft nicht mehr dulden! Hast du mich verstanden?"
Refizlak sah Senray nun noch intensiver an, er lies sie die volle Bedeutung seiner Worte tragen, lies sie sie spüren. Die junge Frau war leichenblass geworden und sie schien kaum die Kraft aufwenden zu können, zu nicken. Er verzichtete darauf, seine Frage direkt zu wiederholen sondern wartete weiter.
Schließlich schluckte sie schwer. "Ich... habe dich verstanden. Ich... werde nicht mehr... nicht mehr versuchen... nicht mehr..."
Sie schien keinen klaren Satz mehr herauszubringen und er konnte sich das abermalige Chaos in ihren Gedanken nur zu gut vorstellen. Es war wohl besser, sie für den Augenblick zu entlassen und seine Möglichkeiten auf weitere Freiheiten später auszutesten. Solange er keine klar strukturierte Antwort von ihr erwarten konnte, war alles andere nutzlos.
"Da wir uns einig sind...", Refizlak beugte sich zu ihr vor und lächelte sie wieder sanft an. "Wäre es wohl am besten, du würdest jetzt wieder zurückgehen. Aber denk daran, du kannst dich jederzeit an mich wenden, Senray. Ich werde immer da sein."
Er zwinkerte ihr zu und löste sie von seinem Bann. Ihre Gestalt löste sich in Rauch auf.
Refizlak betrachtete den Punkt, an dem sie sich befunden hatte einige Augenblicke, sah den sich zerfasernden Rauchfingern hinterher. Er wollte noch kurz die Stille in dieser Ebene genießen, bevor er wieder in das Chaos ihrer Gedanken eintauchte. Seine Worte mussten sie aufgewühlt haben und gerade jetzt musste er sie genau beobachten. Nur hatte sie eine so fatale Tendenz zu noch stärkeren Selbstzweifeln und -vorwürfen entwickelt als sowieso schon, so dass ihre Gedanken in solchen Momenten kaum ertragbar waren.
Refizlak hatte gerade seine Gestalt wieder auflösen wollte, als er einen Ruck spürte. Es gab keinen Eindringling auf der Zwischenebene, das hätte er gespürt.
"Senray, was tust du?", knurrte er, während ihn ein Gedanke in das Herz der Einöde brachte.
Es hatte Vor- und Nachteile, eine Zwischenebene aus Gedanken zu erschaffen. Hier war ihm alles Bildhafte möglich und er hatte die volle Kontrolle, wo er sie in der physischen Welt ohne Erlaubnis seines Gefäßes misste. Doch gerade das Bildhafte neigte dazu, sich selbst weiterzuentwickeln und hartnäckig neue Bilder zu erschaffen. Die Ruinen inmitten des verbrannten Landes waren ein verzerrtes Ebenbild des Ortes seines ersten Paktes, der ihn immer wieder aufs neue Zwang, sich den Körper eines Sterblichen zur Hülle zu nehmen. Und seit er von diesen Menschen als ‚Gefäße‘ dachte, waren sie Teil der Ruine geworden. Das aktuelle Gefäß stand in der Mitte, neben seiner unsterblichen Flamme. Die anderen, abgelegten, lagen zerbrochen und vergessen als Trümmer in einer toten Welt.
Er ging raschen Schrittes in das Innere der Ruine. Es bestand kein Zweifel, dass seine Worte mehr bei Senray ausgelöst haben mussten, als er gedacht hätte. In einem Torbogen blieb er stehen und betrachtete das sich ihm bietende Bild.
Seine Flamme brannte ungebrochen voller Energie auf dem Podest in der Mitte des kleinen Platzes, der wie ein Innenhof von der Ruine umschlossen wurde. Doch Senrays Gefäße – sie war die erste, bei der er zwei gebraucht hatte, um sie von ihrer natürlichen Magie zu separieren – waren alles andere als ruhig und normal.
Das eine, die von schweren Ketten umfasste kleine Holzkiste, bebte und schien ihre Ketten sprengen zu wollen. Die Magie wollte freigelassen werden, wollte eingreifen in das was hier geschah. Refizlak hatte unterschätzt wie viel Macht er ihr dadurch gegeben hatte, das er sie eingesperrt und damit fast schon personifiziert hatte. Noch hielten die Ketten. Und ohne äußere Einwirkung würde das auch so bleiben. Aber das war für den Moment nicht seine Sorge.
Das andere Gefäß, die fast identische Holzkiste, die jedoch mit Siegeln verziert war und von viel dünneren Ketten umschlossen wurde, stand ruhig und unbewegt. Dunkelheit drang aus ihr wie Wasser aus einer überlaufenden Wanne. Senrays Herz war in dieser Kiste, ihr Selbst, ihre Seele. Und sie blutete schwarz, war so von Dunkelheit geflutet, dass es sich hier auswirkte.
Refizlak hatte das erst einmal bei einem seiner Gefäße erlebt. Dieses hatte damals das Wissen, von ihm ‚besessen‘ zu sein nicht ertragen. Der Gedanke, einem Dämon oder einer ähnlichen Entität zur Existenz zu verhelfen war zu viel gewesen, gemeinsam mit dem sicheren Wissen darum, dass die eigene Seele, statt zu den Göttern, in die Flammen gehen würde. Dieses Gefäß hatte die selbe Dunkelheit von sich gegeben, sich mit ihr gefüllt, bis es schließlich von Innen heraus zerbrochen war. Es war seltsam gewesen, da Refizlak prinzipiell wenige Tage zuvor noch das Leben dieses Menschen vor dem Feuertod gerettet hatte. Doch, als das Gefäß im Inneren zerbrach, hatte sich dessen Körper im Äußeren eben jenes Leben genommen. Seitdem lies Refizlak seine Gefäße vergessen, den Pakt, ihren Beinahe-Tod und ihn.
Doch Senray erinnerte sich.
Und auch wenn er diesmal nicht der Grund dafür war... sie begann, dieselbe Dunkelheit in ihr Herz zu lassen, die er vor so langer Zeit schon einmal erlebt hatte.
Nur... solange sie nicht erneut zu ihm kam, konnte er nicht eingreifen!

07.05.2017 14: 10

Magane

Ophelia war wach, soviel stand fest. Der merkwürdig drückende Schmerz, der mit einem lauten Summen einherging, war unverkennbar. So stark war der Schmerz, von Ophelias Gedankenleck ausgelöst, im Wachhaus auch gewesen. Da hatten ihre Büros fast genau übereinander gelegen. Vermutlich waren sie sich dort räumlich sogar noch näher gewesen.
Magane massierte ihre Schläfen, der Schmerz ließ nur langsam nach. Auch wenn das Summen nach Einnahme des Tees schnell verstummt war.
Es funktionierte also jetzt.
Aus irgendeinem Grund war der Plan, Ophelia langsam unter dem Einfluss des Tees zu wecken, fehlgeschlagen. Vielleicht war die eingeflößte Menge zu gering gewesen. Oder es hing mit ihrer Temperatur zusammen? Das ließ sich unter diesen Umständen nicht herausfinden.
Magane hätte trotzdem gerne darauf verzichtet so geweckt zu werden. Nach dem Blutverlustkater und der Gehirnerschütterung hatte sie diesen ganz anderen Schmerz nun wirklich nicht auch noch gebraucht.
Geistesgegenwärtig hatte sie sofort nach Igorina gerufen und war umso überraschter gewesen, als diese auch tatsächlich bei ihr erschienen war. Mehr als "Ophelia ist wach und sendet" hatte sie nicht herausbringen können aber Igorina hatte sie dennoch verstanden. Offenbar war sie vorher nicht bei ihr im Zimmer gewesen, denn sonst hätte sie selbst reagiert gehabt.
Allein war die geschwächte Kollegin mit Sicherheit nicht in der Lage gewesen, ihren Gedankenstrom direkt nach dieser Bewusstlosigkeit wieder effektiv einzudämmen. Igorina war sofort wieder verschwunden. Hoffentlich war sie schnell genug gewesen, um zu verhindern, dass Ophelia sich überanstrengte und vielleicht wieder das Bewusstsein verlor.
Magane stand auf, goss Wasser in den Teekessel und stellte diesen danach ins Feuer.
Igor war ihr gegenüber zwar noch immer wortkarg, hatte sich aber seit Sebastians Angriff als etwas zuvorkommender erwiesen. Was sich vor allem an der größeren Wasserration, dem Dreibein im Kamin und eben dem Teekessel zeigte. Damit konnte sie sich wenigstens selbst helfen. Sie hatte ihn auch um Nähutensilien für ihre ramponierte Bluse gebeten. Aber darauf hatte er nur "Ich fau, waf fich machen läft" geantwortet und war dann zügig gegangen.
Als sie allein war, hatte sie sich zum ersten Mal näher mit dem Inhalt der Kleidertruhe auseinandergesetzt und sich dann für das, in ihren Augen geringste Übel, entschieden. Ein langes dunkelblaues Kleid aus einem guten leichten Wollstoff, mit langen Ärmeln und hoher Taille, die von einer breiten blau-weißen Webborte geziert wurde. Die breite Borte fasste auch den unzüchtig tiefen eckigen Ausschnitt ein, sie zeigte ein Rankenmuster und war mit das Beste an dem Kleid. Unter strategischen Gesichtspunkten waren Kleider Mist. Man konnte nicht einmal anständig darin laufen, geschweige denn weglaufen oder kämpfen. Aber so wie es aussah, hatte sie dazu eh keine Chance. Dann konnte sie auch ein unpraktisches Kleid tragen. Es war ein kleines bisschen zu kurz, da es aller Wahrscheinlichkeit nach für kleinere Frauen geschneidert worden war. Aber das störte sie nicht, da sie dadurch wenigstens nicht dauernd auf den Saum trat. Die Schnürung am Rücken war mehr als unpraktisch, aber so grade eben noch ohne fremde Hilfe zu bewältigen.
Ihre Gedanken wanderten wieder zu Ophelia, während sie das Kleid zuschnürte. Wie macht man sowas mit nur einem brauchbaren Arm? Die meisten Kleider hatten irgendwelche Raffinessen, die allein kaum mit zwei gesunden Armen zu meistern waren. Und die Frisuren... sie quälte sich mit ihren Haaren schon ohne Spiegel genug. Mit nur einer Hand wäre sie gezwungen das Haar immer offen zu tragen. Magane bedauerte die Kollegin wegen ihrer Behinderung, die ihr weiteres Leben nicht einfacher machen würde. Immer vorausgesetzt, sie kam hier ohne bleibende Schäden heraus. Was ja noch lange nicht feststand. Aber wenn, war sie wenigstens nicht mehr allein.
Auch, wenn Mag von Rach nicht die allerhöchste Meinung hatte, seine Liebe zu Ophelia schien echt und untrübbar. Außerdem war Rach hier in der Stadt und würde nichts unversucht lassen, um seine Liebste zu befreien.
Bei dem Gedanken kam fast eine Spur Neid auf. Niemand würde sie aus Liebe retten. Ihre Kinder waren zu jung, ihre Großeltern waren nicht mehr jung genug und David war weit weg und wusste nichts von ihrem Verschwinden. Wie hätte er auch davon erfahren sollen? Vielleicht würde er irgendwann in die Stadt zurückkommen und nach ihr suchen, wenn sie nicht mehr auf seine Briefe antwortete. Aber sicherlich nicht nach dem ersten.
Sie hatte diese Fernbeziehung gründlich satt. Sollte sie hier jemals wieder herauskommen, würde entweder die Beziehung oder die Entfernung hinterfragt werden. Das war einfach kein Zustand! Klackernachrichten und Briefe und niemand der hier in der Stadt von der Beziehung wusste! Wenigstens das würde sich ändern müssen.

08.05.2017 0: 01

Senray Rattenfaenger

Senray stieg gerade die Treppenkonstruktion vom zweiten in den ersten Stock des Boucherie hinunter. Nachdem sie aus der Feuermeditation erwacht war, war sie unfähig gewesen, irgendwas zu tun. Erst jetzt hatte sie es geschafft, sich aufzuraffen und war zur TK Anlage der DOGs geeilt. Sie hatte Bruder Laudes die Nachricht für Chief-Korporal von Nachtschatten diktiert.
Während sie jetzt wieder zu ihrem Büro gehen wollte, hörte sie Glums Stimme auf dem Flur.
"Gut, das dürfte sie sein. Ich vertraue darauf, dass wir uns verstehen, Rekrut."
Sprach er über sie? Sicherheitshalber begann sie bereits, als sie ums Eck bog, zu sprechen, um sich zu erklären. Immerhin hatte sie sich fast den kompletten Vormittag eingesperrt gehabt. Senray kam jedoch nicht weiter als "Sör, i-" bis sie abbrach, weil sie zu ihrer großen Überraschung Wilhelm vor sich stehen hatte. Sie erstarrte mitten in der Bewegung und konnte nicht anders, als den Vampir anzustarren.
Dieser salutierte gerade noch vor dem Zwerg und sagte "Ich werde mir allergrößte Mühe geben, Sör!", ehe er sich zu ihr umdrehte. Und sie mit einem dermaßen intensiven Blick anstarrte, das Senrays Herz noch schneller schlug als sowieso schon.
"Wir müssen reden!", sagte er nun an sie gewandt.
Ehe Senray antworten konnte sprach Glum bereits wieder.
"Senray, dein junger Mann scheint die Sache mit dem Treffen nun in seine Hände genommen zu haben. Ich hoffe, ihr sprecht euch jetzt endlich aus. Aber fasst euch kurz! Das ist eine Ausnahme, danach erwarte ich dich wieder mit voller Konzentration im Dienst! Verstanden?"
Die junge Frau blinzelte verwirrt und lies den Vampir kurz aus den Augen, um ihren Vorgesetzten anzusehen.
"Ja, Sör. Sicher... Sör."
‚Was? Mein junger Mann? Er denkt doch nicht...‘
Sie spürte Wilhelms Blick auf sich. Sie schloss kurz die Augen ehe sie ihn wieder ansah und wurde sich dabei ihres viel zu schnellen, fast panischen Herzschlags bewusst. Als sie die Augen wieder öffnete, lächelte Wilhelm sie leicht gezwungen an. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf, ehe sie sich eines besseren besann und ihre Schultern straffte. Immerhin beobachtete Glum sie beide immer noch, sie musste also irgendwie gute Miene zum bösen Spiel machen!
"Am besten... gehen wir rein.", sagte Senray, während sie die Tür öffnete. Leicht verzögert setzte sie das "Wilhelm." hinterher. Die DOG versuchte ruhig und normal zu wirken, doch ihr Puls verriet sie wie das Zittern ihrer Hand am Türknauf. Glum schien jedoch fürs erste zufrieden zu sein und wandte sich ab, während Wilhelm in ihr Büro trat.
Warum nur? Warum war der Vampir ausgerechnet heute, ausgerechnet jetzt gekommen? Gestern noch hätte sie viel um ein Gespräch mit ihm gegeben, hätte auf Antworten auf ihre ungestellten Fragen gehofft. Doch jetzt...
In einer fließenden Bewegung schloss Senray die Tür hinter sich und blieb nicht nur bei ihr stehen sondern lehnte auch ihren Kopf gegen das Holz. Nur kurz die Gedanken sammeln, nur kurz vergessen, ausblenden... Doch es war ihr nicht gegönnt. Das Gefühl, überrannt zu werden, wurde immer stärker und schon wieder musste sie sich auf ihre Atmung konzentrieren, um überhaupt das Gefühl zu haben, Luft in die Lungen zu bekommen.
Wie, um sie daran zu erinnern, fragte Wilhelm: "Ist... alles in Ordnung?"
Der Hohn der Frage – auch wenn sie von ihm gewiss nicht böse gemeint war – entriss ihr ein heiseres Lachen. Doch immer noch konnte sich Senray nicht dazu durchringen, sich zu ihm umzudrehen. Nicht einmal die Angst, der Vampir könnte sie von hinten anfallen, konnte sie dazu bewegen. Vielleicht... wäre es sowieso besser, wenn sie verschwand, vom Spielfeld genommen wurde. Sie war sowieso bestenfalls nutzlos.
Einatmen. Sie durfte es sich nicht anmerken lassen. Sie musste zumindest so tun als ob sie noch die Kontrolle über sich hätte, als hätte es noch irgendeine Relevanz, was hier passierte. Außerdem...
"Was machst du hier, Wilhelm? Und was, bei allen Göttern, hast du Glum erzählt?"
Sie hatte sich endlich zum ihm umgedreht, auch wenn sie es nicht über sich brachte, ihm ins Gesicht zu sehen. Er würde auch so zu viel an ihr ablesen können. Allein ihre Stimme verriet sie ja schon.
"Es tut mir leid, wenn ich einen ungünstigen Moment erwischt haben sollte."
Immerhin war Senray nicht die Einzige, die nicht direkt auf Fragen antwortete. Kaum ein Trost.
"Dein Vorgesetzter... er..."
Der Gedanke an Glum brachte die junge DOG dazu, sich mit der Hand durchs Gesicht zu fahren und auf ihre Lippe zu beißen.
"Er hat mich mit jemand anderem verwechselt. Ich kam nicht dazu, ihn zu korrigieren."
Senray war bei dem Wort ‚verwechselt‘ kurz erstarrt. Dann kippte irgendwas in ihr, riss, zerbrach. Und sie fing an, vollkommen unkontrolliert zu lachen.
"Verwechselt?! Verwechselt?!" Ihre Stimme war viel zu schrill. Genau wie ihr Lachen klang es so falsch, in den Ohren der jungen Frau. Doch sie konnte einfach nicht aufhören! Ihr ganzer Körper bebte und mit jedem verzweifelten Lachen wandelte es sich mehr in ein Schluchzen. Irgendwie presste sie während des Lachens die Worte "Soll ich dir zeigen, mit wem er dich verwechselt hat?" hervor. Doch es war kaum ihre eigene Stimme die da sprach. Sie wartete kaum die zustimmende Geste des Vampirs ab, der sie die ganze Zeit über beobachtete. Das Lachen ebbte langsam ab, doch immer noch zitterte sie, während sie die wenigen Schritte zu ihrem Schreibtisch ging. Senray realisierte kaum, dass sie sich dabei an Wilhelm vorbeiwinden musste. Zu konzentriert war sie auf den einen Gedanken. Ihre Stimme war sehr leise und entkräftet, als sie ihn aussprach. "Verwechselt... Oh, das geht jetzt schon viel zu lange so!" Ein Schluchzer entwich ihr. "Ich... ich hätte es ihm sagen müssen... ich weiß." Abermals schluchzte sie. "Aber wie könnte ich?"
Wilhelms Stimme fragte fast zurückhaltend hinter ihr: "Was hättest du ihm sagen müssen?"
Doch die Angesprochene schüttelte nur den Kopf, biss sich auf die Lippe und versuchte das weitere Schluchzen zu unterdrücken. Sie zerrte an einer Schublade ihres Schreibtisches und als sie sie endlich offen hatte, begann sie damit, darin wie besessen etwas zu suchen.
Endlich! Da waren sie!
Als Senray sich wieder zu Wilhelm umdrehte, hielt sie eine Unzahl kleiner Zettel in der Hand. Genau die richtige Größe, um sie einer Taube als Nachricht mitzugeben.
"Hier! Lies! Lies sie, wenn es dich glücklich macht! Deswegen!!" Sie streckte ihm die Hände und damit die Zettel entgegen, immer noch zitternd und bebend.
Wilhelm sah sie nun offen besorgt an. "Ich vermute, es wäre gut, wenn du dich erst mal hinsetzten würdest. Bitte! Tu mir den Gefallen!" Er kam langsam und fast vorsichtig die wenigen Schritte auf sie zu und nahm ihr mit der selben Vorsicht die Nachrichtenzettel ab. Dabei sah Wilhelm sich um und deute dann auf ihr Bett als einzige freie Sitzmöglichkeit.
Doch Senray nahm ihn kaum wahr. Ihre Gedanken kreisten um Ophelia, immer wieder um Ophelia. All die Abende, die Nächte in denen sie sich ein Nachrichtensystem überlegt hatte, das nicht funktionieren konnte. All die Runden, die sie gelaufen war, all die Enttäuschung darüber, die Freundin nicht zu finden. Die Informationen, die sie in den letzten Tagen bekommen hatte... Ophelia, krank, fast im Sterben, Ophelia allein in der Dunkelheit, in einem Käfig, Ophelia... zusätzlich gefährdet durch sie! Durch ihre albernen Versuche, die andere zu finden.
"Verstehst du nicht? Ich habe sie gesucht! Ich habe immer mit ihr geschrieben!", sagte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Sie war so erschöpft.
Der Kollege vor ihr sah erst zögerlich aus, dann schien er eine Entscheidung getroffen zu haben. Behutsam nahm er Senray am Arm und dirigierte sie bis zu ihrem Bett, wo er sie, mit eindringlichem Blick und unter einem sanften aber auffordernden "Bitte!" dazu brachte, sich hinzusetzen. Sie leistete keinerlei Widerstand dagegen, sie hatte einfach nicht die Kraft dazu, nicht den Willen. Ihre Beine zitterten und wahrscheinlich wäre Senray, hätte sie versucht alleine zu laufen oder stehen zu bleiben, einfach gefallen. Sobald sie auf dem Bett saß, lies Wilhelm sie los und wich von ihr zurück. Die junge Frau vergrub fast im selben Moment ihr Gesicht in ihren Händen und lies ihren Tränen freien Lauf. "Sie waren alle an sie gerichtet. Ich, ich dachte wirklich... ich dachte wirklich, ich könnte sie finden."
Während sie sprach spürte sie, wie die Matratze neben ihr belastet wurde. Er hatte sich mit etwas Abstand zu ihr gesetzt.
Ihre Gedanken kreisten weiter um sinnlose Fragen und die Schuld, die sie sich aufgeladen hatte. Statt zu helfen hatte sie die ganze Zeit über nur alle gefährdet! Was, wenn die Vampire durch sie vorgewarnt waren? Und selbst wenn nicht... Konnte sie wirklich ausschließen, dass sie nicht noch auf anderer Ebene gefährlich für den Trupp werden konnte? Das Entsetzen in Wilhelms Blick während jener ersten Besprechung...
Langsam lies das Schluchzen wieder nach, Senray war zu entkräftet. "Ich... dachte wirklich... dass ich helfen könnte..."
Sie sah nicht zu Wilhelm, sie wollte ihm nicht ins Gesicht sehen. Das leise Rascheln von Papier verriet ihr, dass er wohl die Taubennachrichten betrachtete. Zeugen einer ergebnislosen Suche.
"Das dachten wir alle. Jeder Einzelne von uns tut eben, was er kann... Es gibt keine Garantien."
Erneut entwich ihr ein bitteres Lachen, viel leiser und leicht verkrächzt diesmal. Senray zwang sich dazu, denn Mann neben sich anzusehen, ihm ins Gesicht zu sehen.
"Aber nicht jeder von uns ist eine Bedrohung für den Rest, oder? Nicht jeder von uns richtet mit jedem Versuch zu helfen, nur noch mehr Schaden an!"
Wilhelm lächelte sie schief an, irgendwie unsicher und... verstehend. Senray konnte es kaum ertragen, sie verbarg ihr Gesicht wieder in ihren Händen. Ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen murmelte sie: "Es war alles so sinnlos... Sieh es dir doch an!" Sie winkte fast unbestimmt mit der Linken in Richtung der Zettel in seiner Hand, lies die Rechte jedoch auf den Augen. Sie wollte nichts sehen. Weder seine Reaktion auf ihr Verhalten, noch die Reaktion auf die Zettel, die Botschaften. So gerne hätte sie die Augen einfach geschlossen und für immer geschlossen gelassen. Es war so reizvoll. Und wäre es nicht sowieso besser für alle? Wenn sie jetzt einschliefe... niemandem mehr im Weg wäre, für niemanden mehr eine Gefahr darstellte...
Wieder hörte sie das Rascheln des Papiers.
"Ich dachte wirklich... ich könnte sie so finden..."
"Warum betonst du, dass du eine Gefahr seist?"
Es hatte einen kurzen Augenblick gedauert, ehe Wilhelm wieder gesprochen hatte. Seine Stimme war ruhig, er schien sich alle Mühe zu geben, Senrays Nervenzusammenbruch – den nichts anderes war das eben gewesen, das wusste sie selbst – zu ignorieren. Das war mehr als sie erwarten konnte. Dennoch bargen seine Worte eine gewisse Ironie. Warum musste er sie fragen? Sie wollte vergessen, nicht darüber reden!
Langsam lies sie ihre Hand zur anderen in den Schoß fallen, doch statt Wilhelm anzusehen, starrte sie auf die Wand vor sich. Fast automatisch hatte sie begonnen, auf ihrer Unterlippe herumzubeißen. Schließlich atmete Senray tief ein und wieder aus.
"Das muss ich ausgerechnet dir erklären?"
Ihre Stimme hörte sich in ihren eigenen Ohren hohl, tonlos an. Er reagierte nicht, aus dem Augenwinkel sah die DOG jedoch, wie er den Kopf bewegte, aufhörte sie zu betrachten und stattdessen nun wohl den Boden fixierte.
Sie schloss kurz die Augen, ihr Kopf an den Pfosten den Himmelbetts gelehnt. Sein gehetzter Blick, sein Verhalten während der ersten Besprechung, die gemeinsame Späherschicht... Sie hätte endlich die Möglichkeit, Gewissheit zu bekommen. Aber war es noch wichtig? War es überhaupt relevant, ob Refizlak angegriffen hatte oder sich gegen einen Eindringling verteidigt hatte? Machte es einen Unterschied?
Sie schien von Gleichgültigkeit durchspült, dunkle Leere die sie langsam aber sicher ausfüllte.
Aber es war wichtig! Es musste wichtig sein. Wenn nicht Refizlak angegriffen hatte, wenn er nicht ausbrach wie er wollte und machte, was er wollte... dann konnte sie vielleicht doch helfen! Oder wenigstens eine Form von Wiedergutmachung leisten. Sie musste sich daran festhalten, sie musste es wissen!
Senray öffnete die Augen wieder. "Es... es gibt nur eines, das ich wissen muss." Sie schluckte, fragte sich, wie sie fragen sollte.
"Was musst du... willst du wissen?" Wilhelm klang nun eindeutig zögerlich.
Die Wächterin konzentrierte sich wieder bewusst auf ihre Atmung. Wie Magane es ihr beigebracht hatte. Sie musste es wissen, für Maggie und Ophelia. Für sich selbst.
"Während der ersten Besprechung...", sie zögerte kurz, biss sich auf die Lippe und drehte den Kopf wieder zu Wilhelm. Er saß auf Armeslänge neben ihr auf der Bettkante und hatte den Blick abgewandt. "Bist du in meinen Verstand eingedrungen? Und bitte... bitte sei ehrlich!" Erst jetzt wurde Senray bewusst, wie viel Angst sie vor der Antwort hatte, wie wichtig sie für sie wirklich war. Ihr Herz raste wieder und ihre Augen suchten seine, als könne sie dort die Wahrheit ablesen. Doch nun war der Vampir es, der sich mit den Händen übers Gesicht rieb und seufzte. Er lies seine Hände schwer in den Schoß fallen, ehe er mit einer gewissen Resignation in der Stimme sagte:
"Ja, das bin ich."
Sein Blick blieb auf seine Hände fixiert, so dass er nicht sah, wie Senrays Schultern die Anspannung verlies und ein schwaches, hoffnungsvolles Lächeln auf ihre Lippen trat. Tiefe Erleichterung machte sich in ihr breit und verdrängte das Gewicht, das sie seit Tagen auf den Schultern getragen hatte, ohne sich dessen voll bewusst zu sein. Ein Geräusch zwischen Lachen und Schluchzen entwich ihr, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. "Oh, den Göttern sei Dank!"
Bei diesen Worte schnellte der Kopf des Vampirs hoch und er schaute sie offen überrascht an.
Die junge Frau rang erneut mit den Tränen – diesmal jedoch Tränen der Erleichterung. Und dieses Mal versuchte sie wenigstens, sie zurückzuhalten und konzentrierte sich auf ihre Atmung. Die Szene davor war mehr als genug gewesen, das würde sie nicht gleich wiederholen wollen!
Wilhelm schien ihre Reaktion falsch zu interpretieren. "Ich... ich sollte mich dafür entschuldigen, ich weiß. Allerdings bin ich nicht sonderlich gut darin, mich zu entschuldigen. Das wiederum tut mir leid."
Seine Worte und die Ernsthaftigkeit, mit der er sie sprach, brachten Senray tatsächlich zum Lächeln. Sicherlich, noch ein trauriges Lächeln. Doch, es kam wie selbstverständlich wieder auf ihre Lippen.
"Es ist... nicht so schlimm. Ich meine... ich, also..."
Senray suchte die richtigen Worte. Wie nur konnte sie ausdrücken, was sie fühlte? Über was sie sich die ganze Zeit Sorgen gemacht hatte?
Ihr Kollege schien jedoch, nachdem er einmal begonnen hatte zu reden, es gleich ganz hinter sich bringen zu wollen und erklärte sich weiter.
"Ich hatte meine Gründe, auch wenn die vermutlich aus anderer Perspektive, als der meinen, nicht das gleiche Gewicht zugestanden bekämen. Zumindest kann ich versichern, dass ich nichts Böses wollte."
Er machte eine kurze Pause, die Senray wiederum nutzte. "Ich... nicht, dass es... also, richtig gewesen wäre oder ich es, also, gut heißen würde oder wirklich verstehe! Aber ich... ich bin ehrlich gesagt so froh..." Sie brach doch wieder ab, schaute verlegen zur Seite. Dann straffte sie ihre Schultern und sah den Vampir wieder direkt an.
Dieser grinste! Ein gewisser Unglaube lag in seinem Gesicht, er wirkte ehrlich überrascht von ihren Worten. "Wirklich?"
Sie nickte. "Ja."
Senray wusste immer noch nicht, wie sie ausdrücken sollte, warum sie so froh darüber war. Warum es sich von einem Moment auf den anderen durch seine Antwort so anfühlte, als hätte man ihr die Last der Scheibe von den Schultern genommen.
Wilhelm grinst immer noch und schüttelte ganz schwach und wohl allmählich nicht nur ungläubig, sondern auch fasziniert den Kopf.
"Wenn es dich beruhigt... Vielleicht als kleinen Tribut... Zumindest kann ich dir versichern, dass ich meine Lektion gelernt habe. Es wird nicht wieder vorkommen."
Die junge Frau konnte ihre plötzlich aufkeimende Aufregung nicht im Zaun halten. "Ich wusste es! Du bist ihm begegnet!" Dann jedoch geriet sie wieder ins Stocken, bei der Erinnerung, warum sie ihre Vermutung gehegt hatte. "Ich... du... sahst so entsetzt aus bei der Besprechung..."
Wilhelm sah sie kurz irritiert an und Senray wich seinem Blick schnell wieder aus.
"Du hast... mich so entsetzt angesehen... deswegen..."
"Ihm?"
Nun war es an Senray, überrascht-irritiert zu schauen. "Bist du ihm etwa nicht begegnet? Aber..." Warum sollte er sie dann so angesehen haben?
Wilhelm zögerte kurz, er schien die richtigen Worte zu suchen. "Ich bin... einer Frau begegnet, in deinem Sinn. Einer Frau aus Feuer."
Die Verwirrung wuchs. "Einer Frau?" Senray dachte über die Gestalt nach, in der sich Refizlak ihr immer präsentierte. Sicher, sie wusste, dank Maggie, dass er seine Gestalt anpassen konnte. Aber sie hatte es nie erlebt und die Vorstellung, dass er sich Wilhelm als Frau präsentieren sollte, war... irgendwie absurd. Andererseits hatte Maggie auch gesagt, dass der Flammene seine Gestalt gewählt hatte, weil diese Senray gefiel. Hieß das, für Wilhelm hatte er dasselbe gemacht und seinen... bevorzugten Typ Frau dargestellt? Senray merkte, wie sie bei dem Gedanken errötete und war froh, als Wilhelm wieder sprach.
"Ja. Aber wenn... diese... Entität... sich dir in anderer Form präsentiert... nun ja, vermutlich ist es nebensächlich."
Die DOG nickte dankbar.
"Sie ist jedenfalls bedrohlich." Die Sicherheit und Überzeugung war zurückgekehrt in der Stimme des Vampirs und die junge Frau neben ihm lies die Schultern sinken.
"Ich weiß." Wieder zögerte Senray kurz. Sie spürte immer noch die Erleichterung in sich, dass nicht Refizlak Wilhelm angegriffen hatte, sondern dass Letzterer in ihren Verstand eingedrungen und dort auf den Anderen getroffen war. Sie hatte sich so viele Sorgen gemacht! Sie war so schon eine Gefahr, hatte so schon alle gefährdet. Aber wenn... Sie verbot sich selbst den Gedanken und konzentrierte sich auf die Erleichterung und auf den Kollegen neben sich. "Deswegen... deswegen bin ich so froh, dass du in meinen Verstand eingedrungen bist bei der Besprechung, versteht du? Dass... dass nicht er... einfach so... ausgebrochen ist."
Bei den letzten Worten hatte sie wieder auf ihre Hände gesehen. Als Wilhelm nun leise lachte, schaute sie überrascht zu ihm auf. Was hatte sie gesagt, was er so lustig fand?
Er suchte ihren Blick und ein fast schelmisches Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus.
"Du weißt schon noch, mit wem du redest, oder? Eine solche Aussage aus deinem Munde!"
Senray errötete noch mehr, ihr Herzschlag beschleunigte wieder und sie wurde sich fast zu bewusst, mit wem sie hier redete. Beziehungsweise welcher Spezies ihr Gesprächspartner angehörte.
"Ich... es...", stammelte sie.
Wilhelm lachte nur wieder leise. "Ist die Scheibe verglüht, ohne dass ich es bemerkte?"
Immer noch starrte sie ihn nur an, ihr Mund war wie ausgetrocknet. "Ich...", sie schluckte schwer. Warum musste ihr Herz so verräterisch schnell schlagen? Alles in ihr war von einem Moment auf den anderen auf Alarmbereitschaft gegangen. Der Vampir müsste nur einen Arm austrecken, um sie zu berühren, mehr wäre nicht nötig. Und sie hatte den Pfosten des Himmelbettes im Rücken, sie konnte also nicht mal etwas zurückweichen.
"Mich würde ja interessieren, ob es einen konkreten Grund, einen Auslöser für deine Angst vor unsereinem gibt. Aber vermutlich ist das gerade das geringste Problem."
Er betrachtete sie mit einer gewissen Faszination, einem Interesse, das sie an eine Katze erinnerte, die ihre Beute betrachtete, mit ihr spielte bevor sie sie fraß. Aber... er würde doch sicher nicht?
"Jedenfalls erstaunlich, dich so zutraulich zu erleben. Das hätte ich vor einigen Tagen noch nicht erwartet." Er betrachtete sie lächelnd und lehnte sich sanft – zurück.
Senray atmete leicht bebend aus. Sie musste sich dringend wieder zusammenreißen. Er hätte bisher so viele Gelegenheiten gehabt, ihr etwas zu tun, warum sollte er also jetzt? Und außerdem war er ein Kollege, nicht irgendein Vampir! Nur interessierte das ihr rasendes Herz leider wenig, eben so wenig wie ihre zitternden Hände. Dass sein Lächeln seine Zähne leicht zeigte – zwar nicht die vampirischen Fangzähne, aber dennoch – machte das Ganze nicht besser.
Die junge Frau schloss die Augen und fing an, sich wieder voll auf ihre Atmung zu konzentrieren. Das war doch albern! Sie konnte doch nicht...
"Du bist vermutlich die einzige Person, der ich es jemals in dieser Art sagen kann und werde..."
Seine Stimme riss sie aus ihren Gedanken und sie sah ihn wieder an, sah direkt in sein Gesicht.
"Aber..." Sein Lächeln weitete sich und seine Augen... ja seine Augen! Sein Blick hatte plötzlich eine Intensität, der sie sich nicht entziehen konnte. Senray merkte wie sie sich darin verlor, gefangen von diesen dunklen Augen, deren braun nahtlos ins schwarz der Pupillen überzugehen schien.
"Du...", er hatte seine Stimme gesenkt, was den fesselnden Effekt nur noch zu verstärken schien.
Senray schien mit jeder Faser ihm zu lauschen, ihre ganze Aufmerksamkeit galt nun ihm. Musste ihm gelten.
"...bist absolut sicher vor mir! Ich werde dich schützen. Dir kein Haar krümmen."
Senray starrte ihn immer noch an, ihr Verstand schien eine Unendlichkeit zu brauchen, um seine Worte zu verarbeiten, zu verstehen. Schließlich schüttelte sie ungläubig den Kopf.
"Was?"
"Du bist..." Wilhelm rang sichtlich um die richtige Wortwahl und musterte sie kurz nachdenklich. "Du bist kostbar!"
Die Verdeckte Ermittlerin starrte den Mann vor sich mehr als ungläubig an. Hatte er gerade -?
"Und es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass dir nichts geschieht."
Wilhelms Stimme war vollkommen ernsthaft, ja aufrichtig! Entweder, verstellte er sich sehr gut. Oder... oder er meinte es ernst.
"Was?!" Senray konnte immer noch nicht fassen, was er ihr da sagte. Sie bemerkte selbst, dass ihre Frage nicht unbedingt die raffinierteste oder klügste Wortwahl beinhaltete. Allerdings hatte sie gerade zu sehr das Gefühl, dass man die Welt auf den Kopf gestellt hatte, als dass sie sich auch noch darum Gedanken machen konnte.
Wilhelm schaute sie nur ruhig an und überging ihre Frage. "Was auch der Grund dafür war, warum ich heute herkam. Ich möchte dich dringend bitten, dich nicht in Gefahr zu bringen!"
Die Hand der jungen Frau fuhr zu ihrer eigenen Stirn. Hatte sie Temperatur? Halluzinierte sie? Und bei allen Göttern, hatte er ihr vorhin überhaupt zugehört? "Ich mich... wa-aber, genau darum geht es doch! Ich bin die Gefahr!"
Das Gesicht ihres Gegenübers nahm plötzlich einen viel ernsteren Ausdruck an. Fast beschwörend sah er sie an. "Nimm meine Bitte nicht auf die leichte Schulter!"
Senray blinzelte verwirrt und schüttelte leicht den Kopf. Was ging hier vor sich? Was sollte das? "Ich... ich verstehe gerade ehrlich gesagt nichts mehr. Warum... ich meine, warum willst du mich beschützen? Ich bedeute dir doch gar nichts!"
So war es doch, oder? Aber wie konnte es anders sein, er kannte sie doch nicht einmal wirklich! Außerdem... Senray merkte, wie sie wieder errötete. Nein, es war doch wohl sehr unwahrscheinlich, dass er sich für sie... so... interessierte. Sicher nicht. Wenn er nur antworten würde!
Tatsächlich zögerte Wilhelm mit seiner Antwort. "Du... bedeutest mir... alles."
Senray, die gerade die Hand wieder von ihrer Stirn genommen hatte, machte ein kleines, ersticktes Geräusch, schnappte nach Luft und hustete anschließend. Bei den Göttern, wusste er, was er da sagte? Konnten Vampire Fieber bekommen? Vielleicht war nicht sie das Problem sondern er!
Er sah sie an, so ruhig, so eindringlich. "Zwangsläufig."
"Wa-...", bevor ihr das dritte ‚Was‘ entweichen konnte, riss sie sich zusammen. "Warum? Warum... zwangsläufig?" Dann endlich kam Senrays Verstand wieder mit dem mit, was hier geschah und ein Bild begann sich in ihrem Kopf zu bilden. "Oh, bei den... Was hat er mit dir gemacht? Was... ist vorgefallen, als du in meinem Kopf warst?" Ihre Stimme war mehr ein entsetztes Flüstern, aber natürlich konnte er sie sehr gut hören.
Wilhelm presste die Lippen aufeinander und seine Haltung wurde kurz abweisend. Dann schien er sich wieder zu fangen und bewusst die Haltung zu lockern.
"Eigentlich... möchte ich darüber nicht unbedingt reden. Wenn es sich vermeiden ließe. Es war keine angenehme Erfahrung, so viel sei gesagt. Aber ja, daher rührt das ‚zwangsläufig‘. Nicht sonderlich romantisch, ich weiß."
Während Senray bei den ersten Worten blasser geworden war, entlockte ihr der letzte Satz ein leichtes Schmunzeln.
"Ich...", sie räusperte sich, "also ehrlich gesagt wäre ich... ähm, also, bitte nicht falsch verstehen, aber... ich, also... das... wäre..." Sie biss sich verlegen auf die Lippen und sah ihn unsicher an.
Zu ihrer Erleichterung lächelte Wilhelm verstehend. "Ja, ich nehme an, dass es dir trotz allem so lieber ist."
Die junge Frau lächelte ihn dankbar an, ehe sie einmal tief durchatmete. "Tut mir Leid."
Auch von seinen Lippen verschwand das Lächeln wieder und er straffte sich und setzte sich sehr aufrecht neben ihr hin. Es war offensichtlich, dass er etwas sagen wollte, doch eine Frage brannte auf Senrays Lippen, so dass sie sie schnell stellte, ehe er sprechen konnte. "Dann hast du einen Pakt mit ihm, um... mich zu schützen?" Es schien ihr die logische Erklärung zu sein und natürlich würde Refizlak jede Gelegenheit nutzen, mehr Macht oder Freiheiten zu bekommen. In diesem Fall wäre es die Macht über einen ihrer Kollegen, der so an sie gebunden würde.
Wilhelm nickte erneut. "Sollte dir auch nur ein Haar gekrümmt werden... So werde ich dafür zahlen müssen. Deswegen habe ich so nachdrücklich darauf bestanden, dich zu deiner Späherrunde zu begleiten."
Senray nickte langsam. Endlich ergab das Ganze einen Sinn! Doch wenn Wilhelm einen Pakt geschlossen hatte, hatte er wahrhaft keine Wahl mehr. Es sei denn...
"Hat er... er kannte doch sicher nicht deinen Namen, oder? Er konnte ihn nicht kennen! Dann –"
Doch der Kollege unterbrach sie mit einem leichten Schütteln seines Kopfes. "Doch. Es ließ sich nicht vermeiden. Sie war sehr... nachdrücklich." Seine Stimme war bei den letzten Worten leiser geworden und seine Stirn hatte sich in Falten gelegt. Es war offensichtlich, dass es keine angenehme Erinnerung war.
Senray lies ihre Schultern sinken. Wenn der Pakt mit seinem Namen abgeschlossen worden war, hatte Refizlak Kontrolle über Wilhelm. Dann konnte er ihn bei fehlendem Gehorsam strafen.
Und sie selbst wusste nur zu gut, was das hieß. Mitgefühl für den Kollegen breitete sich in ihr aus, genauso wie Schuldgefühl.
"Ich kann von Glück sagen, dass ich noch..." Der Vampir schien vollkommen in Gedanken vertieft und Senray war sich nicht sicher, ob die Worte wirklich für sie bestimmt waren. Vor allem schürten sie jedoch ihre eigenen Schuldgefühle.
Ebenso leise wie Wilhelm sagte sie: "Das... tut mir leid."
Der Angesprochene sah sie wieder an und zuckte mit den Schultern. "Letztlich... es ist nicht deine Schuld. Es ist meine eigene." Sein Blick suchte wieder ihren, doch diesmal war er nicht so hypnotisch wie davor. Stattdessen lag etwas Bittendes darin. "Tu mir nur den Gefallen und pass auf dich auf! Bitte! Lass mich an deiner Seite aufpassen, wann immer es möglich ist!"
Sie sah ihn mit gemischten Gefühlen an, ihre Schuld vermischte sich mit ihrer Angst vor ihm. Aber nein, das war falsch! Sie hatte nicht direkt Angst vor ihm. Nur vor dem, was er war. Sehr langsam und zögerlich nickte sie.
Er setzte sofort hinterher: "Keine unvorsichtigen Aktionen? Keine Nacht- und Nebelwanderungen?"
Nun lachte die Verdeckte Ermittlerin schwach auf, auch wenn es eher ein bitteres den ein heiteres Lachen war. "Du weiß aber, was meine Spezialisierung ist, oder?"
Wilhelm sah sie fast verzweifelt an. "Ja. Nur zu gut."
"Ich werde nicht meine Arbeit an den Nagel hängen!" Ihre Stimme drückte ihre Entschlossenheit aus. Auch wenn es ihre Schuld war, dass er in diesen Pakt gezwungen und an sie gebunden war – das konnte sie nicht. Die Arbeit bei DOG war fast alles, was sie hatte, sie brauchte sie einfach.
Der Vampir knetete nervös seine Hände und sah sie unsicher an.
Ihr Mitgefühl überwog wieder und Senray seufzte leise. "Aber ich kann... versuchen noch vorsichtiger zu sein." Was auch immer das hieß. Sicher nicht, als Köder für wahrscheinlich unlizensierte Diebe durch dämmrige Straßen zu laufen. Aber das konnte sie ihm nicht auch noch unter die Nase reiben. Zumal Wilhelm sie fast hoffnungsvoll ansah.
"Vielleicht... vielleicht kann ich... helfen? Dich unauffällig begleiten? Du müsstest mir nur Bescheid sagen, zu wann besonders... riskante Dinge anstehen?"
Die Vorstellung, einen Vampir-Schatten zu haben, gefiel Senray nicht sonderlich. Sie merkte sofort wie ihr Herzschlag sich wieder verräterisch beschleunigt und ihre Nerven auf Hochspannung gingen. Andererseits... konnte sie es ihm verwehren? Er musste sich an den Pakt halten. Sie wusste selbst, dass Refizlak nicht zögerte, Ungehorsam zu bestrafen. Sie schluckte.
Wilhelm ließ sie nicht aus den Augen. "Ich würde jederzeit, wann immer es mir möglich ist, als deine Rückendeckung unauffällig mitkommen? Ich muss natürlich meine Schichten abarbeiten. Aber sonst..." Sein vorsichtiger, fragender Tonfall brachte sie zum Seufzen.
"Wenn... wenn es meine Einsätze nicht gefährdet und... und es sich... also, machen lässt, mit der jeweiligen Nachricht?"
Erleichtert sah er sie an. "Das würde mich deutlich erleichtern. Es wäre so beruhigend, ein Nehmen meiner Sorge!"
Senray nickte leicht mechanisch. Für sie fühlte es sich alles andere als erleichternd an, im Gegenteil beunruhigte sie der Gedanke ungemein. Aber sie konnte einfach nicht ablehnen, es wäre nicht rechtens. Nicht, wenn es letztendlich ihre Schuld war, dass er nun ihr Leben mit dem seinen beschützen musste! Und, dass es für ihn um nicht weniger, als seine Existenz ging, da konnte sich Senray sicher sein. Immerhin kannte sie Refizlak dafür gut genug.
Wilhelm schien von ihren Vorbehalten nichts mitzubekommen. Oder er hatte beschlossen, diese zu ignorieren. Stattdessen redete er mit neuem Schwung weiter. "Du kannst mir jederzeit Nachrichten zukommen lassen. Jederzeit! Verfüge über mich! Bitte! Zögere nicht! Es hat auch Vorteile, dass ich ein Vampir bin, weißt du? Ich brauche keinen Schlaf und ich kann mich wirklich unbemerkt bewegen, wenn es drauf ankommt. Du wirst gewiss zufrieden sein."
Er sah sie fast erwartungsvoll an und Senray nickte zögerlich. Kein Schlaf. Er würde sie doch sicher nicht beobachten, während sie schlief, oder? Da konnte ihr ja nichts passieren. Also... sicher nicht. Oder?
Er schien ihr den Gedanken, oder zumindest ihre Reaktion auf den Gedanken, am Gesicht abzulesen. Schnell schob er hinterher: "Und wenn dir etwas nicht Recht ist, dann sage es! Ich werde mich bemühen, dir nicht zur Last zu fallen."
Dabei lag so eine Ernsthaftigkeit in seinen Worten, dass sich die junge Frau sicher war, dass er das nicht nur sagte, um sie zu beruhigen. Er meinte es so. Sie suchte die richtigen Worte. Aber als sie die nicht fand, nickte sie einfach noch einmal.
"Du brauchst wirklich keine Angst vor mir zu haben, weißt du?" Er betrachtete sie nachdenklich, während sie sich fragte, ob er wirklich glaubte, dass das irgendetwas änderte. Sie nickte aber erneut anstandshalber.
Er schwieg und betrachtete sie weiter mit nachdenklich gerunzelter Stirn. Schließlich löste er seinen Blick von ihren Zügen.
"Du weißt, dass du eigentlich mit den anderen über sie reden solltest, oder?"
Senray wurde blass und merkte, wie ihre Hände wieder leicht zitterten.
"Es... er...", schnell drehte sie den Kopf weg und schloss die Augen. Das war nicht gut. Sie schüttelte den Kopf.
Wilhelms Stimme klang immer noch ruhig neben ihr. "Ich habe niemandem etwas erzählt."
Ihr Blick huschte zurück zu ihm, Überraschung und Erleichterung hielten sich die Waage. "Ich... hatte es gehofft. Danke!" Verlegen sah sie wieder auf ihre Hände. Das war sicherer.
"Aber man kann nicht wissen, ob es in der Zukunft auch noch möglich sein wird. Zu schweigen." Er klang immer noch so ruhig.
Senray lies ihren Blick zur gegenüberliegenden Wand gleiten und nickte schwach. "Ich... weiß. Aber... ich..." Sie musste sich auf die Lippen beißen. Sie spürte es nur schwach, doch das Gewicht der Ketten ihres eigenen Paktes war eindeutig da. Es... er lauerte darauf, was sie sagte. Ob sie die Grenze überschritt, die sie nicht überschreiten durfte.
Wilhelm wartete eine Weile, ob sie nicht doch weitersprechen würde. Schließlich sagte er: "Die Situation ist sehr ähnlich, wie damals Ophelias."
Die DOG, die sich davor auf ihre Atmung konzentrierte hatte, schaute ihn alarmiert an. Er war es nun, der scheinbar abwesend die Wand anstarrte.
Senray versuchte, jede Emotion aus der Frage herauszuhalten. "Warum... denkst du das?"
"Hm? Weil auch sie sich damals nicht traute, anderen von der Gefahr zu erzählen, die sie in ihrem Geist mit sich trug. Und weil diese Gefahr letztendlich nicht kontrollierbar war... oder ist."
Senray schloss die Augen. Sie wünschte sich so sehr, voller Überzeugung sagen zu können, dass Refizlak nicht zur Gefahr werden musste, dass er in ihr eingeschlossen war, dass er kontrollierbar war! Doch sie konnte es nicht. Sie war sich ja nicht einmal selbst sicher, warum sollte sie ausgerechnet Wilhelm belügen? Wilhelm, der in ihr Selbst gesehen hatte und dort Refizlak begegnet war. Es wäre ein sinnloser Versuch.
Er hatte sie nicht angesehen sondern sprach fast abwesend weiter. "Solche Dinge haben es an sich, ihre Fühler nach Draußen zu strecken, andere zu berühren... weitaus mehr in Mitleidenschaft zu ziehen, als befürchtet..."
Hatte er doch ihre Gedanken gelesen, ihre Ängste gehört? Oder war es nur so offensichtlich, so wahrscheinlich? Was machte sie sich eigentlich vor – sie war ein Gefahr. Ihre bloße Existenz stellte eine Gefahr für andere dar, ihre Anwesenheit bedrohte mindestens die mental Empfänglichen. Doch wer wusste schon, wie weit es gehen konnte... würde? Und doch... und doch machte ihr die Konsequenz dieses Gedankens so viel Angst!
"Weißt du... was du forderst?" Ihre Stimme klang wieder so hohl und Senray merkte, wie die Dunkelheit in sie kroch. Heute morgen hatte sie sie bereits durchdrungen, fast verschlungen. Und jetzt begann sie sich wieder zäh in ihr auszubreiten.
Wilhelm sah sie mit ungeteilter Aufmerksamkeit an. "Ich fordere nichts. Ich gebe nur zu bedenken. Es wird sich nicht ewig verheimlichen lassen. Und dann?"
Senray fühlte sich, als würde sie auf einem Seil über einen bodenlosen Abgrund laufen. Warum versuchte sie es überhaupt? Es war sinnlos, sie würde so oder so fallen! Sie konnte auch gleich aufgeben. Konnte es sein lassen. Ein kleiner Teil von ihr wollte aufbegehren. Gab es da nicht etwas, weswegen sie kämpfen hatte wollen? Richtig, Ophelia! Ophelia... im Käfig. Sie würde nichts erreichen... Sie konnte Ophelia nicht retten. Stattdessen wartete auf sie das selbe Schicksal, dieselbe Isolation! Dieselbe Dunkelheit. Es war nicht relevant, in welcher Gestalt dieses Schicksal auf sie wartete. Doch für Senray hatte sich das eine Bild eingebrannt.
Ohne es selbst wirklich zu realisieren, sprach sie den Gedanken aus, murmelte ihn fast tonlos, während Wilhelm bereits weiter sprach. "... dann bleibt nur der Käfig..."
"Zumal nicht abschätzbar ist, was bis dahin alles geschehen könnte, was sich sonst vielleicht – Wie bitte?" Sobald er der Worte gewahr wurde, starrte er sie an.
Doch Senray bemerkte es nicht. Sie war zu beschäftigt mit ihrer Schuld, ihrer Angst, der Dunkelheit. Das eine Licht, das ihr geblieben war, war ihr verboten. Refizlak war Lösung und Problem zugleich, er war die Gefahr! Gerade ihn durfte sie nicht um Hilfe bitten, egal wie sehr es sie danach verzehrte!
Erschöpft lehnte sie den Kopf gegen den Bettpfosten und schloss ihre Augen. Einschlafen. Um nicht mehr aufzuwachen. Damit wäre allen geholfen.
"Senray?"
Beim Klang ihres Namens sackte sie leicht in sich zusammen. Sie musste... funktionieren. Irgendwie, so tun als ob. "Ich... tut mir leid. Ich war... war nicht ganz..."
"Was meinst du mit Käfig? Nicht den, von dem der Zauberer berichtete."
Erschrocken öffnete sie die Augen, Angst packte ihr Herz, ihre Atmung ging viel zu schnell. Hatte sie das laut gesagt?
"Ich... es... ich habe nicht!" Ein albernes, viel zu hohes, ja hysterisches Kichern entwich ihrer Kehle. Nein, das wollte sie nicht! So wollte sie nicht sein! Verzweifelt schüttelte sie den Kopf, fing sich, wollte sich selbst eine Ohrfeige geben, um wieder zu Sinnen zu kommen.
Wilhelm hielt ihre Hand auf. Lange bevor sie traf. Sanft umschloss er sie und hielt sie fest, während sie zusammen zuckte und ihn groß anstarrte.
Er betrachtete sie eindringlich und flüsterte: "Kein Haar!"
Langsam kam Senray wieder zu sich und realisierte, was gerade passiert war. Schwach schüttelte sie den Kopf. "Es... tut mir leid. Das war... unbedacht... von mir."
"Allerdings!"
Langsam lies er sie los und sie zog ihre Hand vorsichtig zurück.
"Aber du...", sie musste schwer schlucken, "Du verstehst nicht..." Sie kaute erneut auf der Unterlippe, suchte die richtigen Worte. Fast flehentlich sah sie ihn an. "Was soll ich denn machen?" Wie nur? Wie konnte sie es sagen? Und vertraute sie ihm überhaupt genug? Andererseits... machte es noch einen Unterschied? Sie hatte das Gefühl zu platzen, wenn sie es nicht jemandem sagen konnte. Und immerhin wusste Wilhelm das meiste schon, das hieß, vielleicht konnte sie wirklich mit ihm reden. Und vielleicht, ja vielleicht kannte er eine Lösung? Sie wagte sich kaum, die schwache Hoffnung zuzulassen. Zu verlockend wäre sie – und zu schmerzhaft, enttäuscht zu werden. Stattdessen dachte sie an das, was alternativ vor ihr lag, wenn es keine Hoffnung mehr gab. Einsamkeit. Sie würde irgendwohin gehen müssen, vielleicht in die Berge und in Einsamkeit leben, bis es ihr erlaubt war, zu sterben. Oder... sie machte dem Ganzen schneller ein Ende.
Nein! Sie schüttelte den Kopf. Es war nicht mehr nur sie – Wilhelm würde alles, was sie sich selbst antat, auch abbekommen. Dieser Weg war ihr also auch versperrt, wenn sie den Kollegen nicht gefährden wollte. Sie sah ihn direkt an und traf die Entscheidung. "Ich bin an ihn gebunden." Die Ketten fielen im Inneren auf ihre Schultern, schlossen sich um sie. Doch noch lagen sie nicht mit dem vollen Gewicht auf ihr, noch konnte sie sie tragen. Auch wenn sie mehr als dankbar war, zu sitzen – sie hätte sonst ihren Beinen nicht vertraut.
Wilhelm nickte. "Das war ein naheliegender Schluss."
Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu – und das Gewicht wurde noch etwas leichter, die Ketten ließen ihr genug Raum, tief zu atmen. Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihre Lippen und sie lies es zu.
Er machte eine leichte Bewegung mit der Hand. "Du bist nicht der Typ Mensch, der sich auf so Jemanden freiwillig einlassen würde. Zumal..."
Doch ihr bitteres Auflachen unterbrach ihn. "Oh, ich habe ihn freiwillig akzeptiert! Ich habe ihn willkommen geheißen!" Die Erinnerungen überfluteten sie und zugleich... beruhigten sie sie. Nicht, dass es schöne Erinnerungen gewesen wären. Bei den Göttern, wahrlich nicht! Doch er war dort, Refizlak. Er hatte ihr Leben gerettet. Selbst jetzt, wo sie die Ketten des damit verbundenen Paktes um ihr Innerstes geschnürt spürte, wo sie wusste, dass sie nie ganz frei sein würde... selbst jetzt war sie so dankbar dafür, am Leben zu sein! Und sie konnte sich der von den Flammen ausgehenden Faszination nicht entziehen, der Wärme, dem Licht. Ihre Stimme hatte etwas fast Melancholisches, als sie trotz der inneren Ketten fortfuhr: "Ich... war dabei, zu sterben."
Sie sah Wilhelm nicht an, sah nicht, wie er beide Brauen hoch zog und sie deutlich überrascht betrachtete.
Stattdessen realisierte sie mit einer gewissen Überraschung, dass der erwartete Schmerz ausblieb. Vielleicht lag es daran, dass Wilhelm bereits so viel wusste? Sie seufzte leicht und wagte dennoch nicht, mehr Worte zu benutzen, um sich zu erklären. Stattdessen löste sie ihr Halstuch und öffnete die obersten Knöpfte ihrer Bluse. Ruhig schob sie sie so zur Seite, dass er ihre Schulterpartie sehen konnte – und das Muster aus Narben darauf. Kratz- und Bissnarben zogen sich über ihren kompletten Oberkörper und zeugten von den schier unzähligen Wunden, die sie in jener Nacht erfahren hatte, ehe das Feuer sie erlöst hatte.
Immer noch sah Senray Wilhelm nicht an, sah nicht, wie der Vampir sie kurz betrachtete und dann die Augen schloss. Stattdessen betrachtete sie ihre eigenen Hände, die das Halstuch kneteten.
"Eigentlich... sollte ich seit Jahren tot sein. Aber er... er hat mir eine Wahl gelassen." Sie sprach kaum noch zu Wilhelm sondern mehr mit sich selbst. Ohne darüber nachzudenken, schloss sie ihre Bluse wieder und band sich das Halstuch erneut um – die Erinnerung lies sie frösteln und sie sehnte sich nach dem vertrauten Stoff um den Hals. "Und ich habe mich für ihn entschieden. Für das Leben." Sie seufzte schwach und fügte gedanklich hinzu: ‚Was auch immer das heißt‘. Und immer noch kam keine weitere Reaktion, außer dass sich das Gewicht der Ketten etwas erhöht hatte. Fast wünschte sie sich den Schmerz des glühenden Stahls, wollte bestraft werden. Doch das war Unfug! Sie sehnte sich nicht nach Schmerz, sie trug bereits zu viel davon in sich! Außerdem... konnte sie sich nicht sicher sein, dass er nicht auf Wilhelm abfärben würde. Und das wollte sie auf keinen Fall. Nein, sie war froh darum, dass Refizlak sie Wilhelm gegenüber ehrlich sein lies. Dass er zulies, dass sie sich dem Kollegen anvertraute – auch, oder gerade weil dieser bereits das meiste wusste und seinerseits unter einem Pakt mit ihm stand. Auch wenn sie Wilhelm immer noch nicht ansah und tatsächlich mehr zu sich selbst sprach, fühlte sie sich etwas weniger allein. "Er... Ich habe mich lange nicht einmal daran erinnert, ich wusste nicht einmal, dass er da ist. Ich weiß es erst, seit ich auf Ophelia reagiert habe. Ich glaube... ohne sie... hätte er sich nie gezeigt."
Wilhelm nickte angestrengt und mechanisch, während sie um die nächsten Worte rang.
"Und zu mir... er ist so... so... charmant." Verlegenheit machte sich in Senray breit und eine sanfte Röte überzog ihre Wangen. Es war albern, sicher. Immerhin nahm Refizlak extra eine Gestalt an, die ihr gefiel. Dennoch... Sie musste schwer schlucken. "Würde man versuchen, uns zu trennen... dann wäre ich wohl auf der Stelle tot." Ein trauriges Lächeln überzog ihr Gesicht und sie sah wieder zu dem Vampir, der neben ihr auf der Bettkante saß.
Wilhelm selbst schien schwer schlucken zu müssen und sah sie fast zurückhaltend an. Vorsichtig.
"Was also soll ich tun? Was bleibt mir zu tun?" Das Lächeln verschwand wieder von ihrem Gesicht und es blieb nur die Traurigkeit in ihren Augen. "Wenn ich hier bleibe, wenn ich in Ophelias Radius komme... dann... bin ich eine Gefahr für sie. Für uns alle, aber... vor allem... für sie. Aber selbst wenn ich mich von ihr fernhalte. Du hast es selbst gesagt! Ich bin auch dann eine Gefahr... Ich..." Sie endete und betrachtete wieder die Hände in ihrem Schoß.
Langsam schüttelte Wilhelm den Kopf, dann sagte er bestimmt: "Nein!"
Sie sah wieder zu ihm auf.
Er sah sie eindringlich aber auch irgendwie... sanft an.
"So darfst du nicht denken. Wir beide mögen nur von eingeschränktem Nutzen sein, wenn es um die offensichtlichen und leicht zugänglichen Wege an das Problem geht. Ich schließe mich da nicht aus."
Senray schaute ihn an. Sie spürte, wie Hoffnung wieder in ihr keimte, schwach und klein aber sie war da.
Wilhelm machte mit derselben Überzeugung in der Stimmte weiter. "Aber es gibt immer auch die Umwege. Schleichwege. Abkürzungen... wie auch immer man es nennen will. Und gerade bei den großen Plänen gibt es Dinge, die ungeplant dazwischen kommen, für die kein Notfallplan vorgesehen war."
Die junge Frau hörte ihm aufmerksam zu. Dies war ein Strohhalm. Schön gesagte Worte, nicht mehr. Doch sie wollte so sehr daran glauben!
"Und da kommen ungewöhnliche Ansätze zum Tragen. Wir können nicht wissen, wofür man uns noch brauchen wird. Wir sollten für diesen Moment bereit sein. Meinst du nicht?"
Fast stahl sich wieder ein Lächeln auf ihre Lippen und Senray war sich sicher, das Wilhelm es bemerkt hatte.
"Man kann es eben vorher nicht wissen. Was, wenn dann ausgerechnet unsere Hilfe im entscheidenden Moment fehlen würde?" Er schaute sie an.
Sie wusste kaum, wie sie reagieren sollte. "Nur... wie soll ich helfen, wenn ich kaum die Kontrolle...?" Senray unterbrach sich selbst. Ihr kam etwas in den Sinn, eine Möglichkeit, eben doch die Kontrolle zu haben. Es war... keine gute Idee, aber eine Alternative. Ein Notfallplan. Sie musste lächeln – wegen Wilhelms Worten, ebenso wie wegen der Idee.
"Du hast wahrscheinlich Recht. Danke, Wilhelm!"
Wilhelm nickte. "Naja... man sollte schon umsichtig sein. Aber eben auch nicht aufgeben. So wie ich das sehe, hattest du auch nicht unbedingt die Wahl. Von daher... mach das Beste daraus!"
Die junge Frau nickte ihm zu.
"Aber... Vorsichtig! Bitte!" Er sah sie einen Augenblick ernst an – dann musste Senray tatsächlich lachen und der Vampir sah grinsend zu Boden.
"Ich werde mir Mühe geben, ja? Mehr kann ich nicht versprechen."
Er nickte erneut und betrachtete sie, wie sie immer noch lächelnd da saß. Dann lachte er wieder leise. "Meinst du, dein Vorgesetzter hier lässt mich gehen, ohne mich aufzuknüpfen? Er hat mir eindringlich geraten, dass ich die Sache zwischen uns klären und dich frohgemut verlassen solle. Sonst würde er mich der Feinstich melden. Und das könnte ich momentan wirklich so gar nicht gebrauchen."
Die DOG wurde schlagartig wieder ernst und blass. "Oh ja, da... da war ja noch... uhm."
Unsicher sah sie zum Vampir – der sie offen angrinste. Einen Moment sah sie ihn überrascht an – ehe sie selbst wieder lachen musste. Es war doch zu albern! Sie setzte an, etwas zu sagen, als er ihr zuvor kam.
"Am Einfachsten wäre es vermutlich, ihn in dem Glauben zu lassen."
Er sah sie bedeutungsvoll an.
Die Worte, die Senray eben noch hatte sagen wollen, blieben ihr im Halse stecken und sie merkte, wie sie erneut rot wurde. Sie schluckte einige Male, ehe sie sich räusperte und sagte: "Uhm... am... Einfachsten... ja."
Woraufhin Wilhelm plötzlich wieder sehr ernst wurde. "Tut mir leid! Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen. Ich... es tut mir leid!" Leiser, wohl mehr an sich selbst gewandt und durchaus tief getroffen murmelte der Vampir: "Sowas macht man nicht."
Senray betrachtete ihn mit einer Mischung aus Nervosität und Verlegenheit. "Ich, es... es ist nicht deine Schuld. Ich hätte es nicht soweit kommen lassen dürfen, ich..."
"Nein, schon gut. Am besten sagst du ihm, dass es ein Missverständnis gab, dass dieses aber nun geklärt ist."
"Ähm. Ja. Sicher." Senray schluckte wieder schwer. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie sie Glum alles erklärte. Beginnend damit, dass sie ihn all die Monate über im Unklaren gelassen hatte. Dass sie in Wahrheit nach Ophelia gesucht und nicht mit einem jungen Mann geschrieben hatte. Und sie wollte es ihm sagen, sie wollte es wirklich! Doch nicht jetzt. Nicht heute. Sie war emotional wie auch körperlich komplett ausgelaugt, dieser Tag hatte den Tribut all der Tage gefordert, an denen sie ihre Erschöpfung ignoriert hatte. Die junge Frau war sich nicht einmal vollkommen sicher, dass ihre Beine sie noch tragen würden. Sie war schlichtweg nicht in der Lage, jetzt mit dem Zwerg zu diskutieren. Und sie würde alles erklären müssen, wenn sie erst einmal begann. Nein! Nicht... heute.
Wilhelm stand auf, er wirkte deutlich abgelenkt. "Ich... ich sollte gehen."
Ãœberrascht sah Senray zu ihm auf. "Ist alles in Ordnung?"
"Wie? Oh... ja, bestimmt. Natürlich! Also... soweit möglich eben, nicht wahr?"
Sie zog die Augenbrauen zusammen und betrachtete den vor ihr stehenden Rekruten misstrauisch. "Was ist los?"
"Ich... es tut mir leid. Ich hätte nicht andeuten sollen, dass es in meinem Interesse gelegen hätte..."
Senray wurde wieder rot, doch statt verlegen wegzusehen, behielt sie ihn im Blick. Irgendwas schien mit ihm nicht ganz in Ordnung zu sein, er wirkte... aufgewühlt.
"Es ist so schon schwer genug, sich mit geringem, menschlichem Selbstbewusstsein durchzuschlagen. Da sollte man nicht in dieser Art... unterwandert werden. Ich hoffe sehr, dass mein Besuch dich nicht zusätzlich belastet hat."
Die junge Frau zögerte kurz. "Es... ist schon in Ordnung. Ehrlich gesagt, ähm..." Ihre Gedanken wanderten wieder zu Glum und sie traf eine Entscheidung. "Also, es... wenn wir für jetzt zumindest noch die... also, Farce aufrechthalten könnten? Es kann ja eine... nun ja, rasche Trennung danach geben?" Sie versuchte nicht einmal, ihre Nervosität und Verlegenheit zu verbergen. Ihr Herzschlag, ihr Gesicht, ja ihr ganzer Körper hätten sie Lügen gestraft!
Wilhelm erstarrte regelrecht und schaute sie unbewegt an. Was Senray nur noch nervöser werden lies. "Ich, also, ich will nicht... Wenn es dir zu unangenehm ist, dann... also, nicht! Ich, es ist nur... ich will nicht... nicht jetzt alles erklären müssen..." Sie brach ab und starrte verlegen wieder auf ihre Hände. Das war sicherer als dem vor ihr stehenden Mann ins Gesicht zu sehen.
Wilhelm schluckte schwer, als wäre er von seinen eigenen Gedanken eingeholt worden. Dann hielt er inne. "Andererseits... Wenn du das möchtest..."
Er sah Senray an, diese nickte nach kurzem Zögern einfach. Sie vertraute ihrer Stimme gerade nicht genug.
"Der Vorteil wäre natürlich, dass es niemanden mehr verwundern würde, wenn ich häufiger an deiner Seite zu finden wäre. Es würde so leichter werden, dich zu beschützen, ohne Misstrauen zu wecken."
Senrays Augen weiteten sich und sie öffnete den Mund um zu widersprechen – an etwas Dauerhaftes hatte sie wirklich nicht gedacht gehabt! Doch sie hielt sich selbst auf. Aus seiner Sicht betrachtet war es sicherlich... logisch. Sinnvoll. Und konnte sie es ihm wirklich verwehren? Immerhin war er nur wegen ihr in dieser Situation, das er überhaupt ihren Beschützer und Begleiter spielen musste! Sie schluckte.
"Aber... aber ohne... also, ich meine, ohne..."
"Ja, ohne!"
Sie nickte erleichtert und versuchte, ihr heißes, sicher flammendrotes Gesicht zu ignorieren. "Ok."
Hatte sie das gerade wirklich gesagt? Hatte sie einfach... ok gesagt? Sie musste vollkommen den Verstand verloren haben!
Wilhelm schien zu einem ähnlichen Schluss gekommen zu sein. Er sah sie erneut zögerlich an. "Ich... würde dich allerdings bitten, dann nicht in mein Ladengeschäft zu kommen."
"Ladengeschäft?" Sie hatte nicht die geringste Ahnung gehabt, was er vor oder wohl auch neben seiner Tätigkeit als Rekrut gemacht hatte. Oder machte. Bei den Göttern! Sie wusste doch eigentlich nichts über ihn! Und sie hatte zugestimmt, eine Beziehung mit ihm zu mimen! Was war nur in sie gefahren?
"Ich bin auch Selbstständiger. Schneidermeister."
"Ich... keine Sorge..."
Wilhelm lächelte sie schief an. "Und... nun ja, ich würde nicht behaupten, dass ich vergeben bin. Aber eben auch nicht gänzlich ohne Bindungen. Und es wäre nicht rechtens, wenn eine meiner Angestellten zu falschen Schlüssen gezwungen wäre. Menschliche Gefühle... ich würde gerne vermeiden, sie zu verletzten."
Senray nickte fast mechanisch, ehe sie realisiert, was er eben gesagt hatte. Dann wurde sie rot und starrte ihn an. "Was? Oh, aber dann... das geht doch nicht! Ich meine, du kannst doch nicht! Ich kann nicht! Wenn du... wenn sie! Also, ich, das... Ich weiß, dass wir nicht... nicht wirklich... aber, also, es... du..."
Wilhelm betrachtete sie skeptisch, während sie immer unverständlicher vor sich hin stammelte. "Es wäre hilfreich, wenn du in ganzen Sätzen reden könntest. Ich muss gestehen, dass ich mir gerade nicht sicher bin, was genau du mir mitteilen möchtest."
Sie starrte ihn weiter an, während sie sich innerlich zu sammeln versuchte. Dann setzte sie neu an. "Wenn du da jemanden hast, dann... solltest du nicht mit jemand anderem, auch... auch zum Schein nicht... etwas... anfangen. Das..." Sie schüttelte den Kopf. "Das wäre... Weißt du, ich will nicht jemand sein, mit dem man die Richtige betrügt! Auch wenn es nicht so wäre natürlich! Aber, auch wenn sie es nur denkt! Das kann mehr Schaden anrichten..." Senrays Blick glitt wieder verlegen auf ihre Hände. Das Ganze war ihr mehr als nur unangenehm.
"Sie ist nicht ‚die Richtige‘. Sie wäre es vielleicht gerne. Aber sie ist es nicht. Diese Sorge kann ich dir nehmen." Er betrachtete die junge Frau weiterhin. "Aber ich möchte sie dennoch nicht wissentlich verletzten. Daher bitte ich dich einfach um Umsicht."
Senray nickte erneut langsam, sah dabei aber immer noch auf ihre Hände. Sie wollte das nicht. Und doch... war es... einfacher. Für beide Seiten. So musste er sich keine Sorgen oder dergleichen machen.
Sie räusperte sich. "Dann... dann... riskieren wir es?"
Ein vorsichtiger Blick nach oben zeigte ihr, das der Vampir ihr gegenüber nickte.
"Ja."

09.05.2017 14: 33

Nyria Maior

Das letzte Spiel der Unsichtbaren Akademiker war ein Zwei zu Eins-Sieg gewesen. Deshalb fiel es Nyria auch nicht schwer ein erneutes Gespräch mit Gerti zu beginnen, als sie routinemäßig der 'Grünen Gans' einen Besuch abstattete. Der plötzliche Rücktritt des seit vielen Jahren berühmten gennuanischen Superstürmers Danisahne Sardine aus der aktiven Spielerlaufbahn tat sein übriges, dass es in Fußballfankreisen viel zu diskutieren gab.
"Alle hatten gedacht, dass er noch mindestens eine Saison spielt." erklärte Gerti voller Inbrunst. "Jetzt einfach so alles hinzuschmeißen ist der gennuanischen Nationalmannschaft gegenüber einfach nicht fair."
"Ganz meine Meinung." antwortete ihr Nyria. "Wenn man in einer Sache drinsteckt, muss man sie bis zum Ende durchziehen. Punkt. Selbst wenn man Danisahne Sardine heißt."
"Wenn man ein berühmter Fußballspieler ist und einen Haufen Geld verdient hat ist es leicht, einfach alles hinzuschmeißen." Gerti nahm einen großen Schluck Bier. "Wenn ich könnte, würde ich das auch. Lady Deirdres Mädchen sind einfach nicht meine Mannschaft wenn du verstehst was ich meine. Irgendwas ist da komisch und damit meine ich nicht normal komisch wie die Sachen die mein Bruder aus der UU erzählt."
Nyria wurde hellhörig und beschloss, dort weiter zu bohren.
"Ja, das kenne ich." erklärte sie. "Die meisten Sachen die ich überbringe sind normal oder normal komisch. Aber dann gibt es auch manchmal die Aufträge die ich einfach nur erledige und keine Fragen stelle weil ich irgendwie ahne, dass Fragen stellen gefährlich sein könnte. Das sind die komisch komischen Dschobs. Bring das Paket von A nach B und hoffe, dass der Empfänger nicht auf die Idee kommt, dich zu beseitigen nur weil du weißt, dass überhaupt etwas von A nach B transportiert wurde."
"Das klingt unangenehm." stellte Gerti fest. "Wenn es so gefährlich ist, warum machst du solche Botengänge dann überhaupt?"
"Weil ich mir in gewissen Kreisen mittlerweile einen Ruf erarbeitet habe, dass ich sehr gut darin bin, dicht zu halten." Nyria nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Humpen von Winkels Besonders Altem Bier. "Außerdem bringen solche Aufträge am meisten Dollars rein."
"Hör mir auf mit Dollars." grummelte Gerti. "Für das mickerige Gehalt habe ich es sowas von satt, der Fußabtreter feiner Fräuleins zu sein und mir dummes Zeug von der Mamsell und der Köchin anhören zu müssen."
Nyria nickte zustimmend. So ziemlich jeder hatte etwas besseres verdient als der Fußabtreter anderer Leute zu sein.
"Ich habe unter anderem auch einen Klienten in der UU." sagte sie zumindest die halbe Wahrheit. "Vielleicht kann ich ihm stecken, dass er sich mal nach einer freien Küchenmädchenstelle umhört."
"Das wäre schön." Gerti lächelte. "Ich habe die Nase wirklich so voll von Lady Deirdre."
"Und den komisch komischen Sachen?" lenkte Nyria das Gespräch wieder auf das Thema das sie eigentlich interessierte.
Gerti widmete sich ausführlich ihrem Bier bevor sie antwortete.
"Wir Mädchen bekommen zwar die Order zu melden, wenn die Internatschülerinnen sich nachts ungebührlich verhalten, aber wenn jemand dann mal meldet, dass wirklich was passiert ist, dann ist das auch wieder nicht richtig. Anneliese von den Stubenmädchen hat zum Beispiel bei der Mamsell gemeldet, dass sie manchmal nachts Kutschengeräusche im Hof hört, aber die hat gesagt, dass sie sich den Blödsinn wieder aus dem Kopf schlagen soll. Es gibt nachts auf dem Gelände keine Kutschen."
Da hat Leutnant Mambosamba aber was ganz anderes gesehen, ging Nyria durch den Kopf. Die Temperatur der Spur 'Fächelschule' erhöhte sich in ihren Gedanken um einige Grad.
"Komische Mamsell." bemerkte sie.
Gerti verdrehte die Augen. "Die hat eh ne kleine Meise. Zum Beispiel darf keins von den Stubenmädchen alleine den blassvioletten Salon putzen. Die Mamsell ist immer dabei. Angeblich kann sie dort am besten beurteilen ob sie ihre Arbeit auch gründlich machen. Dabei wird der Salon eh so selten benutzt, dass sich das regelmäßige Putzen gar nicht lohnt."
Während sie diese Information ihrem geistigen Notizbuch hinzufügte wechselte Nyria das Thema und dankte insgeheim Rach Flanellfuß für seine Kontakte über die er ihr eine Schülerinnenliste beschafft hatte.
"Ihr habt eine Schülerin im letzten Schuljahr namens Carolina von Innstetten, oder?" erkundigte sie sich.
"Ja, die haben wir." bestätigte Gerti. "Was ist mit ihr?"
"Nun, wie ich herausgefunden habe pflegt sie eine romantische Beziehung zu dem Sohn eines meiner Hauptklienten." Nyria zwinkerte Gerti verschwörerisch zu.
Die junge Küchenmagd wirkte verwirrt.
"Aber alle wissen, dass sie mit einem Adeligen aus Sto Lat verlobt ist."
"Eben das ist das Problem." log Nyria ohne mit der Wimper zu zucken. "Sie liebt den Sohn meines Klienten und er liebt sie. Und ihr Verlobter geht ihr am Ort an dem die Sonne nicht scheint vorbei."
"Verstehe." Gerti kümmerte sich wieder um ihr Bier. "Das ewige Dilemma einer Frau. Entweder du hast Kohle, aber dann wirst du verschachert wie eine Kiste Rüben. Oder du hast keine, aber dann kriegst du auch nur einen Kerl der auch keine hat."
"Oder du klinkst dich aus der ganzen Sache einfach aus und machst dein eigenes Glück." Nyria deutete auf sich. "Das Botengeschäft lohnt sich wirklich, wenn man ein gewisses Menschengespür entwickelt hat. Und was das Fräulein Carolina betrifft - Wenn er es wirklich ernst meint mit ihr, könnte es sich vielleicht schon bald für uns beide lohnen."

10.05.2017 0: 03

Wilhelm Schneider

Es gab Situationen im Leben eines Assassinen, die waren verteufelt kompliziert. Sekunden, die über Wohl und Wehe eines ganzen Daseins entscheiden konnten, in denen es kein Gut und Richtig gab, nur die haarfeine Unterscheidung von angemessen zu akzeptabel – oder weniger akzeptabel. Mit allen zu erahnenden Konsequenzen. Jules liebte diese Momente. Das Kribbeln der Gefahr in seinem Genick, das kurzzeitig steigende Tempo seines eigenen Herzschlags in der Gewissheit, dass ihre Reaktion auf sein Verhalten ganz plötzlich zwei Stockwerke Unterschied für seinen Aufenthalt bedeuten konnte. Denn gleichgültig, wie simpel die Fassade des Wachhauses auch zu begehen war, wenn seine Angebetete entscheiden sollte, dass ihr der Vortritt gebührte, dann würde er gut daran tun, ihr verdammt schnell auszuweichen. Andererseits konnte es genauso gut sein, dass sie ihm plumpe Galanterie vorwerfen würde, wenn er ihr anböte, zuerst durch das bereits offen stehende Fenster in das Gebäude zu schwingen. Und sie hasste es, wenn man ihr mit klassischen Höflichkeiten begegnete, die andeuten mochten, sie habe aufgrund ihres Daseins als Frau Bevorrechtigungen und Rücksichtnahmen genossen. In nicht allzu weiter Zeit stand ihr ein ausgezeichneter Abschluss ins Haus. Und manchmal gab es Tage, in denen die Anspannung deutlicher wurde, als an anderen. Denn eines stand fest: Es war nicht leicht für sie, sich in einer Männerdomäne zu behaupten. Aber sie war gut, oh, so gut! Und er liebte sie dafür nur umso mehr. Er drückte sich flach an die Wand und grinste sie in der Abenddämmerung breit an.
"Geh’ du lieber vor, mon chérie! Wenn ich es richtig vermute, steht dein Bruder schon bereit, um uns zu rügen. Das abzufangen ist wohl naturgegeben eher deine Zuständigkeit."
Sie kletterte flink an ihm vorbei, knuffte ihn in die Seite und grinste dabei. Die letzten roten Sonnenstrahlen spielten golden leuchtend durch ihr feines Haar und über ihre blasse Haut.
"Wir sind pünktlich. Er kann uns also nicht zu Recht angehen. Und das weißt du genau, Jul."
Und in der nächsten Sekunde ließ sie sich mit elegantem Schwung in die Wandöffnung gleiten.
Von drinnen erklang Rachs leise Stimme.
"Da seid ihr ja endlich! Könntet ihr euch bitte etwas beeilen?"
Jules grinste bis an die Ohren – und folgte ihr. Er landete lautlos auf den Dielen eines typischen Stadtwachebüros und schloss sogleich routiniert hinter sich das Fenster, ehe er seinem besten Freund zunickte.
Jener stand bereits wieder unter der typischen Anspannung der letzten Monate und hatte wenig Sinn für humorvolle Konversation. Es wurde wirklich dringend Zeit, dass sie seine Verlobte befreiten und dem Elend ein Ende machten.
Rach schritt voran und sie folgten ihm schweigend. Zumindest fast schweigend.
Mit mutwilligem Funkeln und einer bedeutungsvoll hochgezogenen Braue grinste Jules Esther an. Er flüsterte:
"Was habe ich gesagt?"
Und sie stieß ihm hinter dem Rücken ihres vorauseilenden Bruders den Ellenbogen in die Seite.
Er tat so, als habe sie ihn tödlich getroffen und torkelte Grimassen ziehend durch den Gang. Sie biss sich mit lautlosem Lachen auf die Lippe, schüttelte den Kopf und schlug ihm die flache Hand auf die Schulter.
Als Rach sich mit gerunzelter Stirn im Laufen zu ihnen umdrehte, liefen sie ernst und würdig hinter ihm her.
Kurz darauf betraten sie gemeinsam das Kellergeschoss und er führte sie am Fuße der Treppe, zu ihrer Linken, auf eine lediglich angelehnte Tür zu. Rach öffnete sie in dem Moment gänzlich, als das vielstimmige Stundengeläut der Glocken draußen soeben verstummte.
Sie waren wohl die letzten, die noch gefehlt hatten. Zumindest, wenn man davon ausging, dass die drei freien Stühle auf der ihnen zugewandten Seite des ungleichmäßig lang gezogenen Sitzkreises auch für sie vorgesehen gewesen waren. Als weiterer Hinweis mochte gelten, dass die bereits anwesenden Personen sie allesamt anstarrten, als sie den Raum betraten.
Jules winkte locker in die Runde. Als er sich den freien Plätzen zuwandte und damit auf die Rückseite des Raumes, seitlich der Eingangstür sah, fiel ihm unweigerlich das Abfall entsorgende Maskottchen der Abteilung S.u.S.i ins Auge. Der alte Geier hockte auf dem Leichenaufzug und glotzte vorwurfsvoll zurück.
"Du meine Güte! Was für ein selten hässliches Ungetüm!"
Das Vieh legte den Kopf etwas schräg, was lediglich seine kahlen, fleckigen Hautstellen und seine tiefen Augenringe betonte.
Jules entschied sich, das Tier zu ignorieren und ließ sich – wie er wusste – elegant auf einen der freien Plätze sinken.
"Da sind wir! Herrliches Wetterchen draußen! Hat außer uns einer hier den Sonnenuntergang heute bewundert? Ein Anblick für die Götter!"
Esther erwiderte seinen Blick und zwinkerte ihm, mit dem Rücken zu den anderen gewandt, zu, als sie sich neben ihn setzte.
Rach hingegen betrachtete den letzten freien Stuhl und verzog, mit Blick auf das stinkende Tier hinter diesem, leicht den Mund.
Jules deutete mit großzügiger Geste an, dass er sich doch setzen solle.
Was dieser dann auch mit mehr als kritischem Blick tat.
Jules warf ihm einen fragenden Blick zu, doch Rach seufzte nur leise und schüttelte andeutungsweise den Kopf.
Na gut, wie er meinte!
Um sie herum wurden belanglose Begrüßungsfloskeln getauscht, an denen er sich zwar freundlich aber doch eher nebenbei beteiligte. Dabei lehnte er sich gemütlich zurück und bedachte endlich den Rest der Truppe mit seiner Aufmerksamkeit. Tatsächlich kannte er alle Anwesenden zumindest vom Sehen her bereits. Es handelte sich um die gleiche Chaotentruppe, wie bei dem heimlichen Training des Kommandierenden am Vorabend. Gesichter und Namen waren ihm noch präsent, ebenso wie die gezeigten Leistungen bzw. Nichtleistungen. Hier, in der abweisend kalten und unpersönlichen Einrichtung der Pathologie, wirkten sie jedoch noch erbärmlicher, als sie ihm in Erinnerung geblieben waren.
Ein bisschen störend wirkten die beiden Obduktionstische in der Mitte des Sitz-Ovals. Die Höhe dieser fest an den Boden verschraubten Metalltische war darauf ausgelegt, dass ein durchschnittlich großer Mensch eine lange Zeit über bequem im Stehen daran arbeiten konnte. Was bedeutete, dass er die Gesichter einiger Personen nicht ohne Weiteres sehen konnte, weil sie von ihm aus betrachtet hinter den Tischplatten verborgen saßen. Er beugte sich leicht vor, um durch die Schattenbereiche unter den Tischen zu schauen. Ihm direkt gegenüber saßen also der Vampir-Rekrut, den sie gestern Abend gejagt hatten, sowie direkt neben diesem die kleine Wächterin mit dem Geschick an der Schleuder.
Beim Anblick der beiden, so einträchtig nebeneinander, musste er augenblicklich grinsen. Man hätte direkt meinen können, dass die Jagd sie einander näher gebracht hatte.
Hihihi... Wie süß! Sie hat sich einen Vampir gefangen!
Jules fing ihren Blick auf und zwinkerte ihr, mit einem kurzen Nicken an ihre Seite hin, gut gelaunt zu. Woraufhin sie massiv errötete. Der Vampir an ihrer Seite sah fast erschrocken zu ihr hin, ehe er auf ihre Blickrichtung reagierte und unter dem Tisch hindurch, mit ungerührtem Starren, zu ihm sah.
Der Assassine wackelte grinsend mit den Augenbrauen. Was ihm einen dezenten Rippenstoß von der eigenen Partnerin einbrachte. Schnell richtete er sich wieder auf und tat konzentriert, als Mina von Nachtschatten dieses dritte Treffen der Truppe mit ihren einleitenden Worten eröffnete.
Eigentlich mochte er Mina von Nachtschatten ganz gerne. Die Vampirin war ruhig, durchdacht und angenehm besonnen, ein kompetenter Projektpartner, auf den man sich verlassen konnte. Auch, wenn ihr erster Auftritt bei ihnen in der Wohnung damals etwas anderes hatte vermuten lassen. Aber das war lange her und seitdem nicht mehr vorgekommen. Womit sie in dieser ganzen Nerven zehrenden Angelegenheit mehr Zurückhaltung bewiesen hatte, als sein Freund, der in letzter Zeit bemerkenswert impulsiv daherkam. Aber vielleicht lag das auch an diesem Dschob? Man brauchte ja nur an die Amok laufende Igorina denken! Logisch oder auch nur angemessen war daran ja gar nichts mehr gewesen, erst recht nicht, wenn man bedachte, dass Rach für sie schließlich auch den Kopf hingehalten und geschwiegen hatte. Seine Lordschaft war schon länger nicht mehr sonderlich gut auf Rach zu sprechen und trotzdem...
Bei diesen, seine Stimmung trübenden Gedanken, wanderte sein Blick fast von selbst zur Igorina hin.
Jene saß rechts von ihm, neben Rach. Und schien ebenso von ihren Kollegen abgelenkt, wie er. Oder sogar noch mehr? Ihr Blick klebte regelrecht an...
Da schau her! Rattenfänger und Schneider! Wobei, so wie sie sitzt, muss wenigstens der hintere Tisch im Wege stehen, heißt, sie kann nur den Rekruten sehen. Aber scheint ja zu reichen? Aber sie wirkt kein bisschen belustigt.
Im Gegenteil! Er meinte, Missbilligung aus der steilen Falte zwischen ihren Brauen ablesen zu können.
Oha! Dunkle Wolken über dem jungen Glück!
Es lag ihm zwar fern, sich in die personellen Querelen der Wächtertruppe einzumischen, sollte Rach sich doch darüber den Kopf zerbrechen. Aber er fragte sich doch flüchtig, was ihr daran nun wieder nicht passen mochte. Lag es wirklich schlichtweg daran, dass der Rekrut ein Vampir war? Wenn die Einschätzung seines Freundes zutraf, dann war das ein wunder Punkt der Igorina.
Zumindest konnte man den beiden nicht vorwerfen, dass sie aufdringlich oder provokativ gewesen wären. Kein unstatthaftes Aufeinanderrücken, kein Händchenhalten, kein offensichtliches Flirten. Einfach nur ein genereller Eindruck von... Verbundenheit. Esther hätte ihn sicher wieder geneckt, wenn er sie darauf hingewiesen und es nicht näher hätte erklären können. Aber auf sein Bauchgefühl konnte er sich verlassen.
"...deswegen als aktuellste Information vorneweg."
Rach neben ihm hatte sich alarmiert aufgerichtet auf seinem Stuhl und Jules hätte am liebsten geflucht, dass er sich so ablenken lassen hatte. Wer hatte denn auch ahnen können, dass Mina auf rituell übliches Besprechungs-Vorgeplänkel komplett verzichten und tatsächlich sofort mit wichtigen Dingen anfangen würde! Was hatte sie gesagt?
Er blickte zu ihr, an die linke Längsseite des Raumes. Nur Esther und Kanndra saßen zwischen ihnen beiden und Mina ihrerseits blickte ebenfalls zu ihrer Linken, wie um einen Staffelstab weiterzureichen.
"Obergefreite? Wenn du so freundlich wärst, es in deinen eigenen Worten vorzutragen? Sicherheitshalber, damit wir keinen Aspekt daran übersehen."
Die in harter Schule antrainierte Angewohnheit gelassen zu schauen, selbst wenn man nicht den geringsten Plan davon hatte, was gerade passierte, machte sich doch immer wieder bezahlt. Innerlich entspannte Jules sich wieder etwas und schwor sich, der Besprechung von nun an konzentrierter zu folgen.
Noch mal Glück gehabt!
Er hatte das verschreckte Gesichtchen der jungen Wächterin auch so deutlich vor Augen, trotz des Sichthindernisses zwischen ihnen, als er ihre leise, stotternde Stimme quer durch den Raum vernahm.
"Ähm... ich... also, bin heute in der Frühe... also, wegen eines angeordneten Einsatzes, durch die Straßen gelaufen. Knapp innerhalb des üblichen Senderadius’. Das war gegen 6 Uhr etwa und... auf einmal brach der zusammen! Ich... ich bin dann, na ja, losgelaufen. In ihre Richtung. Weil ich furchtbare... also, Angst hatte. Dass ihr etwas... passiert sein könnte. Irgendwas noch... Schlimmeres? Immerhin... na ja, also... das war so vollständig? So einen Einbruch der Reichweite... das hatte ich noch nicht... so in der Art... wahrgenommen?"
Was er jedoch von ihr sehen konnte, das waren ihre schmalen Hände, die sich nervös umeinander falteten, miteinander rangen.
"Ich meine, ich weiß natürlich schon irgendwie, dass es nicht das erste Mal gewesen sein kann... die Reaktion ist schließlich nicht dauernd... na ja, zu sehen. Aber... bis heute morgen habe ich es halt noch nie... ähm, so direkt... erlebt? Einfach von einem Moment auf den nächsten! Und... also, innerhalb von Sekunden! Ich bin dann... weil ich wissen musste... das kann man doch auch verstehen, oder? Und jedenfalls... bis die Reaktion wieder da war, das... also, da war ich dann schon auf eine Straßenlänge, beziehungsweise nicht mal, eigentlich... war ich schon furchtbar nahe dran... aber dann ging es wieder! Also, sie ist auf jeden Fall am Leben! Das ist die gute Nachricht. Aber was das andere angeht... ich weiß ehrlich gesagt nicht so richtig, was man davon halten soll und... also... ich fürchte... ich meine, ich war viel zu nah dran! Ich denke nicht, dass man mich, na ja, bemerkt hat, aber... aber ich war so... so erschrocken und ich bin mir einfach nicht sicher! Ich... es wäre vielleicht, na ja, besser, wenn ich in den nächsten Tagen... nicht, also, dort zur Späherschicht eingeteilt werden würde?"
Ein kurzer Moment des Schweigens schloss sich dieser Aussage an und Jules blickte betroffen zu seinem Freund. Rach saß unter deutlich sichtbarer Anspannung auf die vordere Kante seines Stuhls vorgerückt, die Fäuste auf den Knien abgestützt. Er biss die Zähne zusammen, dass seine Kiefermuskulatur deutlich zu sehen war. Jules beugte sich leicht zu ihm rüber und rieb ihm kräftig über den Rücken.
"Hey! Das gab es auch vorher schon, als sie noch im Wachhaus war, diese ständigen Reichweiteschwankungen, das weißt du schon noch, hm? Euer Vampir, dieser van Varwald, hatte damals davon gesprochen. Hattest du mir selber erzählt. Es muss nichts Schlimmes heißen. Ok?"
Rach schüttelte seine Hand unwillig ab, nickte aber zugleich stumm, als er seinen Blick gen Boden richtete, wie um niemanden ansehen zu müssen.
Jules seufzte herzhaft.
Mina von Nachtschatten räusperte sich dezent.
"Womit wir bei einem weiteren Besprechungspunkt angelangt sind. Danke für die wichtigen Informationen, Obergefreite. Aber der Kern dieses Wissens ist tatsächlich der, dass Ophelia noch am Leben ist. Alles andere wären Spekulationen, die uns vermutlich nicht weiterhelfen würden, weswegen wir sie auch getrost unterlassen können. Daher... die Späher-Schichten! Wir, der Kommandeur und ich, sind uns... einig, dass wir diese nicht in gleicher Weise wie zuvor weiterführen sollten. Wie wir inzwischen mit ziemlicher Sicherheit wissen," und bei diesen Worten nickte sie Rach an seiner Seite kurz zu, "stehen wir zumindest teilweise tatsächlich unter Beobachtung. Und es scheint sich, bei den beschattenden Individuen, keinesfalls um einschlägig bekannte Gesichter zu handeln, obgleich wir davon ausgehen sollten, dass sie über Erfahrung verfügen."
Jules nickte bestätigend und tauschte einen kurzen Blick mit Esther. Auch sie sah ungewohnt ernst aus bei dieser Feststellung und er wusste, dass sie sich Sorgen um ihren Bruder machte, auf den mindestens einer dieser Spitzel definitiv angesetzt worden war. Sie würde es nicht zugeben, dass sie sich um Rach sorgte. Aber ihm konnte sie nichts vormachen. Rach war angeschlagen und dünnhäutig. Und ihren eigenen Beobachtungen konnten sie trauen. Was sie gesehen hatten, war nicht gut gewesen. Sie konnten nur hoffen, dass Rach Profi genug blieb, um sich nicht in den nächsten Tagen doch etwas anmerken zu lassen oder gar einfach aus einer Laune heraus auf dem Absatz kehrt machte, um seine Verfolger zur Rede zu stellen!
Aus dem dringenden Bedürfnis heraus, ihn vor Dummheiten zu bewahren, richtete er eine möglichst allgemeine Warnung an die Anwesenden.
"Esther und ich sind zumindest exemplarisch mal hinterher geschlichen, um das genauer in Augenschein zu nehmen. Aus mehreren Gründen heraus gehen wir nicht davon aus, dass die Spitzel irgendwas mit eurer Internen zu tun haben. Oder mit dem Palast. Was nicht viele weitere Möglichkeiten über lässt, würd’ ich meinen. Und der größte Schwerverbrecher, mit dem ihr euch als Wache derzeit angelegt habt, der so was durchziehen könnte, der ist wohl vermutlich besagter Racul. Wir sollten nichts riskieren, keine ungewöhnlichen Aktionen durchziehen, einfach normalen Alltag präsentieren, soweit irgend möglich. Wer auch immer da angesetzt wurde... glaubt uns: Sie sind gut. Und sie sollten nichts zu berichten bekommen."
Er spürte Rachs spöttischen Blick, auch ohne dafür zu ihm hinsehen zu müssen.
Ist mir egal, dass du weißt, dass ich weiß, dass du genau weißt, dass das dir galt, Kumpel. Immerhin ist es dann wenigstens angekommen. Hoffentlich!
Als allgemeines Nicken folgte, ergänzte Mina von Nachtschatten ihre Aussage mit den Worten:
"Gut. Die Späher-Schichten werden somit, sicherheitshalber eingestellt. Da wir, dank Rogi, obendrein inzwischen den genauen Standort von Ophelias Unterbringung wissen, lohnt der Aufwand im Vergleich zum zu erhoffenden Nutzen ohnehin nicht mehr. Es sollte genügen, in unregelmäßigen Abständen jemanden Unauffälligen von uns in Tarnmodus einmal durch die Gegend laufen zu lassen, um Unvorhergesehenes auszuschließen. Besonders kurz vor dem eigentlichen Einsatz. Nicht, dass irgendwelche Baustellen angedachte Beobachtungspunkte verhindern oder so etwas. Bis hierher irgendwelche Anmerkungen? Einwände?"

Meine Herrn! Da ist aber jemand sehr von sich selbst überzeugt!
Nyria konnte so Schnösel noch nie ausstehen und die werten Freunde des Inspektors erfüllten wahrlich jedes Klischee. Mochte ja sein, dass die beiden Assassinen in allem, was mit Kämpfen und Rumschleichen zu tun hatte, gut waren. Das wollte sie gar nicht bestreiten. Zumindest mit dem Degen umgehen konnte Rachs Schwester ja, das musste sie zugeben nach dem gestrigen Training. Aber in diesen Dingen gut, das war sie ebenfalls. Und trotzdem machte sie nicht solch ein Gewese um sich selber.
Angeber!
Die stellvertretende R.U.M.-Abteilungsleiterin nickte ihr von der gegenüberliegenden Längsseite des Raumes zu. Was kein Problem darstellte, da sie beide genau mittig der Tische saßen und sich sozusagen durch diese Schneise hindurch ansahen.
"Gefreite Maior... du hast mich wissen lassen, dass du in Sachen Instituts-Kontakt Fortschritte zu vermelden hast. Wir sind sehr gespannt darauf, Details zu erfahren."
Die Werwölfin setzte sich aufrechter und holte, um auszuholen, tief Luft – was sie umgehend bereute.
Verflucht!
Der Hustenanfall legte sich, als sie sich, nur für eine Sekunde wenigstens, den Handrücken vor Mund und Nase hielt und wieder etwas flacher atmete.
Raistan sah sie besorgt von der Seite her an.
"Entschuldigung! Veilchen, Chemie-Gepansche und dann auch noch das elende Federvieh... ist einfach ein bisschen viel auf einmal für meine Nase."
Wie auf sein Stichwort hin, breitete der Geier, der bisher lautlos hinter der feinen Dreierclique auf dem Leichenaufzug gesessen und nur schlaftrunken zugehört hatte, mit einem blubbernden Krächzen seine weiten Flügel aus.
Die Freunde drehten sich allesamt instinktiv um.
Der Vogel flatterte träge und hüpfte dann mit rauschendem Gefieder zu Boden. Er war langsam, bewegte sich schwankend, mit halb geöffneter Spannweite. Seine Schwungfedern streiften den gefliesten Boden, seine Krallen klackten bei jedem Hüpfer. Doch sein Ziel war eindeutig.
Rach rückte hastig beiseite, doch er konnte seinem Schicksal nicht entgehen.
Es war Nyria ein grimmiges Vergnügen zu beobachten, wie der Geier sich ihm mit heiserem Krächzen näherte, nur um ihm dann, dicht vor ihm stehen bleibend, den Kopf auf das Hosenbein abzulegen. Große, hässliche Augen mit unzähligen Hautfalten glotzten den hilflosen Inspektor an, der mit hochgerissenen Händen und angewidertem Gesichtsausdruck beobachtete, wie langsam zäher Schleim über den teuren Stoff seiner Kleidung tropfte.
Seine Schwester begann leise zu kichern.
"Dein Widerwillen scheint ihn nicht davon abzuhalten, etwas für dich zu empfinden, Rach."
Das Opfer ihres Spotts verdrehte genervt die Augen, während sich hie und da im Raum leises Lachen hören ließ.
Die etwas zögerliche Stimme der Vampirin versuchte, neuerlich die Aufmerksamkeit aller zu sammeln.
"Wir waren gerade bei den Fortschritten zum Institut..."
Sehr gut gelaunt, begann Nyria von ihrer letzten Begegnung mit dem Küchenmädchen zu berichten. Sie hatte ordentliche Arbeit geleistet darin, diesen Kontakt aufzutun und sie wusste das auch. Dementsprechend selbstbewusst schloss sie mit den Worten:
"Die Basis steht also. Ich kann davon ausgehen, dass Gerti der ganzen Angelegenheit gegenüber nicht abgeneigt reagieren wird, wenn ich es drauf ankommen lasse und sie mit einer Möglichkeit konfrontiere, in die Geschichte einzugreifen, selber aktiv zu werden. Und sei es nur, indem sie mir einen Weg beschreibt oder eine Tür öffnet."
Kanndra nickte nachdrücklich.
"Sehr gut! Das bedeutet für uns neuen Spielraum. Wir müssen unbedingt einen Ansatzpunkt nach unten finden. Ich würde mich in keinem Fall einzig und allein auf den Vordereingang der Vampirlauer verlassen wollen. Ich bin sehr erleichtert, dass du da einen Fuß in die Tür zu bekommen scheinst, Gefreite. Weiter so!"
Nyria hätte das enthusiastische Lob der Späherin eigentlich nicht benötigt. Aber es tat dennoch gut. Ein zufriedenes Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus und sie spürte, wie Raistan neben ihr, darauf mit einem unmerklichen Funkeln in seinem sonst so kühlen Blick reagierte, ehe er den Kopf wieder über seine Notizen senkte, so dass sein offenes Haar ihn vor den meisten Blicken verbarg. Wären sie allein gewesen, hätte sie vielleicht dem spontanen Impuls nachgegeben, es ihm nach hinten zu streichen. Sie versuchte schon ewig, ihm diese verschüchterte Attitüde auszutreiben. Das hatte er wahrlich nicht nötig, ihr Magier. Aber sie würde ihn auch nicht verbiegen.
Ihr Blick glitt an ihm vorbei und blieb an Wilhelm Schneider hängen. Welcher ebenfalls angenehmen Gedanken über Raistan nachzuhängen schien. Der Blick des Rekruten wirkte sehr geistesabwesend, sein Kopf war nur leicht zu ihnen gewandt, so als habe er mitten in der Bewegung innegehalten. Seine Pupillen ruhten dunkel und leicht geweitet auf dem Zauberer zwischen ihnen. Hätten sie wegen des Tisches an dieser Seite nicht beinahe über Eck gesessen, so wären Raistan und er an diesem Abend sogar Sitznachbarn gewesen.
Nyria musste bei seinem Anblick innerlich grinsen. Wie nicht zum ersten Mal an diesem Treffen.
Eine Romanze reicht dir wohl nicht, hm? Unersättlich! Aber er ist auch ein Augenschmaus, das gestehe ich dir zu. Nur wehe dir, wenn du mehr willst...
Kurz ging ihr der Gedanke durch den Kopf, dass Raistan und der Rekrut für diesen Abend, direkt im Anschluss an die Besprechung, ein Gespräch unter vier Augen vereinbart hatten. Wirkliche Sorgen machte sie sich dabei nicht um ihn. Zumindest nicht in dieser Art. Wilhelm hatte bewiesen, dass er in der Lage und Willens war, sogar auf geistigem Gebiet zu helfen. Und Raistan hatte ihr klargemacht, dass er auf Nummer Sicher gehen wollte und sich ziemlich genau darüber im Klaren war, auf was er sich einließ. Die Sache mit dem Blut, als kleines Dankeschön für die zu erwartenden Mühen des Vampirs, sagte ihr zwar nicht ganz zu. Aber zum einen hatte sie noch deutlich vor Augen, was das hilfreiche Eingreifen in den Kopf eines Kollegen ihm das letzte Mal eingebracht hatte. Da war es irgendwie verständlich, dass er gerne mehr davon haben wollte, als nur einen feuchten Händedruck. Und zum anderen würde dieser Teil der Vereinbarung nicht heute zum Tragen kommen, dafür hatte Raistan in seiner typisch peniblen Art gesorgt.
Ein Magenknurren erinnerte sie daran, dass sie aus gutem Grund nicht dabei sein würde. Aber das war in Ordnung. Wilhelm würde ganz sicher nicht zu weit gehen. Und wenn doch...
Raistan war nicht ohne Grund ihr erwähltes Hoheitsgebiet. Er war es würdig. Und bei einer wie auch immer gearteten unstatthaften Zudringlichkeit des bewundernden Kollegen, würde er diesen Status schlichtweg untermauern. Und sie selber konnte ihn danach immer noch zementieren. Seinen Status.
Sie löste ihren Blick von dem Rekruten und konzentrierte sich wieder auf die Worte der Vampirin. Gerade rechtzeitig um deren an sie gerichtete Frage zu beantworten.
"...dich noch irgendwie darin unterstützen?"
Sie nickte sofort.
"Ja, das wäre wirklich möglich und auch wichtig. Ich dachte mir, ein Brief zum Einschmuggeln in das Fächelinstitut wäre gut. Am besten einen angeblichen Liebesbrief, von einem heimlichen Verehrer an eines der Mädchen dort. Den könnte ich dann in einem der allgemein genutzten Gemeinschaftsräume oder in einer Abstellkammer irgendwo hinterlegen. Angeblich so zwischen den Liebenden vereinbart. Wenn das klappen würde, könnte ich im Inneren des Hauses nach dem Zugang ins Labyrinth suchen. Ich müsste nur dafür sorgen, dass Gerti mir beim Reinkommen ins Institut assistiert und mich dann alleine machen lässt. In meiner vierbeinigen Form sollte es dann machbar sein, eventuelle Spuren der Vampire zu finden. Zumindest hoffe ich das."
Rach folgte der Diskussion wieder mit dieser typisch fieberhaften Intensität, die ihn stets schnell befiel, sobald es um etwas ging, das Ophelia betraf. Seine Unruhe vibrierte durch den Raum und seine Haltung kündete davon, dass er im Grunde auf dem Sprung war. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass seine Geruchsnuancen inzwischen so leicht für sie zu lesen waren? Sie war jedenfalls froh, ihn nicht andauernd um sich haben zu müssen. Gerade jetzt jedoch war es ihm wichtig, ihren Ansatz zu unterstützen.
"Die Namensliste der eingetragenen Schülerinnen steht dir ja bereits zur Verfügung. Wenigstens etwas, um die Sache voranzutreiben."
Er schob fast nebensächlich, mit spitzfingrigem Nachdruck, den Kopf des Geiers von seinem Knie.
Nyria grinste ihn an.
"Bloß, dass ich nicht dazu imstande bin, so einen Alibi-Wisch aufzusetzen."
Er runzelte die Stirn.
"Einen Liebesbrief schreiben?"
Einen Moment lang, schien er hilfreich einspringen zu wollen, allein aus dem Gedanken heraus, damit etwas in die Teamarbeit einbringen zu können, nicht mehr "nutzlos" herumsitzen zu müssen. Doch dann dämmerte ihm die volle Bedeutung dessen, was damit auf ihn zukäme. Und niemand im Raum hatte das Herz, es auszusprechen. Er ließ sich schwer an die Lehne seines Stuhls fallen und presste die Lippen aufeinander, ehe er heraus brachte:
"Tut mir leid. Ich muss passen."
Nyria zweifelte keinen Moment daran, dass er rein technisch vermutlich exzellent bei dieser Aufgabe hätte abschneiden können. Aber da gab es ja auch noch den Grund dafür, warum ihm all die gefühlvollen Worte so nahe liegen mochten – und er sie keinesfalls unter falschem Vorwand nutzen können würde.
Mina von Nachtschatten sah sich in der Runde um.
"Irgendein anderer Freiwilliger?"
Blicke huschten teils betroffen, teils amüsiert durch den Raum und jeder schien den jeweils anderen einschätzen zu wollen, ob ihm oder ihr ein romantisches Manifest aus der Feder fließen könnte, wenn denn schon nicht aus der Fülle des Herzens.
"Wirklich niemand?"
Die Vampirin zögerte einen Moment. Ihre Schultern sackten minimal herab, ehe sie sich sichtlich einen Ruck geben musste.
"Nun gut, da sich niemand dafür zu finden scheint... werde ich mich selber dieser Aufgabe annehmen. Und hoffen, ihr gewachsen zu sein. Ich gehe von einer heimlichen Liason aus?"
Nyria nickte nun mit offenem Grinsen.
"Jawohl, Ma’ am! Ich stelle dir dann schnellstmöglich Informationen zur Verfügung, damit du dir ein Bild zu dem Mädchen machen kannst."
Die Vampirin nickte würdevoll. Ein Gedanke führte offenbar zum nächsten.
"Mit einer ansehnlichen Männerhandschrift kann ich allerdings nicht dienen. Gäbe es jemanden in der Runde, der sich dahingehend nützlich machen möchte? Immerhin geht es in diesem Fall nicht unbedingt vordringlich um den Inhalt, sondern vermutlich wirklich auch um den ersten Eindruck, wenn damit ein neugieriges Dienstmädchen zur Kooperation verführt werden soll. Falls es dazu kommt, dass sie einen Blick darauf werfen möchte?"
Die Werwölfin sah aus dem Augenwinkel, wie neben ihr ein Kopf in die Höhe ruckte und Raistan sich sein Haar in einer schnellen Bewegung hinter das Ohr strich.
Sie nickte grinsend in seine Richtung und kam ihm zuvor, ehe er es sich anders überlegen konnte.
"Er hat eine schöne Schrift."

Mina und Raistan würden für diesen gefälschten Brief zusammenarbeiten. Ein weiterer Punkt auf der imaginären Aufgabenliste, den sie damit abstreichen konnten. Sie kamen voran. Zwar bei Weitem nicht so schnell, wie er es gerne gehabt hätte. Aber doch mit der hartnäckigen Zielstrebigkeit eines kletterbegabten Skorpions, dem man einen bedauernswerten Gast in Reichweite gehangen hatte.
Rach wartete im Grunde nur darauf, dass Mina ihm das Wort überlassen würde, damit er der Gruppe auch von seiner Neuigkeit berichten konnte. Oder vielmehr gesagt, von ihrer gemeinsamen Neuigkeit! Jules und Esther hatten schließlich einen nicht unerheblichen Beitrag dazu geleistet. Selbst, wenn man den finanziellen Part außer Acht gelassen hätte. Was aber kaum möglich war. Immerhin entstanden nicht nur reine Transaktionskosten, sondern auch – nicht gerade niedrige – Reisekosten!
Mina sah ihn an und leitete endlich zu ihm über, wenn auch mit einem mehr als reservierten Gesichtsausdruck.
"Außerdem gab es eine weitere, nicht unbedeutende, Entwicklung. Rach..."
Er setzte sich noch aufrechter und schob das elendige Federviech mit seinem Schuh so weit von sich weg, wie der Fuß reichte. Das erbärmliche Krächzen des Geiers wurde so laut, dass Rogi sich auf die Schenkel klopfte und ihn zu sich zu locken begann.
"Faugi! Komm fon, komm her fu mir!"
Das Maskottchen wandte sich mit fast vorwurfsvollem Blick von ihm ab und tapste schwankend zur Igorina hinüber, die ihm irgendwas aus ihrer Hosentasche angelte, was ihm zu schmecken schien, so, wie er es mit schief gelegtem Kopf und langer Zunge von ihrer Handfläche aus in den Schnabel zu lutschen begann. Dem leisen Gurgeln gesellte sich ein gieriges Fiepsen hinzu. Sie tätschelte dem Vogel den Kopf und sagte, an niemand Bestimmten gewandt.
"Er vermift Maggie, daf ist allef."
Das allgemeine Durchatmen und Zurücklehnen hatte fast etwas, von einer Schweigeminute.
Rach räusperte sich.
"Wir – Jules, Esther und ich – dachten uns, im Nachgang zum gestrigen Training, dass wir keine Chance ungenutzt lassen sollten. Wie an der Wirkung auf Rekrut Schneider zu sehen war, gäbe uns im Fall der Fälle der Einsatz des Lähmungsgiftes einen echten Vorteil. Das können wir nicht ignorieren, unmöglich. Wir haben die vorhandenen Ansätze weiter verfolgt und sind nun wirklich der Ansicht, einen Weg gefunden zu haben, wie sich aus dem netten, harmlosen Fünf-Minuten-Trip eine echte Angriffswaffe ableiten lassen sollte. Immer eingedenk des Ziels, Racul keinesfalls zu eliminieren! Dazu benötigt es allerdings einer Zutatenvariante, die deutlich stärker wirkt, als alles, was bei uns frei zugänglich zu bekommen ist. Wir haben also gestern Abend eine Klackernachricht an einen Kontakt in Klatsch geschickt, in der wir ein Treffen vereinbart haben."
Die Werwölfin blickte ihn in diesem Moment ebenso aufmerksam an, wie jeder andere im Kreis. Sie zog beide Augenbrauen langsam in die Höhe.
"Nach Klatsch? Und das Treffen ist... wo?"
"Direkt in Klatsch, richtig."
Sie verzog ihre Mundwinkel zu beeindruckter Skepsis.
"Ach, fein... wenn es weiter nichts ist..."
Jules an seiner Seite, brachte sich gut gelaunt ein.
"Ich werde morgen abreisen. Auf nach Klatsch! Beziehungsweise nach Urabewe, was noch ein gutes Stück weiter liegt. Meine Wurzeln ergründen."
Rach wusste, wie wenig begeistert Esther von dieser Entwicklung war. Sie würde es ihm noch ewig unter die Nase reiben, dass er – oder vielmehr Ophelia – daran Schuld war, dass sie einige Tage lang auf ihren Freund verzichten müsste! Aber das war es ihm wert.
"Der einzige Nachteil an dem Plan ist leider," fügte Rach widerwillig hinzu, "die Wartezeit. Es wird vermutlich etwa zwei Wochen dauern, bevor Jules mit der Lieferung zurück sein kann. Wenn alles gut läuft. Das ist ein schrecklich langer Zeitraum. Und mir ist schmerzlich bewusst, dass diese erzwungene Wartezeit eine echte Erprobung unserer Nerven darstellen wird. Denn immerhin darf in dieser Zeit nichts passieren, was Ophelias Rettung erschweren könnte! Zwei Wochen, in denen sich niemand von uns auffällig verhalten darf. Und, ja, Jules, ich weiß sehr gut, dass das auch mich betrifft, selbst ohne, dass man mich mit dem Kopf darauf stößt."
Die F.R.O.G.-Späherin runzelte die Stirn.
"Zwei Wochen? Das ist wirklich viel. Selbst, wenn wir alles richtig machen und keinerlei Anlass zu Misstrauen bieten... in so vielen Tagen und Nächten kann innerhalb des Vampirhaushaltes einiges passieren, worauf wir keinen Einfluss haben. Gerade auch, wenn man Maganes wahrscheinliche Situation bedenkt. Für Ophelias Gefangenschaft scheint ja ein, zumindest im Prinzip, unantastbarer Status Quo zu gelten. Aber wie es da um unsere Hexe steht..."
Mina hielt sehr an sich, dessen war er sich bewusst. Er hatte im Vorfeld der Besprechung mit ihr geredet, seinen Plan nicht nur vorgestellt, sondern sie im Grunde sogar schon vor vollendete Tatsachen gestellt. Und sie hieß seine Pläne, Racul mithilfe dieser Art eines Giftangriffes zu schwächen, nicht gut.
"Du kennst meine Meinung dazu, Rach. Ich halte das für unvernünftig. Aber..." und bei diesen Worten wanderte ihr Blick fast schon resigniert in Richtung des Büros des Kommandeurs, "...wie es scheint, bin ich überstimmt."
Mehr noch als ihn selbst, ängstigte sie die Vorstellung, damit auch Ophelia zu schaden. Er hatte ihr vorab klar zu machen versucht, dass er nicht leichfertig mit dieser Möglichkeit spielte, dass er so viele Erfahrungswerte heranzog, wie nur möglich und dass er im Falle des Falles vor Ort eher zögern, denn ein zu hohes Risiko eingehen würde. Er würde Gegenmittel mit sich führen! Aber mochte es sein, wie es wollte, vielleicht fehlten ihr einfach seine Erfahrungen, im Umgang mit Giften? Oder die Bereitschaft hohe Risiken einzugehen hatte sich weitaus tiefer in seine Spielerseele gebrannt, als er es sogar sich selbst gegenüber einzuräumen gewillt gewesen wäre?
Die Überzeugung jedenfalls ließ sich nicht aus ihm verdrängen: Ohne ein Wagnis einzugehen, hätten sie von vornherein verloren, gegen diesen übermächtigen Gegner!
Nyria nickte einmal kurz.
"Ich bin trotzdem stark dafür, dass wir es damit versuchen. Es hilft. Also ist es geeignet. Wir werden nur eine Chance bekommen – wenn überhaupt! Die sollten wir nicht durch unnötiges Zögern vertun."
Innerlich atmete er etwas auf. Er war zwar bereit gewesen, auch alleine für seine Überzeugungen einzustehen. Aber zugleich hatte er eingesehen, dass eine Zusammenarbeit des Rettungszirkels vielleicht das entscheidende Zünglein an der Waage sein mochte, um Ophelia wirklich zu helfen.
Zu seiner Rechten schlug sich ausgerechnet Rogi auf seine Seite.
"Die fwei Wochen find daf absolute Minimum, bevor wir daran denken können, in Raculs Labyrinth hinunter fu fteigen. Ich habe ef schon einmal gefagt und ich fage ef gerne noch einmal: Ophelia ift derzeit nicht transportfähig! Fo ganf und gar nicht! Ef würde ihr nichts nutzen, wenn wir ef jetzt sofort zu ihr schaffen würden. Fie braucht die fwei Wochen noch dringender, alf wir ef tun!"
Links von sich, hinter Jules, sah Rach, wie Esther ihre Beine übereinander schlug. Ihre kultivierte Stimme klang fast ein wenig gelangweilt, als sie anmerkte:
"Es ist ja auch nicht so, dass wir bis dahin nichts zu tun hätten. Soweit ich mich erinnere, gibt es einige grundlegende Fähigkeiten aufzufrischen und zu trainieren. Und mindestens ein weiterer Eingang in das unterirdische Gängesystem will gefunden werden."
Rach nickte energisch. Ehe er aber etwas dazu sagen konnte, meldete Rogi sich fast zögerlich noch einmal zu Wort.
"Ich könnte versuchen, Igor auf einem feiner Botengänge abfupassen. Um ihn aufzufragen. Natürlich immer mit Blick auf Opheliaf Fuftand. Daf sollte unauffällig genug fein."
Mina reagierte fast etwas zu schnell und einen Ticken zu nachdrücklich, als sie diesem Vorschlag zustimmte.
"Das ist eine ausgezeichnete Idee. Tu das!"
Rach hatte das unbestimmbare Gefühl, dass sich in seiner Brust ein Knoten zu lockern begann. Die Räder begannen ineinander zu greifen, etwas kam in Gang.

Wilhelm stand unter ziemlicher Anspannung. Er wusste nicht, wie es Senray damit gehen mochte, zumindest in den letzten Minuten hatte sich ihr Herzschlag deutlich verlangsamt, beziehungsweise normalisiert. Aber für ihn stellte diese Besprechung einen regelrechten emotionalen Hindernislauf dar!
Um es ihnen beiden leichter zu machen, ihren neuen Plan umzusetzen, hatten sie sich tatsächlich bereits vor der angesetzten Uhrzeit, außerhalb des Wachhauses getroffen und waren dann gemeinsam in die Pathologie hinunter gestiegen. Die Blicke, die sich ihnen schweigend ins Genick gebohrt hatten, als sie sich nebeneinander setzten, obwohl sich durchaus andere Plätze, auch solche die getrennt voneinander gestanden hätten, angeboten hatten, waren von fast eisiger Intensität gewesen. Fast hätte er sich gewünscht gehabt, sie bei der Hand nehmen zu können, um nicht nur ihr beizustehen und ihren peitschenden Herzschlag zu besänftigen, nein, auch um sich selbst damit zuzusichern, dass er es mit der Realität zu tun hatte und dass er dieses erste Mal nicht dazu gezwungen war, jene allein zu ertragen!
Er hatte jemanden an seiner Seite! Ein gleichzeitig beängstigendes und schönes Gefühl! Selbst, wenn seine Gedanken dadurch immer wieder ins Stolpern gerieten. Denn, was, beispielsweise, hätte er schon auf den beinahe schockierend vertraulichen Mimik-Deut des Assassinen erwidern sollen? Oder was, auf Mina von Nachtschattens permanent zu spürende Missbilligung? Was, auf den deutlich erkennbaren Wunsch Rogi Feinstichs gar, das zu unterbinden, was sie sah – gleichgültig, was es wirklich darstellen mochte? Sie schien gewillt, ungefragt in sein Leben einzugreifen, als wenn sie jegliches Recht dazu auf ihrer Seite empfand. Und er war sich nahezu sicher, dass sie es sich zum Ziel gesetzt hatte, ihn auszuhorchen. Sie hatte mit ihrem provokanten Ansatz einen Plan verfolgt gehabt und diesen längst noch nicht aufgegeben. Ihre Blicke taxierten ihn immer und immer wieder und er konnte sie einzig und allein aus dem Grund scheinbar gelassen ertragen, weil er sie bewusst mied.
Ãœberhaupt mied er vieles mit Vorsatz.
Seine Erinnerungen an Raistan gehörten da dazu. All die kurzen, wundervollen Momente, die sich wie funkelnde Scherben eines Kirchenfensters zu seinen Füßen zu sammeln schienen. Wobei die tiefen Schatten der erlebten Schrecken sich fast untrennbar mit diesen verbanden – und ihnen im Kontrast nur noch mehr Tiefe und strahlende Intensität verliehen! Denn ohne die entsetzliche Erfahrung der Jagd auf ihn, hätte es eben auch nicht diese kostbaren Sekunden gegeben, in denen er die wärmende Nähe und den oktarinen Duft des talentierten Jünglings sich um seine Sinne hätte legen fühlen dürfen! Gekrönt von der Intimität einer gemeinsamen Verschwörung! Raistan hatte ihn nicht verraten gehabt, im Gegenteil! Er hatte sich gelassen und ungezwungen gegeben und ihm nachträglich sogar in charmantester Manier zugezwinkert!
Dementsprechend fiel es ihm leichter, als erwartet, bei der nun eingeläuteten Feedbackrunde zum erhaltenen Training positiv zu reagieren. Selbstverständlich war es aus Sicht des Kommandeurs als sinnvoll anzusehen gewesen, die Gruppe anhand eines realistischen Beispiels einschätzen zu wollen. Und ebenso klar musste die Entscheidung dafür auf ihn fallen, da machte Wilhelm sich gar nichts vor.
Da der Kommandeur selber, in anbetracht seiner offiziellen Position im Ranggefüge der Wache, nicht anwesend sein konnte, trug die von Nachtschatten seine Anmerkungen zu den Leistungen der Einzelnen im Training vor.
Der Vampir wurde sich schnell klar darüber, dass Araghast Breguyar ihn bis kurz vor dem Ende der regulär zugeteilten Übungsaufgaben als nicht sonderlich verheißungsvoll eingestuft haben musste. Und dass er es sich aber mit dem Beginn der Hetzjagd anders überlegt hatte. Er schloss sein Fazit mit den Worten:
"...Seine Flugkünste sind ansehnlich und eine schöne Herausforderung an das Thiem. Für den späteren Einsatz in der Vampirlauer halte ich fest, dass dem Rekruten die Aufgabe zufallen sollte, Flüchtenden in Fledermausgestalt, einen Strich durch die Rechnung zu machen!"
Natürlich, das war leichter gesagt, als getan. Aber immerhin vermittelte es langsam die vage Ahnung eines Plans!
Mina von Nachtschatten legte auch das letzte Blatt ihrer umfangreichen Zettelsammlung beiseite, ehe sie erschöpft sagte:
"Das nächste F.R.O.G.-Training hat unser Kommandeur bereits für morgen Abend angesetzt. Beziehungsweise für morgen Nacht, gegen 1 Uhr. Diesmal soll es in den Untergrund gehen, um sich den vermutlich vorherrschenden Bedingungen im eigentlichen Rettungseinsatz schon mal anzunähern. Wo genau wir uns dafür treffen, wird noch mal kurzfristiger angesagt werden. Und selbstredend möchte ich darum bitten, auch dann sorgfältig darauf zu achten, Verfolger vorher abzuschütteln. Plant also für den Hinweg dann bitte etwas mehr Zeit ein."
Sie raffte ihren Blätterstapel zusammen und klopfte dessen Seiten auf ihren Beinen gerade, während sie einen letzten Blick in die Runde warf.
"Gibt es noch irgendwelche Fragen?"

Wenige Minuten später löste sich der Rettungszirkel nach und nach auf.
Wilhelm sah an seine Rechte, von wo Senray ihm ein unsicheres Lächeln zuwarf. Die junge Frau wirkte ebenso erleichtert, wie er sich fühlte. Er lächelte matt zurück.
Geschafft!
"Rekrut Fneider?"
Der Vampir zuckte zusammen und seine freundliche Mimik löste sich in Luft auf. Schon war er zügig aufgestanden und salutierte, die Augen krampfhaft zu Boden gerichtet.
"MaÂ’am?"
"Ich würde dich gerne einen Moment fprechen."
Sein Blick flog über sie hinweg und richtete sich auf den Platz links von ihm, von dem sich soeben der Zauberer erhob. Er fing dessen Blick ein und antwortete ausweichend.
"Ma’am das tut mir jetzt leid. Aber... ich bin für den weiteren Abend bereits verabredet und... heute ist es wirklich ungünstig. Das lässt sich nicht verschieben, ist ziemlich dringend, wenn ich es richtig verstanden habe. Richtig?"
Ihre Blicke richteten sich auf Raistan, welcher noch einen Schritt näher trat und nickte.
"Ja, tatsächlich ist es schon spät. Ich würde mich freuen, wenn wir keine weitere Zeit vertun könnten."
Wilhelm blickte vage in Rogi Feinstichs Richtung und zuckte entschuldigend mit einer Schulter.
"Vielleicht ein andermal, Ma'am?"
Eine Sekunde lang hätte es ihn nicht überrascht, wenn Rogi vehement auf ihren Gesprächswunsch bestanden hätte. Dann aber wandte sie sich ab.
Senray und Wilhelm sahen sich verständnisinnig an.
Im schummrigen Flur dann überholte Jules Ledoux sie und klopfte der zart gebauten Frau jovial auf die Schulter.
"Du machst das schon ganz richtig. Es gibt eben auch die Männer, die es mögen, wenn man ihnen hinterher rennt."
Die D.O.G. errötete ganz zauberhaft und blickte ihn herrlich hilflos an.
Er konnte nicht verhindern, dass er bei diesem Anblick grinsen musste.
Was sie nur noch mehr erblühen ließ!
Der Assassine beugte sich verschwörerisch zu ihm näher.
"Sie hat dich ganz schön in der Hand, hm?"
Sein Lächeln gefror ihm prompt auf den Lippen und nun war es an ihr, leise zu lachen. Wenn auch noch laut genug, um für alle neugierigen Lauscher interessant genug zu sein.
Raistan stand inzwischen abwartend bereit, sich auf ein ganz besonderes Abenteuer nur mit ihm allein einzulassen. Hier im Wachhaus. Jetzt gleich!
Wilhelms Herz machte gefühlsmäßig einen aufgeregten Sprung bei diesem Anblick.
Er drehte sich noch einmal schnell zu Senray um. Zögerlich standen sie voreinander, unschlüssig. Er entsann sich seiner Manieren.
"Dann... wünsche ich dir noch eine angenehme Nachtruhe. Und einen guten Heimweg."
"Ich.. ähm, also, na ja... dir auch!"
"Gute Nacht!"
"Ja, gute Nacht!"
"Und... sei vorsichtig!"

13.05.2017 3: 33

Nyria Maior

Der rein profane Anblick von Ophelia Ziegenbergers ehemaligem Domizil im Wachhaus war im schwachen Licht der Flurlaterne sehr enttäuschend. Die Wächter hatten sich anscheinend große Mühe gegeben, sämtliche Andenken an ihren Aufenthalt zu tilgen, und den Raum in eine Art Lagerstätte für schäbige Büromöbel verwandelt. Raistan wusste nicht genau, was er sich vorgestellt hatte. Ein angemessen verstaubtes Schlafzimmer mit Spitzengardinen und einem filigranen Teeservice auf einem Beistelltisch? Jedenfalls keine schnöde, verlassene Abstellkammer. Als er die Türschwelle überquerte, spürte er ein nur allzu vertrautes Prickeln in seinem Geist. Ein eindeutiges Zeichen für oktarine Reststrahlung. In diesem Zimmer musste seinerzeit eine Menge Magie gewirkt worden sein, wenn die Nachwirkungen nach über einem Jahr immer noch so deutlich zu fühlen waren.
Raistan flüsterte einen Befehl und der Kristall auf der Spitze seines Zauberstabs erstrahlte in hellem Licht. Etwas Dunkles am Boden erweckte seine Aufmerksamkeit und er senkte den Blick. Eingebrannt in den abgetretenen Dielenboden war ein einfacher Kreis von etwa zwei Schritt Durchmesser, um den die Büromöbel sorgfältig herum arrangiert waren, als hätten die für die Einrichtung Verantwortlichen verhindern wollen, dass auch nur ein einziges Stuhlbein den Kreis berührte. Der junge Zauberer ging in die Hocke und berührte die verkohlte Linie mit dem Zeigefinger. Ein dumpfes Kribbeln fuhr durch seine Fingerkuppe und jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Welche Zauber auch immer hier gesprochen worden waren, freundlich gemeint waren sie nicht gewesen.
Hinter sich hörte er ein lautes Nach-Luft-Schnappen und als er sich umwandte sah er, dass Wilhelm Schneider immer noch im Türrahmen stand. Sein Gesicht war eine Maske der Beherrschtheit, doch seine Finger spielten nervös mit der Schnürung seines GRUND-Uniformhemds.
"Hast du etwas dagegen, wenn ich das hier mal genauer untersuche bevor wir anfangen?" erkundigte sich Raistan.
"Nein, nein." antwortete der Vampir schnell, fast hektisch. "Ich habe Zeit. Und... ich wollte schon immer mal einem Zauberer bei der Arbeit zusehen. Leider ergibt sich eine solche Gelegenheit für einen einfachen Bürger nur äußerst selten. Außerdem - irgend etwas stimmt in diesem Zimmer nicht. Ich wäre froh, wenn du etwas dagegen unternehmen könntest bevor ich hier längere Zeit außerhalb meines Körpers verbringe."
Raistan nickte. Bereits als er das Zimmer wegen der unwahrscheinlichen Störung durch andere Wächter vorgeschlagen hatte, hatte der Rekrut nicht allzu begeistert reagiert.
"Wenn es hier etwas gibt, was uns gefährlich werden könnte, finde ich es und werde es los." versprach er, mehr um Wilhelm zu beruhigen als dass er glaubte, dass sich tatsächlich etwas hier aufhielt. Ob es möglich war, dass Vampire magische Reststrahlung ebenfalls auf eine unterschwellige Weise wahrnahmen und den Rekruten deshalb beim Betreten des Zimmers immer ein beklemmendes Gefühl beschlich?
Nachdem er seinen Stab gegen die Wand gelehnt hatte, trat Raistan in die Mitte des eingebrannten Kreises und ließ sich im Schneidersitz nieder. Wilhelms Blick folgte ihm wie gebannt. Der Vampir hatte in einem recht - Es war wirklich selten, dass die allermeisten Bürger Ankh-Morporks die Gelegenheit bekamen, einem Zauberer bei der Arbeit zuzusehen. Leider würde Raistan die Erwartungen des Rekruten enttäuschen müssen. Bei dem was er vorhatte, gab es nichts spektakuläres zu sehen.
Er zog seinen Universitätsschal gegen die Kälte des ungeheizten Zimmers fester um seinen Hals, legte die Hände auf die Knie und schloss die Augen. Dann öffnete er seinen Geist, blendete das Jucken seiner verheilenden Brandwunden aus und ließ die auf dem Zimmer liegende Restmagie auf sich einwirken.
Die Reststrahlung des Kreises war bei weitem am deutlichsten und überlagerte die anderen Spuren fast völlig. Es handelte sich um einen einfachen Bann- und Schutzkreis für den hexischen Hausgebrauch, ursprünglich mit Salz gezogen, von mehreren Personen gewoben. Und er war mit großer Wucht implodiert, genau wie sein eigener dreifacher Kreis in der Universität als er Ophelia hineingestellt hatte. Raistan streckte die Hand aus, bis er den verbrannten Streifen Boden unter seinen Fingern spürte. Da war es wieder, dieses sich irgendwie finster anfühlende Kribbeln. Der junge Zauberer konzentrierte sich darauf und ihm wurde klar, dass Wilhelm mit seiner Überzeugung, dass sich etwas in dem Zimmer befand, doch nicht ganz unrecht gehabt hatte. Das Echo einer Präsenz war untrennbar mit den Resten der Magie des Kreises verwoben. Ein Hauch von Eiseskälte und absoluter Dominanz. Raistan kannte diese Präsenz. Er hatte sie schon einmal zu spüren bekommen und die Erinnerung daran ließ ihn schaudern.
Der junge Zauberer zog die Hand zurück als ihm klar wurde, was dies bedeutete. Die mentalen Ketten, die Ophelia Ziegenberger an Racul den Dritten von Ankh fesselten waren dick genug, jeden noch so starken Schutzkreis zu zerstören sobald dieser versuchte, sie zu trennen. Seine kurzfristige Idee, Ophelia auf diese Weise während des Kampfes gegen Racul vielleicht vor dessen Einfluss schützen zu können, fiel in sich zusammen. So ein Mist. Nun, immerhin gegen den zurückgebliebenen mentalen Gestank des Uralten Vampirs konnte er etwas unternehmen, damit selbiger nicht länger das Zimmer verpestete. Raistan öffnete die Augen.
Zu seiner Überraschung fand er sich Wilhelm Schneider gegenüber, der gleich einem Spiegelbild seiner selbst nur Millimeter vom Rand des eingebrannten Kreises entfernt saß und ihn mit dem Blicken zu verschlingen schien.
"Ist alles in Ordnung?" erkundigte sich Raistan.
Der Vampir räusperte sich gründlich.
"Ja. Es ist nur so... stickig hier."
"Du hattest recht, dass hier etwas faul ist." Raistan durchsuchte die Taschen seiner Robe bis er ein Stück in Wachspapier eingewickelte Kreide fand. "Raculs Verbindung zu Ophelia hat diesen Schutzkreis zerstört und ein Nachhall von ihm hängt noch in den Resten der residuellen Magie. Kein Wunder, dass sich die Wächter hier unterschwellig komisch gefühlt haben und niemand dieses Büro wieder nutzen wollte. Ophelia selbst hat davon wahrscheinlich nichts gemerkt als sie noch hier wohnte, weil sie den Mistkerl und seine widerliche Persönlichkeit eh schon fest in ihrem Kopf hatte."
Er wickelte die Kreide aus und rutschte ein Stück zur Seite um freien Platz in der Mitte des Kreises zu bekommen.
"Dann mal weg mit den Resten des werten Herrn Racul." Mit diesen Worten begann er, einen improvisierten Bannkreis auf den Boden zu zeichnen. Nun kriegt der Rekrut wenigstens doch noch was zu sehen ging ihm durch den Kopf, als er das zentrale Oktagramm zog. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass Wilhelm ihn genau beobachtete. Ein Ausdruck der Faszination lag auf dem Gesicht des Vampirs als er jeden Kreidestrich mit seinen Blicken genau verfolgte.
"Das war's." erklärte Raistan nachdem er die letzte Rune gezeichnet hatte. "Wenn du ein paar Schritte zurücktreten würdest - es wird eventuell ungemütlich."
Wilhelm nickte gehorsam, seinen Blick immer noch auf das nun wesentlich kürzere Stück Kreide in Raistans Hand gerichtet. Beinahe mechanisch stand er auf und wich an die Wand zurück.
Nachdem er sich sicher war, dass der Vampir sich außerhalb des Gefahrenbereichs befand, nahm Raistan seinen Willen zusammen, konzentrierte sich und begann mit der Bannformel. Der Spruch gehörte zu denen, die jeder anständige Zauberer im Schlaf beherrschte und das Komplizierte daran waren weder die Formel noch der Kreis, sondern die nötige Kraft und Geistesstärke, der zu bannenden Entität seinen Willen aufzuzwingen. Und nachdem er Raculs Geist persönlich zu spüren bekommen hatte rechnet Raistan damit, dass selbst ein Schatten seines Bewusstseins noch Probleme machen konnte. Zumindest wenn der Bann so spontan zurechtimprovisiert war wie sein eigener gerade. Aber Rogi Feinstich hatte ihm möglicherweise die entscheidende Waffe geliefert.
"Ego te abjuro, Racul Alexeij Sargolan Pada Ivanowitsch der Dritte von Ankh!" beendete er mit einem Befehl, der keine Widerworte duldete, die Formel. Dann schlug er mit seiner geballten magischen Macht zu.
Die Magie fuhr in den Bannkreis und riss alles, was vom Einfluss des Uralten Vampirs zurückgeblieben war an sich. Für einen Augenblick glaubte Raistan, eine geflügelte, schattige Gestalt zu sehen, die sich in den oktarinen Schlingen wand, die sie gepackt hielten. Hinfort mit dir! schleuderte er der Gestalt mental entgegen. Das Oktagramm und die es umgebenden Runen gleißten hell auf, als Raculs Echo vernichtet wurde. Dann senkte sich wieder Stille über das Büro und das einzige was noch darauf hindeutete, dass hier soeben die Restpräsenz eines Uralten Vampirs verbannt worden war, waren die Kreidestriche auf dem Boden und ein leichter Geruch nach schmierigem Blech.
"Das war wirklich erstaunlich!" rief Wilhelm aus.
Raistan schwieg und massierte sich die Schläfen hinter denen sich ein schmerzhaftes Pochen ausbreitete. Improvisierte Bannzauber waren immer eine anstrengende Angelegenheit und er verharrte für einen Augenblick mit auf die Knie gestützten Ellenbogen und zwang sich, langsam und tief zu atmen.
Leise Schritte näherten sich ihm.
"Geht es dir gut?" Wilhelm klang aufrichtig besorgt.
Raistan winkte ab. Der Vampir brauchte nichts davon zu wissen, dass es mal wieder in seinen Lungen stach und er seinen Beinen in den nächsten Minuten nicht zutraute, ihn zu tragen.
"Es geht schon. ich muss mich nur eben wieder sammeln. Racul ist ein harter Brocken, auch wenn es nur ein Hauch seines Schattens war."
Wilhelm nickt verständnisvoll.
"Merkst du etwas?" Raistan sah zu ihm auf. "Fühlt sich das Zimmer immer noch unheimlich an?"
Der Rekrut wirkte für einen Moment abwesend und schien sich zusammenzureißen zu müssen.
"Nicht mehr wie vorhin." erklärte er schließlich. "Es wirkt immer noch verlassen und kalt, aber die unterschwellige Bedrohung ist fort."
Raistan nickte zufrieden. "Ich werde schauen, ob es noch andere schädliche Einflüsse gibt, und dann können wir anfangen." Er richtete sich auf, schloss die Augen und öffnete, seine Zipperlein mental beiseite drängend, erneut seinen Geist.
Es fiel ihm allerdings schwer, sich auf die magischen Restenergien zu konzentrieren. Etwas an Wilhelm Schneiders Verhalten war merkwürdig. Der Rekrut wirkte seltsam fahrig und schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Fürchtete sich der Vampir nach seinem mentalen Besuch bei Rogi Feinstich vor dem, was er in Raistans Kopf vorfinden mochte? War ihm Raculs Restpräsenz so sehr über die Leber gelaufen? Oder gab es noch einen ganz anderen Grund von dem Raistan nichts ahnte und der vielleicht gar nichts mit dem zu tun hatte, was sie hier heute Nacht vorhatten? Die Obergefreite Senray Rattenfänger kam ihm in den Sinn. Selbst Raistan war aufgefallen, dass die beiden während des Treffens demonstrativ nebeneinander gesessen hatten und normalerweise gehörte er zu denjenigen, die solche Anzeichen grundsätzlich erst als letzte bemerkten.
Sein Bewusstsein streifte einen Eindruck, der ihn verwundert inne halten ließ. Es fühlte sich an, als hätte er seine Finger in ein dunkles, brodelndes Chaos gesteckt. Und über allem lag ein Hauch von... Raistan runzelte die Stirn. Rosen? Warum ausgerechnet Rosen? Eines war jedenfalls klar. Wer auch immer diesen Zauber verbrochen hatte schien keine Ahnung gehabt zu haben, was er oder sie eigentlich genau wollte. Auf welche magischen Dilettanten hatte Bregs bloß zurückgegriffen? Im Gegensatz zu dem verbrannten Schutzkreis hing an diesem thaumaturgischen Nachhall jedoch keine bösartige Präsenz und Raistan ließ seinen Geist weiter wandern. Die übrigen Echos waren zu schwach um die gewirkten Zauber noch nachvollziehen zu können, nur ein hauchfeiner oktariner Schleier trug eine schwache Erinnerung an Tee mit sich.
Raistan ließ seine Konzentration fallen und gähnte. Er hätte nichts dagegen gehabt, sich einfach an Ort und Stelle hinzulegen und einzuschlafen. Es war ein langer, anstrengender Tag gewesen und die Bannung von Raculs Schatten hatte ihn eigentlich schon zu viel Kraft gekostet. Aber es lag noch etwas vor ihm und seine Schwäche hatte ihm dabei gefälligst nicht in die Quere zu kommen.
"Die Luft ist rein." sagte er zu Wilhelm, der dieses Mal direkt vor ihm saß und sich leicht vorgebeugt hatte, sodass ihre Gesichter nur noch eine Unterarmlänge voneinander entfernt waren. "Irgendwann demnächst werde ich mich noch um die übrigen Zauberreste kümmern, aber hier ist nichts mehr, was gefährlich werden könnte."
Wieder wirkte der Vampir, als habe er ihn beim Tagträumen im Rekrutenunterricht ertappt.
"Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?" erkundigte sich Raistan.
Wilhelm räusperte sich ein wenig verlegen.
"Ich habe die Zeit genutzt um mich schon einmal auf deinen Geist einzustimmen." erklärte er. "Es ist gut, schon mal eine grobe Vorstellung von dem zu haben, was mich in einem anderen Bewusstsein erwarten könnte."
Raistan nickte. Das ergab eindeutig Sinn. Nun gab es nur noch eines zu klären. Er hatte gelesen, dass Vampire Vereinbarungen sehr wörtlich nahmen, deshalb wollte er sicher gehen, auch wirklich an alles gedacht zu haben.
"Die Abmachung lautet folgendermaßen: Ich gestatte dir aus freiem Willen, einmalig in meinem Kopf nachzusehen, ob ein Vampir namens Racul Alexeij Sargolan Pada Ivanowitsch der Dritte von Ankh Fallstricke ausgelegt hat die er nutzen könnte um Ophelias Rettung zu behindern oder sonstwie Einfluss auf mich auszuüben. Dabei lässt du alle Erinnerungen und Gedanken die nichts mit Racul dem Dritten von Ankh zu tun haben in Ruhe. Solltest du Spuren von Raculs Einfluss finden, wirst du sie eliminieren. Als Gegenleistung erhältst du zu einem für uns beide günstigen Termin nach Abschluss der Rettung Ophelia Ziegenbergers einmalig eine frische Menge von fünfzig Millilitern meines Blutes, entnommen mit einer Spritze, zum Verzehr. Mir ist es gestattet, beim Verzehr zuzusehen und anschließend einen Bericht über die Wirkung von Zaubererblut auf einen Vampir anzufertigen. Danach bestehen keine weiteren Verpflichtungen für beide Seiten."
"Ich erkläre mich mit dieser Vereinbarung einverstanden." sagte Wilhelm feierlich.
"Also gut. Bringen wir es hinter uns." Raistan zupfte seine Robe über den Knien zurecht und nahm seine Meditationshaltung ein - im Schneidersitz sitzend, mit geradem Rücken, gehobenem Kinn und die Hände auf den Knien liegend. "Soll ich etwas bestimmtes tun, damit es einfacher für dich ist? An etwas spezielles denken?"
"Entspann dich einfach." Der Rekrut beugte sich vor und schluckte. "Hast du etwas dagegen wenn ich dich berühre? Meine Finger an deine Schläfen lege? So wäre es einfacher für mich." Da war sie wieder, diese Nervosität in Mimik und Gestik des Vampirs.
"Wenn es dir dabei hilft, dass es nicht wieder mit Nasenbluten endet, gern." Raistan versuchte sich mäßig erfolgreich an einem aufmunternden Lächeln. Er konnte sich nur gut vorstellen, dass sich Wilhelm nach dem mentalen Exorzismus in Rogis Kopf ähnlich gefühlt haben musste wie er selbst nach dem Experiment, das zu Ophelia geführt hatte. Mit dem Ergebnis, dass der Rekrut nun eine weitere potentielle Begegnung dieser Art fürchtete. Der junge Zauberer konnte es ihm nicht verdenken. Er selbst wäre auch nicht sonderlich wild darauf gewesen, über HEX noch einmal in geistigen Kontakt mit einem nun vorgewarnten Racul zu treten und anschließend wieder zwei Tage außer Gefecht gesetzt zu sein. Die anderen hatten recht gehabt - im Nachhinein betrachtet war es wirklich extrem leichtsinnig gewesen. Deshalb saß er nun hier und war bereit, einen Vampir in seinen Kopf zu lassen, nur um mögliche fatale Folgen für die ganze Gruppe ausschließen zu können.
Nun, wie auch immer, es würde auf jeden Fall eine interessante neue Erfahrung werden aus der er vielleicht noch etwas lernen konnte.

Die vergangene halbe Stunde war eine der härtesten Proben für seine Selbstbeherrschung gewesen, denen Wilhelm während seines gesamten Unlebens ausgesetzt worden war. Und das hatte in Anbetracht seiner unerwarteten Begegnung mit Senrays Feuerdämon und den traumatischen Nachwirkungen dieser Episode wirklich etwas zu bedeuten.
Das Objekt seiner Begierde, der Gegenstand seiner Wachträume während langweiliger Unterrichtsstunden und Tresenschichten, saß völlig entspannt nur eine Armlänge von ihm entfernt und schien sich seiner glühenden Verehrung völlig unbewusst zu sein. Das fein geschnittene, blasse Gesicht war ernst und die stahlgrauen Augen, die beim Sprechen des Bannzaubers so eisig und unnachgiebig gefunkelt hatten, waren geschlossen. Wilhelm seufzte innerlich als er sich an das so unschuldige, irgendwie unbeholfene Lächeln erinnerte, mit dem der kleine Zauberer ihn eben bedacht hatte und das wahrer Balsam für seine strapazierten Nerven gewesen war. Wenn Raistan einen winzigen Makel besaß dann den, dass er viel zu ernst und verbissen war. Warum schenkte er dieses wunderschöne, scheue Lächeln seinen Mitlebewesen nicht viel öfter?
Wilhelm lockerte seine Finger um das nervöse Zittern zu unterdrücken, das von ihnen Besitz ergriffen hatte. Auch wenn ihm durch die Abmachung explizit untersagt worden war, in Erinnerungen herumzustöbern die nichts mit seiner Aufgabe zu tun hatten - dass er einige allgemeine Eindrücke über die Persönlichkeit des Zauberers aufschnappte war unvermeidlich. Und er würde diese Grenze des Erlaubten vollends auskosten.
Raistans prachtvolles Haar war heute nicht zusammengebunden und eine einzelne Strähne fiel ihm ins Gesicht. Er sollte es länger wachsen lassen, überlegte Wilhelm und das Bild eines rötlich schimmernden Wasserfalls von Haar, der in leichten Wellen über einen schmalen Rücken fiel, kam dem Vampir in den Sinn. Behutsam schob er die Strähne zur Seite und legte seine immer noch zitternden Finger auf die Schläfen des jungen Mannes. Wie elektrisiert spürte er den langsamen, gleichmäßigen Herzschlag unter seinen Fingerkuppen. So zart und schwach. Und doch gleichzeitig so wunderbar lebendig.
Wie schon so oft an diesem Abend stieg ein wilder Hunger nach diesem so exquisiten Leben in ihm auf und er war froh über den langen Schal in den Farben der Unsichtbaren Universität, der den schlanken Hals des Zauberers seinen Blicken entzog, sowie die ausgedehnte Trinktour nach seiner Heilung, die seine körperlichen Bedürfnisse vorläufig gestillt hatte. Wilhelm riss sich zusammen. Er hatte eine Aufgabe zu erledigen. Und die Belohnung die er dafür nach der Rettung Ophelia Ziegenbergers erhielt würde um so süßer und köstlicher sein.
In Gedanken formte Wilhelm den edelsten Anzug den er jemals geschneidert hatte und legte ihn über sein inneres Selbst. Auch wenn sein mentaler Körper immer noch die Reste der Wunden trug, die ihm die Feuerfrau zugefügt hatte, vor Raistan wolle er sich keine Blöße geben. Er musste perfekt aussehen wenn der den Kopf dieses verehrungswürdigen Wesens betrat.
Nachdem er mit seiner Erscheinung zufrieden war, überprüfte der Vampir zum letzten Mal seine geistigen Barrieren. Er wusste nicht, was ihn im Kopf eines Zauberers, der in der Lage war mit seiner Macht Dämonen zu verbannen, erwarten würde. Ein glühender Bannkreis, der ihn gefangen halten würde wie es mit Raculs Echo geschehen war? Wilhelm hatte wahrlich kein Bedürfnis, Erfahrungen wie Rogi Feinstichs geistige Abwehrmaßnahmen oder die perfide Falle, mit der Senrays Feuerdämon ihm erwischt hatte, erneut zu machen. Vorsichtig, um nicht aus Versehen verborgene mentale Fallen auszulösen, streckte Wilhelm sein Bewusstsein aus und ließ es durch seine Finger in den Kopf des Zauberers fließen.
Der Übergang war ruckartig. Wilhelm stolperte in undurchdringliche Schwärze und stellte fest, dass er im Nichts schwebte. Um ihn herum gähnte absolute Leere, die in einer rhythmischen Vibration pulsierte. Das ruhige, gleichmäßige Pochen eines menschlichen Herzens, überlagert von Atemzügen, die kaum merklich immer wieder ins Stocken gerieten das Echo eines unangenehmen Stechens mit sich trugen. Milde Panik stieg in Wilhelm auf. Hatte er trotz aller Vorsicht eine Abwehrmaßnahme ausgelöst und war nun dazu verdammt, auf ewig hier in der Finsternis zu treiben?
"Wilhelm?" kam Raistans Stimme aus dem Nirgendwo. "Bist du das? Kannst du hören was ich denke?"
Ein wohliger Schauer lief über Wilhelms Rücken, als er die leise, brüchige, aber trotzdem durchdringende Stimme vernahm.
"Ja, ich bin hier." antwortete er. "Und hier gibt es absolut nichts. Ich schwebe in einer schwarzen Leere!"
"Oh." in der Stimme des Zauberers schwang ein Hauch von Verlegenheit mit. "Das liegt wahrscheinlich an der Meditation. Dabei geht es darum, seinen Geist zu entspannen, kontrolliert zu atmen und an nichts zu denken. Aber faszinierend, dass es anscheinend auch Auswirkungen auf geistige Eindringlinge hat."
Wilhelm lächelte in der Schwärze. Er bewunderte den unbändigen Forschungsdrang des kleinen Zauberers und seinen scharfen, analytischen Verstand, der aus jeder Situation noch eine brauchbare Information herausfiltern konnte.
Zuerst unmerklich wurde es heller und Konturen begannen, in der Dunkelheit Gestalt anzunehmen. Gleichzeitig spürte Wilhelm festen Boden unter seinen Füßen. Vor seinen Augen schälte sich ein Zimmer aus den Schatten. Es war kein besonders großer Raum und sein Erscheinungsbild wirkte nüchtern und melancholisch. Hohe, ordentlich eingeräumte Bücherregale aus dunklem Holz säumten die weiß gestrichenen, ansonsten schmucklosen Wände. Das einzige weitere Möbelstück war ein ebenfalls hölzernes Schreibpult in der Mitte des Raumes, auf dem ein dickes Buch lag. Schwere Ketten und ein großes, eisernes Vorhängeschloss sicherten das Buch sowohl gegen Diebstahl als auch unbefugtes Aufschlagen.
Gründlich musterte Wilhelm die sorgfältig geschrubbten Holzdielen um sicher zu gehen, nicht versehentlich in einen magischen Kreis zu treten. Dann trat er an das Pult heran und warf einen genaueren Blick auf das so sorgfältig verschlossene Buch. Es war in dunkelblau gefärbtes Leder gebunden und in geschwungener Schrift prangte ein Name darauf. Raistan Adelmus Quetschkorn.
Ehrfürchtig hielt der Vampir für einen Moment inne. Dort, direkt vor ihm, lag das Allerheiligste dieses wundervollen Menschen. Auch wenn es ihm verwehrt war, darin direkt zu lesen - Niemand hatte etwas davon gesagt, dass er nicht zumindest vorsichtig davon kosten durfte. Von hungriger Erregung gepackt streckte Wilhelm seine Hände aus und legte sie auf den Buchdeckel.
Zuerst spürte er gar nichts. Dann begannen zarte Schleier von Emotionen, sein Bewusstsein zu streifen wie die drapierten Lagen eines feinen Batistnachthemds die Beine einer Dame. Die dominante oberste Lage fühlte sich kühl und nüchtern an und Wilhelm erkannt ohne Mühe den scharfen, analytischen Verstand, der Raistans Denken und Handeln so tief prägte. Gleich darunter spürte er die rastlose prickelnde Neugier, die dafür sorgte, dass dieser außerordentliche Verstand immer wieder herausgefordert wurde. Der Vampir lächelte versonnen. Einen solchen kühnen Forschergeist berühren zu dürfen war eine Ehre ohnegleichen. Behutsam tastete er sich weiter vor.
Ein ungewöhnlich dickes Band, das nach außen führte, zog seine Aufmerksamkeit auf sich und er streifte es mit seinen Gedanken. Vollmond. Ein warmes, felliges Gewicht auf den Füßen kurz vor dem Einschlafen. Etwas, das tiefer ging als Freundschaft. Eine Wölfin, die ihre Wahl getroffen hatte. Respektvoll zog sich Wilhelm zurück. Das letzte was er wollte war, Nyria Maior zu verärgern, eine der wenigen Personen im Rettungszirkel die ihm gegenüber noch keine offensichtlichen negativen Gefühle hegten. Dennoch verspürte er einen leichten Stich in der Brust. Auch wenn solche Sachen unter Werwölfen anders abliefen als unter Vampiren - Nyria hatte ohne Herausforderung ihr Revier markiert und damit gehörte Raistan nach den alten Gesetzen ihr. Letztendlich bedeuteten Wilhelm diese antiquierten Gesetze wenig, aber wollte er sich, wenn es darauf ankam, wirklich mit Nyria, einer mit allen Anhkwassern gewaschenen Stadtwerwölfin anlegen? Wenn Raistan durch ihn zu Schaden kam würde er sich vermutlich wünschen, dass Senrays Dämon ihn zuerst in seine feurigen Klauen bekommen hätte. Zähneknirschend musste er es akzeptieren: Nyria war vor ihm da gewesen. Und irgendwie hatte sie es auch geschafft, sich trotz ihrer bisher flüchtigen Bekanntschaft ein Fundament für seinen Respekt zu verdienen. Sie wusste, wie der Hase in Ankh-Morpork lief und wie man die ungeschriebenen Gesetze der Stadt so hinbog, dass man mit möglichst wenig Aufwand sein Ziel erreichte. Vielleicht sollte er sich bei Gelegenheit einmal gründlich mit ihr unterhalten. Nyria Maiors Wohlwollen bot eine Menge Potential. Unter anderem die Möglichkeit, auch nach Ophelias Rettung öfter mal Raistan Quetschkorn über den Weg zu laufen...
Wilhelm öffnete sich den nächsten emotionalen Streiflichtern und was er spürte empörte ihn zutiefst. Wie konnte dieses wunderbare, faszinierende Geschöpf bloß glauben, langweilig und uninteressant für seine Mitlebewesen zu sein, nur weil er lieber beobachtete als redete und geistreiche Witze zur richtigen Zeit nicht seine Stärke waren? Gerade diese völlig ungekünstelte Schüchternheit war doch ein Teil seines unwiderstehlichen Charmes! Wilhelm seufzte tief. Genau die gleichen Selbstzweifel plagten auch Senray. Dabei waren es doch unter anderem ihr schüchternes Stottern und ihr zartes Erröten, das sie so liebens- und schützenswert machten! Nur mühsam widerstand er der Versuchung, hier und da behutsam etwas in die richtige Richtung zu zupfen. Aber er hatte kein Recht dazu. Er konnte die Grenzen der Abmachung voll auskosten, überschreiten durfte sie jedoch nicht.
Der nächste metaphorische Batistschleier traf ihn zu seiner Verblüffung wie ein mit aller Kraft geschwungener zwergischer Streithammer und Wilhelm zuckte unwillkürlich zusammen als er vollends realisierte, was für ein eiserner Wille in diesem schwachen, so zerbrechlich wirkenden Zauberer steckte. Unwillkürlich musste der Vampir an eine wassergetriebene Sägemühle an einem reißenden Flusslauf denken, deren messerscharfes Blatt sich gnadenlos durch alles fräste, was in ihre Bahn gelegt wurde. Solange die Angelegenheit nicht völlig ausweglos war, gab Raistan eine Sache nicht auf. Und wehe denjenigen die es wagten, sich ihm in den Weg zu stellen. Selbst wenn es ein eigener schwacher Körper war. Es war eine Frage des Stolzes: Lieber ertrug er mit zusammengebissenen Zähnen Schmerzen und andere Unannehmlichkeiten als vor anderen Leuten Schwäche zu zeigen. Wilhelms Respekt vor dem kleinen Zauberer wuchs noch mehr als er sich vorsichtig weiterhangelte. Von einer solchen eisernen Selbstbeherrschung konnte selbst so mancher Vampir nur träumen. Und dann machte er sich noch solche Sorgen, von anderen für langweilig gehalten zu werden? Wilhelm kam immer noch nicht darüber hinweg.
Ein weitere emotionale Wand traf ihn. Gerechtigkeit. Personen die dafür bezahlen sollten, was sie angerichtet hatten. Ein Dolch. Eine Kehle. Rache für einen unendlichen Verlust. Ein tiefes Seelenband zwischen zwei Zwillingsbrüdern, der urplötzlich zerrissen und zum Verstummen gebracht wurde. Das schlechte Gewissen, am Leben zu sein während derjenige, der ein so viel erfüllteres Leben hätte leben können, tot war.
Wilhelm spürte, wie Tränen über die Wangen seines inneren Selbst liefen. Kein Wunder, dass Raistan so selten lächelte und er konsequent die Farbe der Trauer trug, die ihm so gar nicht stand. Wilhelm hatte in seinem langen Unleben genug seelische Wunden bei Menschen gesehen um zu erkennen, dass es bei einer so tief in das ganze Selbst einschneidenden Verletzung nicht möglich war, diese jemals vollständig zu heilen. Hilflos ballte er seine Hände zu Fäusten. Ausgerechnet dieser unglaubliche, wunderbare Zauberer hatte ein so tragisches Schicksal nicht verdient! Gab es da unten, in den tiefsten Tiefen seines Wesens, nicht noch irgend etwas Schönes? Immer noch erschüttert griff Wilhelm nach dem nächsten Emotionsschleier.
Er spürte sofort, dass etwas anders war. Dieses zerfaserte, durchtrennte Band gehörte nicht zu Raistans Selbst. Der Nachhall einer uralten Präsenz haftete den mentalen Schleiern an und plötzliche Panik durchzuckte Wilhelm. Hatte Racul sich so tief in Raistans Bewusstsein verankern können? Vorsichtig tastete er sich näher heran. Ein Faden, der den Hauch eines viele Jahrhunderte alten Grabes mit sich trug streifte ihn. Aber dieser Faden hatte nichts von der alles erdrückenden Dominanz in sich, die Racul auszeichnete. Wer auch immer dieses Band einst geknüpft hatte, war geduldig. Langsam aber unerbittlich hatte er seine messerscharfen Klauen ausgestreckt und sie in Raistans Lungen gerammt um ihn langsam aber sicher zu töten...
Wilhelm riss seine Hände von dem Buch und sein Bewusstsein wurde zurück in die imaginäre Bibliothek geschleudert. In ihm loderte die heiße Flamme der Wut. Wie konnte dieses unbekannte Ungeheuer es nur wagen, Raistan so etwas anzutun? Dieses so kostbare Leben zerstören zu wollen? Zum Glück hatte irgendwas es aufgehalten, bevor es sein Werk vollenden konnte. Aber nichtsdestotrotz, der Schaden war bereits unumkehrbar angerichtet. Dies war also der wahre Grund für die Schwäche, die er als so verlockend empfunden hatte. Den manchmal stockenden Atem und das Stechen bei jedem Atemzug, dessen Echo er in der Finsternis von Raistans Konzentration auf sich selbst gespürt hatte. Von einer Welle des hilflosen Frustes überrollt ließ sich Wilhelm gegen das Pult fallen.
"Wilhelm?" unterbrach in diesem Moment Raistans körperlose Stimme seine Gedanken. "Bist du noch da?"
"Ich... bin noch hier." Der Vampir sammelte sich und die improvisierte Ausrede setzte sich fast von allein zusammen. "Ich habe eben einen Blick auf deine allgemeine Persönlichkeit geworfen. Dort habe ich keinerlei Indizien gefunden, dass Racul dort etwas manipuliert haben könnte."
"Das beruhigt mich schon mal." Raistans Stimme klang erleichtert. "Kann ich sonst noch etwas tun um dir zu helfen?"
"Danke, aber ich komme schon klar." antwortete Wilhelm. "Ich schaue mich erst einmal weiter um. Kann ich mich einfach melden, wenn ich weitere Fragen habe?"
"Sicher. Übrigens, das Ganze ist höchst spannend, sich mit jemandem einfach nur über ausformulierte Gedanken unterhalten zu können. Können sich Vampire gegenseitig auch einfach nur Bilder von Erinnerungen schicken? Das scheint mir sehr praktisch zu sein, denn ich habe schon öfters die Erfahrung gemacht, dass bei den Studenten ein gutes Bild mehr Aussagekraft hat als eine umständliche Beschreibung."
"Was ein einzelner Vampir für exakte mentale Fähigkeiten hat ist genau so unterschiedlich wie Charaktermerkmale bei Menschen." erklärte Wilhelm diplomatisch. "Hast du mitbekommen, dass niemand Mina von Nachtschatten angesprochen hat als es um die Frage ging, wer sich Rogi Feinstichs Kopf anschaut? Sie ist einfach längst nicht so gut darin wie ich."
"Verstehe."
Wilhelm lauschte noch eine Weile, doch von Raistan kam keine weitere Antwort. Redet wenig und denkt sich seinen Teil, ging Wilhelm durch den Kopf. Entschlossen zupfte er den exquisiten Anzug zurecht, den sein inneres Selbst trug. Was er soeben über Raistan erfahren hatte, ging ihm zutiefst an die Nieren und es wurmte ihn, diesem sein tragisches Schicksal so tapfer meisternden jungen Mann nicht in dem Umfang helfen zu können wie er es wollte. Am liebsten hätte er Raistan aus purem Reflex heraus auf ein Lager aus weichen Kissen gebettet, ihm erlesene Leckereien vorgesetzt und ihn vor allen Unbillen der Scheibenwelt beschützt. Aber mittlerweile wusste er genug über den jungen Zauberer um zu verstehen, dass er genau eine solche Behandlung nicht wollte und wie sehr es ihn frustrierte, dass ihn der Kommandeur kategorisch vom eigentlichen Rettungseinsatz ausgeschlossen hatte. Insgeheim musste Wilhelm allerdings zugeben, dass er froh über die Entscheidung des Kommandeurs war. Er würde schon genug damit zu tun haben, Senray und damit sein eigenes Unleben zu beschützen. Und dabei auch noch einen Beitrag zur Rettung Ophelia Ziegenbergers zu leisten. Eine weitere Person, die es geschafft hatte, etwas in seinem tiefsten Inneren zum Schwingen zu bringen und damit sein ganzes in sorgfältig geordneten Bahnen laufendes Unleben umgekrempelt hatte. Ophelia Ziegenberger, die den Launen eines Uralten und seines charakterlich äußerst fragwürdigen Assistenten hilflos ausgeliefert war.
Die einzigen weiteren potentiellen Spuren boten die Bücherregale. Wilhelm trat an das erste Regal zu seiner Linken heran und musterte die Titel auf den Buchrücken. Verwandlungszauber. B-Raum-Theorie Teil 1. Feuerbälle. Im Alltag nützliche Zaubersprüche. Klonk-Strategien. Nein, dieses Regal würde ihm auf der Suche nach Spuren von Racul nicht weiterhelfen.
Das nächste Regal enthielt Bücher, die Personen zugeordnet waren. Nyria lautete der Titel eines der dicksten Werke. Auch das Buch Araghast Breguyar zeichnete sich nicht gerade durch eine geringe Seitenzahl aus. So sehr es Wilhelm auch in den Fingern juckte, einen Blick auf Raistans Betrachtung seines obersten Vorgesetzten zu werfen, er widerstand der Versuchung. Dies war nicht der Grund, weshalb er hier war.
Schon als Wilhelm auf das dritte Regal zutrat spürte er, wie sich die melancholische Grundstimmung des Zimmers um ihn zusammenballte. Die Bücher, die hier standen, waren nicht dazu gedacht, einem potentiellen Leser Freude zu bereiten. Als erfahrener Kopfreisender erkannte Wilhelm sofort was er sah. Dies waren die dunklen Erinnerungen, der Stoff aus dem die Alpträume der Menschen gemacht waren. Und es tat Wilhelm in der Seele weh festzustellen, dass ausgerechnet Raistans imaginäres Bücherregal in dieser Hinsicht sehr gut gefüllt war.
DINGE aus den Kerkerdimensionen. Dieses Buch schien es darauf abgesehen zu haben, sich in Wilhelms Blickwinkel zu schleichen. Egal welches Regalbrett er untersuchte, immer lauerte das in eitergrünes Leder gebundene Werk mit den seltsamen ineinander zerfließenden Zeichen auf den Buchrücken, die trotzdem in seinem Bewusstsein den Titel deutlich wiedergaben, gerade noch in seinem Sichtfeld. Öffne mich, flüsterte eine hypnotische Stimme am Rand seines Hörbereichs. Und ich werde dir Geheimnisse offenbaren, von denen du nie zu träumen gewagt hast!
"Hör nicht drauf!" Raistans Stimme traf Wilhelm wie ein Peitschenhieb und der Vampir zog erschrocken seine Finger zurück die er, wie er zu seinem Erschrecken feststellte, bereits unbewusst nach dem Buch ausgestreckt hatte. "Wenn du diese Erinnerungen anschaust, werden sie dich in den Wahnsinn treiben und das ist genau das, was sie wollen!"
Rein reflexartig trat Wilhelm einen großen Schritt zurück. "Ist das... eine unbeabsichtigte Falle gewesen?" fragte er vorsichtig.
"Nein." antwortete ihm Raistan und in seiner Stimme schwang ein Hauch von Traurigkeit mit. "Es sind nur Erinnerungen. Sie sind ein Teil von mir und ich bin mit ihnen fertig geworden. Aber anscheinend haben sie doch eine Art Eigenleben. Mach einfach weiter bei dem, was du gerade gemacht hast. Ich sorge dafür, dass sie dich nicht weiter belästigen."
Wilhelm wartete einige von Raistans Herzschlägen ab und warf dann einen vorsichtigen Blick auf das Bücherregal. Das so verlockende Buch mit dem verstörenden Einband war spurlos verschwunden. Der Vampir kniff die Augen zusammen und zählte langsam bis zehn. Dann wagte er einen erneuten Blick. Immer noch keine Spur des Buches. Wilhelm hatte von den Dingen aus den Kerkerdimensionen gehört. Sie bestanden größtenteils aus Tentakeln und stellten im Gefüge des Multiversums das absolute Chaos und den personifizierten Wahnsinn dar. Und Raistan behauptete, einfach so mit ihnen fertig geworden zu sein. Langweilig und uninteressant. So ein Blödsinn! Wehe der Person die noch einmal wagte, dieses zu behaupten!
Vorsichtig näherte sich Wilhelm erneut dem Regal und überflog die Titel. Sto-Ebene. Kohl. Robin Picardo. Baron von Offlerberg. Ophelia Ziegenberger. Beinahe automatisch streckte Wilhelm seine Hand aus und griff nach dem noch recht neu aussehenden Buch. Seine Hand strich über den edlen Einband aus rauchgrauem Brokat und er erinnerte sich an ihre Stimme in seinem Kopf. Die Herzensgüte mit der sie ihren Mitlebewesen begegnete. Ihre Entschlossenheit, alles zu tun damit das unselige Gedankenleck geschlossen werden konnte. Ihre wachsende Verzweiflung als sich ihr Wachhausarrest immer mehr in die Länge zog und keines der Mittel, die ihre Kollegen an ihr ausprobieren, Erfolg zeigte. Ja, so würde sie aussehen, wenn sie ein Buch wäre. Und wenn er etwas über Raculs potentielle Manipulation von Raistans Bewusstsein herausfinden wollte, führte der Weg zwangsläufig über Ophelia Ziegenberger. Ein selbstzufriedenes Lächeln spielte um Wilhelms Lippen. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als dieses Buch, das seine Neugier so unerhört anstachelte, aufzuschlagen. Beschwingt trug er seine Beute zum Schreibpult und legte sie neben dem zugeketteten Zusammenfassung von Raistans Persönlichkeit ab. Dann öffnete er mit vor Erregung zitternden Händen das Buch Ophelia. Kaum dass er den Deckel einige Zentimenter angehoben hatte, wurde er von einem alles mit sich reißenden Sog gepackt und von dem Buch verschlungen.
Als die Welt um ihn herum wieder klar wurde stellte er fest, dass er erhöht auf einer Art Balken saß und von oben in ein schwach beleuchtetes Zimmer hinabblickte. Die Einrichtung sagte ihm, dass es sich um eines der Büros im Wachhaus handeln musste, auch wenn es keines war, das er schon einmal betreten hatte. Hinter einem mitgenommenen Schreibtisch saß ein hagerer Wächter in einem grünen Uniformhemd, das glatte, schwarze Haar im Nacken zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden. Ein einzelner goldener Stern zierte seine Schulterklappen. Wilhelm rieb sich innerlich die Hände. Raistans Erinnerungen hatten ihn geradewegs in das Büro des Kommandeurs geführt. Das mochte interessant werden.
"Herein." sagte Breguyar in diesem Moment und zwei Wächterinnen traten ein.
Bei der ersten handelte es sich unverkennbar um Rogi Feinstich, die zu diesem Zeitpunkt die grüne Uniform der FROGs trug. Die zweite war... Ophelia Ziegenberger! Wilhelm wurde sich schlagartig bewusst, dass es das erste Mal war, dass er die echte, wahrhaftige Ophelia, so wie sie leibte und lebte, zu Gesicht bekam - nicht nur ein flüchtiger, panischer Eindruck aus Jargon Schneidguts Erinnerung oder ein metaphorisches Opfer in Rogi Feinstichs Bewusstsein. Der Kommandeur erzählte etwas von einem Auftrag des Patriziers, aber Wilhelm hatte nur Augen für die Person, deren Gedanken er so oft gelauscht hatte und deren Verschwinden sein ganzes Unleben so gründlich umgekrempelt hatte. Was für ein anmutiges, edles Geschöpf sie war! Das schwere, tiefrote Haar war zu einer schlichten, aber effektvollen Frisur aufgesteckt. Im Gegensatz zu Rogi trug sie Zivilkleidung - einen dunkelgrauen wollenen Rock und eine Bluse mit auffällig hohem Stehkragen, dazu ein kurzes Cape, dessen Stoff sich anmutig um ihre schmalen Schultern legte. Ihr linker, seit dem Angriff Tschentschowitschs gelähmter Arm hing leblos an ihrer Seite herab und unter der Manschette der Bluse blitzte die Kante einer Versteifungsschiene hervor. Dieser Anblick versetzte Wilhelm einen Stich. So traurig, was dieser Idiot mit seinem wilden, unkontrollierten Hunger angerichtet hatte!
Während der Vampir noch darüber sinnierte, wie viel Schönes durch Dummheit und Unachtsamkeit schon beschädigt worden war, sah Ophelia plötzlich zu ihm auf. Ihre Blicke trafen sich und Wilhelm verlor sich in diesen großen rauchgrauen Augen. Er lag Verletzlichkeit in diesem Blick, aber auch Stärke, eine wache Neugierde und das große Herz, das Ophelia Ziegenberger für ihre Mitwesen hatte. Ob die Wächter auch nur die leiseste Ahnung hatten, was für ein Juwel von Mensch sich in ihrer Mitte befand und welche Last diese schmalen Schultern zu tragen hatten? In Wilhelm wallte eine Woge des Zorns auf seine Artgenossen auf. Schon vor der Entführung hatte sie viel zu viel Leid durch seine Art erfahren müssen.
Sie wandte ihren Blick ab und sagte mit ihrer sanften, melodischen Stimme etwas zum Kommandeur.
Bald, Ophelia, versprach Wilhelm ihr lautlos. Wir werden dich retten, versprochen! Und danach wird dir nie wieder jemand etwas antun!
Das Kommandeursbüro verschwamm vor seinen Augen und wurde durch eine düstere, bedrückende Gruft ersetzt. Im Schein einer Laterne sah er, wie Ophelia Ziegenberger zitternd und völlig apathisch auf einem hölzernen Sarg saß. Sie trug die gleiche Kleidung wie zuvor in Breguyars Büro und ihr Gesicht war bleich wie eine frisch gekalkte Wand. Rogi Feinstich, immer noch in FROG-Uniform, bemühte sich um sie. Gerade zog die Igorina eine klare Flüssigkeit in einer Spritze auf.
Wilhelm schluckte und unterdrückte seine in ihm aufsteigenden Beuteinstinkte. Diese wahrhaft exquisite Blässe! Diese Hilflosigkeit! Nein, beschwor er sich selbst. Ophelia Ziegenberger war keine potentielle Beute. Niemals. Sie stand über solchen profanen Dingen wie Hunger.
In einer Hand die Spritze haltend, an deren Nadel ein Flüssigkeitstropfen hing, knöpfte Rogi die Manschette von Ophelias Bluse auf, schob den Stoff zurück und enthüllte einen schmalen Unterarm. Mit einer gekonnten Bewegung bohrte sie die Nadel in das zarte Fleisch und drückte den Kolben herab.
Das Zittern in Ophelias Körper ließ fast augenblicklich nach und in dem Blick, den sie der Igorina zuwarf, die gerade ihre Ausrüstung wieder verstaute, lag so viel Wärme und Dankbarkeit, dass Wilhelm ganz warm ums Herz wurde. Seine Theorie, dass es ein ganz besonderes Band zwischen Rogi und Ophelia gab, wurde wieder einmal bestätigt.
Um ihn herum löste sich die Gruft auf und verwandelte sich in einen großen, mit allerlei seltsamem Krempel voll gestellten Saal. Größtenteils noch in der Pubertät steckende Zauberer eilten mit wehenden Gewändern geschäftig um ihn herum und riefen sich Dinge zu, und ein leises, die Geräuschkulisse überlagerndes Rauschen drang an Wilhelms Ohren. Er erkannte Fähnrich Rea Dubiata, die Abteilungsleiterin der SEALS, die mit skeptischer Miene neben einer wahrlich absonderlichen Konstruktion stand. In diesem Gebilde, das vermutlich einmal ein Stuhl gewesen war, saß Ophelia Ziegenberger und wirkte äußerst angespannt. Sie war nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet und Wilhelm hatte freien Blick auf die lange, böse aussehende Narbe, die hinter ihrem linken Ohr begann und über die Seite des Halses bis weit unter das Schlüsselbein reichte. Missbilligend verzog er das Gesicht. So etwas einem Spender anzutun war wirklich extrem schlechter Stil, egal wie ausgehungert man war. Es war nur recht und billig, dass Tschentschowitsch für seine Tat regelmäßig finanziell zur Ader gelassen wurde.
Auf ein unsichtbares Zeichen hin fielen die Nachwuchszauberer wie ein bunter, meistens rundlicher Bienenschwarm über Ophelia her und begannen, zahlreiche kleine Metallplättchen an den bloßen Stellen ihres Körpers zu befestigen. Wilhelm verstand. Dies war das berüchtigte Experiment, das Raistan durchgeführt hatte um die Ursache für das Gedankenleck zu finden und dabei auf die offene Verbindung zwischen Ophelia und Racul gestoßen war. Nachdenklich beobachtete er, wie eine käfigartige, mit vielen Schrauben versehene Vorrichtung auf den Kopf der Wächterin gesetzt und befestigt wurde. Auch wenn er sich sicher war, dass Raistan genau gewusst hatte, was er tat - Ophelia wirkte so verloren unter all diesen Anschlüssen und Leitungen und Wilhelm bewunderte ihren Mut, sich auf dieses Experiment mit all seinen unangenehmen Nebenwirkungen eingelassen zu haben, gewachsen aus ihrer Verzweiflung, dem so sehnlichen Wunsch, endlich einen Hinweis darauf zu erhalten, was die Ursache ihres Problems war.
Eine unsichtbare Kraft packte Wilhelm und schleuderte ihn in ein Chaos aus Licht, in dem Begriffe wie oben und unten sämtliche Bedeutung verloren. Das Rauschen, das eben noch ein leises Hintergrundgeräusch gewesen war, dröhnte in seinen Ohren und der Vampir fühlte sich an das Krabbeln abertausender winziger Insekten erinnert. Wie ein Korken auf einem reißenden Fluss trieb Wilhelm dahin und wieder einmal stieg die schon bekannte Angst in ihm auf. Wo war er?
"Was?" erklang in all dem akustischen und optischen Chaos plötzlich eine ängstliche, verwirrte Stimme. Ihre Stimme. Und eine Sturzwelle aus Emotionen brach über den völlig unvorbereiteten Wilhelm herein und ihre Panik und Verwirrung fluteten seine Sinne.
"Ophelia!" brüllte er gegen das dröhnende Rauschen an. "Ich bin es! Wilhelm Schneider! Alles wird gut!"
"Du bist nicht er!" schrie sie entsetzt auf und eine erneute Welle der Panik schwappte über ihn hinweg. Dann verlor sie sich im Nichts.
Verzweifelt versuchte Wilhelm, in die Richtung zu schwimmen, aus der er glaubte die Sinneseindrücke erhalten zu haben, doch gab es hier an diesem Ort überhaupt so etwas wie Richtungen?
"Ophelia!" rief er wieder, dieses Mal sowohl mit seiner Stimme als auch mit seinen Gedanken.
Eine kalte Männerstimme trieb wie ein Eisberg auf Wilhelm zu. "...warne dich!" vernahm er die immer deutlicher werdenden Worte. "Ophelia! Lass das sofort sein oder ich..."
Wilhelm erstarrte. In dieser Stimme lag die konzentrierte Finsternis zahlloser Jahrhunderte und eine bedingungslose Dominanz die ihresgleichen suchte. Er erkannt sie sofort. Nur zu deutlich hatte sie sich nach der Begegnung in Rogis Kopf in sein Gedächtnis eingeprägt. Wilhelm hatte Racul Alexeij Sargolan Pada Ivanowitsch den Dritten von Ankh gefunden. Und er drohte Ophelia.
"Ich bin es nicht!" bettelte die junge Frau verzweifelt und sendete eine neue Welle von Emotionen aus. "Es ist nicht meine Schuld! Ich flehe dich an! Nicht der Käfig!" Wilhelm spürte es bis ins Mark. Ihre Hilflosigkeit und das Wissen, auf Gedeih und Verderb der Gnade dieses Uralten Vampirs ausgeliefert zu sein. Die unendliche Einsamkeit ihrer Gefangenschaft, die ihr förmlich die Lebensfreude aussaugte. Ein Fieber, das in ihrem Körper tobte und eine lähmende Schwäche.
Urplötzlich blitzte in sich unauslöschlich in seine Erinnerung brennender Klarheit ein Bild vor Wilhelms Augen auf. Er befand sich in einem aus schweren Eisenstreben bestehenden Käfig, der von einer dicken Kette gehalten von der Decke eines Gewölbes herabhing. Unter dem Käfig gähnte ein Abgrund, aus dem eine eisige, feuchte Kälte heraufstieg und den Geruch von Moder und Verfall mit sich trug. Eine Kälte, die seinen ganzen Körper taub werden ließ und im schwachen Licht der einzelnen flackernden Kerze keine anderen Gefühle zuließ als tiefste Verzweiflung...
"Wir werden sehen..." Raculs Stimme schnitt in Wilhelms Gehörgänge wie ein Messer mit gezackter Klinge und Etwas traf ihn mit voller Wucht. Das Bild des Käfigs stürzte in sich zusammen und Wilhelm wurde durch das Chaos gewirbelt, erneut ein hilfloser Spielball unbekannter Kräfte. Während er noch panisch versuchte, irgendeinen Orientierungspunkt zu finden, lichteten sich die Schleier und gaben den Blick auf eine am Boden kniende, zusammengesunkene Gestalt frei. Schwarze Gewänder aus schwerem Leinen hüllten den hageren Körper ein und gut schulterlanges, leicht gewelltes Haar verbarg das Gesicht. Die linke Hand war in verkrampfter Haltung auf die Brust gepresst.
Raistan! Wilhelm wollte losrennen und den offensichtlich starke Schmerzen leidenden Zauberer in seine Arme schließen, doch sein gesamter Körper war wie gelähmt.
In diesem Moment richtete sich Raistan mit letzter Kraft auf. Sein Gesicht war totenbleich und schmerzverzerrt, doch ein Feuer lodernder Wut brannte in seinen stahlgrauen Augen. Mit zitterndem Finger zeigte er auf etwas hinter Wilhelm, während Blut aus seinem Ärmel tropfte.
"Fahr! Ins! Pandämonium!" fauchte der junge Zauberer mit gefletschten Zähnen und brach endgültig zusammen.
"Neeeiiiiiin!" schrie Wilhelm als die Welt um ihn herum zusammenstürzte und er mit voller Wucht zurück in seinen eigenen Körper geschleudert wurde.

"Neeeiiiiiin!" Der plötzliche Aufschrei des Rekruten riss Raistan aus seiner Konzentration auf sein Inneres und jagte ihm einen gehörigen Schrecken ein. Er riss die Augen auf, nur um zu sehen wie Wilhelm seine Hände gegen den Kopf presste und aus dem Schneidersitz nach hinten kippte, als hätte ihn jemand einen kräftigen Stoß gegeben. Raistan sah auf seine eigenen Hände, die immer noch locker auf seinen Knien lagen. Er konnte es nicht gewesen sein.
"Wilhelm?" fragte er leise.
Er bekam keine Antwort. Der Rekrut lag mit vor Schrecken verzerrter Miene auf dem Rücken und starrte ins Leere.
"Wilhelm!" So schnell seine vom langen Sitzen und der Kälte des ungeheizten Zimmers steif gewordenen Gliedmaßen es erlaubten krabbelte Raistan zu dem Vampir.
"Was ist passiert?" fragte er besorgt und packte ihn an der Schulter um ihn zu schütteln.
Wilhelm reagierte sofort. Mit der Schnelligkeit einer zuschnappenden Schlange schoss seine Hand vor und krallte sich fest wie ein Schraubstock um Raistans Unterarm, genau über einer der Brandwunden. Der junge Zauberer biss die Zähne zusammen um nicht aufzuschreien.
"O-o-ophelia!" stammelte der Rekrut wie von Sinnen. "Der Käfig! Nicht der Käfig!"
Mit weit aufgerissenen Augen starrte er Raistan an und schien noch nicht wieder ganz zurück in die Realität gefunden zu haben.
"Wilhelm." versuchte der junge Zauberer es erneut. "Ich bin es. Raistan. Wir sind hier im Wachhaus. Der Käfig ist weit weg."
"Der Käfig..." murmelte der Vampir und schüttelte leicht den Kopf. "Sie ist so einsam dort... Und so verzweifelt..."
"Ich weiß." antwortete ihm Raistan. "Aber würdest du bitte meinen Arm loslassen? Du hast einen ganz schön kräftigen Griff. Das tut weh."
Wilhelm blinzelte verwirrt. Dann zog er urplötzlich die Hand zurück als hätte er sich an einem heißen Ofen verbrannt.
"Ohneinohneinohnein..." flüsterte er entsetzt. "Was habe ich bloß getan?"
Mir beinahe den Arm gebrochen, dachte Raistan. Aber wenn Wilhelm, so wie es klang, bei der Suche nach Raculs Spuren auf die Erinnerungen an das Experiment gestoßen war, konnte er ihm diese Reaktion nicht verdenken. Ihm selbst waren Ophelia Ziegenbergers Qualen immer noch nur allzu deutlich im Gedächtnis und fast jede Nacht schreckte er durch ihre verzweifelten Hilferufe aus dem Schlaf hoch.
Während er seinen immer noch schmerzenden Arm massierte, dachte Raistan fieberhaft nach. Wie bekam er Wilhelm am Besten wieder zur Vernunft? Bregs hätte bestimmt Bescheid gewusst, aber der lag vermutlich erstens schon im Bett und zweitens wäre er nicht begeistert von dem gewesen, was hier heute Abend passiert war. Nein, er musste sich selbst etwas einfallen lassen.
"Wilhelm." begann er einen neuen Versuch. "Hörst du mir zu?"
Der Rekrut war mittlerweile dazu übergegangen, sich die Schläfen zu massieren. Nach einer Denkpause nickte er vorsichtig.
"Also gut. Bleib bei mir und denk nach. Hat Racul es geschafft, Einfluss auf mich zu nehmen?"
Stumm schüttelte Wilhelm den Kopf.
Raistan fiel ein schwerer Stein vom Herzen als sich die nagende Sorge in seinem Unterbewusstsein verflüchtigte. Alles war gut gegangen. Der HEX-Schutzschild hatte gehalten.
"Danke, dass du das getan hast." sagte er. "Es tut mir leid, dass du dabei anscheinend all das abbekommen hast, was ich erlebt habe."
Wilhelm brachte ein schwaches Lächeln zustande.
"Ich habe sie zum ersten Mal richtig gesehen." sagte er leise. "So wie sie wirklich ist."
"Ophelia?" erkundigte sich Raistan.
Der Rekrut straffte sich und seine Selbstbeherrschung schien langsam zurückzukehren.
"Ophelia Ziegenberger." bestätigte er. "Und sie ist noch viel wunderbarer als ich sie mir bisher vorgestellt hatte."
Raistan stand auf und klopfte sich den Staub von der Robe. Es war spät, er war müde und erschöpft und ihm war kalt. Aber es hatte sich gelohnt. Die Erfahrung, einen Vampir in seinem Kopf zu haben war hochinteressant gewesen. Zuerst die Tatsache, dass Wilhelm anscheinend festgehangen hatte, als Raistan seinen Geist geleert hatte. Dann die Kommunikation rein durch Gedanken. Allerdings hätte die Geschichte für den Rekruten auch böse ausgehen können. Seine Erinnerungen an jene schrecklichen Tage des Falls Dreimal Glücklicher Fischimbiss, das wusste Raistan nun, besaßen ein Eigenleben. Und hätte er es nicht rechtzeitig erkannt und eingegriffen, hätte Wilhelms geistige Gesundheit dauerhaften Schaden nehmen können. Aber andererseits... Eine grimmige Falte bildete sich zwischen Raistans Augenbrauen. Falls sich wirklich einmal ein Vampir uneingeladen in seinen Kopf begeben sollte - nun wusste er, welche Erinnerungen er ihm entgegenschleudern musste um mit ihm fertig zu werden.

13.05.2017 11: 01

Magane

Sie musste irgendwie auf seinen gewaltsamen Übergriff reagieren, sonst könnte er glauben, dass es sich bei ihren Worten um eine leere Drohung gehandelt hatte. Sebastian durfte unter keinen Umständen glauben, er käme mit Gewalt durch. Aber wie konnte sie ihn schon dafür büßen lassen? Körperlich hatte sie ihm nichts entgegen zu setzen. Auf geistiger Ebene war er mit allergrößter Wahrscheinlichkeit sogar gefährlicher, als alle, denen sie bisher begegnet war. Da half nur konsequente Abschottung und hoffen, dass er diese nicht durchbrechen konnte. Sollte ihm das gelingen, sah es nicht nur für sie, sondern auch für den gesamten Rettungszirkel, übel aus. Das musste sie verhindern, koste es was es wolle. Dann blieb eigentlich nur die magische Ebene. Ein gut gezielter Feuerball hätte Sebastian vermutlich in die Schranken weisen können. Aber das war Zauberermagie. Selbst wenn sie den Spruch, mit dem man einen Feuerball bilden konnte, gekannt hätte, wäre sie dennoch nicht in der Lage gewesen, genügend Feuer dafür zu erzeugen, um jemandem auch nur eine angesengte Augenbraue zu verpassen. Die Unterschiede zwischen Hexen und Zauberern waren größer, als Außenstehende erahnen konnten. Hexerei basierte weitgehend auf Überzeugungskraft. Sie konnte Energie überzeugen in eine andere Richtung zu fließen. Aber wie sollte ihr das bei ihm helfen? Manche Hexen konnten mit ihren Kräften kämpfen aber da gehörte sie nicht dazu. So etwas hatte sie nicht gelernt. Schon allein deswegen, weil sich hier in der Stadt wohl kaum Gelegenheit zu solch einem Kampf bot. Davon abgesehen hatte sie schließlich nicht die klassische Hexenausbildung, soweit man davon in diesem Zusammenhang sprechen konnte, durchlaufen. Das meiste, was sie von ihrer Großmutter gelernt hatte, betraf die Kanten des Lebens: Geburt, Tod, Krankheit. Sich kümmern, da sein, begleiten, beruhigen, Schmerz nehmen, Kraft geben.
Schmerz nehmen und Kraft geben... ob das auch in umgekehrter Richtung funktionierte? Schmerz und Kraft waren beides Formen von Energie. Aber dazu musste sie ihn berühren und er musste stillhalten. Wenigstens lange genug, um den richtigen Weg zu finden. Einen Versuch war es wert.
Damit hatte sie eine mögliche Bestrafung gefunden, jetzt musste nur noch ein Schlachtplan her, um sich eine entsprechende Gelegenheit zu verschaffen. Er musste sie auf jeden Fall nahe an sich heran lassen, möglichst ohne sie erneut zu beißen. Auch wenn er sie jetzt schon länger in Ruhe gelassen hatte, war Magane sich nicht sicher, ob ihr Körper schon genug Zeit gehabt hatte, sich zu regenerieren.
Von sich aus würde sie den Vorfall nicht erwähnen, sollte er ruhig glauben, dass sie nicht wüsste, was passiert war. Dann würde er sich sicher fühlen. Und wer sich sicher fühlte, machte Fehler.
Kaum hatte sie diesen Plan gefasst, kam er auch schon. Obwohl sie die Tür die ganze Zeit aus dem Augenwinkel heraus beobachtet hatte, bemerkte sie ihn erst, als er schon im Raum war. Anscheinend genoss er es sehr, sie zu überraschen. Aber er würde sie nicht mehr mit dem Rücken zur Tür stehend überraschen.
"Guten Morgen, meine Rose!" Sein charmantes Lächeln konnte sie nicht mehr täuschen. Selbst, wenn sie anfangs noch an das Gute in ihm geglaubt hatte, so sah sie jetzt nur das Monster. So gesehen war sein Übergriff vielleicht eine glückliche Fügung gewesen. So wusste sie wenigstens, dass sie sich auf sein Wort nicht wirklich verlassen konnte.
Sie sah ihn herausfordernd an, sagte aber nichts. Hauptsächlich, um zu verbergen, dass sie sich ihrer Stimme nicht sicher war.
"Nun, ich war so frei, unserem Abkommen eine schriftliche Form zu geben. Wärst du so freundlich, den Vertrag zu lesen, ob alles in dem Sinne erfasst ist?" Er hielt ihr eine Aktenmappe entgegen.
Sie sah die Mappe ungläubig an. Konnte er das ernst meinen? Hielt er an dem Vertrag fest? Wollte er so tun, als hätte er sie nicht fast umgebracht? Sie nahm dennoch die Mappe entgegen und setzte sich zum Lesen auf den Stuhl am Kamin. Sie hegte die wage Hoffnung, er würde sie zum Lesen allein lassen. Aber das schien nicht sein Plan zu sein. Das wurde ihr spätestens bewusst, als er sich auf das Bett setzte und wie eine Katze vorgab, sie zu ignorieren.
Soweit Magane es bei der umständlichen Sprache erkennen konnte, entsprach dieser Vertrag der mündlichen Vereinbarung, ging aber an manchen Stellen darüber hinaus. So enthielt er eine Klausel zur gegenseitigen Erbschaft im Falle des Todes. Womit selbstverständlich wieder ihr Tod gemeint war. Auch, wenn das dort nicht stand. Das konnte ihr recht sein, sie hatte sowieso nichts zu vererben. Im Großen und Ganzen waren die Worte des Vertrages allerdings, dem Sinn nach, der Abmachung entsprechend.
"In Ordnung...", sie sah den Vampir an, der sich inzwischen auf dem Bett räkelte und damit nur noch mehr an eine Katze erinnerte. Er stütze sich etwas in die Höhe und sah sie an.
"Bereit, das so zu unterschreiben?" Seine Stimme klang gelangweilt, als hätte er ewig warten müssen. Vielleicht kam es ihm sogar so vor, Magane war nicht unbedingt die schnellste Leserin, auch wenn sie inzwischen kaum noch Probleme mit den längeren Worten hatte. Andererseits handelte es sich hierbei ja auch nicht um eine Kleinigkeit, da konnte er ruhig auch mal warten.
"Ja, ich unterschreibe das so."
Er stand auf und zog eine dunkle Schreibfeder und ein Messer - ihr Messer - aus seinem Jackett.
"Dann machen wir es richtig. Bindend nach den Gesetzen der Menschen und der Vampire!" Die Aussage jagte Mag einen kalten Schauer den Rücken herunter. Sie kannte sich mit Vampirrecht nicht aus. Oder anders ausgedrückt: Sie wusste nichts darüber. Dementsprechend hatte sie auch keine echte Vorstellung von der Tragweite eines solchen Vertrages. Nur konnte sie jetzt nicht mehr zurück.
Für Ophelia!
Sie nickte.
Mit einem breiten Raubtiergrinsen nahm er den Vertrag aus ihren Händen, ging zum Tisch, biss sich in den Finger, tauchte die Spitze der Feder in den einzelnen Blutstropfen und unterschrieb mit seinem eigenen Blut. Dann hielt er Magane Feder und Messer hin. Sie nahm beides entgegen und stach sich dann, ohne groß zu zögern, mit der Spitze des Messers in den kleinen Finger der linken Hand. Sie hatte Bedenken die Feder direkt in den entstehenden Blutstropfen zu tauchen und fing ihn daher mit der Klinge des Messers auf. Wer konnte schon wissen, wo die Feder vorher überall gewesen war?
"Mit vollem Namen?"
"Natürlich, wir wollen es doch richtig machen", der lauernde Unterton, als er dies sagte, entging ihr nicht und sie konnte nur mit Mühe ein Schaudern unterdrücken.
"Hoffentlich hast du genug Platz gelassen."
"Wie viel Platz kannst du dafür schon brauchen?"
"Mehr als in den meisten Formularen vorgesehen ist...", sie tropfte gleich noch einen zweiten Tropfen dazu, um genügend Material zur Verfügung zu haben. Dann tauchte sie die Feder ein und unterschrieb direkt neben seiner Signatur. Es war zwar neben seiner schwungvollen und etwas protzigen Unterschrift noch ausreichend Platz, zumindest wenn man klein schrieb. Aber das lag vor allem daran, dass 'Sebastian von und zu Perez', trotz aller Schnörkel, ein außergewöhnlich kurzer Name für einen Vampir war. Sie begann mit 'Enaga Mim (gen. Magane) Schnitzer' in der für sie normalen Schrift, klein und akkurat, und setzte dann noch kleiner 'geb. Drachenzüchtertochter, verw. Schneyderin' darunter. Insgesamt wirkten die beiden Signaturen gleich groß. Magane sah sich ihre noch einen Moment an. Sie kam nicht oft in die Verlegenheit, mit vollem Namen zu unterschreiben. Und in dieser Form hatte sie es bisher überhaupt nur einmal getan. Aber bevor sie in den Erinnerungen versinken konnte, die durch die einzelnen, sonst nicht benutzten, Elemente ihres Namens hochkamen, wurde ihr bewusst, dass Sebastian schon wieder hinter ihr stand. Er sah über ihre Schulter und klappte die Aktenmappe zu.
"Jetzt, wo das erledigt ist, können wir endlich zu meinem eigentlichen Anliegen kommen." Er legte beinahe sanft den Arm um sie und drehte sie um.
Magane zitterte leicht. Gänzlich unterdrücken ließ sich ihre Angst einfach nicht. Dabei war er heute so charmant, dass man fast vergessen konnte, welch eine Bestie in ihm schlummerte. Fast, nur fast. Sie würde nicht mehr darauf hereinfallen und sie war vorbereitet, was auch immer er diesmal wollte.
"Und was wäre dein eigentliches Anliegen, heute?"
"Lass mich in deinen Kopf!" Er strich ihr Haar zur Seite und betrachtete die blassen Narben an ihrem Hals.
"Warum? Was versprichst du dir davon?"
"Ich würde gerne etwas ausprobieren aber dazu musst du mich reinlassen."
"Du wirst nicht versuchen, meine Geheimnisse zu lesen?"
"Nein."
"Okay. Aber wenn ich dich bitte zu gehen, dann gehst du!" Sie atmete tief ein und versuchte, ihren Geist zu leeren wie beim Pendeln. Was aber deutlich schwieriger war, wenn sie ein Vampir im Nacken kitzelte.

Er konzentrierte sich auf die Grenze zwischen ihrem und seinem Bewusstsein und sah wieder die glatte steinerne Oberfläche. Dann erschien eine kleine Öffnung, die sich auf ihn zu bewegte, ihn verschluckte. Sebastian fand sich in einem weißen leeren Raum wieder, in dessen Mitte Magane auf dem Boden saß.
"Was ist das hier", er sah sich verständnislos um.
"Das ist ein Ort, an dem keine meiner Erinnerungen sind. Ich meditiere hier. Absolut leer, bis auf das, was man mit rein bringt."
"Nicht ganz das, was ich wollte."
"Nein. Du wolltest an meine Erinnerungen und Gedanken. Da muss ich dich leider enttäuschen." Ihr geistiges Abbild grinste ihn frech an und er verspürte den unbändigen Wunsch, dieses Grinsen aus ihrem Gesicht zu wischen.
"Du vertraust mir nicht", eigentlich nicht weiter verwunderlich, fügte er in Gedanken hinzu, nur um es sofort zu bereuen, weil auch der Gedanke zu hören war. Zwar nur ein Flüstern aber verständlich. Er schloss für einen Moment die Augen um sich zu sammeln. Dies war ihr Geist, hier galten ihre Regeln. Er musste sich zusammenreißen. Als er die Augen wieder aufschlug, lächelte die Hexe ihn an.
"Nein, ich führe dich nur nicht in Versuchung."
Er setzte sich ihr gegenüber und versuchte die Außenwelt zu erreichen. Nichts. Stille, absolute Stille, beinahe genauso wie bei Ophelia, nur dass er es hier nicht mit Gewalt erzwingen musste, er musste nur darum bitten.
"Der Versuch ist jedenfalls gelungen. Hier ist es still, keine Gedanken von außen."
"Und das wolltest du testen, ob meine Barriere uns beide abschirmt?"
"Wie machst du das, wie hältst du die Welt draußen? Das sollten Menschen nicht können."
"Ich habe Jahre damit verbracht das zu lernen. Habe meine Jugend in der Gegenwart eines Vampirs verbracht, der mir eine Menge beigebracht hat, auch das hier... außerdem musste ich irgendwie die Kopfschmerzen abstellen, die Ophelias Problem bei mir verursacht."
"Du hörst sie also auch."
"Nein, ich bin nur ein schwacher Empath, ich höre niemanden..."
"Umso erstaunlicher, dass du es schaffst... und mit mir teilen kannst"
Dieses Menschlein war deutlich spannender, als er zunächst gedacht hatte. Mit wem hatte sie ihre Jugend verbracht? Wo waren ihre Erinnerungen? War die Barriere immer da? All diese Fragen konnte er so unterschwellig halten, dass sie nicht bis zu ihr vordrangen. Stattdessen fragte er: "Wieso ist das hier ein weißer Raum?"
"Weil ich es mir so vorstelle. Aber wenn es dir nicht gefällt, kann ich's auch ändern..."
Die Helligkeit blieb. Aber jetzt saßen sie beide in einem Käfig. Einem hängenden Käfig. Dem Käfig, in dem Ophelia eingesperrt gewesen war, sehr ähnlich.
Kaum hatte er an den anderen Käfig und Ophelia gedacht, änderte sich die Umgebung entsprechend. Es wurde kalt, zugig und dunkel und in einer Ecke kauerte ein jämmerliches Abbild von Ophelia.

Magane sah sich um, sie hatte schon früher erlebt, dass Gäste diese Umgebung beeinflussen konnten. Aber so extrem war es noch nie gewesen. Das war der Käfig den Raistan beschrieben hatte! Hätte sie noch weitere Beweise für Sebastians Schuld an dieser Unterbringung gebraucht, hätte sie diese jetzt gehabt. Wenigstens war Ophelia jetzt aus dem Käfig heraus und auf dem Wege der Besserung. Sie konzentrierte sich darauf, das Bild der zusammengekauerten Ophelia wegzuschicken. Das war nicht so einfach wie bei eigenen Erinnerungen, doch nach einigen Augenblicken waren sie wieder allein. Aber immer noch im kalten zugigen Käfig, über dem dunklen Brunnenschacht.
"Wie konntest du ihr das nur antun?"
"Du verwechselst mich mit jemandem mit Gewissen."
"Und es hat dir Spaß gemacht, sie so zu sehen", keine Frage, eine Feststellung.
Er antworte dennoch.
"Spaß ist vielleicht das falsche Wort..."
"Lüg mich nicht an!"
Sie tastete nach ihm, wohl wissend, dass er sich körperlich noch immer direkt vor ihr befand. So leicht es ihr eben möglich war, berührte sie seinen Oberschenkel und suchte nach dem richtigen Weg, die Energie des Schmerzes zu überzeugen, in ihn zu fließen. Als sie diesen gefunden zu haben glaubte, schickte sie einen kurzen aber starken Schmerzimpuls durch das Bein. Der Schmerz, den sie in all den Jahren selbst gespürt und von anderen genommen hatte, reichte locker aus für solche Schübe, die ihm zwar nicht ernsthaft schaden würden aber trotzdem weh taten. Sie stieß ihn gleichzeitig geistig von sich, um ihm keine Chance zu geben, sich mental zu rächen.
Als Mag de Augen öffnete und sich aus der Trance löste, lag Sebastian am Boden und lachte schallend.
Das war nicht die erwartete Reaktion.

Das hatte gesessen! Also hatte die hübsche Rose doch auch Stacheln. Warum er lachte, wusste er selbst nicht so genau. Aber dass er liegen blieb, um die hoffentlich kurzzeitige Bewegungsunfähigkeit des Beines, das sie erwischt hatte, zu kaschieren, durfte sie auf keinen Fall erfahren. Hinterher kam sie noch auf gefährliche Gedanken. Sehr langsam ebbte der Schmerz ab.
"Vielleicht sollte ich vermeiden, dich zu ärgern, meine Rose", er schenkte ihr ein schelmisches Grinsen, um zu überspielen, dass sie ihn kalt erwischt hatte. Beim nächsten Mal würde er außerhalb ihrer Reichweite bleiben. Zumindest, wenn er vorhatte, sie zu ärgern. Nicht, dass das grade geplant gewesen wäre!
"Ja, vielleicht solltest du das. Und vor allem solltest du mich nicht für wehrlos halten."
Da war es wieder, das angriffslustige Funkeln, das ihre Augen erstrahlen ließ. Die Wut machte sie noch aufregender. Wehrlos war sie also nicht, keine leeren Drohungen. Aber sie hatte dennoch nicht sofort auf seinen Übergriff reagieren können. Er musste sie also nur richtig überraschen, sie kalt erwischen, so wie sie ihn eben. Andererseits würde sie ihm dann eben bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit wieder eine verpassen.
Er versuchte möglichst unbemerkt den Fuß zu bewegen. Ja, es ging wieder. Wenn er es jetzt noch schaffte, schnell aufzustehen, ohne dass sie bemerkte, dass es ihm schwerfiel, dann konnte er einfach gehen und sie später dafür bezahlen lassen... oder er ließ sie nicht in dem Glauben, dass sie damit durchkommen könnte.
Sebastian sprang auf und verbarg durch die schnelle Bewegung geschickt, was sie vielleicht bei einer langsameren gesehen hätte. In einer fließenden, ebenfalls sehr schnellen Bewegung, zog er sie auf die Füße und schleuderte die aufsässige Hexe auf das Bett.

Zeit für den zweiten Teil ihres Plans. Was immer er jetzt, wo sie ihn wütend gemacht hatte, vorhatte, es würde nicht ohne Kontakt geschehen. Der Schmerzimpuls hatte sie sehr optimistisch gestimmt. Sie hatte befürchtet, dass das bei Vampiren viel schwieriger sein würde, aufgrund des untoten Kreislaufs. Aber diese Befürchtung war offenbar unbegründet gewesen. Die Energie hatte ihren Weg gefunden. Von nun an würde das leichter werden. Die vielen Übungen mit Senray hatten diese Fähigkeit zu so etwas wie ihrem Spezialgebiet gemacht. So oft hatte sie der kleinen Kollegin Ruhe eingeflößt. Sogar bei ihrer letzten Begegnung noch! Sie hatte immer gehofft gehabt, dass Senray in sich selbst die Ruhe finden würde, wenn sie nur genug von der ihren bekam. Nun war die Kleine auf sich allein gestellt. Hoffentlich machte sie keine Dummheiten...
Der Gedanke an Senray brachte sie nicht weiter. Sie war eine Hexe und sie musste sich auf die Aufgabe konzentrieren, die vor ihr lag. Sie war ausgesprochen dankbar, dass er sie diesmal nicht gegen eine Wand geschleudert hatte. Andererseits war sie nicht sicher, dass das Bett ein so viel besserer Platz war. Jedenfalls bot es quasi keine Ausweichmöglichkeiten und sein Blick gefiel ihr überhaupt nicht. Dieser enthielt zu viel kalte Grausamkeit.
Er beugte sich zu ihr herunter und lächelte sein eindrucksvollstes Raubtierlächeln.
"Ich werde wohl auf deine Hände achten müssen", er umfasste ihre Handgelenke mit jeweils einer Hand und zog ihre Arme nach oben, "vielleicht sollte ich dich auch einfach wieder fesseln?" Vielleicht hätte er das sogar getan, wenn dazu etwas Passendes griffbereit gewesen wäre. Aber so hatte Magane genau den direkten Hautkontakt, den sie brauchte.
Beinahe zeitgleich mit seinem Zubeißen, begann sie, ihm Kraft zu entziehen. Gestohlene Kraft war nichts, wovon sie auf Dauer hätte leben können. Und das Blut, das er von ihr nahm, konnte sie so auch nicht ersetzen. Aber wenigstens ließ sie auf diese Weise nicht mehr einfach nur passiv das Leben aus sich heraussaugen.
Sie konnte spüren, wie die fremde Energie von ihren Handgelenken aus durch ihren Körper strömte. Es war ein merkwürdiges Gefühl von Wärme, die sich langsam ausbreitete und welche die, durch den Blutverlust entstehende, Kälte verdrängte. Überall, wo die Wärme hingelangte, verstummten die Schmerzen und hinterließen nur ein sanftes Kribbeln. Sie bedauerte fast, dass er den Biss beendete, sie los ließ und sich aufrichtete. Sie wollte mehr, mehr von seiner Energie! Er schien unerschöpfliche Reserven zu haben und sie war noch immer angegriffen! Andererseits hätte das zwangsläufig bedeutet, dass sie von sich aus den Körperkontakt hätte forcieren müssen. Und dazu war sie noch nicht bereit. Nicht so kurz nach dem brutalen Übergriff. Es hatte sie sehr viel Überwindung gekostet, ihn so nah an sich heran und sogar in ihren Kopf zu lassen, ohne auf den Vorfall näher einzugehen.
Er räusperte sich.
"Meine Liebe, es war mir ein Vergnügen. Doch jetzt muss ich dich leider verlassen." Mit einer förmlichen Verbeugung wandte er sich zur Tür.
Magane verspürte keinerlei Impuls, ihn aufzuhalten. Sie wollte in Ruhe nachdenken. Der Energiehunger würde sich bei anderer Gelegenheit stillen lassen. Vielleicht hatte sie dann auch mehr Kontrolle über diese neuentdeckte Seite ihrer Fähigkeiten?
Sie hörte ihn die Tür von außen abschließen. Beim Gehen war er nicht mehr so peinlich auf Lautlosigkeit bedacht.
Mag legte sich etwas bequemer hin und betrachtete ihre Hände. Die selben vernarbten Hände wie zuvor, nichts Besonderes zu sehen. Sie konnte froh sein, dass diese Form der Magie keine sichtbaren Spuren hinterließ.
'Deine Hände werde ich wohl im Auge behalten müssen', hatte er gesagt und ihr mit Fesseln gedroht. Als ob das etwas bringen würde! Sie brauchte ihre Hände nicht frei zu haben. Auch, wenn sie damit gezielter handeln konnte. Selbst, wenn er sich wieder für Fesseln entschied... spätestens zum Beißen musste er sie berühren und lieferte sich ihr damit aus.
Mit Verwunderung stellte sie fest, dass sich an ihren Handgelenken deutliche Abdrücke seiner Hände abzeichneten. Noch waren sie rot aber sie würden blau werden. So etwas musste eigentlich weh tun. Aber sie spürte nichts. Zumindest keinen Schmerz. Ein Nebeneffekt des Energiediebstahls? Waren die entsprechenden Nerven durch den erhöhten Energiefluss überlastet?

Sebastian rieb sich vor der Tür die Hände, sie kribbelten. Die kleine Hexe hatte irgendwas versucht. Aber was es auch immer gewesen war, es konnte ihr nicht gelungen sein. Wenn es ihr gelungen wäre, hätte er das ja spüren müssen. Aber da war nichts. Er spürte nur das herrliche Prickeln ihres Blutes. Und dieses Prickeln war offenbar sogar stärker, wenn sie vorher Magie gewirkt hatte! Das war den Schmerz fast wert gewesen!
Jedenfalls hatte er ihr gezeigt, dass sie mit Strafe zu rechnen hatte. Auch, wenn der Vertrag sich lesen ließ, als wären sie gleichberechtigte Partner... es konnte keine Gleichheit zwischen ihnen geben! Er war der Meister und sie hatte ihm zu dienen. Das war die natürliche Ordnung zwischen Vampir und Mensch, zwischen Jäger und Beute. Ihre lächerlichen Versuche, ihn mit Magie in die Knie zu zwingen, änderten daran nichts.

14.05.2017 0: 44

Rogi Feinstich

Diesmal würde er ihr nicht davonkommen! Das war einer der Vorteile als Ausbildungsleiterin, sie wusste meistens genau wo ihre Rekruten gerade waren. Und diesmal saß Wilhelm Schneider am Tresen nicht allein!
Thaddäus von Abendfels hatte sie zuerst kommen gehört und stupste Wilhelm in die Seite um Haltung anzunehmen, während sie die Treppen vom Keller erklomm.
"Rekrut Schneider", sagte sie noch hinter den beiden Wächtern, "in mein Büro. Sofort!"
Zufrieden nickte sie ihm zu, als er ihr ohne ein weiteres Wort nach unten folgte. Der zurückgelassene Rekrut sah ihnen verwundert hinterher. Aber da Frau Willichnicht schon gegangen war, hatte auch er keinen Grund zu klagen.
Mit einem Fingerzeig deutete sie in ihr offenes Büro und der Vampir ging hinein, als wäre er auf direktem Wege zu seiner Hinrichtung.
Nun, das kam ganz darauf an, ob er endlich seinen Mund aufmachte.
Sie betrat schließlich auch ihre Zelle und schloss die Tür hinter sich. Mit einem weiteren Fingerzeig deutete sie auf den Stuhl und da er das Prozedere schon kannte, setzte er sich sogleich.
Sie stand inzwischen mitten im Raum und betrachtete ihn nachdenklich. Sein Blick war auf seine Hände im Schoss gerichtet und er schien sehr darauf bedacht, sie nicht anzusehen. Ein Grinsen stahl sich auf ihre Lippen, bei dem Gedanken an ihre letzte Begegnung in ihrer Zelle. Seine Zurückhaltung konnte ihr eigentlich nur Recht sein. Je nachdem, wie sich das hier entwickelte, war sie vermutlich von Vorteil.
"Waf läuft da zwischen dir und der Obergefreiten Rattenfänger?"
Für einen Moment sah er sie kurz an, bevor sein Blick wieder woanders hinhuschte.
"Ohne Antworten kommft du mir diesmal nicht davon. Ich weiß was ich gesehen habe!", sagte sie, ehe er noch zu einer Verteidigung ansetzen konnte. "Senray hat deinen Geist fo zugerichtet, nicht wahr? Waf also hat es damit auf sich?"
Sie hatte das Bild seiner Brandverletzung noch zu gut vor Augen und auch, wenn es seine eigene Schuld gewesen sein mochte... jemand im Team mit diesen Fähigkeiten war gefährlich!
"Ma’am?", sagte er und räusperte sich schnell, "Ich kann wirklich nicht darüber reden."
"Du kannst und du wirst! Denn, zu was auch immer die Obergefreite fähig sein mag: Ich will nicht, dass es uns Probleme macht!"
"Das wird es nicht!", sagte er schnell und viel zu hastig für ihren Geschmack.
"Wenn das fo ist, dann kannft du mir ja sagen, waf genau los ift. Oder willft du wirklich erft meine Version hören?"
Sie hatte das ungute Gefühl, dass diese seltsame Kopplung zwischen Senray und Ophelia, was Feuer betraf, sich eben nicht nur auf eine simple Kerzenflamme beschränkte. Damals hatte jeder schon genug Sorge gehabt, was Ophelias Gedankenleck betraf. Da war eine weitere Anomalität kaum weiter aufgefallen. Wenn das Ganze aber von Senray Rattenfänger ausging, war das eine ernstzunehmende Angelegenheit.
Die Igorina ließ sich frustriert in ihren Stuhl fallen, als ihr Gegenüber anscheinend immer noch der Meinung war, mit seinem Schweigen davon zu kommen.
"Fön, wie du willst, Rekrut", setzte sie schließlich an und atmete tief durch. "Wie auch immer ef vorgefallen sein mag, du warst in ihrem Kopf unterwegs und hast dir wortwörtlich die Finger verbrannt. Soweit fo gut?"
Keine Antwort. Sein Blick war immer noch von ihr weg gerichtet und sie musste gestehen, dass sie so nicht weiter kam.
"Rekrut Schneider, sieh mich gefälligst an!", befahl sie ihm schließlich und er gehorchte aufs Wort. "Antworte oder ich sehe mich gezwungen, dich deiner Pflichten der Wache gegenüber zu entbinden. Denn, wie wir beide wissen, sind deine Bewegründe für deinen Beitritt nicht gerade moralisch unbedenklich gewesen. Und auf den selben Gründen sehe ich eine Gefahr für Ophelias Rettung."
Endlich ging etwas in dem Vampir ihr gegenüber vor sich. Seine Nervosität war bei ihren letzten Worten deutlich gestiegen.
"Ich will doch nur helfen, Ma‘am", antwortete er schließlich und zupfte beiläufig an seinem Umhang. "Bitte, Ma’am das wäre ein Fehler. Ich kann mich nützlich machen."
"Dein Wort in Ehren, Rekrut. Doch, wenn du mir nicht antwortest, wird es Folgen haben und die nächfte, die Rede und Antwort stehen muff, ist die Obergefreite Rattenfänger. Ich habe lange genug für mich behalten, waf ich gesehen habe. Wenn auch nur die geringste Gefahr von ihr aufgehen sollte, dann müssen ef alle wissen. Daf follte dir doch klar sein."
"Nein!", rief er aus und seine Muskeln zuckten verräterisch, als wäre er auf dem Sprung. "Das wäre..."
Rogi sah ihn gespannt an und seine Haltung sackte schließlich in sich zusammen, als er ergeben nickte.
Endlich! Sie musste sich wirklich beherrschen, nicht triumphierend aufzuschreien. Dieses ganze Arbeitsverhältnis ging ihr schon genug an die Nieren. Doch sie war es auch den andern schuldig, dass sie die Angelegenheit nicht auf sich beruhen ließ.
"Senray ist einen Pakt mit einem Dämon eingegangen und eben jenem Wesen bin ich begegnet."
Rogi runzelte die Stirn, doch er hob beschwichtigend die Hände, damit sie ihn nicht unterbrach.
"Senray hatte keine Wahl. Ohne den Dämon wäre sie nicht am Leben, Ma’am! Und nicht nur das. Ich fürchte dieser Pakt beinhaltet auch eine Verschwiegenheitsklausel und sie konnte nur mit mir darüber reden weil..."
Er zögerte, doch die Igorina dachte nicht im Traum daran die Stille auszufüllen.
"Ich bin ebenfalls unter dem Bann des Dämons, Ma’am, aber das ist wie gesagt meine eigene Schuld! Ma’am, bitte! Die Angelegenheit ist schon kompliziert genug und ich möchte noch mal betonen, dass ich wirklich dankbar für deine Hilfe bin. Aber was passiert ist, betrifft nur Senray und mich."
"Ein Dämon?", fragte sie vorsichtig und er nickte. "Auf Feuer spezialisiert?"
Ein weiteres Nicken
Sie seufzte. Das waren mal Neuigkeiten! Die Wache hatte schon mit so manchem Dämon in Köpfen zu tun gehabt. Hauptmann Humpf McDwarf und der Dämon der ihm Heilkräfte verlieh, war dafür ein gutes Beispiel. Man konnte also nur hoffen, dass es sich mit der Obergefreiten ähnlich verhielt. Auch, wenn Wilhelms verbranntes Inneres ihr Anderes suggerierte.
"Ich werde mit dem Kommandeur darüber reden. Dann liegt es bei ihm", sagte sie nachdenklich und Wilhelm presste die Lippen aufeinander.
Er machte sich wirklich Sorgen um die Obergefreite. Wie auch immer diese Beziehung entstanden sein mochte, seine Angst um sie war anscheinend nicht nur durch den Dämon und seinem Pakt mit diesem begründet.
"Würde mich nicht wundern, wenn ein weiteres Gespräch auf dich... euch zukommt."
"Muss das wirklich sein?", fragte er zaghaft und Rogi lächelte ihn aufmunternd an.
"Ef ist nur zu eurem Beften."

16.05.2017 23: 42

Mina von Nachtschatten

Zwei Wochen! Zwei Wochen für etwas, von dem sie nicht mit absoluter Sicherheit sagen konnten, ob es überhaupt den gewünschten Effekt haben, geschweige denn sich überhaupt eine Gelegenheit zu dessen Anwendung ergeben würde. Nichts gegen die Kenntnisse der Assassinen... aber in diesem Fall erschienen Mina Nutzen und Aufwand in keinem besonders günstigen Verhältnis zueinander zu stehen. Und Kanndra hatte absolut recht: Innerhalb von 16 Tagen konnte eine Menge passieren. Während sie die Füße stillhalten mussten. Und dann noch dieses Argument mit Ophelias nicht vorhandener Transportfähigkeit... Die Vampirin knirschte frustriert mit den Zähnen. Immer, wenn sie glaubte, dass sich ihre Bemühungen nun endlich zügiger entwickelten, eins ins andere zu greifen begann und sie damit ihrem Ziel ein gutes Stück näher kamen - immer dann schienen sie vielmehr einen Schritt zurück zu machen. Andererseits: Hatte sie nicht selbst während der ersten Besprechung die FROG-Späherin mit den Worten aufzumuntern versucht, dass diese ganz richtig gehandelt hatte - indem sie nicht versuchte, mehr über die verdächtige Kutsche in Erfahrung zu bringen, als es in jenem Moment risikofrei möglich gewesen war? Dass vorschnelles Handeln eher eine Gefährdung als eine Hilfe für den gesamten Einsatz bedeutete? Das waren keine leeren Worte gewesen. Und wahrscheinlich genau die Denkweise, die auch jetzt wieder jeglicher unbedachter Bauchentscheidung vorzuziehen war. Nur: Warum musste die Diskrepanz zwischen dem, was man wollte und dem, was richtig war nur so verflucht groß sein? Es blieb der kleine Trost, dass Jules seine kurzfristige Reise nach Klatsch so schnell und effizient wie möglich gestalten würde, dessen war sich Mina sicher. Denn trotz all seiner nach außen zur Schau getragenen Unbeschwertheit und Nonchalance nahm der Assassine die Sache ernst. Rach zuliebe. Wenigsten darum mussten sie sich also keine Sorgen machen.
Die verdeckte Ermittlerin starrte noch einen Moment nachdenklich vor sich hin, bis sie sich einen Ruck gab und begann, Schreibzeug und Papier zurechtzulegen. Die Sache war entschieden, da gab es jetzt nichts mehr zu diskutieren. Egal, ob es einem gefiel oder nicht. Entsprechend machte es wenig Sinn, weiter damit zu hadern; sie würden die Wartezeit wohl oder übel über sich ergehen lassen müssen. Sie alle. Aber mit ein wenig Glück... vielleicht war an deren Ende die Truppe so weit vorbereitet, um als einsatzbereit zu gelten, irgendwie zumindest? Oder aber das genaue Gegenteil trat ein und sie waren sich noch mehr uneins als zuvor, etwa weil irgendjemand gemeint hatte, etwas ganz besonders Schlaues tun zu müssen...
Energisch vertrieb die Vampirin den Gedanken.
Hör auf, so pessimistisch zu sein!, schalt sie sich selbst. Das ist weder angebracht noch hilfreich.
Dennoch schob sich in diesem Zusammenhang das eine Bild der Besprechung in ihren Sinn, welches sie am meisten überrascht hatte: Senray Rattenfaenger saß freiwillig neben Wilhelm Schneider. Und machte dabei keinen besonders unglücklichen Eindruck. Die Frage, wann denn das bitte passiert war, war ziemlich rasch von der Absurdität dieser Konstellation verdrängt worden. Senray hatte panische Angst vor Vampiren, das war bisher immer recht offensichtlich gewesen und hätte nicht unbedingt der expliziten Bestätigung durch Magane bedurft. Dem widersprachen freilich die Bemühungen der jungen DOG um den vampirischen Kollegen, nachdem ihn der Ausflug in den Kopf Feldwebel Feinstichs derart mitgenommen hatte. Aber warum... Die logische Erkenntnis folgte auf dem Fuße: Wenn es doch nichts speziesbedingtes war - wofür hier augenscheinlich ein Beweis vorlag - dann war es etwas persönliches. Dann hatte Senray Angst vor ihr, warum auch immer. Und in diesem Fall musste das Problem aus der Welt geschafft werden, bevor sie sich in irgendwelche gefährlichen Untergründe begaben. Die kleine DOG-Wächterin brachte ihr gegenüber so schon kaum ein klares Wort heraus. Wie sollte das dann erst werden, wenn sie in einem Einsatz unter Anspannung keine Zeit für Samthandschuhe hatte? Interessanterweise hatte Senray bereits selbst um einen Gesprächstermin ersucht, die Nachricht war Mina vor ein paar Stunden per Klacker zugegangen. Wenn das kein Zufall war... So oder so, die Bitte kam ihr natürlich entgegen: Es würde sich die Gelegenheit bieten, ein klares Bild von der Situation zu bekommen, welches nicht nur auf Beobachtungen basierte; festzustellen, wie das eine zum anderen passte. Oder ob ihre Skepsis angesichts dieses seltsam einträchtigen Miteinanders zwischen Senray und Wilhelm vielleicht doch nicht jeder Grundlage entbehrte...
Doch bis es soweit war - ja, da gab es noch ganz andere Dinge, über die sie sich den Kopf zerbrechen konnte. Aktuelle Dinge. Dinge, die sich nicht mehr länger aufschieben ließen, da man sich mit gewissen anderen Personen noch für den späten Abend verabredet hatte, um die nämliche Vorarbeit in ein Resultat zu verwandeln.
Mina ließ den Blick über die Notizen gleiten, welche ihr Nyria mit einem breiten Grinsen und den Worten "Viel Spaß, Mä'äm" überreicht hatte: Carolina von Innstetten, verlobt mit einem Sohn derer von Krabbenweiß aus Sto Lat, Tochter eines wohlhabenden Antiquitätenhändlers aus Ankh-Morpork. Daneben war noch ein Wort notiert, welches aller Wahrscheinlichkeit nach "Schmuggler?" darstellen sollte, aber Nyrias schreibende Hand war im Eifer des Gefechts wohl der noch nicht ganz trockenen Tinte zu nahe gekommen. Ansonsten war die Handschrift der Gefreiten nämlich halbwegs lesbar - lesbarer zumindest als die Klaue so manches Vorgesetzten. Doch fast noch wichtiger als die schriftlich festgehaltenen Informationen war die beigelegte Ikonografie der betreffenden jungen Dame. So wie es aussah hatte Nyria diese aus irgendeiner Klatschzeitschrift gerissen, die unregelmäßigen Ränder sowie die wenigen Sätze auf der Rückseite, welche sich scheinbar auf ein gesellschaftliches Ereignis bezogen, sprachen dafür. Die Abbildung selbst zeigte ein Mädchen mit langem lockigem Haar, schmalem Gesicht und dem ungesund blassen Teint, welcher von Töchtern aus besserem Hause allgemein erwartet wurde. Den Kopf zur Seite gewandt präsentierte sie dem Betrachter jenes klassische Profil, welches man gemeinhin von den Statuen vergessener ephebischer Gottheiten kannte - wären da nicht die etwas zu großen, hellen und irgendwie wässrig wirkenden Augen gewesen. Unsicher irrte ihr Blick, so als habe sie jemand in dem Augenblick, da der Dämon im Kasten die Ikonografie angefertigt hatte, beim Namen gerufen. Ein für ihre Zwecke idealer Schnappschuss. Um die Zeit jedoch, die es gekostet haben musste, eine derart anschauliche Aufnahme Carolinas aus dem unübersichtlichen ankh-morporkanischen Blätterwald herauszufischen, war Nyria tatsächlich nicht zu beneiden. Genauso wenig, wie Mina es hinsichtlich der nun anstehenden Aufgabe für sich selbst empfand. Was hatte sie nur dazu bewogen, sich ausgerechnet diese Aufgabe selbst aufzuhalsen?
Noch immer etwas unentschlossen schob die Vampirin das Material auf ihrem Schreibtisch hin und her. Viel Spaß, Mä'äm Ja, wenn es nur an dem gewesen wäre... Ein Liebesbrief, so kitschig wie möglich... So einfach die Sache auch klang, so widerspenstig erwies sie sich in der Umsetzung. Oder vielleicht tat sie sich auch einfach nur besonders schwer damit. Denn zwei Dinge standen für Mina fest: Zum einen, dass sie so ziemlich die unromantischste Person war, die man sich vorstellen konnte. Und zum anderen war sie in den mittlerweile über 128 Jahren, welche sie auf der Scheibe zugebracht hatte, noch nie in die Verlegenheit gekommen, sich in dieser Hinsicht dichterisch betätigen zu müssen. Natürlich, objektiv betrachtet war es kein Problem, ein paar Zeilen zusammenzureimen, die einen gewissen, nun ja, Informationsgehalt besaßen und sich vielleicht auch ganz gut anhörten. Aber Gefühlsduselei, Herzschmerz, himmelhoch jauchzend? Das war nun wirklich ihre Sache nicht. Obwohl: Die damals durch Ophelia übertragenen Emotionen hatten ihr bisweilen einen recht lebhaften Eindruck in Sachen menschlicher Herzensangelegenheiten zu vermitteln vermocht... wie lange das nun schon wieder her war...
Die Vampirin klopfte ungeduldig mit dem hinteren Ende des Federhalters auf das leere Blatt Papier, welches vor ihr auf der Arbeitsfläche lag. Also einfach versuchen, die rosafarbenen Schlieren aus ihrer Erinnerung in Worte zu fassen? Wie schwierig konnte das schon sein? Sie setzte die Feder an, hielt inne, hob die Hand erneut, dachte nach... und ließ sich dann entnervt stöhnend gegen die Rückenlehne ihres Stuhls sinken.
"Ich kann sowas einfach nicht", teilte sie der Welt im Allgemeinen mit.
"Und genau deswegen ist es ja auch so wahnsinnig unterhaltsam", kicherte der Kaffeedämon von seinem Gehäuse auf dem Unterschrank neben der Bürotür aus. Er prostete ihr spöttisch mit einem winzigen Becher zu. "Nur immer weiter so, Übung macht den Meister."
Mina sandte einen verärgerten Blick quer durch den Raum.
"Du willst deine Tage tatsächlich als reiner Heißwasser-Dämon beschließen, wie?", meinte sie nur.
Er grinste.
"Pff, leere Drohung!" Dann schlug das kleine Wesen die Beine übereinander und setzte sich bequem zurecht, in Erwartung weiterer Kurzweil an diesem Abend.
Na, sollte er doch tun, was er nicht lassen konnte. Sie hatte keine Zeit, sich mit vorwitzigen Gebrauchsgegenständen auseinanderzusetzen. Das hier musste fertig werden, besonders da Raistan den Entwurf noch vor der nächtlichen Zusammenkunft des Trupps in Reinschrift bringen wollte. Mina richtete sich auf, atmete einmal tief durch und griff dann wieder zum Schreibgerät.
"Du bekommst das hin, stell dich nicht so an", redete sie sich selbst gut zu. "Nicht so viel darüber nachdenken - schreib einfach. Genau."
Aber jede Formulierung die sie sich zurecht legte hörte sich schon in ihrer Vorstellung derart gekünstelt an, dass sich ein Niederschreiben und probeweises Lesen von vornherein erübrigte. Ungeduldig trommelte sie mit den Fingern der freien Hand einen schnellen Rhythmus auf die Tischplatte, welcher unbewusst das Prasseln des Regens an der Fensterscheibe aufgriff. Das Wetter war heute wieder ausgesprochen widerwärtig gewesen. Na, wenigstens würde Breguyar sie später nicht durch Wind und Nässe jagen.
Mina ließ den Blick durch den Raum wandern, auf der Suche nach etwas, was ihr eine Anhaltspunkt geben konnte. Alles was sie brauchte war eine Idee, ein Einstieg... Ihr Blick blieb an dem Regal mit den Ordnern hängen. Vielleicht... ja, vielleicht sollte sie einfach versuchen, ganz anders an die Sache heranzugehen? Was, wenn das hier eine verdeckte Ermittlung wäre? Wenn dies ihrer Rolle entsprechen würde? Wie würde sie das vorbereiten? Informationen über die Zielperson lagen vor - in welcher Art und Weise jetzt also an diese herantreten? An Details musste sie sich in diesem Fall ja nicht festhalten. Als nächstes also: Hintergrundrecherche zur gewählten Identität. Ihr kam ein Gedanke. Mina schielte zur untersten Schreibtischschublade hinunter, zögerte kurz, dann beugte sie sich hinab und öffnete das Fach. Unter diversen Papieren ertasteten ihre suchenden Finger schließlich einen Buchrücken. Sie zog das Exemplar heraus und wischte ein paar Staubflocken vom geprägten Leder des Einbandes. Die Vampirin hatte dieses Buch bisher genau zweimal in der Hand gehabt: Einmal, als sie es bekommen und in die unterste Schreibtischschublade verbannt hatte, und dann, als sie ins Stellvertreterbüro umgezogen war und das Buch somit ebenfalls den Schreibtisch hatte wechseln müssen. Und wie es bereits bei diesen Gelegenheiten der Fall gewesen war, so verspürte sie auch jetzt ein eigenartiges, unangenehmes Kribbeln in den Fingerspitzen. Aber wer wusste schon, was für seltsame Eigenschaften Gedrucktes annehmen konnte, wenn es nur lange genug Seite an Seite mit magischen Grimoires in ein und demselben Regal gestanden hatte? Denn das Buch stammte aus der Bibliothek der Unsichtbaren Universität, oder um es ganz genau zu sagen: Der Bibliothekar höchstselbst hatte es ihr aus seinem persönlichen Bestand geschenkt. Es war ein Dankeschön gewesen, für ihre Hilfe im Fall der kopflosen Studenten... noch so etwas, was schon wirklich lange her war... Bei dem Text handelte sich um einen Roman auf altüberwaldisch, den sie weniger ob seiner Herkunft nicht angefasst hatte - sie war sich ziemlich sicher, dass der Bibliothekar nichts an sich Gefährliches verschenken würde - als aus inhaltlichen Gründen: Es handelte sich um eine Erzählung, deren Sentimentalität das erträgliche Maß um ein gutes Stück überstieg und Mina war bis heute nicht ganz klar, welches Interesse der Affe daran gehegt haben mochte. Doch jetzt konnte sich dieses spezielle Präsent tatsächlich als nützlich erweisen. Also dann... Sie lehnte sich zurück, schob ihre Vorurteile beiseite und begann mit der Lektüre.
So saß sie dann auch noch eine knappe Stunde später, als es an die Tür klopfte - auch wenn die angestrebte Unvoreingenommenheit da schon längst von hochgezogenen Augenbrauen und skeptisch gerunzelter Stirn abgelöst worden war. Die Ablenkung kam ihr also gerade recht. Es schien zu stimmen, was man sagte: Liebe war eine besonders tückische Form von Geisteskrankheit. Besonders in literarisch überhöhter Form.
"Ja?"
Der Gefreite von Omnien steckte den Kopf zur Tür herein.
"Ich habe den Bericht zum Olafson-Doppelmordversuch dabei. Oder ist es gerade ungünstig?"
"Nein, keineswegs, komm rein." Mina schloss das Buch und ließ es auf die Tischplatte fallen. "Das ist nur... so eine Recherche." Sie seufzte und rieb sich müde die Augen. Wenn der Text wenigstens einigermaßen hilfreich gewesen wäre - jedoch hatte Mina vielmehr das Gefühl, Lebenszeit verschwendet zu haben[14]. "Olafson sagst du?"
"Eben jener. Der Gärtner." Dagomar trat ein und winkte mit einem schmalen Hefter. "Und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ich bei ihm einwandfrei eine narzisstische Paranoia als dem Motiv zugrunde liegendes Problem feststellen konnte." Ein feines Lächeln umspielte seine Mundwinkel. "Wenn du verstehst, was ich meine, Mä'äm."
"Ja, Dagomar, ich kann mich an die getrockneten Narzissen in der Beweismittelkiste erinnern", erwiderte Mina trocken.
Der Püschologe kicherte.
"Und so schließt sich der Kreis, ein um's andere Mal." Er reichte seiner Vorgesetzten den Bericht. "Die Verhörprotokolle befinden sich allerdings in jener Akte, welche der Kollege Düstergut noch zu bearbeiten geruht. Er beteuerte auf meine direkte Nachfrage hin jedoch, seine Ausführungen zu besagtem Vorfall ebenfalls am heutigen Abend zu einem Abschluss bringen zu wollen", merkte er an.
"Danke, Dagomar." Mina blätterte einmal pflichtschuldig durch die Seiten, bevor sie den Bericht in den Eingangskorb beförderte. Das hatte Zeit bis morgen. "Gibt es sonst noch etwas?"
Der Gefreite nickte in Richtung des Romans, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. "Kann man bei dieser... Recherche vielleicht behilflich sein?", erkundigte er sich höflich. Dabei blitzte die Neugier aus seinen Augen.
Mina ließ sich einen Moment Zeit mit ihrer Antwort. Sie hatte davon gehört, dass der Kommandeur den Gefreiten mit diversen Nachforschungen und anderen Aufgaben betreffend der entführten Maggie betraut hatte. Damit hatte der RUM-Püschologe zwar lediglich Zugang zu einem Teil des Puzzles... aber es kursierten genug Gerüchte und offene Geheimnisse im Wachhaus, als dass ein interessierter Kollege nicht hätte eins und eins zusammenzählen können. Dagomar war nicht dumm. Zumal er sich schon in der Vergangenheit aufrichtig besorgt um Ophelia gezeigt, sowie sich ebenfalls mit großer Ernsthaftigkeit um eine Lösung für deren Problem bemüht hatte. Hinzu kam noch, dass er für die augenblickliche Herausforderung tatsächlich nicht einmal der schlechteste Ansprechpartner wäre - sowohl persönlich, wenn man bedachte von wem der Brief sein sollte, als auch im Hinblick auf seine Spezialisierung. Aber zulassen, dass sich ein weiterer Kollege zu tief in die ganze Angelegenheit verstrickte - und am Ende vielleicht nicht mehr herauskam? Dieses Dilemma würde sie wohl alle bis zu dem Punkt begleiten, an welchem sämtliche Beteiligte - hoffentlich - möglichst unversehrt einen Schlussstrich unter den Fall Ophelia Ziegenberger setzen konnten. Auf die eine oder andere Art. Jedoch... vielleicht war es möglich, die angebotene Hilfe in Anspruch zu nehmen, ohne den Helfenden einem Risiko auszusetzen. Indem man die Angriffsfläche möglichst gering hielt.
"Unter Umständen...", nickte die Vampirin langsam. "Dagomar, wie würdest du... nein, lass es mich anders formulieren: Es ist aus ermittlungstaktischen Gründen notwendig geworden, zur Wahrung der Tarnidentität eines anderen Wächters, einen fingierten Liebesbrief zu verfassen. Von einem jungen Mann an eine junge Dame aus den besseren Kreisen." Das war immerhin die reine Wahrheit. Wenn auch vielleicht nicht die, auf die der Püschologe gehofft hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde machte sich ein enttäuschter Ausdruck auf seinem Gesicht breit, aber die Sache schien doch nicht ganz ohne Interesse für ihn zu sein. Denn nach diesem ersten Moment der Ernüchterung nickte Dagomar von Omnien nachdenklich und ließ sich auf dem Besucherstuhl vor dem Schreibtisch nieder.
"Und dies ist nicht dein Fachgebiet, Mä'äm." Es war nicht auszumachen, ob dies eine Frage oder eine Feststellung hatte sein sollen.
Mina lächelte halbherzig.
"Sagen wir, ich bin einer zweiten Meinung nicht abgeneigt."
"Dürfte ich die bisher zu Papier gebrachten Zeilen sehen?"
"Die zweite Meinung, die mir vorschwebt ist eine sehr... grundlegende."
"Ich verstehe." Ein zufriedenes Grinsen erschien auf Dagomars Gesicht. Er setzte sich sehr aufrecht, nein, plusterte sich vielmehr auf und nahm eine Haltung an, die wahrscheinlich weltmännisch wirken sollte. "Dann wider dem horror vacui!"
"Na fein, dann..." Es klopfte erneut.
"Tut mit leid, dass es so spät geworden ist, von Omnien hat auch schon rumgenervt, aber ich hab es einfach nicht eher..." Fynn Düstergut erstarrte mitten in der Bewegung. Wahrscheinlich fielen ihm gleich mehrere Gründe auf einmal ein, warum er nicht einfach so in das Büro seiner Vorgesetzten hätte platzen sollen, ohne das übliche "Herein" abzuwarten. Beziehungsweise ohne nachzusehen, wer sich bereits darin befand. "Also... ich, äh, wollte nur eben..." Er trat unsicher von einem Fuß auf den anderen, entschloss sich dann aber, das Beste aus der Situation zu machen. Mit schnellen Schritten durchmaß er den Raum und drückte Mina seinen Bericht in die ausgestreckte Hand.
"War nicht so gemeint", meinte er hastig.
Doch Dagomar ignorierte den vorherigen Seitenhieb auf seine Person. Vielmehr klopfte er Fynn aufmunternd auf die Schulter und wies auf das Bild von Carolina, welches Mina ihm eben über den Tisch zugeschoben hatte.
"Fynn, mein werter Kollege, wie würdest du es angehen? Wie würdest du einige Zeilen an die Dame deines Herzens formulieren?" Er brachte das in einem vollkommen ernsthaften Tonfall hervor, doch beim genauen Hinsehen konnte man den Schalk in seinen Augen erkennen.
"Äh..." Mit wachsender Verunsicherung sah Fynn zwischen seinen beiden Mitwächtern hin und her, während seine Ohren und Wangen eine zunehmend rötliche Färbung annahmen. "Muss ich... auf diese Frage antworten?"
Mina schüttelte beruhigend den Kopf, doch Dagomar schien zunehmend Gefallen an der Sache zu finden. Er tippte auf die Ikonografie, diesmal mit Nachdruck.
"Angenommen, es handele sich dabei um dieses Fräulein."
Der Ermittler riskierte einen kurzen Blick.
"Ist nicht mein Typ", murmelte er undeutlich.
"Das ist auch bei Weitem nicht die Frage, um die es hier geht! Um die passenden Worte für eben jene hier zu finden, müssen wir uns von dem oberflächlichen, ersten Eindruck lösen, welchen uns das bloße Abbild zu vermitteln imstande ist. Es verhält sich wie mit einem Kunstwerk!" Jetzt geriet der Püschologe richtig in Fahrt. "Wie mit einem komplizierten Gemälde, dass vielleicht nicht auf Anhieb zu gefallen vermag: Man muss sich hinein fühlen, versuchen, zur Essenz des Werks zu gelangen. Dann, und nur dann, wird sich der wahre Geist, der wahre Wert offenbaren!"
"Äh..."
Fynn warf seiner Vorgesetzten einen weiteren, diesmal hilflosen Blick zu.
Mina antwortete ihrerseits mit einem leichten Anheben der Schultern und einem entschuldigenden Blick. Es war nicht abzusehen gewesen, dass sich der Püschologe derart engagiert zeigen würde.
"Danke für den Bericht, Fynn. Du kannst dann Feierabend machen", meinte sie laut.
Der junge Ermittler nickte dankbar und tat ein paar Schritte in Richtung Tür. Doch dann zögerte er.
"Worum geht es hier eigentlich genau?", frage er gedehnt.
Dagomar umschrieb das Problem. Sehr blumig.
Fynn nickte erneut.
"Aber ich muss das Ding nicht selbst schreiben, richtig?", hakte er sicherheitshalber nach.
"Nein, es geht nur um Ideen für den Entwurf", erwiderte Mina rasch, um einer weiteren ausschweifenden Antwort des Püschologen zuvor zu kommen. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie die Aussicht auf weitere Unterstützung begrüßen sollte oder nicht - denn so verschieden die beiden Wächter waren, so unterschiedliche Auffassungen würden sie gewiss auch von amourösen Formulierungen haben. Im Zweifel würde das also ein langer Abend werden.
Der Gefreite Düstergut dachte einen Moment nach.
"Also wenn ich von Nutzen sein kann, Mä'äm...", meinte er dann langsam.
"Hervorragend! Dann holt den Wein!" Dagomar klatschte schwungvoll in die Hände. "Schließlich müssen wir über Gefühle reden."

Liebste Carolina...

"Zu unpersönlich."
"Was ist daran unpersönlich?"
"Es muss Meine liebste Carolina lauten. Denn wenn ich unsere Vorgaben recht bedenke, dann besteht die angenommene Liaison der Dame nicht erst seit gestern."
"Na schön, wenn du meinst..."

Meine liebste Carolina,
erneut ist die Sonne auf- und wieder untergegangen. Erneut hat sie ihre Bahn über der Scheibe vollendet und uns alle, die wir hier leben, mit ihrem goldenen, warmen Glanz bedacht. Und doch kann mir ihr Licht nur kalt und fahl erscheinen. Was soll es mir auch bedeuten, wenn ich dich nicht sehen kann, darin erstrahlend, es gar überstrahlend? Was sollen mir Sonne und Mond und alle Himmelsgestirne, wo ich hier bin und du dort? Ich rede mir ein, dass es nur ein einziger Tag ist, der mich noch von dir trennt, stets auf's Neue, immer und immer wieder. Denn nur so ist es mir möglich, die Zeit zu überstehen.


"Also ehrlich gesagt finde ich das immer noch ein wenig... zu viel. Also hochtrabend oder wie man das nennt." Fynn schob seinen Becher von der einen Hand in die andere. Dagomar hatte auf die Schnelle eine Flasche Château Quirmiana aus dem Jahr des nervösen Zitteraals aufgetrieben - es war immer wieder erstaunlich, was manche Wächter "nur für den Fall" in ihren Schreibtischen aufbewahrten. Allerdings waren nicht einmal zwei, geschweige denn drei adäquate Gläser aufzutreiben gewesen, was seine Freude ein wenig getrübt hatte. So sprach er selbst dem Wein auch am reichlichsten zu, während Mina vorrangig mit dem Schreiben, Durchstreichen und dem anschließenden Weiterschreiben beschäftigt war und Fynn sich immer häufiger zu fragen schien, warum er sich auf das hier eingelassen hatte. Denn genau betrachtet lief es so ab: Dagomar fabulierte die abenteuerlichsten Satzkonstruktionen, wahre Monstrositäten voller beschreibender Adjektive und Metaphern, die kein Klischee ausließen. Seinen Abteilungskollegen fiel es hauptsächlich zu, das Schlimmste davon auszusieben und den Text halbwegs lesbar zu halten. Doch auch so war das Ergebnis immer noch... üppig.
"Ich finde, sowas braucht einfache Worte", fuhr der Ermittler fort. "In diesem ganzen Geschnörkel geht ja der Sinn verloren." Er schaute zu seiner stellvertretenden Abteilungsleiterin hinüber, in der Hoffnung auf Zustimmung. Überhaupt schaute er ziemlich oft in diese Richtung und vielleicht wäre es ihr aufgefallen, hätte sie einmal mehr den Blick vom Papier gelöst. So aber nickte Mina nur und schloss den eben beendeten Satz mit einem Punkt ab.
"Mag sein. Aber da müssen wir jetzt durch. Denn darum geht es ja: Sentimentalität und Larmoyanz. Leider."

Es ist der Gedanke an dich, der mich aufrecht erhält - er bestimmt mein ganzes Sein, erfüllt mich mit Leben, ist mein Denken, mein Tun, mein Atem, mein Herzschlag. Nein, es ist nicht nur der Gedanke - du bist es selbst, du, die mich inspiriert, du, die mich nicht aufgeben lässt, auch wenn Schicksal und Götter sich stets gegen uns zu stellen scheinen. Ich verspreche dir, dies wird nicht endlos sein, dein und mein Warten nicht vergebens. Gedulde dich, mein Herz, mein Alles. Gedulde dich, so wie ich es stets versuche und zieh Kraft aus der Sicherheit, dass wir auch dadurch eins sind. All unser Streben soll auf den einen Moment ausgerichtet sein, da ich dich endlich in meine Arme schließen kann, frei von den Fesseln, die uns jetzt noch binden. Oh, wie ich diese Stunde doch herbeisehne!

"Es gibt da eine Frage, die mich doch beschäftigt, Mä'äm." Dagomar hob sein Glas gegen das Licht der Kerzen und starrte sinnierend in die rubinrote Flüssigkeit. "Zwar ist mir persönlich diese Carolina nicht bekannt und selbst wenn es sich so verhielte, wären meine Lippen versiegelt. Gewiss wird die zugrunde liegende Ermittlung mit aller Sorgfalt und Vorsicht geführt. Aber was geschieht, sollte doch etwas an die Ohren nicht allzu wohlmeinender Subjekte gelangen. Wäre das nicht fürchterlich kompromittierend für die junge Dame?"
Dieser Gedanke war auch Mina bereits gekommen. Sie hatte dieses potenzielle Problem Nyria gegenüber direkt nach der Besprechung angedeutet, aber die Werwölfin hatte nicht so gewirkt, als würde ihr diese Möglichkeit schlaflose Nächte bereiten. "Es ist für einen guten Zweck", hatte sie nur gemeint. "So geht es schnell und unkompliziert." Ein geringeres Übel also?
"Uns fehlt leider der Spielraum, um eine elegantere Lösung zu suchen", erwiderte Mina nun ihrerseits auf Dagomars Frage. "Aber wenn alles so abläuft wie geplant, dann sollte das Risiko ein geringes sein."
"Sollte der Plan dennoch fehlgehen und ein ungünstiges Ergebnis bringen, so hilft im Notfall gewiss eine offizielle Verlautbarung." Dagomar nickte und nahm sich noch Wein. "Die Familie habe der Wache in offizieller, hochwichtiger Mission hilfreich zur Seite gestanden oder etwas ähnliches."
"Und es damit alles noch viel schlimmer machen?", murmelte Fynn.

Aus deinen Briefen entnehme ich du bist wohlauf und doch erahne ich die Tränen in deinen Augen, wenn ich deine Zeilen lese. Ich spüre die Sehnsucht, die meiner gleicht, die ständige Angst vor Entdeckung. Und weiß ich auch, dass diese Gefühle aus deiner Zuneigung zu mir herrühren und lässt dies meine Seele jauchzen, so muss sie doch gleichzeitig bitterlich weinen. Denn ich bin es, der Grund, aus dem du nicht alle Tage glücklich sein kannst. Drum bitt ich dich, lächle für mich, auch wenn ich es nicht sehen kann. Lebe froh in den Tag und sei dir meiner gewiss. Kein Trübsinn soll deine sanften Züge umwölken, keine Furcht dir das Herz schwer machen. Schreite frohen Sinnes! Anmut sein dein Gewand, Schönheit die Krone. Das Blau deiner Augen soll wie das der Juwelen strahlen, das rabenschwarze Haar dich einem seidenen Schleier gleich...

Mina hielt inne.
"Wie kommst du jetzt auf rabenschwarz?"
Fynn zuckte zusammen und erneut schoss ihm die Röte ins Gesicht.
"Was? Also... da war ich wohl mit den Gedanken woanders. Muss an der ganzen Sucherei nach möglichst dichterischen Ausdrücken liegen." Hastig trank er seinen Becher leer. "Wie wäre es dann mit flachsfarben?" Während der nächsten Minuten war er damit beschäftigt, intensiv die Holzmaserung der Tischplatte zu studieren.

...das flachsfarbene Haar dich einem seidenen Schleier gleich umschmeicheln, die Wangen mit einem Hauch von Rot versehen, wie die ersten Rosenblätter an einem milden Frühlingstag. Das ist das Bild, welches ich mit mir trage. Welches das Erste ist, das ich am Morgen sehe und das Letzte, bevor ich meine Augen zur Nacht schließe. Ich kann mir das Glück kaum ausmalen, wenn ich mich eines Tages nicht mehr mit dem Bilde allein bescheiden muss.
Auf bald, Geliebte! Auf ach so bald!


"Jetz' brauchen wir nur noch eine... eine angemessene Schlussformulierung." Dagomar stieß dezent auf. "Verzeihung."
"Mit all der Liebe, die ich aufbringen kann?", warf Mina spontan ein.
Die Kollegen schwiegen überrascht.
"Das habe ich nur irgendwo gelesen", fügte sie rasch hinzu, kritzelte die letzte Zeile und legte den Federhalter dann vor dem Tintenfässchen ab. "Damit wäre es das wohl." Ein Brief, der in punkto Kitsch keine Wünsche offen lassen dürfte. Und es blieb sogar noch genug Zeit, die Zeilen Raistan in die Feder zu diktieren. "Ich danke euch für eure Hilfe."
"Prima, prima, keine Ursache." Dagomar stieß sich vom Fensterbrett ab, an welchem er während des Entwurfs der letzten beiden Absätze gelehnt hatte. Für die Menge an Wein, die er mittlerweile intus hatte, ging er dabei jedoch etwas zu schwungvoll zu Werke - er schwankte kurz und musste nach hinten greifen, um sich abzustützen. Der Püschologe rieb sich die Augen.
"Vielleicht hätte ich doch nicht den Quirmiana aussuchen sollen", meinte er mit schwerer Zunge. "Oder einfach etwas weniger zu mir nehmen... sollen." Dann legte sich ein erschrockener Ausdruck auf sein Gesicht. "Oh, Mä'äm... das war doch jetzt hoffentlich nicht Alkohol im Dienst?"
Er schaute derart betroffen drein, dass sich Mina ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte.
"Nein, das war Alkohol nach Feierabend", versicherte sie dem Gefreiten. "Und ich brauche auch keinen Bericht dazu."
"Hervorragend!" Dagomar wischte sich den imaginären Schweiß von der Stirn. "Dann gute Nacht, die werten Herrschaften. Es war mir ein Vergnügen." Er versuchte sich an einem galanten Diener und verließ dann das Büro - in aufrechter Haltung und auf direktem Weg zwar, aber merklich langsamer als normalerweise.
Fynn räusperte sich.
"Ich werde mich jetzt auch mal... ist ja schon spät" Der Ermittler erhob sich von seinem Stuhl. "Aber hat schon Spaß gemacht. Irgendwie."
"Ja... irgendwie. Allerdings ist mein Bedarf damit mehr als gedeckt." Mina nickte ihm zu. "Ich wünsche dir noch einen angenehmen Feierabend. Und wenn ihr morgen ein wenig später zum Dienst erscheint, dann sollte das kein Problem darstellen."
"Na dann..." Er ging zur Tür, hielt dort aber erneut inne. "Gute Nacht."
"Gute Nacht, Fynn."
Der Gefreite zögerte einen letzten Augenblick, doch dann schien er es mit einem Mal eilig zu haben, nach draußen zu kommen.
Mina unterdessen faltete den Brief einmal fein säuberlich in der Mitte und begann, die Spuren des Abends zu beseitigen: Zerknülltes Papier, benutzte Trinkgefäße, eine fast leere Flasche.
"Und, war das unterhaltsam genug für deinen Geschmack?", fragte sie den stillen Zuschauer auf der anderen Seite des Raumes.
Der Kaffeedämon grinste breit und reckte beide Daumen in die Höhe. Mit ein bisschen Glück hielt die gute Laune vor und Mina hätte zumindest in absehbarer Zeit nicht mit dem üblichen motzenden Querulanten zu kämpfen. Das wäre einmal ein angenehmer Nebeneffekt.
Die Vampirin ließ einen letzten prüfenden Blick durch den Raum schweifen, dann griff sie nach ihren Schlüsseln und machte sich samt Briefentwurf auf den Weg, um das Werk eine Etage tiefer vollenden zu lassen.


Sanft kratzte die Feder über's Papier, zog schwungvolle Bögen und Schleifen und ließ so Wort für Wort entstehen, was dem Schreibenden zu Ohren kam. Und es sah wirklich gut aus, was Raistan da in seiner schönsten Herrenhandschrift festhielt. Der Zauberer hatte auf ein Diktat bestanden, mit der Begründung, sich so vollkommen auf das Schreiben an sich konzentrieren zu können, auch wenn das ein wenig mehr Zeit in Anspruch nahm. Das wäre ja alles auch gar kein Problem gewesen... wenn die ruhige Atmosphäre nicht mit schöner Regelmäßigkeit von jenem keuchenden Prusten unterbrochen worden wäre, welches gemeinhin von einem unterdrückten Lachanfall kündet.
Irgendwann hielt Raistan in seinem Tun inne und sah entnervt auf.
"Nyria, das ist nicht hilfreich", tadelte er die Gefreite.
Die Werwölfin feixte.
"Tut mir leid." Sie sah ganz und gar nicht danach aus. "Aber du musst schon zugeben... das Ding fällt in die Kategorie gefährliche Kampfmittel."
"Ja, und wenn du weiter so gackerst fliegt es uns am Ende noch um die Ohren, also schhht!"
"Das ist kein Gackern, das ist freudige Zustimmung. Und außerdem kann ich ja nicht erst anfangen zu lachen, wenn es dann ernst wird. Ich muss meine Botenrolle doch glaubhaft spielen. Eine diskrete Person, der keine schriftliche Schmonzette fremd ist." Sie grinste von einem Ohr zum anderen. "Alle Achtung, Mä'äm. Scheint so, als hätten wir die Aufgaben genau richtig verteilt."
"Ja, was man nicht alles tut...", murmelte Mina.
"Die gute Carolina bräuchte nach der Lektüre bestimmt ihr Riechsalz."
"Können wir dann weitermachen?" Raistan tunkte die Feder fahrig in das kleine Fässchen mit sepiafarbener Tinte. "Wenn mich nicht alles täuscht habt ihr nachher noch ein Training zu absolvieren."
Eine gewisse Ungeduld seinerseits war in den letzten Minuten zunehmend spürbar geworden - auch wenn dies wohl weniger an der rasch voranschreitenden Zeit lag, als an dem doch sehr persönlichen Wunsch, möglichst schnell fertig zu werden. Zumindest seine Ohren konnten gar nicht mehr viel röter werden und es schien ihm mehr als recht zu sein, dass ihm während des Schreibens immer ein paar Haarsträhnen ins Gesicht fielen und seine Miene verdeckten. Er würde sich freuen - es blieben lediglich anderthalb Absätze, dann war es geschafft. Nur noch ein paar Minuten - vorlesen - niederschreiben - prusten. Es musste für Nyria wahrlich die Krönung ihres Tages sein und innerlich würde sie sich zu ihrer Idee mit dem Brief gewiss schon wiederholt gratuliert haben. Aber so hatte wenigstens eine ihre Freude an der Sache. Dennoch bemühte sich die Vampirin auch während der letzten Zeilen um einen möglichst gleichförmigen Lesetonfall, auch wenn dies nur dazu beitrug, es Raistan etwas einfacher zu machen.
"Ich kann mir das Glück kaum ausmalen, wenn ich mich eines Tages nicht mehr mit dem Bilde allein bescheiden muss. Neue Zeile. Auf bald, Geliebte! Auf ach so bald! Neue Zeile. Mit all der Liebe, die ich aufbringen kann."
"Da ist echt 'ne ganze Menge Liebe drin."
"Nyria."
"Tschuldigung, Mä'äm."
Mina wartete, bis der Zauberer die letzten Worte zu Papier gebracht hatte, dann legte sie das Blatt mit dem Entwurf beiseite.
"Das war's", verkündete sie dann, "Alles was jetzt noch fehlt ist eine Unterschrift."
Raistan legte nachdenklich die Spitze der Feder an die Lippen und starrte einen Moment vor sich hin. Dann setzte er die Initialen D.H. unter den Brief.
"Das kann so ziemlich alles bedeuten." Er atmete erleichtert auf und legte das Schreibgerät aus der Hand. "Und jetzt?"
Nyria stieß sich von der Wand ab, an der sie während des Diktats gelehnt hatte.
"Jetzt machen wir das Ganze noch hübsch vertraulich." Sie schob eine kleine Pappschachtel von einer Ecke des Schreibtisches ins Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit. "Ich war so frei, das hier aus der Asservatenkammer auszuleihen."
Sie hob den Deckel. In der Schachtel befanden sich zahlreiche Siegelstempel von verschiedener Größe und Prägung, darunter auch einige gefälschte Gildensiegel. Die würden sie natürlich nicht nutzen können, der Rest hingegen schien auf den ersten Blick durchaus brauchbar.
Die Augen der Werwölfin leuchteten erwartungsvoll.
"Suchen wir uns eins aus", sagte sie.
"Das ist eine gute Idee", meinte Mina, während sie einen der Stempel zur Hand nahm und näher betrachtete. Er zeigte zwei achatische Schriftzeichen, umrahmt von einem ornamentalen Muster. Gut, vielleicht waren auch ein paar weniger als gedacht für ihre Zwecke geeignet. "Hast du auch..."
"... an Siegelwachs gedacht? Selbstverständlich." Mit zufriedener Miene holte die Gefreite einen kleinen länglichen Block von roter Farbe aus der Tasche. "Ich denke, der selige Theophilius Schramm wird nichts dagegen haben, wenn wir seins benutze. Er kann es ja eh nicht mehr gebrauchen. Und bei den Asservaten staubt es nur ein."
Sie nahm nun ihrerseits eines der Objekte aus der Schachtel, rümpfte allerdings gleich darauf die Nase.
"Diebesgilde. Und das auch noch ziemlich schlecht gemacht."
"Wir dürfen auch keine Familienwappen oder etwas ähnliches, wiedererkennbares verwenden", gab Mina zu bedenken. "Ein vergleichsweise neutrales Symbol wäre wohl am besten."
"Was ist mit diesem hier?" Raistan hielt ein Petschaft in die Höhe, welches einen Vogel mit einer Blume im Schnabel zeigte.
"Perfekt."
"Aber bevor wir das tun..." Nyria hob den Finger und langte dann mit großer Geste erneut in ihre Tasche. "Ich habe da noch etwas vorbereitet."
Raistan setzte eine zweifelnde Miene auf.
"Was hast du denn noch alles vor? Willst du den Brief am Ende auch parfümieren oder was?"
Nyrias Grinsen wurde ein weiteres Mal so breit, dass die Mundwinkel beinahe die Ohrläppchen berührten.
"Du kennst mich zu gut."
Sie zauberte einen viereckigen Flakon aus dunkelblauem Glas hervor und platzierte ihn neben der Schachtel.
"Es heißt Odeur d'Magicien", gluckste sie. "Auch wenn ich finde, dass es mehr nach Moos und Pfefferminz riecht, als nach Bücherstaub und oktariner Energie."
Mina hob eine Augenbraue, während Raistan ernsthaft darüber nachzudenken schien, einfach unter dem Tisch zu verschwinden.
"Klingt... betörend", meinte die Vampirin trocken.
"Ja, schon seltsam, womit sich die feinen Herren gern einnebeln."
"Bringen wir es hinter uns", murmelte der Zauberer und schob der Gefreiten den Brief entgegen.
Diese trat ein paar Schritte beiseite und hielt Flasche als auch Schriftstück weit von sich, bevor sie den Zerstäuber zweimal kurz betätigte. Der Duft, welcher sich daraufhin im Raum verteilte, erwies sich in der Tat als... interessant. Nyria und Mina niesten unisono, während der Zauberer zum Fenster eilte und beide Flügel aufriss.
"Dir ist schon klar, dass du dieses... Bouquet nun eine Weile nicht aus deinem Büro bekommst?", meinte er in Richtung der Werwölfin.
Zum ersten Mal an diesem Abend sah Nyria betreten drein.
"Ich hatte es halt eilig... und habe gedacht, es reicht, wenn ich kurz am Verschluss schnuppere", versuchte sie sich zu rechtfertigen.
"Ah ja." Raistan versuchte, ein strenges Gesicht aufrecht zu erhalten, aber bei genauem Hinsehen zuckten seine Mundwinkel verräterisch. "Und sowas habt ihr in der Asservatenkammer? Das nenne ich wiederum ein, wie sagtest du vorhin? Gefährliches Kampfmittel?"
"Wahrscheinlich unser Stichwort, an die frische Luft zu kommen." Mit spitzen Fingern schob Mina den Briefbogen in den bereits vorbereiteten Umschlag. "Aber sehen wir es positiv - sollte jemanden der Inhalt des Briefs tatsächlich überwältigen, so braucht er - oder besser sie - kein Riechsalz."
Sie tauschte einen vielsagenden Blick mit Raistan.
Nyria seufzte.
"Ja, ich hab's verstanden."
Sie erwärmte das Siegelwachs mithilfe eines Streichholzes und ließ dann einen dicken Klecks auf die Lasche des Umschlags fallen. Raistan drückte das ausgewählte Siegel hinein.
"Fertig."
Allgemeine Aufbruchstimmung machte sich breit und vor allem der Zauberer schien es eilig zu haben aus dem Zimmer und damit auf andere Gedanken zu kommen. Jedoch konnte man schon jetzt beobachten, wie sich Raistans Gesichtsfarbe langsam wieder ihrem Normalzustand annäherte.
Nyria zögerte noch einen Moment, den Umschlag bereits in der Hand, und sah sich nachdenklich im Büro um. Dann versenkte sie ihn in einer Innentasche ihres Mantels.
"Ich kann ihn ja schlecht hier lassen", erklärte sie unaufgefordert. "Stellt euch mal vor, den findet jemand. Der kommt an einen sicheren Ort, bis er gebraucht wird."
"Ist vielleicht besser so." Raistan massierte sich die Schreibhand. "Zumindest, wenn dieser sichere Ort bei dir zu Hause ist... nein, denk gar nicht erst darüber nach!"
Auch Mina war das kurze Funkeln nicht entgangen, welches bei dieser letzten Bemerkung in Nyrias Augen getreten war. Raistan hingegen stürzte die bloße Möglichkeit, die er da eher unbeabsichtigt angedeutet hatte, in geradezu komische Verzweiflung. Er öffnete hastig die Bürotür und winkte die beiden Wächterinnen hinaus.
"Meine Damen, der Untergrund erwartet uns."

17.05.2017 22: 14

Rach Flanellfuß

Als Rach ihr den nächsten Treffpunkt mitgeteilt hatte, hätte sie am liebsten laut protestiert. Reale Bedingungen hin oder her, die Kanalisation war kein Ort, an dem sie sich aufhalten wollte. Und dabei spielte nicht nur der Gestank eine Rolle. Allgemein mochte sie unbekannte Situationen nicht. Sie wusste, dass ihr Bruder in solchen Situationen auf sein Improvisationstalent zurückgreifen konnte. An ihm war wirklich ein guter Assassine verloren gegangen. Aber der Herr war ja der Ansicht, das Gildenmotto sei moralisch sooo verwerflich! Stattdessen arbeitete er für den Patrizier. Und was hatte es ihm eingebracht? Er inspizierte die Wache und war diesem Haufen von Versagern dazu auch noch beigetreten! Viel tiefer konnte ihr großer Bruder nun wirklich nicht mehr sinken.
Doch das hatte sie auch schon gedacht gehabt, als er seine Verlobung mit dieser Ophelia Ziegenberger bekannt gemacht hatte. Einer Wächterin! Und eben jene Person, derentwegen sie nun alle hier waren. Nun, nicht ganz. Inzwischen kannte sie mehr Hintergründe. Und Ophelia war nicht mehr das einzige Entführungsopfer. Es galt, zwei Wächter aus den Klauen eines Vampirs zu befreien.
Sie musste unwillkürlich grinsen bei dem Gedanken, was für eine erbärmliche Rettungstruppe sie derzeit abgaben. Zumindest nach den Maßstäben ihrer Gilde. Beim Parkour im letzten Training war ihr zumindest die Wächterin aus Gennua positiv aufgefallen. Auch das Fechtduell zwischen ihr und der Gefreiten Major war durchaus fordernd gewesen. Jules hatte ihr mal erzählt, dass Breguyar früher ein Pirat war, doch das einzige Indiz, das wirklich dafür sprach, war ihrer Meinung nach seine Augenklappe. Zumindest musste sie dem Kommandeur zugestehen, dass er selbst in dieser Situation noch aus dem Vollen schöpfte.
Die beiden Vampire hatten hier unten, wie es schien, weniger Probleme. Wer nicht atmen musste, sowie über Nachtsicht verfügte, war hier definitiv im Vorteil. Doch was die beiden durch ihre übernatürlichen Fähigkeiten vorweisen konnten, glich kaum das Fehlen jahrelanger Erfahrung und eines entsprechenden Trainings aus. Die Flugkünste des Rekruten waren beeindruckend gewesen. Doch sie bezweifelte daran, dass ihnen diese Fertigkeit zum Vorteil gereichen würde. Sonst war sie eher enttäuscht worden.
Sie versuchte sich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren und sah in die Runde. Sie standen im Kreis, mitten in einem Gang in der Kanalisation. Einem weitestgehend trockenen Teil davon zwar aber trotzdem hatte sie das Gefühl, danach ihre Kleidung verbrennen zu müssen. In der Mitte stand eine Öllampe, die nur schwach die Umgebung beleuchtete. Außerhalb ihres Kreises war nicht mehr wirklich viel zu erkennen. Die Igorina hielt eine Fackel in die Höhe und der Zauberer hatte den Kristall seines Zauberstabs als weitere Lichtquelle aktiviert. Er würde, wie schon beim letzten Mal, das Training protokollieren. Rechts von ihr war ihr Bruderherz und links von Ihr befand sich der Rekrut. Nahe bei ihm war die kleine Wächterin, die zumindest bewiesen hatte, dass sie eine passable Kletterin war. Die Vertrautheit der beiden schien seit dem letzten Treffen noch zugenommen zu haben, was unter anderem darin zum Ausdruck kam, dass der Vampir versuchte, die zierliche Frau zu beruhigen. Ihr schien es in der Kanalisation ebenfalls nicht zu gefallen. Neben Rach befand sich ihre Fechtpartnerin und sie nickte der Gefreiten zu, die den Gruß erwiderte. Esther sah wieder zu ihrer Linken und neben dem frischen Pärchen, sah sie die von Nachtschatten stehen. Diese war, wie schon beim letzten Mal, hochkonzentriert bei der Sache. Doch das traf auch auf die beiden nächsten Wächterinnen zu. Die Igorina und die Gennuanerin hatten wohl schon in der Spezialeinheit der Wache zusammengearbeitet, ebenso wie der Kommandeur, der ihr selbst gegenüber stand und alle Anwesenden begrüßte. Er erklärte, worum es beim Training unter realen Bedingungen gehen sollte. Das interessierte sie nicht sonderlich und sie hatte insgeheim gehofft gehabt, diesen Teil zu verpassen. Sie war natürlich als Letzte eingetroffen, was ihr einen genervten Blick seitens Rachs einbrachte und ihre Laune zumindest etwas hob. Denn Jules Abreise nach Klatsch, war ihr alles andere als recht gewesen. Und, es war schwer, sich das einzugestehen, doch er fehlte ihr jetzt schon. Zumindest ernsthafte Sorgen musste sie sich nicht um ihn machen. Doch falls Jules irgendetwas passieren sollte, würde sie es ihrem Bruder nie verzeihen.
Rach stieß sie in die Seite, um ihr klar zu machen, dass sie besser zuhören sollte. Das Thema ‚Fallen und wie man sie erkennt‘ war allerdings einfach langweilig und wenn es soweit wäre, würden sie schließlich Jules haben. In ihrem Gewerbe war sie geschult, Fallen zu erkennen. Schließlich konnte davon ein Leben abhängen, oft auch das eigene, wenn die Klienten meinten, sich auf diese Weise verteidigen zu müssen. Sie bezweifelte stark, dass ihr die Wächter hier noch etwas beibringen konnten. Rach sah sie immer noch an, als würde er ihr am liebsten hier und jetzt die Meinung geigen. Sie erwiderte seinen Blick mit einem Augenrollen. Als er seinen Mund schon öffnete, zwinkerte sie ihm schließlich zu und formte mit ihren Lippen die Worte "Schon gut", was dazu führte, dass er sich deutlich erkennbar entspannte.
Mit verschränkten Armen konzentrierte sie sich schließlich auf den Vortrag des Kommandeurs.
Wenn‘s denn sein musste.
"Wir wissen nicht, mit welcher Art von Fallen, wir zu rechnen haben, doch die gängigsten werden wir euch zeigen. Und auch demonstrieren, wie man sie erkennt und entschärft. Ich weiß, wir haben dank Herrn Ledoux voraussichtlich einen Experten dabei, was Fallen angeht. Allerdings muss jeder von euch in der Lage sein, eine Falle zumindest zu erkennen, um alle anderen warnen zu können."
Als Jules erwähnt wurde, spannte sie sich merklich an und trommelte mit den Fingern auf ihren Oberarm.
"Zwei der beiden meist genutzten Mechaniken werden wir heute demonstrieren. Ein Stolperdraht und ein Trittschalter. Es besteht auch die Möglichkeit simpler Fallen wie ein abgedecktes Loch oder eine Bärenfalle. Allerdings müsst ihr auch damit rechnen, dass sich magische Fallen auf dem Anwesen befinden. Gibt es hierzu fragen?"
Rach trat einen kleinen Schritt vor und hob kurz die Hand um auf sich aufmerksam zu machen.
"Nur eine Anmerkung. Bevor Jules gegangen ist, hat er mir noch seinen Katalog ausgehändigt, der bei mir im Büro eingesehen werden kann. Dort sind viele gängige Mechanismen aufgelistet und worauf man achten sollte. Außerdem noch alte Schulbücher der Gilde zu dem Thema. Ich habe mich bemüht, diese für euch zusammenzufassen, doch es ist vermutlich hilfreich, wenn jeder von euch die Grundlagen studieren könnte. Wer weiß, wie man eine Falle stellt, weiß auch, wie man sie erkennen kann."
"Sehr gut! Vernachlässigt dabei allerdings nicht eure üblichen Pflichten!"
Esther musste bei den letzten Worten grinsen. Da war ihr Bruder damit beschäftigt, die Effizienz der Wache zu testen! Doch da diese ganze Angelegenheit inoffiziell war, war es kaum verwunderlich, wenn die eine oder andere Arbeit auf der Strecke bleiben würde. Und Spitzenreiter war mit aller Wahrscheinlichkeit ihr Bruderherz. Seinem müden Gesicht nach zu urteilen, versuchte er allerdings tatsächlich, alles unter einen Hut zu bringen! Und von Jul wusste sie, wie sehr er sich daran aufrieb. Einer der Gründe dafür, warum sie schließlich eingewilligt hatte, sich der Aktion anzuschließen. Sie wollte ihren Bruder wieder haben, den, der immer zuvorkommend und charmant war und auch mal konterte, wenn man ihn ärgerte. Nicht dieses depressive Nervenbündel!
Immerhin, seit dem Lebenszeichen von Ophelia, war wieder regelrecht Leben in ihn zurückgekehrt.
Der weitere Vortrag beschränkte sich darauf, die beiden Mechaniken wirklich vorzuführen und dabei wurde sowohl ein Draht als auch ein einfacher Trittschalter im Kreis rumgereicht. Der Draht kam von rechts auf sie zu, der Schalter von links. Sie reichte beide Dinge weiter ohne sich genauer damit zu befassen und auch Rach tat es ihr in diesem Fall gleich.
"Wir haben zu beiden Seiten des Ganges Fallen aufgestellt oder zumindest deren Auslöser. Zum Gang zu meiner rechten wird Kanndra euch einzeln begleiten und zu meiner linken komme ich mit euch. Das sollte nicht allzu lange dauern, so lange der Rest von euch wartet, wird Raistan demonstrieren, woran man magische Fallen erkennen kann."

Esther ging - so schnell es ihr die Öllampe erlaubte - voran, dicht gefolgt vom Kommandeur persönlich, doch sie wollte diese Aufgabe nur so schnell wie möglich hinter sich bringen. Schlimm genug, dass diese Anfänger ihr die Zeit stahlen, nun musste sie wirklich unter Beweis stellen, dass sie dazu in der Lage war eine Falle zu erkennen! Sie seufzte innerlich, während sie weiter mit vorsichtigen Schritten weiterging. Doch nur kurz darauf sah sie die erste Falle oder zumindest einen Trittschalter, der eine Falle auslösen sollte.
"Gefunden", sagte sie gelangweilt und dreht sich zum Kommandeur um, der ihr zunickte.
"Ich habe nichts Anderes erwartet", sagte er und deutete in den Gang. "Und weiter."
"Ernsthaft?", sagte sie nun tatsächlich genervt. "Das ist doch Zeitverschwendung."
Breguyars Auge funkelte und sie bereute einen Moment etwas gesagt zu haben.
"Ich weiß das scheint so, doch ich muss sicher sein, dass wirklich jeder gut vorbereitet ist. Außerdem gibt es mir die Gelegenheit, unter drei Augen zu reden. Assassinen arbeiten gewöhnlich allein und ich frage mich schon die ganze Zeit, ob du wirklich in der Lage bist, in der Gruppe zu agieren."
Das war ja großartig! Sie wusste wirklich nicht, ob die Situation ihr den letzten Nerv raubte oder ob sie laut Lachen sollte. Doch, da setzte er auch schon seinen Appell fort:
"Mir ist klar, dass ein Teil der Gruppe blutige Anfänger sind. Aber wir müssen nun mal mit dem arbeiten, was wir haben. Und als eingespieltes Team, sind die Erfolgschancen besser. Ich hoffe, dass auch eine Assassinin in der Lage ist, sich den Gegebenheit anzupassen."
"Ich muss nun wirklich nicht daran erinnert werden, dass auch mein Leben am Ende von eben dieser Gruppe abhängt, danke."
Sie hatte Rach zuliebe diesem Abenteuer zugestimmt. Doch Jules war es gewesen, der sie darum gebeten hatte. Ihr großer Bruder hätte sie gerne aus der Angelegenheit rausgehalten und erst nach dem ersten Training war ihr überhaupt klar geworden, worauf sie sich da eingelassen hatte. Doch mit diesem Gedanken war auch klar gewesen, dass sie Rach und Jules diese lebensmüde Aktion nicht alleine durchführen lassen würde.
"Darum geht es ja!", sagte Breguyar nun nachdrücklicher. "Selbst, wenn die werten Gildenabsolventen gut zusammen arbeiten, heißt das leider noch nicht, dass der Rest mithalten kann. Und, um es auf den Punkt zu bringen: Ich bitte um Rücksicht und Geduld! Und in der Hinsicht wohl auch um etwas Aufopferung."
"Schon guuut, ich habÂ’s ja kapiert.", schnaubte sie nun und hob die Laterne wieder an um weiter zu gehen. "Dann bringe ich es wohl mal hinter mich, was?"


20.05.2017 22: 22

Magane

Immer wenn man denkt, der Spaß sei fürs Erste vorbei, eröffnet sich einem eine neue Möglichkeit.
Die Hexe schlief und die Pause, die ihm dies verschaffte, hatte er sich auch redlich verdient. Ihr Widerstand gegen seine Kräfte war so köstlich und es kostete sie soviel Kraft die Barriere aufrecht zu erhalten, irgendwann würde er ein Schlupfloch finden und dann würde sie sich wünschen, sich nie widersetzt zu haben!
Er tastete mental nach ihr, äußerst vorsichtig, um nicht wieder von der steinharten Barriere abzuprallen... ob sie die wohl auch im Schlaf halten konnte?
Nein, konnte sie nicht!
Er kam ohne jeden Widerstand in ihren Geist - und sie träumte. Träume waren großartig, besser als pure Erinnerungen, weil sie einen so herrlichen Einblick in das Gefühlsleben des Opfers boten. Ängste, Wünsche, Sehnsüchte... kurz, das Intimste was es gab. Und sie hatte selbst keinen Einfluss darauf!
Zu schön! Aber er durfte sich nicht verraten, musste still sein und unsichtbar, durfte nichts verändern. Zumindest nicht, bevor er sich nicht besser auskannte. Träume konnten für einen Eindringling durchaus gefährlich werden.
Im ersten Moment erschien es ihm, als sei er wieder in ihrem Weißen Raum gelandet. Die Umgebung war gleißend hell, blendend. Außerdem war es heiß. Das war ganz anders, als am Morgen. Im Weißen Raum war es kühl gewesen. Die Farbe stimmte ebenfalls nicht, hier war es nicht weiß, nur sehr hell. Heller Sand.
Seine Augen gewöhnten sich langsam an das Licht.
Er stand in einer Wüste, oder vielleicht auch nur an einem Strand. Das wäre dann allerdings ein sehr großer Strand, denn Wasser war nirgends zu sehen. Die unbarmherzig brennende Sonne hinterließ das allgemeine Gefühl von Staubigkeit. Auch wenn das natürlich Blödsinn war. In einem Menschentraum, gespeist von Menschenerinnerungen, würde er nicht vom Zusehen zu Staub zerfallen. Aber Wurzeln schlagen wollte er hier auch nicht unbedingt.
Wo war sie? Sie musste doch hier irgendwo sein.
Er sah sich um, eine leere Wüste, weit und breit nichts zu sehen, was ein Mensch sein könnte.
Verdammt, wieso träumte die Hexe von einer leeren Wüste? Sie tat das mit Absicht. Sie träumte absichtlich von einer unwirtlichen Gegend, nur um ihn zu nerven.
Er sah zu Boden.
Langweiliger heller Wüstensand, vermutlich glühend heiß.
Dann entdeckte er Spuren im Sand. Er ging ein paar Schritte neben den Spuren her und verglich sie dann mit seinen. Kleiner und weniger tief, die Abstände waren auch geringer. Ein Kind? Großartig, was machte ein Kind allein in der Wüste?
Sebastian ging den Spuren nach und hoffte, in die richtige Richtung zu gehen. Er fühlte sich zunehmend staubig und bekam langsam Durst. Wenn er sie nicht bald fand, würde er den Traum verlassen müssen, es war einfach zu sonnig hier. Und auch, wenn er sich noch so sehr einredete, dass die Sonne nicht real war... er fühlte sich staubig.
Der Boden stieg allmählich an und hob sich einem langgestreckten Dünenkamm entgegen.
Vielleicht konnte man dahinter ja das Meer sehen... oder nur noch mehr Sand.
Als er am höchsten Punkt der Düne angekommen war, konnte er deprimierend weit die Wüste überblicken. Sand, Sand, Steine, noch mehr Sand, kein Wasser und kein Leben. Die Spuren führten die dem Wind abgewandte Seite der Düne herunter und dann direkt auf eine Ansammlung von größeren Steinen zu. Er folgte der Spur weiter.
Sebastian fand sie im Schatten des größten Felsens sitzend. Er hatte keinen Zweifel, dass das junge Mädchen im Sand seine kleine Hexe war, zum einen war er schließlich in ihrem Traum und zum anderen waren die narbigen Hände unverkennbar. Sie saß einfach da und spielte mit einer kleinen Echse.
Er setzte sich zu ihr in den Schatten. Sie bemerkte ihn nicht. Gut so, damit musste er wenigstens seine Anwesenheit nicht erklären.
Der Vampir nahm sich die Zeit sie gründlich zu betrachten.
Ein zerbrechliches dünnes Mädchen mit langen Armen und Beinen, wenn sie aufstand, war sie vermutlich schon recht groß. Das Alter war schwer zu schätzen, irgendwo zwischen 14 und 17 Jahren vielleicht, älter jedenfalls, als er nach den Spuren vermutet hätte. Ihr Haar war unter einem graubraunen Kopftuch verborgen, das leider auch Hals und Schultern bedeckte. Der Farbton des Kopftuches harmonierte mit dem des unförmigen langen Kleides, beide waren scheußlich. Einzig Gesicht und Hände waren unbedeckt. Ihre Füße steckten in einfachen aber guten Lederschuhen, die so aussahen, als hätte sie schon einen weiten Weg darin zurückgelegt. Sie war allein bis auf die Echse, hatte nur eine kleine Tasche und einen halbleeren Wasserschlauch dabei und strahlte trotzdem Zufriedenheit aus. Da war keine Angst zu spüren, keine Unsicherheit, sie war einfach nur zufrieden. Dennoch ließ ihn die Frage nicht los: Was tat ein junges Mädchen allein in der Wüste?
Er zog sich zurück und verließ den Traum.
Dies war nicht, was er erwartet hatte. Nicht der erhoffte Einblick in die Persönlichkeit der Hexe, sondern eine zusammenhanglose rätselhafte Erinnerung.
Sie hatten jede Menge Zeit vor sich. Irgendwann würde er schon herausfinden, was dahinter steckte.
Sebastian öffnete die Augen und stand auf, um sich eine Flasche Wein zu organisieren. Das staubige Gefühl war noch immer da aber wenigstens gegen den Durst ließ sich etwas tun.

21.05.2017 5: 43

Araghast Breguyar

Araghast nahm einen letzten Schluck Rum und verstaute die Flasche wieder in der untersten Schreibtischschublade. Warum neigten die ganzen komplizierten Dinge verdammt noch mal grundsätzlich dazu, alle auf einmal zu passieren? Nicht nur die plötzliche Erkenntnis, dass Ophelia Ziegenberger lebte und Gefangene eines Uralten Vampirs war, der inoffizielle Rettungstrupp noch meilenweit davon entfernt war, eine brauchbare Einheit abzugeben, das Wachhaus bespitzelt wurde und er selbst eigentlich offiziell sowieso von nichts wusste - Gestern morgen kurz nach seinem Dienstbeginn war nun auch noch Rogi Feinstich in sein Büro spaziert und hatte erklärt, dass die Obergefreite Senray Rattenfänger von einer Art Feuerdämon besessen war, der die Seele des Rekruten Wilhelm Schneider übel zugerichtet hatte.
"Schlimmer als ein Sack brindisianischer jodelnder Stabheuschrecken." knurrte Araghast mit zusammengebissenen Zähnen. Dass sowohl die besagte Obergefreite, als auch Rogi und der Rekrut Schneider zum Ophelia-Rettungstrupp gehörten, machte die Sache noch einmal wesentlich komplizierter. Sie sollten sich verdammt noch mal aufeinander verlassen und sich nicht gegenseitig ihr inneres Selbst anzünden. Es war wirklich zum Mäuse melken. Und natürlich blieb es mal wieder an ihm, dem Kommandeur, hängen, der Angelegenheit auf den Grund zu gehen.
Und so hatte er den Rekruten Wilhelm Schneider zu sich in sein Büro zitiert. Wenn jemand ihm ein paar vernünftige Antworten geben konnte, dann der Vampir, der sich bei der Jagdübung vor ein paar Tagen als so geschickter Köder erwiesen hatte. Zu Araghasts Überraschung hatte der Rekrut bereitwillig Auskunft gegeben und was er zu hören bekommen hatte, hatte den Kommandeur durchaus überrascht. Natürlich hatte er sich ein paar Spitzen über das unerlaubte Eindringen in die Köpfe anderer Leute nicht verkneifen können, aber insgesamt war es ein sehr konstruktive Gespräch gewesen und Araghast hatte auch einiges über den Rekruten Schneider erfahren können, der für ihn bisher ein relativ unbeschriebenes Blatt gewesen war. Zwar war er ein Vampir, doch wie er von Senray sprach, seine aufrichtige Sorge um ihre Zukunft in der Wache, wies darauf hin, dass es sich bei ihm nicht um eines jener durch und durch skrupellosen Ungeheuer handelte, die der Kommandeur so verachtete.
In der Hoffnung auf ein paar hilfreiche Hinweise, wie er die ganze Angelegenheit behandeln sollte, hatte Araghast anschließend bei Kanndra vorbei geschaut, die in seinen Augen die kompetenteste Gesprächspartnerin darstellte, wenn es um Dämonen und ihre Eigenheiten ging. Sie hatte ihm aufmerksam zugehört und darauf hingewiesen, dass jeder Dämon eine Schwachstelle hatte. Der schwierige Teil bestand daraus, diese zu finden. Deshalb brauchte sie erst einmal weitere Informationen um wirklich hilfreiche Ratschläge für eine Strategie zur Behandlung dieses Problems geben zu können.
Raistan war wie immer deutlich gewesen. Da einzig gute an Dämonen war, sie in einem Exorzismusritual verpuffen zu sehen und wer freiwillig einen Pakt mit einem Dämon einging hatte entweder nicht mehr alle Tassen im Schrank oder keine Ahnung auf was er oder sie sich da eingelassen hatte. Vor die Wahl zwischen dem Tod und einem Dämonenpakt gestellt würde er lieber sterben als seine Seele an eine Kreatur des Pandämoniums verpfänden. Araghast schnitt eine frustrierte Grimasse. Auf einer perfekten Scheibenwelt hätte er Raistan einfach gebeten, einen genügend starken Bannkreis zu zeichnen und das Problem zu beseitigen, aber der Rekrut Schneider hatte klar gestellt, dass die Obergefreite Rattenfänger einen Exorzismus nicht überleben würde. Ihr Leben war an diesen Dämon gebunden. Der Kommandeur seufzte tief. Konnte eine Sache nicht einmal einfach sein?

In wenigen Minuten stand der letzte Schritt der ganzen Angelegenheit an - das Gespräch mit der Obergefreiten Senray Rattenfänger. Nur zu gut erinnerte sich Araghast an ihre letzte Unterhaltung, als er gezwungen war, der jungen Frau zur Sicherheit des Wachhauses ein vorläufiges Hausverbot erteilen zu müssen, und sie daraufhin im Zustand völliger Aufgelöstheit aus seinem Büro geflohen war. Hoffentlich hatte sie sich heute besser im Griff. Die Angelegenheit mit dem Feuerdämon musste geklärt werden und das nicht nur wegen des angeschmorten Bewusstseins des Rekruten Schneider. Man musste wirklich kein Zauberer sein um zu wissen, dass Dämonen nie etwas Gutes verhießen.
Der Kommandeur rückte die Personalakte mit der Aufschrift 'Senray Rattenfänger' zurecht, die vor ihm auf seinem Schreibtisch lag. Schon immer war die Wache ein wahrer Magnet für diverse in Ankh-Morpork gestrandete seltsame Gestalten gewesen. Leute mit seltsamen Haustieren, Leute mit allerlei püschischen Problemen, Leute die sich allen ernstes für Bäume hielten - und nun auch noch eine junge Frau, die einen Feuerdämon in sich trug.
Unwillkürlich schielte er zur untersten Schreibtischschublade. Na gut, ein Schlückchen noch, für die Nerven. Er musste zugeben, die Tatsache, dass er möglicherweise durch die Augen der Obergefreiten von einem Dämon beobachtete wurde, machte ihn nervöser als ihm lieb war.
Es wurden doch zwei Schlucke, bis er sich hinreichend gewappnet für das Gespräch fühlte.

Das Klopfen an der Tür war absolut pünktlich und so zaghaft, dass Araghast es vermutlich überhört hätte, wenn es unerwartet gekommen wäre.
"Herein!" rief er und versuchte, nicht allzu streng zu klingen.
Die Türklinke wanderte zögernd nach unten.
Komm schon, drängte Araghast lautlos. Ich habe wirklich nicht vor, dich beim nächsten Hackbraten-Mittwoch servieren zu lassen...
Endlich wurde die Tür aufgeschoben und die Obergefreite Senray Rattenfänger trat schicksalsergeben über die Schwelle. Jeder Zentimeter ihres Körpers erweckte dein Eindruck eines Schafs, das gerade zur Schlachtbank getrieben wurde. Araghast bemühte sich um eine freundliche Miene. Hier war wirklich vorsichtiges Vorgehen gefragt.
"Du... wolltest mich sprechen, Sör?" fragte die DOG-Wächterin und suchte offensichtlich Sicherheit in der vertrauten Bewegung des Salutierens.
"Setz dich, Obergefreite Rattenfänger." Araghast wies auf den Stuhl, den er vor seinem Schreibtisch bereit gestellt hatte. "Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich will lediglich ein paar Dinge klären, die mir zu Ohren gekommen sind."
Gehorsam näherte sich die Obergefreite dem Sitzmöbel und ließ sich auf der Kante nieder. Ihre Hände krallten sich ineinander und ein Paar grüner Augen blickten ihn in einer Mischung aus Furcht und Erwartung an. Araghast zwang sich, weiter eine freundlich-neutrale Miene beizubehalten. Es war so leicht zu vergessen, dass irgendwo in diesem verschüchterten Mäuschen, hinter diesem ängstlichen Blick, eine feurige Kreatur des Pandämoniums lauerte.
Araghast räusperte sich. Lange um den heißen Brei herumzureden war sinnlos.
"Was ich wissen will - stimmt es, dass du irgendwann in deinem Leben einen Pakt mit einem Feuerdämon eingegangen bist?"
Für einen Augenblick starrte die Obergefreite ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Dann senkte sie schicksalsergeben ihren Blick und nickte langsam.
"Ja, Sör." Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
Araghast machte eine kleine Pause um ihr Zeit zu geben, sich zu sammeln, bevor er weiter sprach.
"Weißt du, Obergefreite, es spielt überhaupt keine Rolle, wann, wo und warum du diesen Pakt eingegangen bist. Das geht mich auch nichts an. Wichtig ist mir nur eine Frage - Kann dieser Dämon zu einer Gefahr für die Wache werden?"
Die Augen der Wächterin schienen ihre Schuhspitzen zu fixieren.
"Ehrlich? Ich weiß es nicht, Sör. Es tut mir leid ... ich, es könnte sein ... ja, Sör. Aber ich ... weiß es einfach nicht." brachte sie schließlich hervor.
Araghast seufzte innerlich. Das Gespräch hätte so viel einfacher sein können, wenn die Obergefreite nur einmal einen klaren Satz zusammenbringen würde. Aber er wollte ja freundlich und geduldig sein. Der Püsche der kleinen DOG-Wächterin zuliebe.
"Wie du wahrscheinlich schon gehört hast, habe ich mit dem Rekruten Wilhelm Schneider gesprochen." fuhr er fort. "Er war sehr offen und hat mir einiges erzählt was mir geholfen hat, ein Bild von der Situation zu bekommen. Wenn ich es richtig verstanden habe, hat der Dämon deine Erinnerungen an den Paktabschluss gelöscht und du hast erst bewusst von ihm erfahren, als Ophelia Ziegenbergers Gedankenleck irgendwie auf euch eingewirkt hat?"
"Äh... so ungefähr... ja, Sör." stammelte die Obergefreite, immer noch fasziniert von ihren Schuhspitzen. "Ophelia... du weißt ja, Sör... die, äh, Flammen in meiner Nähe... Deshalb hatte ich ja, äh, Wachhausverbot..."
"Ja, ich erinnere mich." bemerkte Araghast trocken. "Es tut mir auch wirklich leid, aber ich wollte und konnte einfach nicht riskieren, dass mir das Wachhaus über dem Kopf abbrennt."
"Ich... verstehe, Sör." murmelte die Obergefreite.
"Also gut." Der Kommandeur strich mit dem Finger über den Rand der Personalakte. "Ist abgesehen von Rekrut Schneider, der sich die Sache ja durch mentale Grenzüberschreitung selbst eingebrockt hat, bisher irgendwer durch den Feuerdämon zu Schaden gekommen?"
Die Antwort war Schweigen und Araghast konnte förmlich spüren wie es in der Obergefreiten arbeitete. Was würde er tun, wenn sie ihm beichtete, dass es weitere Verletzte gegeben hatte? Konnte er es dann trotz Wilhelm Schneiders Appell noch verantworten, sie in der Wache zu behalten?
"Es ist... möglich, Sör." Sie sackte in sich zusammen und ihre Stimme schwand zu einem leisen Murmeln. "Ophelia... ich wollte einfach nur... spüren, dass sie noch da war. Deshalb bin ich... mit einer Laterne... Und dann war sie plötzlich fort. Ich lief bis in den Grüngansweg... wollte nur ein Lebenszeichen..." Die Obergefreite rang ihre Hände. "Ich habe sie und alle anderen in Gefahr gebracht, Sör!"
Erleichtert ob dieses Geständnisses beugte Araghast sich vor und senkte ebenfalls seine Stimme.
"Das war nicht sehr schlau von dir, aber dafür um so menschlicher. Ich würde jetzt nicht sagen, dass der Dämon daran schuld war. Ophelia Ziegenberger bedeutet dir sehr viel, oder?"
Wieder bestand die Antwort aus einem leisen Ja, Sör.
Araghast atmete tief durch und mahnte sich zur Geduld. Anscheinend musste er der Obergefreiten Rattenfänger wirklich jede Antwort einzeln aus der Nase ziehen. Aber immerhin war sie, soweit er es mit dem abgleichen konnte, was er von dem Rekruten Schneider erfahren hatte, bisher ehrlich gewesen. Und sie war noch nicht weggelaufen.
"Hat der Dämon im Alltag, in deinem ganz normalen täglichen Leben, irgendeinen Einfluss auf das was du tust und welche Entscheidungen du triffst?" stellte er die nächste Frage.
Die Obergefreite schüttelte den Kopf. "Nur eins ist..." Sie schien sich einen plötzlichen Ruck zu geben. "Er hält mich am Leben und ... will dass ich das auch bleibe." platzte sie heraus.
"Und deshalb hat er den Rekruten Schneider, als er ihn in der Zange hatte, dazu gebracht, dich zu beschützen. Ich glaube, dass auch dein Dämon ahnt, dass der Einsatz zu Rettung Oberfeldwebel Ziegenbergers lebensgefährlich werden kann." Ein weiteres Puzzleteil fügte sich in das Bild der ganzen Geschichte. "Ich weiß von Wilhelm, dass dein Leben und seine Existenz miteinander gekoppelt sind, weshalb ein Exorzismus als Lösung ausscheidet." Araghast konnte sich ein schiefes Grinsen nicht verkneifen. "Irgendwie erinnert mich die ganze Geschichte an die mentale Fessel zwischen Ophelia Ziegenberger und Racul dem Dritten von Ankh." überlegte er laut. "Nur dass dich niemand in einen Käfig gesperrt hat und dich foltert."
Ãœberrascht blickte die Obergefreite zu ihm auf und Araghast gab sein Bestes, ihren Blick mit seinem gefangen zu halten.
"Obergefreite Senray Rattenfänger." sagte er förmlich. "Glaubst du, dass du auch mit dem Wissen, dass du einen Pakt mit einem Dämon geschlossen hast, in der Lage bist, deinen Dienst im besten Interesse der Stadtwache zu verrichten?"
Ein Funke von Hoffnung flackerte in der Miene der Obergefreiten auf.
"Ich... ich werden mein Allerbestes tun, Sör!" stieß sie hervor.
Araghast schenkte ihr ein wohldosiertes Lächeln und traf seine Entscheidung. Auch wenn es noch diverse offene Baustellen bei ihr gab, es wäre wirklich schade gewesen, eine offensichtlich motivierte Wächterin zu verlieren.
"In Ordnung." sagte er. "Du kannst deinen Dienst unter zwei Bedingung fortsetzen. Erstens werden wir den Ophelia Ziegenberger-Rettungstrupp über deinen dämonischen Kameraden aufklären. Sie haben es verdient zu wissen, woran sie sind, wenn ein dermaßen gefährlicher Einsatz ansteht. Zweitens sollst du dich bei Leutnant Kanndra Mambosamba zu einem ausführlichen Gespräch melden. Wie du vielleicht schon mitbekommen hast, ist sie eine Hexe nach gennuanischer Tradition und hat viel Erfahrung im Umgang mit Dämonen."
Während er sprach konnte er den riesigen Stein, der vom Herzen der Obergefreiten kullerte, förmlich hören. Rekrut Schneider hatte recht gehabt. Die Zugehörigkeit zur Wache war für Senray Rattenfänger wirklich zu einem der tragenden Pfeiler ihres Lebens geworden. Und wenn Araghast ihr diesen Pfeiler weggezogen hätte, wäre die Obergefreite in ein emotionales Loch gestürzt das tiefer war als der Gorunna-Graben.
"Äh, Sör... wenn ich noch etwas sagen darf?" fragte sie vorsichtig.
Araghast nickte ihr aufmunternd zu. Es musste sie viel Ãœberwindung gekostet haben, von sich aus das Wort zu ergreifen.
"Nach der Sache mit Ophelia... äh... Da hatte sich Feldwebel Magane angeboten, mir mit dem Feuer zu, äh, helfen... So inoffiziell... Und seitdem haben wir uns... regelmäßig getroffen... Sie wusste von... dem Dämon... und ich habe schon... manches von ihr, äh, gelernt."
Araghast betrachtete die DOG-Wächterin überrascht. Diese Tatsache war ihm neu gewesen. Aber dass die Obergefreite die angebotene Hilfe angenommen hatte und sich Mühe gab, an ihrem Problem zu arbeiten, sprach eindeutig für sie.
"Wäre es dir dann lieber, statt mit Leutnant Mambosamba weiter mit Feldwebel Schneyderin zu arbeiten?" erkundigte er sich. "Nachdem wir sie aus den Klauen dieses verdammten Blutsaugers befreit haben natürlich."
"Das... das würde ich gern." antwortete Obergefreite Rattenfänger und ein Anflug eines scheuen Lächelns huschte über ihr Gesicht, doch gleich darauf verdüsterte sich ihr Miene wieder. "Wenn wir sie denn noch... retten können..."
Araghast ballte die Hände zu Fäusten und der in Vorbereitung auf dieses Gespräch konsumierte Rum gewann die Oberhand über seine Gefühle. "Wir werden sie retten." sagte er entschlossen. "Und ich werde alles tun was in meiner Macht steht, damit dieser verfluchte Vampir für all das bezahlt was er angerichtet hat!"
"Äh... Sör." Die Obergefreite sah ihn etwas irritiert an.
"Schon gut." Araghast sammelte sich. "Ich denke, wir haben uns verstanden. Du kannst wegtreten, Obergefreite Rattenfänger."

Kaum dass sich die Tür hinter der DOG-Wächterin geschlossen hatte, wanderte Araghasts Hand beinahe automatisch zur untersten Schublade. Das Gespräch war stellenweise zäher als die abgelaufene Schuhsohle eines Streifenwächters gewesen. Immerhin wusste er nun halbwegs, woran er war, und er hatte beschlossen, dass die Wache damit schon klar kommen würde. Nun, zumindest die Wache an sich. Aber wie sah es mit dem Rettungstrupp aus? Wie würden sie es aufnehmen, dass eine aus ihrer Mitte einen Pakt mit einem Dämon geschlossen hatte? Araghast dachte an seine eigenen Zweifel, was die Eignung Senray Rattenfängers zum Mitglied des letztendlichen Einsatztrupps betraf. Wenn ihr Dämon immer noch mit flammender Begeisterung auf Ophelias Gegenwart reagierte - würde sie damit den Trupp nicht noch mehr in Gefahr bringen als allein schon durch ihr mangelndes Selbstvertrauen? Wenn überall in der Vampirlauer plötzlich nicht mehr löschbare Flammen aufloderten - wie laut konnte man noch 'Hallo, hier passiert gleich was' brüllen? Nein, es war wirklich besser für alle Beteiligten wenn Senray Rattenfänger zurückblieb. Und, wie er sich selbst eingestehen musste, nur fair Raistan gegenüber, der trotz seiner katastrophalen Nahkampffähigkeiten und seiner chronisch miserablen Konstitution ganz sicher vor keinem Vampir zurückgeschreckt wäre. Dies war eine hochgradig gefährliche Operation und sie konnten sich aus Rücksicht auf persönliche Befindlichkeiten keine schwachen Glieder in der Kette leisten. Und so wenig Araghast auch insgesamt von Berufsassassinen hielt, in diesem Fall war er froh darüber, dass sich Jules Ledoux und Esther Flanellfuß dem Rettungstrupp angeschlossen hatten. Auch wenn es Kanndra und ihm gelang, die Talente aller Beteiligten möglichst vorteilhaft einzusetzen, je mehr Kampf- und Infiltrationskompetenz vorhanden war, desto geringer war die Wahrscheinlichkeit, dass der Einsatz zu einem Cori Celesti-Kommando wurde.
Ja, der Ophelia Ziegenberger-Rettungstrupp. Von dessen Existenz er offiziell nichts wissen durfte. Und nun musste er diese nichtexistente Truppe nicht außerplanmäßig an einem unverdächtigen Ort zusammentrommeln um sie auf keinen Fall über einen Feuerdämon in ihrer Mitte aufzuklären.
Araghast seufzte tief, bediente sich noch einmal an seinem Seelentröster und machte sich an die Arbeit.

22.05.2017 6: 43

Senray Rattenfaenger

Senray betrachtete mit gemischten Gefühlen die nach und nach in Leutnant Mambosambas Büro ankommenden Mitglieder des Rettungstrupps. Sie hatte Angst und gleichzeitig war sie erleichtert. Erleichtert, dass sie weiter Wächterin bleiben konnte und auch erleichtert, dass ihr Geheimnis eben jenes gleich nicht mehr sein würde: geheim. Auch wenn sie mehr als genau darauf achten müssen würde, was sie selbst sagte. Und auch, wenn sie sich entsetzlich vor den Reaktionen der anderen fürchtete.
Rechts von ihr stand der Kommandeur – er selbst würde die anderen über ihren ‚Zustand‘ informieren. Kein beruhigender Gedanke. Und doch... und doch war er, als er sie zu sich gerufen hatte, überraschend umsichtig ihr gegenüber gewesen. Senray war dankbar dafür und noch so viel dankbarer, dass sie weiterhin als Wächterin arbeiten durfte! Sie würde sich alle Mühe geben, jetzt nicht ausgerechnet hier negativ aufzufallen.
Der Blick der jungen Frau glitt kurz nach links und fand Wilhelms.
Der Vampir lächelte sie aufmunternd an und Senray nickte dankbar, während fast ein kleines Lächeln auf ihre Lippen trat. Es war kaum zu glauben – Wilhelm war schließlich ein Vampir. Aber er schaffte es mit seiner Art und durch seine Nähe stets, ihr etwas von der Angst zu nehmen. Vielleicht war es auch einfach die Tatsache, dass sie in ihm jemandem hatte, dem sie sich im Zweifelsfall anvertrauen konnte. Sie wusste, dass sie ehrlich ihm gegenüber sein konnte. Egal, um was es ging. Und dass er es wohl auch ihr gegenüber war.
So hatte Wilhelm sie auch vorgewarnt gehabt, dass er dem Gespräch mit Feldwebel Feinstich nicht hatte aus dem Wege gehen können. Und dass entsprechend wohl ein Gespräch mit dem Kommandeur auf sie zukäme. Und heute...
Der Raum war schon fast voll, es fehlten nur noch Rach und die Assassine.
Senray atmete tief durch. Es würde schon irgendwie gut gehen, nicht? Wieder huschte ihr Blick nach links, wieder betrachtete sie den Kollegen der gelassen neben ihr saß.
Sie hatten nach ihrem Gespräch mit dem Kommandeur sicher eine gute Stunde gemeinsam in der Kantine verbracht. Sie selbst hatte Kakao getrunken und versucht zu realisieren, was das Gespräch für sie hieß und wie sie mit dem Kommenden umgehen sollte. Und Wilhelm... war da gewesen. Er hatte sie nicht gedrängt, nicht ausgefragt. Und als sie schließlich irgendwann, mitten in das gemeinsame Schweigen hinein, "Ich... darf hierbleiben. Darf Wächter bleiben.", gesagt hatte, hatte er sie angestrahlt.
Jetzt jedoch war sein Blick komplett von dem Zauberer neben Nyria gefesselt.
Senrays Lippen zuckten kurz. Dann wurde ihr wieder bewusst, dass der Rekrut und sie doch seit zwei Tagen ein Paar mimten. Sicher war es da nicht ideal, wenn er offen den Zauberer anschmachtete, oder? Sollte sie ihn anstoßen? Aber auf der anderen Seite... sie waren schließlich kein echtes Paar!
Das abermalige Öffnen und Schließen der Tür erlöste Senray aus ihrer Zwickmühle. Rach und seine Schwester betraten den Raum und gespannte Stille trat ein.
Der Kommandeur sah den versammelten Trupp reihum an, zuletzt Senray. Diese erwiderte den Blick mit großen Augen, schluckte schwer und nickte dann sich selbst und ihm zu.
"Da wir nun vollzählig sind, komme ich gleich zur Sache. Gestern wurden mir durch Feldwebel Feinstich Informationen zugetragen, welche die Obergefreite Rattenfänger betreffen und durch diese, sowie durch den Rekruten Schneider, bestätigt wurden. Da diese für euch alle und besonders für euren Einsatz relevant sind oder werden können, habe ich dieses kurzfristige Treffen einberufen."
Erneut ließ er seinen Blick durch den Raum gleiten und Senray musste wieder schlucken. Gleich. Gleich war es soweit. Sie widerstand gerade so dem dringenden Bedürfnis, ihren Blick auf den Boden zu senken. Stattdessen betrachtete sie ebenfalls die anderen. Die junge Frau hatte das Gefühl, dass sowieso die meisten bereits Bescheid wussten. Kanndra zum Beispiel... ihr Blick glitt zu der FROG.
Diese hatte, als Senray und Wilhelm in ihr Büro gekommen waren, der jungen DOG zu verstehen gegeben, dass sie durch den Kommandeur bereits grob informiert war und ihr ihre Hilfe angeboten. Auch jetzt nickte sie ihr ruhig aber aufmunternd zu. Senray erwiderte das Nicken dankbar.
"Die Obergefreite steht im Pakt mit einem Feuerdämon. Dies ist nicht erst seit Kurzem so und erklärt ihre Reaktionen auf Ophelia Ziegenberger. Bisher schien die ganze Angelegenheit jedoch relativ harmlos zu sein. Nachdem Rekrut Schneider allerdings versucht hat, unerlaubt in die Gedanken der Obergefreiten Rattenfaenger einzudringen, hat sich gezeigt, dass ihr Dämon durchaus wehrhaft ist. Der Rekrut hat starke innere Verbrennungen erlitten und wurde durch den Dämon ebenfalls in einen Handel gezwungen, aufgrund dessen er die Obergefreite Rattenfaenger beschützen muss."
Der Blick des Kommandeurs glitt wieder durch den Raum, er musterte sie einen nach dem anderen.
Senray wusste nicht, wo sie hinsehen sollte. Anders als damals, als Rach in die Besprechung geplatzt war und alle von Rogis 'Verrat' gesprochen hatten, herrschte jetzt nicht etwa Aufruhr. Im Gegenteil – es war fast unangenehm still geworden, während der Kommandeur neben ihr gesprochen hatte.
Die einen, die schon Bescheid gewusst hatten, warteten wohl einfach ab, was noch folgen würde. Wer wie reagieren würde.
Und die anderen?
Senray sah nur kurz in die Runde. Als ihr Blick auf Chief-Korporal von Nachtschattens Gesicht fiel erstarrte sie fast. Die andere zeigte eine Maske perfekter Beherrschung. Aber in ihren Augen schien es zu lodern. Schnell wandte die junge Frau den Blick ab.
Esther betrachtete sie mit unverhohlener Neugier.
Rach selbst... zeigte nicht, was er dachte.
Raistans Blick lag kühl auf ihr.
Und Nyria...
"Na, holla! Das sind doch mal Informationen! Nur warum muss Bregs sie uns sagen, statt dass du es vielleicht etwas früher mal selbst erwähnt hättest?" Die Werwölfin sah sie mit gerunzelter Stirn an.
Senray schluckte und wappnete sich dafür, gegen die Ketten zu sprechen. Doch Wilhelm neben ihr räusperte sich.
"Wenn ich hierzu etwas sagen dürfte? Zu Senrays Pakt gehört auch eine Schweigepflicht. Die, wenn mich nicht alles täuscht, hart durchgesetzt wird."
Er sah kurz zu ihr und sie nickte ihm dankbar zu. Wilhelm wandte sich wieder der Gruppe zu. "Ich würde es schon rein durch meine... aktuelle Situation bedingt begrüßen, wenn niemand anfängt, sie so auszufragen, dass sie doch versucht, zu antworten."
Jetzt war er es, dessen Blick jeden Einzelnen zu suchen schien, an sie zu appellieren schien.
Senray hingegen hielt ihre Konzentration auf ihn gerichtet und erlaubte sich, kurz aufzuatmen.
Der Kommandeur nickte dem Vampir zu. "Ihr habt es gehört. Also, gibt es noch Fragen, die ihr direkt hier beantwortet haben wollt? Falls nicht möchte ich, dass ihr euch Gedanken macht, wie ihr zu dieser neuen Entwicklung steht. Seid ihr bereit, das Risiko, das durch den Dämon ausgehen kann, beim finalen Einsatz zu tragen?"
Senray schluckte schwer und biss sich auf die Lippe. Er hatte natürlich Recht, aber...
Araghast Breguyar sprach weiter. "Obergefreite Rattenfaenger wird weiterhin ihren Dienst bei der Stadtwache ableisten. Zudem wird sie intern Unterstützung erfahren im Umgang mit ihrem Dämon. Ob ihr sie jedoch im Thiem haben wollt oder nicht... das ist eure Entscheidung."

23.05.2017 21: 52

Magane

Sebastian streckte sich.
"Was machst du da eigentlich, Hexchen?"
"Ich nähe... irgendjemand hat meine Bluse zerrissen." Sie hatte seit etwa einer halben Stunde versucht, seine Anwesenheit zu ignorieren, während er es sich auf dem Bett gemütlich gemacht hatte und sie beobachtete.
"Ach, das scheußliche Ding. Kleider stehen dir viel besser."
"Kein Grund, sie zu zerreißen." Sie legte ihr Nähzeug weg und kam zu ihm ans Bett. "Ich kann nicht den ganzen Tag rumsitzen und nichts tun, das bin ich nicht gewöhnt."
"Du könntest dich mit mir beschäftigen."
"Wieso hast du eigentlich Zeit hier bei mir rumzuhängen?"
"Ich habe quasi frei. Alle Aufgaben für heute erledigt. Ein gemütlicher Tag in der Stadt kommt nicht in Frage. Deswegen bin ich hier bei dir, damit du mir die Zeit vertreibst."
Sie lächelte unverbindlich und setzte sich zu ihm aufs Bett.
"Was stellst du dir als Zeitvertreib vor?"
"Weiß nicht...", er zog sie zu sich herunter und küsste sie.
Magane wunderte sich kurz über seine offensiv amouröse Anwandlung, bevor sie etwas anderes bemerkte. Er strahlte Nervosität aus! Selten war ein Gefühl bei einem Nichtmenschen so klar gewesen. Was machte ihn so nervös? Mit ihr hatte es nichts zu tun, im Gegenteil. Jetzt, wo sie erkannt hatte, was heute anders war, wusste sie auch, dass er schon nervös gewesen war, als er reinkam. Sie ging die Optionen durch, die sie hatte. Es waren unangenehm wenige. Erstens: Reden. Aber auf ein Gespräch würde er sich nicht einlassen. Zweitens: Abwarten, was das hier werden würde. Dabei hatte sie sich fest vorgenommen gehabt, weitergehende Intimitäten, solange das möglich war, zu vermeiden.
Sebastians Küsse wanderten langsam ihren Hals herunter und folgten dabei der Spur der Narben.
Ihr kamen Zweifel, dass sich irgendetwas auf Dauer vermeiden ließ aber sie zwang sich dazu, sich wieder auf die Optionen zu konzentrieren. Drittens: Versuchen, ihm die Nervosität zu nehmen. Den nötigen Körperkontakt dazu, stellte er selbst her. Aber er war sicherlich nicht leicht zu beeinflussen. Außerdem war sie sich auch nicht sicher, wie er reagieren würde, wenn er es bemerkte. Sie konnte sich partout nicht vorstellen, dass er darauf positiv reagieren könnte.
Am Rande nahm Magane wahr, dass er begonnen hatte, ihr Kleid aufzuschnüren, während sie sich vollkommen auf seine Nervosität konzentrierte. Es gelang ihr, kleine Mengen davon abzulösen und durch ihre eigene Ruhe zu ersetzen. Aber sie musste dabei extrem vorsichtig sein. Praktischerweise verstand Sebastian es hervorragend, sich selbst abzulenken, sodass er ihren Eingriff nicht bemerkte. Leider galt das allerdings nicht für den Umstand, dass sie abgelenkt war. Er sah ihr in die Augen.
"Was ist? Wieso entspannst du dich nicht mal?"
Oh bitte, das konnte er doch nicht ernst meinen. Was erwartete er denn? Vom psychopathischen gewalttätigen Raubtier zum feurigen Liebhaber, mochte für ihn nur ein winziger Schritt sein. Aber vom halbtoten Opfer zur willigen Gespielin war es, zumindest für sie, ein gewaltiger Sprung, davon abgesehen...
"Ich bin verheiratet."
"Und dennoch hast du mir ein lebenslanges Eigentumsrecht eingeräumt", er grinste und zeigt für den Hauch eines Augenblicks seine Reißzähne. "Vielleicht sollte ich deinen Mann einmal kennenlernen."
"Er ist nicht in der Stadt."
Drohungen, Einschüchterungen, Gewalt... auch wenn er noch so charmant sein konnte, sein wahres Wesen war nie wirklich weit weg. Er hatte ihr gedroht, den Kindern und nun auch noch David. Der war zwar als Einziger in Sicherheit aber darum ging es ja bei einer Drohung auch nicht primär. Trotzdem blieb ihr nichts anderes übrig, als Sebastian gewähren zu lassen. Er hatte Recht. Er hatte ihre Unterschrift und ihr Wort.
Sie stand auf und streifte das aufgeschnürte Kleid ab.
Nicht, dass sie nach der erneuten Drohung die Vorstellung, zu ihm ins Bett zu kriechen, verlockender fand oder noch immer den Wunsch verspürte, ihm die Nervosität zu nehmen. Aber sie hatte ja noch immer ein Ass im Ärmel und dazu brauchte es schließlich Berührung.

Sie war eingeschlafen, von ihrem eigenen Widerstand zu erschöpft, um weiter wach zu bleiben. Wieso machte sie es sich selbst so schwer? Sie brauchte doch nur aufzugeben und ihn in ihre Gedanken zu lassen. Er würde sich schon um alles Negative kümmern, ihre Erinnerungen an das vorherige Leben und den Schmerz ändern und in ihr den Wunsch wecken, bei ihm zu bleiben. Aber solange sie ihn draußen hielt, konnte er sie nur auf die harte Tour manipulieren. Drohungen gegen die Familie... wie unelegant. Sie könnten so viel Spaß miteinander haben, wenn sie nur aufgäbe!
Sebastian strich über ihr zerwühltes Haar und zog die Haarforke aus dem sich auflösenden Knoten.
So etwas Spitzes gehörte beim Schlafen nicht ins Bett. Nicht, dass sie sich versehentlich im Schlaf auf diesem zweizinkigen Ding aufspießte. Wenn sie starb, dann von seiner Hand und zu einem Zeitpunkt seiner Wahl.
Er ließ den kunstvoll geschnitzten Haarschmuck vorerst auf den Boden fallen. Vielleicht würde er ihn später aufheben und auf den den Tisch legen. Aber noch hatte er nicht vor, aufzustehen. Noch lange nicht. So nah wie sie sich waren, brauchte er sich noch nicht einmal auf ihren entspannt schlafenden Geist zu konzentrieren, um etwas von ihrem Traum mitzubekommen.
Zwar war der Vampir nicht vollkommen in ihren Traum eingedrungen aber die bloße Berührung reichte aus, um an der Musik des Traumes teilzuhaben. Mehr wollte er jetzt auch nicht. Er hatte vorerst genug Rätselhaftes an ihr gefunden, da brauchte er nicht auch noch ein weiteres Fragment. Die Musik hingegen gefiel ihm wirklich gut.
Er wusste einfach viel zu wenig von ihr. Zwar konnte jetzt noch niemand sagen, wie lange ihre gemeinsame Zeit andauern würde. Aber selbst, wenn ihm nur ein paar Monate gestattet sein würde, sie zu behalten, musste er dennoch mehr über sie wissen. Über jedes Opfer seines Herrn wusste er mehr, sogar über die letzten, deren Jagden nicht so gründlich vorbereitet gewesen waren. Aber seine kleine Hexe hatte er beinahe komplett ohne Vorbereitung holen müssen. Die wenigen Informationen, die er hatte, stammten aus den paar Stunden vor ihrer Entführung. Auch dieses Problem ließe sich sehr einfach lösen, wenn er nur an ihre Erinnerungen käme. Sie war erstaunlich effektiv darin, ihn aus ihrem Kopf fernzuhalten. So oft er es auch in den vergangenen Stunden versucht hatte, immer wieder war da nur die marmorne Wand gewesen. Ganz egal, womit er sie ablenkte, ihr Geist blieb versiegelt.
Sebastian hatte versucht, die marmorne Wand zu umgehen. Aber dabei musste er feststellen, dass 'Wand' nicht ganz zutreffend war. Sie stellte sich keine simple Wand vor, sondern etwas Figürliches, das sie komplett umschloss, wie eine Statue. Statuen konnten zerschlagen werden, mit Sicherheit auch solche, die nur rein geistiger Natur waren. Aber wie viel würde dann noch von ihr übrig bleiben? Nein, bloße Gewalt war nicht der richtige Ansatz. Ablenkung funktionierte anscheinend auch nicht. Vielleicht hätte er es versuchen sollen, als sie ohnmächtig gewesen war? Beim nächsten Mal dann.
Er strich sanft mit den Fingerspitzen über die Narben an ihrem Hals und folgte deren Spur ins Dekolleté. Sie bildeten eine sanft geschwungene Linie, von der er noch nicht wusste, wie er sie fortsetzen würde. Das entschied er täglich aufs Neue, Biss für Biss. Selbst, wenn er eigentlich nichts brauchte, so hatte er beschlossen, würde er ihrem hübschen Hals trotzdem täglich ein weiteres Paar punktförmiger Narben hinzufügen. Ein Jammer, dass er dazu am folgenden Tage nicht kommen würde. Die frischesten Bissspuren waren für ihn noch deutlich zu erkennen. Er konnte sehen, dass sie wärmer waren, als die umgebende Haut. Die Stelle war besser durchblutet, warm und köstlich leuchtete sie ihm entgegen. Eine Einladung. Aber selbst, wenn er sie jetzt nochmal beißen würde, so nähme er doch nicht die gleiche Stelle. Seine Finger kreisten um die frischesten Narben, süßes warmes Blut pulsierte darunter und er konnte dem Drang, die Hexe einfach nur zum Spaß mit einem weiteren Biss zu wecken, kaum widerstehen.
Die Musik, der er die ganze Zeit gelauscht hatte, verstummte. Magane rührte sich. Hatte er sie wachgekitzelt? Um so besser, wach war sie ihm lieber.
"Gut geschlafen, Röschen?"
"Wieso bist du noch hier?"
"Darf ich nicht?"
"Wenigstens beim Schlafen könntest du mich in Ruhe lassen." Sie zog die Bettdecke bis zum Kinn hoch und sah ihn ärgerlich an.
"Ich könnte... ich möchte aber nicht."
"Wieso hast du mich geweckt?"
"Morgen... heute wird ein harter langer Tag für mich und da habe ich mir gedacht, ich stärke mich noch kurz, bevor ich dich verlasse." Mit einer schemenhaften Handbewegung schob er die Bettdecke wieder nach unten und begann dann erneut damit, den wenige Stunden alten Biss, knapp unterhalb des Schlüsselbeins, mit dem Finger zu umkreisen. "Es ist viel schöner so. Vielleicht lege ich mir eines Tages ein paar Mädchen ohne deine Fähigkeiten zu? Einfach als willige, lebendige Blutbank. Aber vorerst hab ich nur dich. Versuch es einfach zu genießen."
Eigentlich war es ihm egal, ob sie es genoss oder sich vor Schmerz und Schuldgefühlen wand. Was ihn interessierte, war nur sein eigener Genuss. Aber er hoffte einfach, dass sie etwas zutraulicher würde, wenn sie die lustvolle Seite des Gebissenwerdens entdeckte.
Sebastian ließ sich Zeit. Küsste noch einmal langsam die Bissnarben herunter, eben weil die so empfindlich waren, dass sie, wenn sie es zuließe, Gefallen daran fände. Dann suchte er sich die logische Fortsetzung der Linie und versenkte genüsslich seine spitzen Reißzähne in dem zarten Fleisch. Keine Stelle um sich satt zu trinken. Aber für ein kleines Frühstück reichte der Blutfluss auf jeden Fall aus.

24.05.2017 0: 02

Kanndra

Während Kanndra durch die Straßen schlenderte, dachte sie daran, was Bregs ihnen gestern über Senray erzählt hatte. Wahrscheinlich war sie diejenige, die die Tatsache, dass die junge Wächterin einen Pakt mit einem Dämon geschlossen hatte, noch am entspanntesten sah. Auch wenn sie seit der Begegnung mit ihrem Vater und den sich daraus ergebenen Konsequenzen nicht mehr so gut auf die Kreaturen des Pandämoniums zu sprechen war, war die erste Frage, die sich ihr stellte, ob Senray damit leben konnte. Die zweite war, ob es eine Gefahr darstellte. Nun, die Antwort auf die erste Frage lautete offensichtlich, dass die DOG ohne den Dämon nicht leben konnte, die auf die zweite schien nein zu lauten. Kanndra genügte das vorerst und wenn Ophelia und Magane aus den Klauen der Vampire befreit waren, konnte man sich immer noch damit beschäftigen. Als FROG wusste man, es galt, ein Problem nach dem anderen auszuschalten. Das brachte ihre Gedanken wieder zu der Aufgabe zurück, die sie nun lösen musste. Gerade rechtzeitig, denn sie näherte sich ihrem Ziel.
Angesichts der Information, dass sie beschattet wurden, ging die Späherin davon aus, dass auch die nähere Umgebung des Internats unter Beobachtung stand. Also hatte sie sich dafür entschieden, ihr Vorhaben ganz offen durchzuführen. Das Heimliche erregte oft mehr Verdacht, als das, was offen und scheinbar ganz selbstverständlich geschah. Dementsprechend hatte sie sich verkleidet und trug einen weiten, schmutzig-grauen Overall, hohe Stiefel und eine Schirmmütze, was zwar nicht ihre Hautfarbe, aber ihr Geschlecht verschleierte. Desweiteren hatte sie eine Lampe und eine Tasche dabei, die unter anderem Absperrband enthielt, dass sie nun quer über den Eingang zu der kleinen Gasse spannte und ein Schild mit der Aufschrift "Achtung! Kanalarbeiten!", das sie an dem Band befestigte. Dann schlenderte sie betont lässig zum anderen Ende der Gasse, wo sie den Vorgang wiederholte. Anschießend holte sie einen Haken hervor und zog den Kanaldeckel beiseite. Jetzt folgte der unangenehme Teil, was sie sich aber nicht anmerken ließ. Stattdessen versuchte sie so auszusehen, als würde sie ständig in den Untergrund verschwinden [15]. Erst als sie die glitschigen Tritteisen hinter sich hatte, die Lampe angezündet und ein paar Schritte in die Dunkelheit hinein gegangen war, erlaubte sie sich ein kleines Schaudern. Doch sie war ja selbst schuld – schließlich hatte sie selber dem Kommandeur diesen Ausflug vorgeschlagen.
Ihre Nase teilte ihr, kaum dass sie den gemauerten Gang betreten hatte, unmissverständlich mit, wo sie sich befand. Auch das schmutzige Wasser, das ihr bis zur Wade ging, bot einen Anhaltspunkt. Wenigstens befand sie sich nicht in der Nähe des Ankh, dort war es in den Kanälen kaum auszuhalten. Die Lampe spendete gerade genug Licht, um einen Umkreis von zwei Metern zu beleuchten und die huschenden Schatten einzufangen, die dem Licht auswichen. Die meisten Ratten waren aufgrund der wachsenden Zwergengastronomie scheuer geworden als früher, das hatte die Späherin schon festgestellt. Deshalb kümmerte sie sich nicht um die Nager, sondern setzte ihren Weg entlang des Abflusses fort. Hier und da schaute sie in Nebengänge oder Nischen, doch ihr Ziel lag noch eine ganze Strecke weit vor ihr und am Anfang hielt sie sich nicht lange damit auf. So kam sie in dem Hauptgang recht zügig voran. Schließlich hielt sie jedoch die Zeit für gekommen, sich gründlicher umzuschauen.
Sie begann damit, in eine Nische an der Seite zu schlüpfen und ein paar Atemzüge lang zu lauschen, nur um sicher zu gehen, dass ihr niemand gefolgt war. Danach konnte sie zumindest diejenigen ausschließen, die ihre Beine benutzen mussten, denn das Plätschern im Abwasser hätte sie verraten.
Als nächstes wählte sie einen Nebengang, der leicht abschüssig war und noch immer in die richtige Richtung führte. Jede genommene Abzweigung markierte sie mit einem kleinen Symbol, das sie mit Kreide an die Wand malte.
Als sie ein Stück Wand entdeckte, dass einen schmalen Riss aufwies, fing ihr Herz an zu klopfen. Die unangenehme Umgebung war vergessen, denn jetzt begann der Teil ihrer Arbeit, der Kanndra besonders reizte. Nie wusste man, was einen hinter der nächsten Ecke erwartete, ob man entdeckt wurde oder entdeckte. Sie hinterließ ihr Kreidezeichen, schob sich durch den Spalt und stand in einer Dunkelheit, die auf einen größeren Raum schließen ließ, denn der Lampenschein traf vor ihr auf keinerlei Hindernis. Vorsichtig tastete sie sich vor und fand viel Staub, Dreck und verrottete Holzstücke. Erst als sie schon enttäuscht wieder gehen wollte, sah sie, woher das Holz wohl stammte. Überreste einer Holztür hingen noch an verrosteten Angeln und gaben den Weg in einen weiteren Keller frei. Dieser war deutlich kleiner als der erste und ebenfalls leer. An der hinteren Wand fiel ihr jedoch ein etwa faustgroßes Loch in Kniehöhe auf. Neugierig, was dahinter liegen mochte, spähte sie hinein. Sehen konnte sie zwar nur eine fette Ratte, die aufgrund des plötzlichen Lichteinfalls wie erstarrt in dem Loch hockte, hörte aber eine resolute Frauenstimme, die gerade brüllte: "Ich habe dir schon tausendmal gesagt, dass du die Fässer der Reihe nach anstechen sollst, du nichtsnutziger Bengel!" Zusammen mit der feinen Note nach Bier, die sich unter den Kanalgeruch mengte, sagte es ihr genug. Nun, diese Abzweigung hatte sich als Sackgasse erwiesen, sofern sie sich nicht zwischendurch Proviant besorgen wollten, aber wenigstens wusste sie jetzt genau, wo sie sich befand. Wieder in dem Nebengang angelangt, machte sie einen Strich durch das Symbol, fügte nach kurzem Zögern noch so etwas wie eine Gans hinzu und machte sich weiter auf den Weg.
Etwa eineinhalb Stunden später hatte die Späherin, inzwischen auf einer Ebene angelangt, von der sie glaubte, dass sie die unterste war, zahlreiche solcher Keller untersucht, hatte Gänge und Spalten gefunden, die oft aber auch nur in verschüttete oder zugemauerte Sackgassen führten. Ausserdem waren ihr unzählige Ratten, Spinnen [16] und andere Krabbeltiere über den Weg gelaufen. Sie hatte sogar einen alten, noch immer stabilen, aber leider leeren Tresor gefunden und rätselte noch immer darüber, wie dieser an diese Stelle gelangen konnte.
Mittlerweile war sie jedoch zu der Auffassung gelangt, dass dieser Weg nicht gangbar war für ihren Rettungstrupp. Jedenfalls nicht ohne einen Aufwand, der nicht zu vertreten war, solange sich andere Möglichkeiten auftaten. Kanndra wollte sich gerade auf den Rückweg machen, als sie etwas hörte, dass sie noch einmal zögern liess. Es war das Geräusch von Wasser, dass sie veranlasste, den Spalt über einem Schutthaufen zu vergößern, so dass sie sich hindurch zwängen konnte. Auf der anderen Seite geriet sie trotz aller Vorsicht ins Rutschen, so dass sie am Fuß des Hügels mit einem lauten "Wuusch" hart auf den vier Buchstaben landete. Die antrainierten Reflexe sorgten dafür, dass sie ihren Kopf und die Lampe schützte und die Beine anzog. Trotzdem trafen sie einige der herabfallenden Brocken schmerzhaft. Um eine große Beule und zahlreiche blaue Flecke reicher war sie froh, dass sie niemand bei dieser Aktion gesehen hatte. So hatte wenigstens ihre Würde nicht gelitten.
Das Geräusch des fließenden Wassers war nun deutlicher zu hören und es dauerte nicht lange, bis die Wächterin den Wasserlauf gefunden hatte. Der Farbe und dem Geruch nach zu urteilen, handelte es sich auch hierbei um Abwasser. Es musste seinen Weg irgendwie aus den oberen Regionen bis in diese uralten Kanäle zurück gefunden haben. Sie folgte der Fließrichtung und stieß bald darauf auf ein Gitter, dass den Abwasserlauf von Wand zu Wand teilte und an dem sich dementsprechend viel Müll gesammelt hatte. Dieser konnte jedoch den gruseligen Anblick, der sich Kanndra dahinter bot nicht verdecken. Sie hatte immer noch freie Sicht auf einen gemauerten Schacht, aus dem nicht nur einige rostige Spieße ragten. Auf den Spießen steckte ein Skelett. Offensichtlich handelte es sich um eine tödliche Falle, die von dem Bedauernswerten ausgelöst worden war, dessen Überreste nun dort verrotteten. Der Leutnant presste sich so gut es ging an das Gitter und hielt die Lampe über ihren Kopf. Doch von hier unten war nichts zu erkennen außer Dunkelheit, die sich bis oben hin erstreckte. Auch das Gitter war stark und rührte sich trotz allem Rütteln nicht von der Stelle. Und selbst wenn, sie hätte keine Möglichkeit gehabt, die Grube zu verlassen. Auch dies hatte sich letztendlich als ein im wahrsten Sinne des Wortes totes Ende herausgestellt.
Müde, mit schmerzenden Gliedern, nassen Füssen und stinkenden Kleidern machte sie sich auf den Rückweg.

25.05.2017 13: 11

Wilhelm Schneider

Er hatte tatsächlich mal einen freien Vormittag, viele freie Stunden, bis in den Abend hinein. So viel, wie in den letzten Tagen geschehen war, und in anbetracht der zusätzlich unterzubringenden heimlichen Treffen des Rettungszirkels, grenzte es an ein Wunder, plötzlich einige Stunden zur uneingeschränkten persönlichen Verfügung zu haben. Vermutlich wäre es schlauer gewesen, die Zeit für den Laden zu nutzen und dort nach dem Rechten zu sehen, einfach mal wieder anwesend zu sein, sich den Kunden zu zeigen. Aber irgendwie brachte er das heute tatsächlich nicht über sich. Er war nervös, auch wenn er sich das nicht unbedingt eingestand. Er brauchte jedenfalls etwas Zeit nur für sich.
Wilhelm nippte an dem herrlich duftenden Heißgetränk und blickte von seinem kleinen Einzeltisch in der Ecke des Bappkopp, hinaus auf das geschäftige Treiben der Straße. Dieses Lokal lag direkt an der Sirupminenstraße, nicht einmal 200 Fuß von Senrays Arbeitsstelle entfernt. Wo diese sich auch derzeit aufhielt, also in der Außendienststelle der Gildenbeobachtung, dem Boucherie. Sie hatte einen noch strafferen Dienstplan als er. Zu heute Abend musste sie wohl sogar noch mal auf die Straße raus aber sie hatte ihm mit beruhigendem Lächeln zu verstehen gegeben, dass er sich keine Sorgen machen bräuchte, es handele sich um einen völlig langweiligen Routine-Dschob, bei dem mit keinerlei Komplikationen zu rechnen sei. Er wollte ihr vertrauen, immerhin würde sie ihn nicht belügen, da war er sich sicher. Einzig der Gedanke, dass sie sich unbeabsichtigt verschätzen könnte, machte ihm zu schaffen. Woraus er sich auch seine Nervosität erklärte.
Wenn er sich der Fensterscheibe entgegen lehnen und angestrengt die Straße hinunter schauen würde, könnte er sogar den kleinen Zugang zu der Seitenstraße erkennen. Unter normalen Umständen hätte er dieses "Café" vermutlich nicht betreten. Es versprühte nicht den gehobeneren Charme jener Geschäfte, in denen er üblicherweise gerne seine Zeit verbrachte. Trotz der exzellenten Getränkekarte! Die tatsächlich auch die einzige Karte hier darstellte, da das Bappkopp keine Speisen führte. Aber neuerdings ließen sich ja ohnehin nur noch sehr wenige seiner Erfahrungen unter dem Oberbegriff der Normalität ablegen. Was schadete da noch ein Abweichen von den übrigen Routinen? Und immerhin war er ihr hier etwas näher!
Der Vampir setzte die schwere Tasse vorsichtig ab, umfasste ihre Wärme aber weiter mit seinen kalten Fingern.
Der Gedanke war ihm unangenehm, dass ein unbeteiligter Beobachter ihm vielleicht unterstellen würde, sich in unlauterer Absicht einem beobachteten Objekt anzunähern. Als wenn er heimlich eben doch so schrecklich traditionellen Klischees anheim gefallen wäre und sich auf der Jagd befände! Dabei war es doch überhaupt nicht so! Er wollte die junge Frau nicht ausspionieren oder ihr anderweitig auflauern. Und ganz sicher wollte er sie nicht in dieser Art bedrängen!
Sein Blick wanderte in die Ferne und nahm nicht mehr wirklich wahr, was direkt vor der Scheibe geschah. Stattdessen erinnerte er sich in einer ungezwungenen, leichten Folge von Bildern an die Begegnungen mit ihr.
Das Auftauchen der Gefreiten in der ersten Besprechung, ihre völlig verschüchterten, ja, ängstlichen Blicke, ihr unscheinbares Aussehen, ihre leise Stimme... ihr rasender Herzschlag!
Die nervösen Blicke, die sie ihm zuwarf, als er sie auf der morgendlichen Streife zum Schein begleitete, während er eigentlich nur den aufwühlenden Gedanken nicht ertragen hatte, ihr könne so kurz nach seiner geistigen Knechtung etwas zustoßen. Und wie sich ihr Pulsschlag an seiner Armbeuge allmählich, nach und nach, beruhigt hatte, als sie seine Nähe zu akzeptieren begann.
Wie sie, unbemerkt von sich selbst, damit begonnen hatte, ihn mit anderen Augen zu sehen. Nicht nur den Vampir an ihm wahrzunehmen, die Gefahr, sondern auch ihn, als Person.
Ihre respektvolle Annäherung an ihn, nach seiner schmerzhaften Erfahrung in Rogi Feinstichs Gedanken; die vorsichtigen aber nichtsdestotrotz mitfühlenden Berührungen auf seiner Haut, als sie sich um ihn kümmerte – entgegen ihrer tief verwurzelten Angst vor seinesgleichen!
Ihre warmen Hände, die sich wie ein Nest aus Sicherheit und Geborgenheit um seine Fledermausgestalt schlossen. Wie sie ihn damit, im direkten Anschluss an die nervenaufreibende Jagd des Rettungstrupps auf ihn, vor allen kalt triumphierenden Augen barg.
Das gemeinsame Gespräch in ihrem Büro, bei dem sie zwar die Nerven verlor – aber gleichzeitig auch ihre letzte echte Scheu vor ihm aufgab!
Wilhelm gab einem Impuls nach und atmete tief durch.
Es ließ sich nicht leugnen. Und wozu auch? Es gab etwas zwischen ihnen, das nichts mit den Ketten des Dämonenpaktes zu tun hatte, was aber mindestens ebenso tief hinab reichte in ihre Seelen. Für jemanden mit ihrer panischen Angst vor seiner Spezies war sie überraschend schnell auf ihn zugegangen. Und er selber... normalerweise wahrte er Distanz zu anderen. Er kommunizierte und scherzte und wirkte sehr zugänglich, das mochte stimmen. Aber wenn man ihn gefragt hätte, mit wem er einen privaten Abend in einem Konzert beispielsweise verbringen wolle... In so wenigen Tagen hatten sie sich einander auf eine Art und Weise offenbart, die unüblich war, nicht nur unter Vertrauten, sondern erst recht unter zuvor Fremden. Und was auch immer es war, das sie miteinander verband, es hatte nichts mit romantischen oder gar... körperlichen Bedürfnissen zu tun. Da war er sich absolut sicher. Gab es einen Ausdruck dafür? Mitgefühl spielte eine Rolle. Sie waren beide dazu gezwungen worden, einen schmerzhaft nachhaltigen Eingriff in den Alltag zu akzeptieren, dessen Folgen willkürlich und bedrohlich erschienen.
Sie sogar schon viel länger als er.
Wilhelms Hand spielte gedankenverloren mit dem Löffel neben der Tasse, als er sich vorzustellen versuchte, wie es Senray ergangen sein mochte in den letzten Jahren. Einsam ausgeliefert an diese unsichtbare Macht, ohne die Möglichkeit, ihre Last zu teilen, mit irgendwem darüber zu sprechen! Sie wirkte so zerbrechlich, so unsagbar schützenswert! Ihr flatternder Herzschlag erinnerte ihn ständig an den, eines kleinen Rotkehlchens, welches aus dem Nest gefallen war. Hätte er ihr einen freundlichen Spitznamen geben wollen, der zu ihr passte, so wäre seine Wahl auf "Kleines Vogelherz" gefallen, als Ausdruck von Zuneigung und Beschützerinstinkt.
Er strich sich mit beiden Händen übers Gesicht, lehnte sich zurück und versenkte dabei seine Hände in den Hosentaschen.
Womit er unweigerlich in Gedanken zu der Sache mit dem Beschützen kam, selbst unabhängig von seinen unerwarteten Gefühlen. Denn, Senray zu beschützen, darin sah er zumindest von seiner Motivation her und von seiner Bereitschaft her dazu, nicht das geringste Problem. Der Gedanke, über die junge Kollegin zu wachen, um sie vor weiterem Schmerz zu bewahren, hatte sich ihm ohne Umwege in Herz und Sinn eingenistet. Aber... dieser Pakt!
Der Vampir runzelte unbewusst die Stirn und fixierte die erkaltende Tasse mit seinem Blick.
Er dachte nicht gern daran, dass er mindestens für die kommenden Wochen zwangsverpflichtet war. Dass er somit einem bösartigen Wesen Rechenschaft schuldete, dessen Spielregeln er nicht einmal gänzlich verstand!
Das Abbild dieser... Kreatur schlich sich in seine Erinnerungen und er schauderte. Der Körper Senrays, jung und unschuldig – doch die rot glühenden Augen eines Wesens, das Äonen der Grausamkeit ausstrahlte. Ihr Blick... nein, das war falsch! Er würde diesem Wesen kein ‚sie’ oder ‚er’ mehr geben, ihm keine Spezifizierung zugestehen, die auch nur einen Hauch von Menschlichkeit bedeuten mochte und damit dessen unnatürliche Mordlust verschleiern würde! Dass er selber noch lebte, da gab er sich keiner Illusion hin, war darin zu begründen, dass das Wesen einen Plan verfolgt hatte. Denn allein von seinen Instinkten her, hätte es ihn beinahe aus dem Weg geräumt. Und dann diese fast obszöne Lust daran, ihm Schmerzen zuzufügen, als sich dieser Kreatur die Möglichkeit dazu bot!
Senrays Reaktion ging ihm nicht mehr aus dem Sinn, als sie auf die Kreatur zu sprechen gekommen waren. Ihr Erröten. Der Dämon erschien ihr in anderer, besonders wohlgefälliger Gestalt. Und er spielte dabei offensichtlich mit ihren Gefühlen, nahm sie für sich ein.
Wilhelm hatte das ungute Gefühl, dass Senray trotz – oder vielleicht sogar gerade wegen – ihrer langjährigen Vertrautheit mit dem Wesen, dessen Mordlust unterschätzte. Sie schien gefangen, nicht nur in ihren unausgesprochenen Verpflichtungen und den ihr damit auferlegten Grenzlinien des Handelns. Sondern auch in einem Gefühlschaos, das ihren Widerstand schwächte. Konnte es wirklich sein, dass ihre vorsichtigen Worte im Boucherie, als sie sich ihm anvertraute, wahrhaftig ein vorhandenes Gefühl der Anhänglichkeit spiegelten, mit dem sie ihrem Kerkermeister huldigte? Sah sie wirklich ihren Retter in dem Dämon? Und das nicht nur auf den Akt der Bewahrung vor dem Tod bezogen, sondern darüber hinaus?
Er hoffte, dass dem nicht so wäre. Denn, wie der Dämon ihm selber zu verstehen gegeben hatte, zeigte dieser sich nicht lediglich in den von ihm so heiß geliebten Flammen. Nein, er war das Feuer, mindestens also eine Art Verkörperung von einem Aspekt selbigens! Und es war nicht der bewahrende Anteil der Wärme und Behaglichkeit, die man mit einem nährenden Herdfeuer in Zusammenhang brachte, so dass man über eine gottgleiche Macht hätte spekulieren können. Nein, er hatte das Wesen als zerstörungswütig und grausam kennen gelernt, verlockend bösartig und damit pervertiert. Und gleichgültig, in welcher Form diese Macht sich Senray zeigen und wie viel sie ihr als Versprechen einflüstern mochte, es musste unweigerlich auf ein Kokketieren mit dem Feuertod hinauslaufen.
Er verspürte den Wunsch, sie zu warnen und sie darum zu bitten, vorsichtig zu sein, auf ihre Gefühle aufzupassen und sich wenigstens auf dieser Ebene von dem Dämon zu lösen.
Doch vermutlich würde sie das nicht von ihm hören wollen. Sie hatte so lange mit niemandem darüber reden können und musste regelrecht isoliert sein, wie konnte er ihr da diese selbstmörderische Zutraulichkeit verübeln? Und wie kam er selber dazu, sie ebenfalls gängeln zu wollen? Sie kannten sich doch kaum!
Aber vielleicht bot sich in absehbarer Zeit wenigstens die Chance dazu, vorsichtig nachzufragen? Das Vertrauen zwischen ihnen fühlte sich schon jetzt an, als wenn es sie aufeinander zu führen würde und ihnen noch viele weitere Gelegenheiten eröffnen würde, sich auszutauschen und einander näher zu kommen. Und, ja, auch wenn diese Variante dem Dämon nicht in den Sinn gekommen sein mochte, als er ihm seine Mission aufzwang – Wilhelm war gewillt, Senray zu beschützen. Wenn irgend möglich, dann auch vor dieser unbarmherzigen Macht.
Der Vampir im Café legte eine Hand vor sein Schmunzeln und stützte sich seitlich auf der Armlehne ab.
Hatte er wirklich gerade beschlossen, einen Dämon herauszufordern?
Er schüttelte inwendig über sich selbst den Kopf und lachte sich aus. Er wurde langsam größenwahnsinnig, das musste es sein. Er hatte ja noch nicht mal sich selbst schützen können!
Das mahnende Brandmal prickelte wie zur Erinnerung unter dem Stoff seines Hemdes.
Dabei hatte er noch Glück im Unglück gehabt, anders konnte man es nicht sagen. Nicht nur war er dem direkten Zugriff des Dämons lebend entkommen – oder wie auch immer man es in seinem Fall nennen mochte. Sondern ihm war es obendrein erspart geblieben, mit einer ebensolchen Klausel der Verschwiegenheit belegt zu werden, wie die kleine Kollegin!
So oft er diesen Gedanken auch drehte und wendete... er kam immer wieder mit verkrampftem Magen zu dem Schluss, dass es sich dabei um ein Versehen gehandelt haben musste. War die Kreatur zu übermütig auf sein Auftauchen angesprungen und hatte sich dann in ihrer Gier übernommen? Hatte sie so ambitionierte Pläne verfolgt gehabt, dass dieser Punkt schlichtweg in Vergessenheit geriet? Wie auch immer, dass er dadurch imstande war, eine jahrelang grausam unterdrückte Information willkürlich zu streuen, konnte nicht im Interesse der Kreatur liegen, da war er sich sicher. Dennoch! Bisher hatte ihn keine Strafe dafür ereilt. War die Kreatur womöglich gar nicht imstande, sein Denken und Handeln direkt mitzuverfolgen? Senray hatte zu Anfang befürchtet gehabt, der Dämon wäre zum ersten Mal außerhalb ihres Kopfes tätig gewesen, hätte es geschafft, diesem begrenzten Territorium zu "entkommen". Das ließ hoffen. Insofern er es also nicht übertrieb, schien es ihm damit vielleicht sogar vergönnt zu sein, einen verhältnismäßig normalen Alltag zu führen.
Er hatte ihr von Nutzen sein können!
Zu Beginn hatte noch Panik in ihm dominiert, die Angst davor, dass dieses Wesen nicht nur echte Schuld an ihm suchen, sondern sogar Schmerzen, die es Senray selber zufügen mochte, ihm zur Last zu legen, gewillt sein würde. Und irgendwo in seinem Hinterkopf lauerte diese Sorge auch immer noch. Aber dann war diese Furcht, vor einem Vertragsbruch Senrays und dessen persönlich zu erahnenden Folgen für ihn, allmählich dem Gefühl gewichen, ihr ängstliches Ringen mit den ihr auferlegten Bedingungen nicht mehr so besonders gut ertragen zu können. Sie hatte sich um ihn gekümmert gehabt, als es ihm schlecht ging und niemand ihn beachtete. Da wäre es nicht fair gewesen, sie nun sich selbst zu überlassen, wo er doch wusste, was für eine Last sie schon viel zu lange zu schultern hatte.
Auch das hatte sich wie eine natürliche Fügung angefühlt gehabt – sie zu begleiten, wo immer möglich, für sie zu sprechen, wenn er ahnte, dass sie durch ihren Pakt daran gehindert wurde. Er war sich nicht gänzlich sicher gewesen, ob er das Richtige getan hatte, indem er ihre Situation offenbarte. Aber es war eben nicht nur die ihre, sondern auch seine eigene. Und diese weiter zu verschweigen, hätte ganz sicher zu viel schlimmeren Konsequenzen geführt. Wo doch das Misstrauen bereits gesät gewesen war. Es gab eben Ereignisketten, die sich nicht aufhalten ließen. Und letztlich... Senray war ihm dankbar, für das, was er getan hatte. Sie hatte große Angst gehabt, gewiss. Was für eine Veränderung immerhin! Und es hätte vermutlich auch anders ausgehen können. Er wusste, er schuldete den Kollegen Dank dafür, dass sie auf bestimmte Fragen verzichtet hatten. Aber alles in allem...
Die Erinnerung an ihren kräftigen Herzschlag im Anschluss an die Besprechung, an ihr erleichtertes Lächeln. Sie war wie... wie eine... gute Wärmequelle. Wie ein sanft wärmender Ofen, an den man sich annähern konnte, ohne sich zu verbrennen.
Wilhelm lächelte bei dem Gedanken.
Ja, er würde es wie immer handhaben. Er würde einfach abwarten, wie sich die Dinge entwickelten und dann das Beste daraus machen. Es nützte ja auch nichts, wenn er sich immerzu mit Grübeleien über diesen vermaledeiten Pakt quälte! Das änderte eh nichts. Dann konnte er genauso gut seinen üblichen Pflichten nachgehen und einfach nebenbei, ganz unverbindlich, so wie jetzt, ihre Nähe suchen, um ein Auge auf sie zu haben. Unverfänglich und unaufdringlich. Einfach nur, um seine Nervosität zu zügeln.
Und auch ihre Beteiligung am Rettungstrupp würde er nach diesem Kriterium angehen. Der Kommandeur hatte darum gebeten, sich darüber klar zu werden, ob man sie dabei haben wolle? Er würde sie nirgendwo anders haben wollen! Ihm selber blieb aufgrund der Bedingungen seines eigenen Paktes kein Handlungsspielraum, er würde den Rettungszirkel mit vollem Einsatz unterstützen und auf Ophelias Rettung hinwirken müssen. Zumal diese auch nicht weniger verdient hatte! Und dementsprechend wäre es für ihn wichtig, Senray ebenfalls dabei zu haben, um möglichst einfach häufig an ihrer Seite sein und sie beschützen zu können. Aber... und das würde sie enttäuschen, was ihm jetzt schon leid tat: Er würde sie nicht an vorderster Front wissen wollen! Spätestens, wenn es an den konkreten Rettungseinsatz ginge, würde er sie in der Sicherheit des Wachhauses wissen wollen, außerhalb des Zugriffs des Alten. Vielleicht war es sogar sinnvoll, ihr das noch heute Abend zu sagen, bevor er es irgendwem anders mitteilte?
Mit diesem Entschluss frisch im Sinn und sich selbst im Reinen, stand Wilhelm auf. Er fischte nach dem passenden Kleingeld in seiner Hosentasche und der Wirt, dessen Gehör das leise Klimpern besser zu orten schien, als ein Werwolf bei Vollmond einen Verschlag mit Gänsen, sah zu ihm hinüber.
Ein scharfer Schnitt riss in seiner Fingerkuppe auf und erschrocken zuckte er zusammen und ließ das Geldstück auf die Tischplatte fallen. Er hielt sich die Hand vors Gesicht und betrachtete den Schnitt.
Ein Blutstropfen perlte langsam unter der glatt zerschnittenen Haut hervor.
Mit gerunzelter Stirn blickte er auf die harmlos wirkende Münze. Deren abgegriffene Ränder kamen als Ursache nicht in Frage. Trug er unbewusst einen anderen dafür verantwortlichen Gegenstand mit sich?
Ein scharfer Schmerz fuhr über die nächste Fingerkuppe. Auch dort trat ein rubinroter Tropfen der kostbaren Lebensessenz zutage, nur diesmal merklich schneller. Dieser zweite Schnitt aus heiterem Himmel war tiefer, wie es schien. Wilhelm registrierte nur beiläufig, wie sein Blut auf den Boden zu tropfen begann und neben ihm der Wirt auftauchte.
Gleich zwei Schnitte dieser unsichtbaren Klinge trafen seine Haut, diesmal jedoch an der anderen Hand.
Der Vampir sah sich gehetzt um.
Was ging hier vor sich?
"Hey, was soll der Blödsinn? Könntest du das gefälligst unterlassen, Mister? Nur weil wir am Rand der Schatten sind, heißt das nicht, dass in dieser Kneipe gerne Blut von den Dielen gewischt wird. Hörst du?"
Er nickte hastig und griff sich die ungenutzte Serviette vom Tisch, drückte seine Finger in das weiße Tuch, das sich schnell rot zu färben begann.
Und dann setzte der Schmerz ein.
Wie ein flammendes Inferno explodierte er in seiner Brust, ließ ihn aufschreien und sich vornüber zusammenkrümmen. Alles war wieder da, auf einen Schlag! Ihr höhnisches Grinsen, ihre rot glühenden Augen und die Feuersbrunst in seinem Inneren, dort, wo sie ihre Hand auf seinen Brustkorb aufgelegt und ihn für sich gebrandmarkt hatte! Sein Körper schien zu brennen, seine Lungen von innen heraus zu versengen.
"Das reicht, wirklich! Entweder, du sagst, was los ist, so dass man dir vielleicht helfen kann. Und lässt den Mist! Oder du verschwindest hier, auf der Stelle! Wir können keinen Ärger gebrauchen!"
Der Vampir war kaum imstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Und selbst wenn er es gekonnt hätte! Das vorwurfsvolle Genörgel des Ladenbesitzers wäre ihm auch dann gleichgültig gewesen. Nur eine Erkenntnis war von Bedeutung: Das was gerade geschah, hing mit dem Dämon zusammen und mit dem Pakt! Das Brandmal, welches sich soeben ganz allmählich durch den teuren Stoff seines Leinenhemds kokelte, war Hinweis genug. Etwas war geschehen, was der Feuerkreatur Anlass genug geboten hatte, ihn an seine Lebensschuld zu erinnern! Und das wiederum konnte nur bedeuten, dass Senray etwas passiert war!
Er rannte aus dem Laden, die Rufe ignorierend, schnell genug, um von einer Sekunde auf die nächste verschwunden zu sein und nur seine blutigen Spuren zurückzulassen. Dann eilte er die Straße hinab, das kurze Stück nur, bog ab und rannte nahezu unsichtbar, wenn auch nicht lautlos, in das Näherinnen-Etablissement, dort am Tresen vorbei und die Treppen zu ihrem Büro hinauf. Er stürmte ins Zimmer, eine der inzwischen völlig blutverschmierten Hände kurz an der Klinke, ehe er diese wieder los und sie hinter sich offen gegen die Wand fallen ließ.
"Senray!", rief er noch in der Bewegung und sah sich panisch nach ihr um.
Sie zuckte erschrocken zusammen und wäre fast vom Stuhl gefallen, als er plötzlich mitten im Zimmer stand.
"Wilhelm!"
Er blieb völlig verwirrt stehen und starrte sie an. Er hatte erwartet, sie in ähnlicher Weise verletzt vorzufinden, wie sich selbst, mit blutigen Messerstreichen an den Händen. Gefoltert vielleicht, von üblen Subjekten, die die Tarnidentität dieser Außenstelle aufgedeckt hätten. Dass er ihre Wunden als die seinen zugefügt bekäme, als Mahnung und Strafe für sein offensichtliches Versäumnis, sie davor zu bewahren.
Stattdessen sprang sie bleich von ihrem Stuhl auf. Ihr Herzschlag zwar dramatisch schnell, dies aber eher aufgrund seines Anblicks, wie ihm verzögert bewusst wurde. Ansonsten wirkte sie auf den ersten Blick völlig unverletzt.
"Wilhelm... du... du blutest! Was ist... also... mit deinen Händen? Was ist passiert?"
Er tat einen winzigen Schritt auf sie zu, hielt besorgt nach Verletzungen Ausschau, die sie vor ihm verstecken mochte. Die eigenen Verletzungen waren in diesem Moment nebensächlich.
"Senray, wie geht es dir? Was ist hier passiert?"
In dem Moment, als er sich aufrichtete, um das schmerzhafte Atemholen zu erleichtern, sah sie das inzwischen völlig verkohlte Vorderteil seines Hemds – und den glühenden Handabdruck auf seiner Haut darunter. Und sie verstand.
"Oh nein! Nein, nein, nein! Was hat er getan? Wilhelm, wie... also... wie konnte das...?"
Sie eilte auf ihn zu, ihre Hände hilflos gestikulierend, ihre Blicke fliegend, auf der Suche nach einer Erklärung, von seinen Händen zu den schwarzkrustigen Rändern seiner bloßen Haut auf seiner Brust, zu den fallenden Blutstropfen auf den Boden, die dort bereits eine kleine Lache zu bilden begannen.
"Ich... ich weiß nicht. Ich dachte, dir wäre etwas zugestoßen. Es ist eindeutig si... es! Das dämonische Wesen! Der Pakt greift. Aber wenn ich dich so sehe, glücklicherweise wohlauf, dann weiß ich nicht wofür! Ich weiß nicht, warum er ausgelöst ist!"
Sie eilte von seiner Linken, zu seiner Rechten, umrundete ihn, wusste sich nicht zu helfen.
"Aber es geht mir doch gut! Ich... ich habe nichts gemacht... und... ähm... na ja... auch nichts erlebt, was so was..." Sie schlug sich die Hände vor die zitternden Lippen und flüsterte entsetzt mit Blick auf das Blut zu seinen Füßen. "Was... was sollen wir... also ich... jetzt nur tun?"
Die Situation war zu viel für sie. Er würde sich darum kümmern müssen. Aber vorher musste er sicher gehen.
"Senray, wirklich, bitte sei ehrlich zu mir! Was ist passiert? Es muss doch irgendeinen Auslöser gehabt haben!"
Sie konnte noch immer nicht den Blick abwenden von den roten Sprengeln auf dem Boden, ihre Stimme klang brüchig, als sie verzweifelt antwortete: "Wirklich, da war nichts! Ich... also ich habe dort am Schreibtisch... und geschrieben... weiter nichts! Die ganze Zeit über! Ich bin nur einmal... na ja... aufgestanden, als..."
Ein überraschtes Zögern flog wie ein Schatten über ihre Mimik und ihr Blick schnellte zu ihm empor.
"Was? Was ist es, Senray?"
Sie schüttelte fast ungläubig den Kopf, ansatzweise, fassungslos. Dann hob sie zögernd ihre rechte Hand, mit der Innenfläche zu oberst.
"Es... es war aber... nichts..."
Er sah auf ihre zartgliedrigen Finger hinab und sah erst auf den zweiten Blick, was sie meinte: Den hauchdünnen Hautfilm, der dort leicht auflag.
Sie wisperte: "Ein Papierschnitt. Das kann doch einfach nicht... also... als Auslöser?"
Wilhelm starrte auf den kaum zu ahnenden Schnitt, die winzige Verletzung ihrer Haut an der Hand – und hob dann die seinen an, welche noch immer, aus unzähligen tiefen Schnitten quer über sämtliche Fingerkuppen hinweg, bluteten.
"Ich... ich benötige irgendwas zum Abwischen beziehungsweise Abtupfen. Und Wasser? Und vermutlich auch Tücher, erst mal. Darf ich mich derweil auf dein Bett legen? Mir... irgendwie wäre das besser, als noch weiter zu stehen. Ich... ich werde wohl am besten versuchen, es selber zu heilen. Muss mich darauf konzentrieren. Immerhin hat es aufgehört, neue Wunden zu schlagen..."
Die kleine Kollegin nickte eifrig. Dann begann sie damit, die gewünschten Dinge zusammen zu suchen.
Der Vampir hingegen setzte sich schwer auf die Bettkante. Ihn schwindelte, nicht nur vom langsam merklich zusetzenden Blutverlust. Sondern auch von der Nachdrücklichkeit der Lektion. Er ließ sich langsam nach hinten sinken, die Beine noch immer über den Rand hängend. Seine Augenlider wurden schwer und kurz war er froh, sich ausnahmsweise keine Gedanken darum machen zu müssen, noch in eine Schicht berufen zu werden. Er würde sich hier bei ihr verstecken und sich den Moment nehmen können, den er wohl oder übel benötigen würde. Um wieder normal agieren zu können.
Wilhelm hob eine Hand vor sich, betrachtete sie lange. Er beobachtete das Blut, wie es träge aus den zerschlitzten Fingern quoll und langsam an seiner Hand den Arm herunterlief. Dann führte er die Fingerspitzen an seine Lippen und versiegelte die fremd geschaffenen Schnitte ebenso, wie er bei seinen Spendern die von ihm zugefügten Bissmale schloss. Das Kitzeln der Heilung setzte zwar ein, doch es würde deutlich länger als normal benötigen, um seine Wirkung voll zu entfalten.
Mit einem Seufzer angelte er nach einem anderen Tuch in seiner Reichweite und wischte damit an seinen Unterarmen lang, an denen die Blutspuren nun, im Liegen, entlang rannen. Dann wandte er sich dem nächsten Finger zu.
Senray kam herzu und half ihm, so gut es eben ging. Eine Weile arbeiteten sie so schweigend vor sich hin, während sie ab und an schniefte.
Irgendwann, als die schlimmsten Spuren beseitigt waren und ihm die immer und immer wieder neu anzustoßende Selbstheilung so sehr die Kraft entzog, dass ihm die Augen zuzufallen begannen, hielt er ihre Hand kurz mit der seinen auf und sah ihr tief in die Augen. Nicht hypnotisch, nicht in unstatthafter Weise. Aber doch bittend und eindringlich.
"Wenn das die Reaktion auf einen Papierschnitt ist... Senray, bitte... bitte überlege dir gut, ob du wirklich unbedingt mit in den Untergrund musst, wenn es soweit ist. Nur darum bitte ich dich: Überlege es dir gut!"
Seine Augen fielen ihm endgültig zu, ehe er ihre Reaktion noch mitbekommen konnte. Doch er spürte, wie sie seinen Umhang über ihn breitete, seine Hände mit neuen Tüchern umwickelte und sich dann... mit gebührlichem Abstand... neben ihn legte, offenbar fest dazu entschlossen, ihn im Blick zu behalten.


25.05.2017 23: 08

Nyria Maior

Wir werden bespitzelt.
Diese Warnung war Nyria in den vergangenen Tagen immer wieder im Kopf herumgegangen und selbst abgesehen von der streng geheimen Mission gefiel ihr der Gedanke, dass jemand ihre Schritte verfolgte, rein aus Prinzip nicht. Zwar hatte sie mit einigen komplexen Manövern versucht, einen potentiellen Verfolger zu stellen, und war auf niemanden gestoßen, aber das ungute Gefühl im Hinterkopf blieb. Deshalb hatte sie für das heutige Treffen die Geflickte Trommel ausgewählt und trug stolz ihren Fanschal der Unsichtbaren Akademiker spazieren. Falls sich jemand an ihre Fersen geklebt hatte, wusste dieser eh wahrscheinlich längst, dass sie und Raistan dort Stammgäste waren und was gab es besseres als an Gewohnheiten festzuhalten, wenn man unverdächtig wirken wollte?
Wie immer marschierte sie geradewegs zum Tresen und bestellte ein Bier. Dann schlenderte sie gemächlich zu dem Tisch im hinteren Bereich der Taverne, an dem Raistan bereits auf sie wartete. Vor ihm lag eine dicke, unbeschriftete Mappe. Während sie ihren Freund begrüßte, ließ Nyria unauffällig ihren Blick über die anderen Gäste schweifen und erkannte das eine oder andere bekannte Gesicht. Niemand erweckte den Eindruck, heimlich hinter ihr durch die Tür geschlüpft zu sein.
"Und, hast du es?" erkundigte sie sich.
Raistan klopfte mit dem Zeigefinger auf die Mappe vor sich.
"Es ist nicht viel, aber es ist alles, was ich in der kurzen Zeit auftreiben konnte."
Nyria bedankte sich mit einem Nicken als ihr Bier serviert wurde und beäugte die Materialsammlung, die dicker war als ihr Daumen.
"Nicht viel?" bemerkte sie mit einer hochgezogenen Augenbraue.
Raistan zuckte mit den Schultern.
"Magische Sicherheitssysteme sind ein weiter Themenkomplex und jeder Zauberer der in diesem Feld arbeitet hat seine eigenen Kniffe auf Lager. Ich habe hier lediglich die Basisprinzipien zusammenstellen können."
Nyria grinste und schob die Mappe in ihren Mantel. Wenn Raistan von Basisprinzipien sprach, dann hieß das im Klartext, dass sie gerade eine fast komplette Enzyklopädie über magische Fallen und ihre Entschärfung nebst lehrreicher Zeichnungen und Ikonographien in Besitz genommen hatte. Bregs und der Rest des Rettungstrupp würden sich hoffentlich freuen. Und zusammen mit der Materialsammlung über profane Fallen konnten sie schon bald eine eigene Bibliothek der Ophelia Ziegenberger-Rettungskunst aufmachen.
Nachdem sie sich ausgiebig an ihrem Bier bedient hatte, stützte Nyria ihren Kopf auf die Ellenbogen und sah Raistan an. Zeit, mit einem Experten über das Thema zu reden, das ihr seit der gestrigen außerplanmäßigen Besprechung keine Ruhe mehr ließ.
"Jetzt mal ganz ehrlich. Was hältst du von der Geschichte mit der Rattenfänger und dem Feuerdämon?"
Raistan schwieg, während er eine der Haarsträhnen, die ihm mal wieder ins Gesicht hingen, um seinen Finger wickelte und wieder los ließ. Sein Blick war in die Ferne fokussiert.
"Sie tut mir fürchterlich leid." sagte er schließlich leise.
"Die Rattenfänger?" hakte Nyria nach.
Raistan nickte nur und widmete sich der Teetasse vor ihm.
Nyria nahm einen weiteren Schluck Bier. Bis zu der gestrigen Enthüllung hatte sie die Obergefreite für ein unscheinbares ängstliches Mäuschen gehalten, dessen Unfähigkeit, einen einzigen klaren Satz auszuspucken, sie zunehmend genervt hatte. Und nun war herausgekommen, dass eben dieses Mäuschen einen Pakt mit einem Dämon geschlossen hatte. Wie der erste Eindruck manchmal doch täuschen konnte.
"Ich frage mich, ob es das wirklich wert war." spekulierte sie laut. "Soweit ich weiß sind Händel mit Dämonen immer ein Verlustgeschäft, selbst wenn das eigene Leben auf dem Spiel steht."
"Vor allem, wenn der Preis die Seele ist." sagte Raistan ernst. "Senray Rattenfänger wird nach ihrem Tod nicht vom Schnitter geholt werden. Ihre Seele wird geradewegs ins Pandämonium geschleift, wo nichts als ewige Höllenqualen als Spielball ihres dämonischen Herrn auf sie warten."
"Das klingt nicht gerade nach einer sonnigen Zukunft." Nyria seufzte. "Was ich mich frage - Warum hat sie es getan? Wusste sie nicht, was sie erwartete? Oder hatte sie, weil sie so ein ängstliches Häschen ist, einfach nicht den Mumm, zu sterben, selbst wenn die Konsequenzen später viel schlimmer sein würden?"
"Ich weiß es nicht." Nachdenklich spielte Raistan mit dem Henkel seiner Teetasse. "Und es spielt auch keine Rolle mehr. Der Schaden ist angerichtet."
"Ich hätte es jedenfalls nicht getan." stellte Nyria klar. "Lieber tot sein und nicht genau wissen was einen erwartet, als noch ein paar Jahre mit dem Wissen zu leben, dass es nach dem Ende für alle Ewigkeit so richtig übel wird."
Raistan wandte sich zu ihr um und klemmte sich sein Haar hinter die Ohren. Sein stahlgrauer Blick fand den ihren und hielt ihn fest.
"Wenn es um nur um dein Leben geht, dann sicher nicht. Ich würde auch lieber sterben als meine Seele für die Verlängerung meines Lebens in die ewige Verdammnis zu verkaufen. Aber wenn so ein Dämon dir im richtigen Moment als Paktgeschenk angeboten hätte, deinen Vater, deinen Paten und den Rest ihres Ordens zu retten?" Ein Hauch von Schmerz huschte über sein blasses, ausgezehrtes Gesicht. "Hätte es damals, als mein Bruder starb, ein solches Angebot gegeben - Ich bin mir nicht sicher, ob ich es nicht angenommen hätte."
Nyria schluckte, legte ihre Hand auf die seine und drückte sie leicht. Über diese Möglichkeit, zu einem Pakt verführt zu werden, hatte sie noch gar nicht nachgedacht. Ihre Gedanken wanderten zurück zu dem schicksalhaften Kampf im Keller der Unsichtbaren Universität und sie spürte den geisterhaften Schmerz, wo sich der zielsicher geworfene Dolch in ihren Rücken gebohrt und sie bis zum nächsten Vollmond außer Gefecht gesetzt hatte. Wenn in diesem Moment ein feuriges Wesen vor sie getreten wäre und ihr garantiert hätte, dass diejenigen, die sie als ihre Familie betrachtete, überleben würden, wenn sie nur einer Vereinbarung zustimmte...
"Na gut, du hast recht." sagte sie ein wenig zerknirscht. "Für Leute die ich liebe hätte ich es vielleicht tatsächlich getan."
Raistan sagte nichts, was sie ihm hoch anrechnete. Schließlich konnten sie nicht wissen ob die Rattenfänger durch ihre dämonische Wiederauferstehung nicht vielleicht doch jemanden gerettet hatte, der ihr sehr viel bedeutete.
Sie räusperte sich. "Wie du schon sagtest, der Schaden ist angerichtet. Nun bleibt nur noch die Frage, wie wir alle damit umgehen. Meinst du, ich sollte mich von ihr fern halten? Der Rekrut Schneider hat sich ja auch schon einen Pakt eingefangen."
"Weil er ungefragt im Kopf der Obergefreiten Rattenfänger herumgestöbert hat." bemerkte Raistan. "Und da weder du noch ich zu so etwas in der Lage sind, sollten wir sicher sein, solange der Dämon keine Kontrolle über sie hat. Und da bin ich mir sicher, dass das zur Zeit nicht der Fall ist."
"Und woher weißt du das so genau?" Nyria war nicht so überzeugt.
"Ganz einfach. Wilhelm Schneider existiert noch, obwohl er, nun ja, romantisches Interesse an der Obergefreiten zeigt und sie es sehr offensichtlich erwidert. Ich bezweifle, dass eine Pandämoniumskreatur sich so etwas gefallen lassen würde. Chaos und Zerstörung, das ist ihre Domäne. Keine Romanzen. Und so gut darin, sich zu tarnen, sind sie auch nicht. Irgendwas von ihren Vorlieben und Abneigungen kommt immer nach draußen. Im Nachhinein passte zum Beispiel die Beobachtung von Bregs, dass Fähnrich Robin Picardo ständig Karotten aß, perfekt zur Tatsache, dass ein Hasendämon ihn in seinen Pfoten hatte."
Trotz des ernsten Themas musste sich Nyria ein Grinsen verkneifen als ihr Freund Wilhelm Schneider und Romanzen in einem Satz erwähnte. Es war so offensichtlich, dass das Interesse des Rekruten längst nicht nur der Rattenfänger galt. Die Blicke, die er Raistan zuwarf wenn er glaubte, dass es niemand merkte, sprachen nicht nur Bände sondern ganze Enzyklopädien. Nyria konnte irgendwie nachvollziehen, dass Raistan mit seiner zarten Gestalt, seiner Blässe, dem scheuen Verstecken hinter seinem Haar und dem schlanken Hals als männliche Version der sprichwörtlichen Jungfrau Vampiren das Wasser im Mund zusammen laufen ließ. Wie es dem Rekruten bei seiner Kontrolle von Raistans Bewusstsein wohl ergangen war, so ganz allein mit dem Objekt seiner Begierde, das immer noch nicht geschnallt hatte, dass es einen heimlichen Verehrer hatte? Manchmal war Nyria versucht, Raistan darauf hinzuweisen, einfach nur um seinen Gesichtsausdruck angesichts dieser Neuigkeit zu sehen, verkniff es sich aber. Falls er sie in der Angelegenheit um Rat fragen sollte, war sie natürlich für ihn da, aber solange Wilhelm nicht versuchte, Nyria ihr Territorium streitig zu machen, war es ihr lieber, wenn die beiden das unter sich ausmachten. Und vielleicht tat der Fakt, dass sich tatsächlich jemand für ihn interessierte, Raistans Selbstbewusstsein auch mal gut und es kam noch etwas Positives aus der Sache heraus.
"Also wenn du meinst." kam sie wieder auf das eigentliche Thema zurück. "Die Rattenfänger ist also nicht unmittelbar gefährlich. Aber ich bin mir trotzdem nicht sicher ob ich mit ihr in eine Schlacht ziehen will. Wenn sie schon vor Bregs flieht und nicht mal ganze Sätze vor dem Rettungstrupp sprechen kann, wer garantiert mir, dass sie in einem gefährlichen Moment nicht in Panik gerät und alles versaut? Wir Wächter, und ganz besonders wir SEALS, müssen einander in Notsituationen unsere Existenz anvertrauen können. Und die Vorstellung, dass jemand wie Senray Rattenfänger in der Höhle eines tausendjährigen Flattermanns für meine verantwortlich ist, gefällt mir ehrlich gesagt nicht."
"Das kann ich verstehen." antwortete Raistan und seine Miene drückte Frust aus. "Und ich wurde schon von der Mission ausgeschlossen, nur weil ich kein guter Nahkämpfer bin. Dabei weiß Bregs genau, dass ich nicht weglaufe, nur weil es mal gefährlich wird. Ich hatte auch nicht vor, mich mit einem Vampir im Nahkampf anzulegen. Aber wenn plötzlich von hinten einige Wachen den Gang angelaufen kommen - Erst eine Schockwelle die sie von den Beinen holt und dann einen oder zwei Feuerbälle, und dann laufen sie, wenn ihnen ihr Leben lieb ist." Seine knochigen Hände ballten sich zu Fäusten. "Aber Bregs hat seinen Entschluss gefasst und kein Feuerdämon könnte ihn davon wieder abbringen."
"Ich weiß, es tröstet dich nicht und ich habe als popelige Gefreite auch nichts zu sagen, aber ich hätte dich da unten gern an meiner Seite." Nyria lächelte schief. "Das wäre wenigstens eine Person die ich gut kenne und bei der ich weiß, dass ich mich auf sie hundertprozentig verlassen könnte. Was die anderen betrifft - Ich kenne sie einfach nicht. Das hat die Dämonengeschichte erst wieder deutlich bewiesen. Klar, Leutnant Mambosamba versteht ihren Dschob zwar bestimmt so gut wie Bregs, aber außer dass wir alle Ophelia Ziegenberger retten wollen gibt es eigentlich nichts, was uns zusammenhält und ich habe das Gefühl, dass die eine Hälfte des Trupps der anderen auf die eine oder andere Weise nicht über den Weg traut. Da brodelt immer noch viel Misstrauen in diverse Richtungen unter der Oberfläche und die Sache mit dem Dämon war da bestimmt nicht hilfreich." Sie nahm ihren Bierkrug und betrachtete die gelbe Flüssigkeit. Kein Wunder, dass Bregs seinen Seelentröster in der untersten Schreibtischschublade so dringend brauchte, wenn er sich seit Jahren täglich mit derartigem Kram herumschlagen musste. "Verdammt, Raistan, in was haben wir uns mit dieser dämlichen Wette und unserer Neugierde bloß reingeritten?"
"Letztendlich in etwas, das getan werden muss, damit die Scheibenwelt zumindest ein marginal besserer Ort wird." sagte Raistan ernst. "Darum bist du doch Wächterin, oder?"
"Ich habe nicht vor, zu kneifen." entgegnete Nyria. "Es wäre nur schön, wenn die Beteiligten nicht so beschäftigt damit wären , ihre Neurosen und Dämonen aneinander auszulassen. Und ich bin ehrlich gesagt froh, dass die von Nachtschatten nicht genau weiß, warum wir dabei sind." Sie streckte ihm spielerisch die Zunge heraus. "Eine Wette um eine Flasche Whisky mit dem Kommandeur würde bei ihr vermutlich ähnlich tief eingestuft werden wie Rekrut Schneiders Ziegenberger-Kopfbesuche."
"Dann sorgen wir dafür, dass sie es nie erfahren wird." schlug Raistan vor. "Und machen einfach weiter wie bisher. Helfen, wo wir können und der Rest wird sich schon ergeben."
Nyria nickte. Herumzusitzen und zu jammern half niemandem. Schon gar nicht Ophelia Ziegenberger und Feldwebel Schneyderin.
"Ich habe einen unglaublich schmalzigen Liebesbrief und eine Kontaktperson." erklärte sie und hob ihren Bierhumpen. "Und ich werde sie benutzen. Irgendwer muss zwischen dem ganzen internen Hickhack ja mal für ein paar brauchbare Ergebnisse sorgen."

26.05.2017 23: 52

Ophelia Ziegenberger

"Ophelia?"
Sie war augenblicklich von Igorinas ungewohnt vorsichtigem Tonfall alarmiert. Bisher hatten sie schweigend beieinander gesessen. Igorina auf dem herangezogenen Sessel, ihr zugewandt, mit der angesammelten Flickwäsche der letzten Tage beschäftigt. Sie selber an den aufgestapelten Kissenberg in ihrem Rücken gelehnt, leicht schläfrig, immer wieder zwischendurch mit einem Blick oder einem Nicken zum Trinken aufgefordert.
Nun jedoch war sie hellwach. Hätte sie sprechen können, sie hätte wohl etwas in der Art erwidert wie "Ja, bitte?" So jedoch, durchdrungen vom magischen Tee, konnte sie nur mit wachem Blick den Kopf fragend schräg legen. Was allerdings auch den Zweck erfüllte, immerhin waren ihre ‚Gespräche’ inzwischen so sehr aufeinander eingespielt, dass ihre Pflegerin gar keine verbalen Antworten mehr von ihr erwartete.
Igorina sah ihr zögerlich entgegen und ließ das Flickwerk mit einem tiefen Seufzer auf ihren Schoß sinken.
Das war nicht gut.
Noch immer haderte die Ältere mit sich, mit den Worten, die ihr nicht so recht über die Lippen kommen wollten.
Ophelia hob ihre Rechte leicht von der Bettdecke und hielt sie einen Moment auffordernd so, ehe sie sie wieder entkräftet fallen ließ.
Igorina nickte wie besiegt und murmelte unzufrieden. "Ja, ja... ef hilft ja nichts." Sie presste kurz die Lippen zusammen, ehe sie sagte: "Du erinnerft dich ficherlich daran, daf ich dir fagte, Febastian habe feine Grenzen überfritten, alf er dich unerlaubt in den Käfig furück brachte?"
Sie runzelte die Stirn, bei den unweigerlich aufsteigenden Erinnerungsbildern und ahnte, dass nichts Gutes dabei herauskommen konnte, wenn es im Folgenden um Sebastian ginge.
Igorina wich ihrem Blick kurz aus, so als müsse sie sich mit dem Anblick des ruhig brennenden Kaminfeuers wappnen, ehe sie fortfuhr.
"Der Meifter hat nun feine Ftrafe feftgelegt und auch, wenn er nicht geruhte, mich gänflich einfuweihen... er hat mich vorgewarnt. Er hat gefagt, daf ef Febastian in den nächften Ftunden fur Ableiftung feiner Ftrafe nicht nur geftattet fein wird, fich in deiner Nähe aufzuhalten. Fondern daf ef dafu fogar von Nöten fein wird."
Ophelia konnte nicht verhindern, dass ihre Hand sich ängstlich in die Bettdecke zu krallen begann. Sie setzte sich aufrechter und schüttelte den Kopf, so dass ihr schwindling wurde.
Igorina legte das Wäschestück hastig beiseite und beugte sich ihr rasch entgegen. Sie drückte sie sanft in die Kissen zurück und tätschelte ihre Hand.
"Ich weif! Ich bin auch allef andere alf begeiftert, glaub mir! Wenn ef nur nach mir ginge... aber daf tut ef nicht. Wir müffen unf alfo damit abfinden."
Ophelia ließ schnell los und gestikulierte vage mit ihrer gesunden Hand das Greifen von Etwas aus der Luft, eine besitzergreifende Faust, ein herrisches Heranreißen ans Herz. Dabei zog sie beide Brauen in die Höhe und ruckte das Kinn mit einem fragenden Schulterzucken beiseite. Die Kommunikation zwischen ihnen basierte mehr auf Gesamteindrücken, denn auf übermittelten Worten und so verstand die Ältere sie erstaunlich gut.
"Da fragst du waf! Ich muf geftehen, daf ich ef nicht weif. Jedenfallf plant der Meifter nichtf, waf dir direkt faden könnte. Er weif, daf du noch immer fehr fwach bift, ich habe daf bei der Gelegenheit ficherheitshalber noch mal betont! Und er hat durchblicken lassen, daf felbst Febastian noch nicht erfahren hat, waf genau ihm alf Fühne bevorfteht. Aber ich darf bei dir bleiben! Und ich werde auf dich aufpassen."
Ophelias Herz pochte schneller, als es gut für sie war und sie merkte, wie ihr Mund austrocknete. Sie griff nach der Teetasse, führte sie zitternd an den Mund. Ein Gedanke forderte ihre Aufmerksamkeit ein... und kurz darauf ließ sie sich immer und immer wieder von Igorina nachschenken.
Welche der Bitte mit schweigendem Verständnis nachkam.


28.05.2017 19: 10

Senray Rattenfaenger

Senray betrachtete den schlafenden Vampir und versuchte, nicht zu denken. Eine unmögliche Aufgabe, weswegen sie mit jeder verstreichenden Minute unruhiger wurde. Und Wilhelm...
...wenn er nur atmen würde!
Dass der Vampir sich gar nicht regte, keinerlei Lebenszeichen mehr von sich gab, seit er weggetreten war, beunruhigte Senray ungemein. Im ersten Moment hatte sie das Leichenhafte, das Vampirische, daran verstört. Doch je länger Wilhelm so ruhig dalag, desto mehr Sorgen machte sie sich um ihn. Darum, dass Refizlak ihm vielleicht auch innere Verletzungen zugefügt hatte. Woran sollte sie erkennen, ob der Kollege nur schlief oder... oder...
Die junge Frau schüttelte den Kopf und setzte sich wieder auf. Das führte zu nichts. Es war schlimm genug, dass sie den Kopf verloren hatte, als Wilhelm mit blutenden Händen vor ihr gestanden hatte. Sie musste wenigstens jetzt die Nerven behalten.
Senray rutschte vom Bett und sank neben Wilhelms Beinen auf die Knie. Er hatte nicht einmal mehr seine Schuhe ausgezogen und die Beine aufs Bett gehievt. Dabei musste es unbequem sein, so liegen zu bleiben! Aber er hatte wohl keine Kraft mehr dafür gehabt.
Die Schuld, die sie, seit sie realisiert hatte, was vorgefallen sein musste, verspürte, flammte neu auf.
Es war nicht gerecht! Wilhelm sollte nicht für ihre Unvorsicht büßen müssen und erst recht nicht für solch eine Kleinigkeit bluten!
Senray hätte nie gedacht, dass Refizlak dazu in der Lage wäre. Sicher, er strafte auch sie, wenn sie den Pakt brach. Und er war nicht... nett dabei. Doch das? Das schien beinahe willkürlich zu sein.
Tränen stiegen ihr in die Augen und sie biss sich auf die Lippe, blinzelte sie weg. Dann atmete Senray tief durch und begann, mit Wilhelm zu reden. Es war unsinnig und sicher nahm er nicht wahr, was sie sagte. Aber es lenkte sie von ihren Gedanken ab. Außerdem fühlte sie sich wohler, wenn sie ihm erklärte, was sie machte. Irgendwo in ihr war immer noch die Angst, der Vampir könne sie anfallen, wenn sie einen Fehler beginge.
Aber nein. Das war... nicht Unsinn in dem Sinne. Und doch so falsch.
Senray dachte über Wilhelms Verhalten nach, während sie ihm seine Schuhe auszog und ihn sehr vorsichtig richtig aufs Bett zog, ihm ein Kissen unter den Kopf legte und ihre Decke bis zu seinem Bauch zog.
Er hatte sie nicht nur bisher nie angegriffen. Das war eine Sache, sicher, aber... na ja, eigentlich hatte sie noch nie ein Vampir angegriffen. Von dieser Warte aus betrachtet, war ihre Angst unbegründet. Aber sie war da, das war einfach so. Allein, wenn sie an ihr später anstehendes Treffen mit Chief-Korporal von Nachtschatten zum frühen Abend dachte, fühlte sie, wie sich ihr Magen zusammenzog.
Nein, es war etwas anderes. Wilhelm hatte sich um sie gesorgt. Nicht nur wegen des Paktes, da war sich Senray sicher. Wäre er nur um seiner selbst Willen aufgetaucht, als seine Strafe durch Refizlak erfolgte, dann hätte er sich abgewandt, nachdem er gesehen hatte, dass sie unverletzt war. Dass ihr keine Gefahr drohte. Er wäre gegangen oder hätte zumindest begonnen, seine Wunden zu versorgen. Doch er war geblieben, hatte seine blutenden Hände ignoriert und hatte sich nach ihr erkundigt. Erst danach hatte er sich geheilt.
"Warum hast du das gemacht?" Senray betrachtete wieder sein schlafendes Gesicht, in dem sich keine Regung zeigte. Die junge Frau seufzte, dann ließ sie ihren Blick weiter über ihn gleiten, bis zu dem Brandmal auf seiner Brust.
Ein Handabdruck.
Aus einem Impuls heraus, hielt sie ihre eigene Hand grob darüber und zog sie sofort erschrocken zurück. Denn ihre Hand hätte perfekt auf den Abdruck gepasst. Senray merkte wie ihr schlecht wurde und sie wich einige Schritte zurück.
‚Nein! Das kann doch nicht heißen, dass... Refizlak würde sicher nicht meine Gestalt verwenden... Das ist, muss unmöglich sein!‘
Ihre Hände zitterten und in Senray herrschte auf einen Schlag wieder Chaos. Teile von ihr wollten Wilhelm am liebsten wach schütteln, so dass er ihr sagte, dass es nicht wie befürchtet war. Dass nicht 'sie selbst' ihn so übel zugerichtet hatte. Teile von ihr wollten fortlaufen, sich verstecken, die Erkenntnis ausblenden.
Die DOG schluckte schwer, atmete tief und sehr bewusst ein und aus. Konzentrierte sich. Sie sah wieder zum Gesicht des Vampirs.
"Also... war ich es? Er war ich?" Schweigen war die einzige Antwort, wie es eben zu erwarten gewesen war. Sie schüttelte den Kopf, straffte sich. Merkte wie kindlicher Trotz in ihr hochkam und die Angst überlagerte. "Na gut. Aber weißt du was? Das bin trotzdem nicht ich." Direkt, nachdem sie es ausgesprochen hatte, kam sich Senray albern vor. Was machte sie hier? Redete mit einem bewusstlosen Kollegen, der durch den Dämon ihn ihr, also eben doch durch sie, schwer verletzt worden war. Und versuchte ihm zu erklären, dass es nicht sie gewesen wäre? Unfug! Nichts als Unfug.
Sie wandte den Kopf wieder ab, holte einen frisches Tuch, Wasser und ihre Brandsalbe. Bei letzterer zögerte sie einen Moment – für sie selbst war die Salbe sehr gut. Sie linderte den Schmerz und half bei der Heilung. Aber wie würde Wilhelm darauf reagieren? Allerdings hatte sie keine spezielle Vampirsalbe und Senray war sich relativ sicher, dass es viel schlimmer wäre, die Wunde nicht zu behandeln, als sie mit normaler Brandsalbe zu versorgen.
Also setzte sich die junge Frau neben Wilhelm aufs Bett und betrachtete wieder, den durchs Hemd gebrannten Abdruck ihrer Hand. Es kostete sie etwas Überwindung aber schließlich begann sie vorsichtig, das Hemd des Kollegen zu öffnen. Reine, weiße Haut kam darunter zum Vorschein. Bis sie zum Brandmal gelangt war. Dort wurde sie noch vorsichtiger, tupfte die Ränder mit dem feuchten Tuch ab, um den Stoff seines Hemdes von der Wunde zu lösen. Dennoch wand er sich, als sie die Wunde berührte und gab ein leichtes Wimmern von sich. Seine Augenlieder flatterten, doch sie blieben geschlossen.
Auch, wenn es nicht das Lebenszeichen gewesen war, auf das Senray gehofft hatte, gestand sie sich ein, dass es sie beruhigte zu sehen, dass Wilhelm noch lebte. Danach versuchte sie, noch umsichtiger mit seiner geschundenen Haut zu sein. Und als sie endlich das Hemd komplett von der Wunde gelöst hatte, atmete sie erleichtert auf. Sie redete weiter mit Wilhelm, auch wenn es erneut mehr dazu diente, sich selbst zu beruhigen. Als sie die kühle Salbe sanft auf sein Brandmal strich atmete er scharf und beinahe zischend die Luft ein. Senray schloss die Augen. Es tat ihr so leid, es war einfach nicht gerecht. Er konnte doch nichts für ihren Pakt mit Refizlak, wie war er da nur so tief mit hinein geraten? Und dann das! Wegen eines Papierschnitts! Es war so... unverhältnismäßig.
Als die kühlende, schmerzstillende Wirkung langsam einsetzte, entspannte der Kollege sich merklich unter ihren Händen und sie verteilte die Salbe weiter. Erst, als sie eine gute Schicht aufgetragen hatte, legte sie ein weiteres sauberes Tuch, als Ersatz für einen Verband, darüber. Dann stand sie auf und deckte den Vampir zu. Einzig seine Arme legte sie vorsichtig auf die Decke. Dabei kontrollierte sie auch nochmal die Verbände an den Händen – immerhin waren sie noch nicht wieder durchgeblutet. Die Heilung schien zum Glück einzusetzen.
Senray atmete tief durch, dann stand sie auf. Ein Blick auf den Boden verriet ihr, dass abseits ihrer sowieso anstehenden Arbeit noch genug zu tun war. Wilhelm hatte eine Spur aus Blutstropfen hinterlassen. Wo er länger gestanden hatte war es zwar keine Lache geworden aber doch auch nicht nur ein Tröpfchen. Und in ihrem Büro lagen immer noch überall Akten herum. Sie bückte sich und seufzte. Sie würde Glum also erklären müssen, warum die Narrengilde mit Wächterblut besudelt war.
Fast hätte sie über den ungewollten Scherz gelacht. Aber eben nur fast. Senray ließ die Schultern hängen, legte die Akte zurück auf einen Stapel und sah noch einmal zu Wilhelm.
"Ich... komme gleich wieder, ja? Bleib einfach da liegen und..." Ihr sorgenvoller Blick wanderte wieder zu seinen bandagierten Händen und sie brach ab. Dann schüttelte sie den Kopf und ging aus ihrem Büro. Als sie zurück kam, war sie mit einem Eimer mit frischem Wasser, noch einem Lappen und zwei Herrenhemden aus dem Fundus bewaffnet. Senray war sich nicht vollkommen sicher, was Wilhelms Größe anging, deswegen hatte sie zwei mitgebracht. Wenn sie diese allerdings nun aus der Nähe betrachtete... Es waren typische Fundus-Kleidungsstücke: eindeutig getragen und auf verschiedene Leute angepasst. Immerhin war keines der Hemden geflickt. Trotzdem... im Vergleich zu dem Hemd, welches Wilhelm trug, waren sie geradezu lumpig. Ob es überhaupt so gut war, wenn sie ihm eines von denen als kurzfristigen Ersatz anbieten würde? Andererseits konnte er ja nicht mit diesem Brandloch in der Kleidung durch die Gegend laufen, da war fast alles besser. Oder? Was wenn nicht?
Senray fühlte sich plötzlich überfordert. Während sie das Blut von ihrer Tür und dem Boden wischte und schrubbte, fragte sie sich, wie viel Wilhelms Hemd wohl gekostet hatte. Sicher zu viel. Das würde sie nicht ausgleichen können. Miezie, die Ziege, die Miete und das Extrafutter für Mistvieh... es reichte gerade so für sie alle. Und Rosmalia kam ihr ja schon entgegen mit der Miete. Vielleicht wenn sie ihre Ersparnisse zusammentrug?
Irgendwann legte sie den Putzlappen und diese Gedanken beiseite und machte sich wieder an ihre eigentliche Arbeit – die Berichte, über denen sie gesessen hatte, bevor Wilhelm aus dem Nichts aufgetaucht war.
Ihr Blick glitt dabei immer wieder zurück zu dem Kollegen in ihrem Bett und immer wenn sie zu unruhig wurde, überprüfte sie seine Verbände.
Nachmittags endlich regte er sich wieder. Senray atmete erleichtert auf. Sie hatte sich bereits gefragt, was sie machen sollte, falls er bis zu ihrem angesetzten Termin bei Chief-Korporal von Nachtschatten noch nicht wach war.
"Mhhm...", macht er und blinzelte verschlafen in ihre Richtung. Die junge Frau lachte leise.
"Na, ausgeschlafen?"
Dann erinnerte sie sich mit einem Schlag wieder an den Grund dafür, warum der Vampir überhaupt erst eingeschlafen war und ihr Schuldgefühl überschwemmte sie geradezu. "Tut mir Leid, ich... das war..."
Aber Wilhelm grinste schwach. "Das Bett ist tatsächlich überraschend bequem."
Senray wurde etwas rot und das Grinsen des Vampirs wuchs in die Breite. Dann sah er wieder ernster aus. "Danke!"
Die kleine Frau schüttelte abwehrend den Kopf. "Das war das Mindeste! Immerhin ist es meine Schuld, dass du-"
"Nein, Senray, ist es nicht."
Er sah sie nun wirklich ernst an und sie wich seinem Blick aus. Es war zwar nett das er das sagte aber es änderte einfach nichts. Ohne ihren selbstsüchtigen Pakt mit Refizlak... sie hatte nie darüber nachgedacht, dass später sogar andere darunter leiden könnten!
Um sich selbst und ihn abzulenken, griff sie nach den bereitliegenden Hemden.
"Ich... also, ich habe dir... Na ja, sie sind nicht besonders gut aber bis du auf eines von deinen wechseln kannst, wäre es, denke ich...", stammelte die junge Frau und wurde mit jedem Satzteil etwas röter.
Der Vampir beobachtete sie eine Weile, dann lachte er leise und etwas geschwächt. "Ja... ich glaube, ich sollte mir einen Vorrat anlegen. Und ihn am besten günstig platzieren, so dass ich schnell Zugriff auf ein frisches Hemd habe."
Senray sah ihn mit großen Augen an. "Ich... also, ich habe nicht vor... ich meine, ich will auf keinen Fall, dass... dass das nochmal..."
Er sah sie wieder direkt an. "Ich weiß. Es ist auch nur... sicherheitshalber." Doch sein Blick sagte etwas mehr. Er erinnerte sie an ihre eigenen Gefühle – wie willkürlich diese Strafe ob der Geringfügigkeit ihrer eigenen "Verletzung" wirkte. Es war kaum ein Tropfen Blut geflossen, als sie sich am Papier geschnitten hatte! Wilhelm hingegen...
Er richtete sich gerade auf und schlug die Decke zurück. Dabei verzog er leicht das Gesicht vor Schmerzen. Senray sah schnell weg, als sein eigener Blick auf seinem geöffnetem Hemd lag. Sie merkte, wie ihre Wangen noch etwas heißer zu werden schienen und ihr Puls sich erhöhte.
"Was...", setzte er an, doch sie sagte schnell "Brandsalbe.", ehe sie den Stoff der Hemden in ihren Händen betrachtete.
Wahrscheinlich betrachtete Wilhelm sie, doch Senray hielt ihren Blick konsequent auf ihre Hände gesenkt.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kam seine bandagierte Hand in ihr Blickfeld und er fragte: "Dürfte ich? Die waren doch für mich, oder?"
Sie sah überrascht auf. Sie hatte nicht gehört, dass er aufgestanden war. Ihr Blick glitt über seinen nackten Oberkörper zu seinem Gesicht, mit den leicht gehobenen Augenbrauen und... nacktem Oberkörper?
Ihr Blick huschte noch einmal zurück, ihr Herz beschleunigte wieder, sie schluckte und sah wieder auf.
Jetzt grinste Wilhelm sie wieder offen an.
"Falls du das suchst", er deutete leicht auf das auf dem Bett zurückgelassene, verkohlte Hemd, "Ich dachte, das lege ich schon mal ab."
Senray nickte einfach mechanisch und reichte ihm die beiden Hemden hin. Er nahm sie ihr ab und betrachtete sie kurz und fachmännisch, ehe er ihr eines zurückgab und in das andere mit den Armen schlüpfte. Die junge Frau faltete das überflüssige Hemd beinahe automatisch wieder zusammen und war gerade dabei, es auf dem Bett abzulegen, um es später fortzuräumen, als sie einen halb unterdrückten Fluch hinter sich hörte.
"Was -?" Als sie sich umdrehte, verstand sie sofort. Der Vampir hatte offensichtlich Probleme, die Knöpfe des Hemdes mit seinen eingewickelten Fingern zu schließen. Und so wie er das Gesicht verzogen hatte... wahrscheinlich taten die Schnitte trotz eingesetzter Heilung noch immer weh.
Senray schluckte. Dann räusperte sie sich. "Uhm. Also... ich könnte... ich meine, wenn du..."
Er sah sie erst unbewegt an, ehe er wieder grinste. "Na, dann komm her! Ich werde dich schon nicht beißen."
Die junge Frau erstarrte. Sie fühlte sich wie in Eiswasser geworfen. Plötzlich war da wieder der Vampir vor ihr - nicht der Kollege!
Wilhelm bemerkte seinen Fehler offensichtlich ebenso schnell. Er schloss die Augen und lies den Kopf leicht sinken. "Das war jetzt unbedacht von mir, tut mir leid. Ich sollte solche Späße dir gegenüber vermeiden."
Senray schluckte schwer, dann legte sie das in ihren Händen wieder zerknüllte Hemd aufs Bett und trat an Wilhelm heran. "Ich... ich schätze, damit sind wir quitt... was... naja, das angeht."
Er betrachtete sie mit einer gewissen Sorge im Blick, nickte jedoch. Die junge Frau betrachtete den festgeklebten Fetzen Stoff auf seiner Brust. "Soll ich vielleicht vorher nochmal... naja, die Salbe erneuern?"
Wilhelm schien sich erst einmal aufs Nicken verlagert zu haben. Doch Senray sah, wie er die Zähne zusammenbiss, als sie den Stoff von der Wunde löste. Es sah nicht wirklich besser aus. Aber immerhin auch nicht schlimmer. Sie brachte ihn dazu, sich nochmal aufs Bett zu setzten, bevor sie extrem vorsichtig die frische Salbe verstrich. Danach band sie ihm einen ordentlichen Verband um den Brustkorb. Senray war dankbar dafür, dass Wilhelm einfach still hielt. Ihr eigenes rasendes Herz machte ihr zu schaffen, genauso wie ihr wieder aufkommendes Schuldgefühl beim Anblick des eingebrannten Handabdrucks auf seiner Haut. Als sie endlich fertig war, seufzte sie erleichtert. Fehlte nur noch das Hemd, das geknöpft werden wollte. Die junge Frau sah dem Mann vor sich kurz ins Gesicht, ehe sie mit roten Wangen bei den oberen Knöpfen begann und sich langsam nach unten vorarbeitete. Ein leichtes Beben ging durch Wilhelms Brust, als er bei ungefähr der Hälfte der Knöpfe leise zu lachen begann.
"Weißt du... sonst lasse ich mich von schönen Frauen nur ausziehen, nicht anziehen. Das ist also quasi eine Prämiere. Aber vielleicht sollte ich das für die Zukunft auch überdenken?"
Senray sah mit feuerroten Wangen und laut pochendem Herzen auf und direkt in seine dunklen Augen, aus denen der Schalk zu sprechen schien.
"Uhm, so ein Unsinn...", ihre Stimme klang kläglich und krächzig als sie versuchte abzuwehren und sie wendete sich schnell den letzten Knöpfen zu. Denen über seinem Bauch und... darunter.
Wilhelm schien entweder ihre Gedanken erraten zu haben oder er fand das Ganze einfach insgesamt lustig. Er lachte schon wieder.
Senray beschloss, ihm besser nicht mehr ins Gesicht zu sehen, sondern schloss - so schnell es mit zitternden Fingern ging - die letzten Knöpfe.
Außer einem "Meinst du wirklich?" verkniff sich der Mann jeden weiteren Kommentar und Senray war dankbar dafür, dass er auch ansonsten komplett ruhig blieb und still hielt.
Als sie endlich fertig war, versuchte Senray, sich etwas zu schnell rückwärts zu entfernen und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Stattdessen fand sie sich in Wilhelms Armen wieder.
"Na, na! Darauf können wir beide, denke ich, gerade verzichten." Er lies sie behutsam wieder los und die junge Frau nickte dankbar. Dann sortierte sie ihre Gedanken.
"Die Brandsalbe... falls sie hilft und du sie willst, kannst du sie haben." Sie blickte auf und sah, dass der Vampir ablehnen wollte. Schnell sprach sie weiter: "Ich... brauche sie nicht mehr. Nicht seit... seit er durch Ophelia... aufgewacht ist. Außerdem kann ich mir jederzeit frische machen."
Wilhelms Blick hatte sich verdunkelt bei der Erwähnung von Refizlak und er schien mit sich selbst zu ringen, ob er etwas sagen sollte oder nicht. Schließlich zuckte er mit der Schulter und nahm das angebotene Gefäß entgegen.
"Danke! Das Hemd..."
"Oh ja! Wie viel... also, ich meine, wie viel schulde ich..."
Seine Augen weiteten sich überrascht, dann sah er sie streng an. "Das ist jetzt hoffentlich ein Scherz, Senray. Ich werde kein Geld von dir nehmen. Erst recht nicht dafür."
Die Angesprochene schluckte. "Aber... dein Hemd... sieht so teuer aus und..."
"Pscht!" Er hielt ihr einen seiner verbundenen Finger knapp vor den Mund und sah sie eindringlich an. "Nein. Denk nicht mal dran. Ich habe ein gutes Dutzend solcher Hemden und ich kann mir jederzeit neue machen." Er senkte seine Hand wieder und betrachtete sie. "Wenn du mir einen Gefallen tun willst... dann pass einfach auf dich auf, Senray."
Sie nickte. "Ich... versuche es." Aber wenn er für so unbedeutende, ungefährliche Dinge so hart bestraft wurde, wie sollte sie es da schaffen, wirklich allem aus dem Weg zu gehen? Sie konnte sich schlecht die nächsten Wochen in ihrem Bett einrollen und keinen Finger mehr rühren, aus Angst, sich anzustoßen.
Wilhelm verstand was sie meinte und nickte. Dann straffte er seine Gestalt und räusperte sich leicht.
"Ich denke... ich sollte dann jetzt gehen."
Senray betrachtete ihn einen Moment, dann nickte sie. Es schien ihm zumindest wieder besser zu gehen als davor. "Ich komme gleich mit. Ich... na ja, ich habe sowieso bald einen, also... Termin... mit Chief-Korporal von Nachtschatten... und ich wollte davor..."
Die DOG war während des Redens in ihrem Büro herumgelaufen, um alles das zu finden, was sie brauchen würde. Doch plötzlich brach sie mitten im Satz ab und hielt in der Bewegung inne. Sie starrte fassungslos vor sich.
Wilhelm runzelte die Stirn. "Ist alles in Ordnung? Soll ich... mit zur Nachtschatten?"
Senray sah ihn an und war tatsächlich etwas blass um die Nase geworden. "Ich... kann nicht mehr in meine Wohnung." Ihre Stimme war nüchtern und ruhig. Aber unter der Oberfläche brodelte die Erkenntnis abwechselnd heiß und kalt.
"Was? Warum das?" Der Vampir betrachtete sie verständnislos.
"Ich... da ist... meine Katze. Und sie...", Senray schluckte, ehe sie ihm wieder in die Augen sah. "Uhm, sie... kratzt mich immer zur Begrüßung. Viel. Und blutig."
Die junge Frau meinte zu sehen, wie nun Wilhelm noch etwas bleicher wurde.
"Ich... war die letzten Tage nicht daheim. Deswegen habe ich nicht daran gedacht." Sie sah sich um, sah auf das Chaos in ihrem Büro, als würde sie es zum ersten Mal sehen. Es war eine Sache, ein paar Abende nicht in die Wohnung zu gehen, weil sie über der Arbeit einschlief oder nicht direkt aus einem Einsatz heim gehen wollte, um Rosmalia nicht zu gefährden. Aber... nicht heim zu können? Wer wusste, wie lange? Das war etwas vollkommen anderes!
Wilhelm schien das zu erahnen oder an ihrem Gesicht abzulesen. "Wenn du außer hier keinen Platz hast... bevor du die nächsten Wochen nur noch in deinem Büro verbringst oder gar in den Schlafsaal ausweichen musst, würde ich dir mein Bett zur Verfügung stellen."
Ihr Kopf schnellte hoch und sie wollte ihn unterbrechen, doch er lies sie nicht. "Keine Sorge! Ich habe eine Couch im hinteren Raum in meinem Laden. Ich würde während dieser Zeit selbstverständlich dort schlafen."
Senray schluckte und suchte die richtigen Worte, um höflich aber bestimmt abzulehnen. Wilhelm lächelte sie sanft an. "Es ist nur ein Angebot. Du musst auch nicht sofort antworten. Aber solltest du es überdrüssig werden, jede Nacht auf Arbeit zu verbringen..." Er zuckte leicht mit den Schultern. "Es wäre zumindest kein Problem für mich."
Die junge Frau nickte zögerlich aber dankbar. Selbst, wenn sie es nie annehmen würde... allein das Angebot zu bekommen, tat irgendwie doch gut. So war es ihre Entscheidung wenn sie die nächsten Wochen hier bliebe. Nicht aus einem Zwang heraus. Das fühlte sich gleich ganz anders an.
"Also gut.", sagte sie schließlich.
Und brach damit den Bann.
Beide schienen sich wieder daran zu erinnern, das sie eigentlich weiter mussten oder wollten, auch wenn Senray jetzt nicht den Umweg über ihre Wohnung nehmen würde.
Vor dem Boucherie verabschiedeten sie sich und Wilhelm sah sie zum Schluss nochmal mit einer Mischung aus Schalk und echter Besorgnis an und sagte "Sei vorsichtig!", ehe er sich abwandte und ging.
Senray nickte und brach selbst auf.
Irgendwann auf Hälfte der Strecke erinnerte sie sich daran, dass Wilhelm doch bei ihrem langen Gespräch vor wenigen Tagen noch davon gesprochen hatte, dass sie eben nicht in seinen Laden kommen sollte, wegen seiner Angestellten. Ein Grund mehr, sicher nicht darauf zurück zu kommen. Dann unterbrach sie ihre eigenen Gedanken, als ihr bewusst wurde, dass sie das für Miezie gekaufte Katzenspielzeug dabei hatte - statt des für Chief-Korporal von Nachtschatten vorbereiteten Zettel. Also musste es ohne gehen. Irgendwie. Hoffentlich.

Refizlak hatte es genossen, den kleinen Vampir leiden zu lassen. Wie hatte er es auch wagen können, ihn zu verraten, indem er sein Geheimnis diesem kompletten Wächterpack anvertraute?
Das Schlimmste war, dass er selbst wusste, dass er es versäumt hatte, den Blutsauger ebenfalls zum Schweigen zu verdonnern. Etwas, das ihm sicher nie wieder passieren würde!
Da er nicht direkt gegen die elendige Zecke agieren konnte, hatte er auf die erste sich bietende Gelegenheit warten müssen. Dass Senray allerdings während dieser Zeit langsam anfing, dem Vampir zu vertrauen, ihn immer weniger als Blutsauger und mehr als Kollegen wahrzunehmen begann, fachte Refizlaks eigene Wut nur noch mehr an.
Wenn er erst mit diesem Ungeziefer fertig war, würde sich der vorlaute Blutsauger wünschen, Refizlak hätte ihn bei ihrer ersten Begegnung gleich ausgelöscht! Doch fürs Erste musste er in kleinen Dosen arbeiten, musste sich auf direkte Konsequenz beschränken.
Selbst nach diesem noch recht nahen Eingriff, bei dem er aus seiner eigenen Sicht die Strafe kaum schwächer hätte wählen können, ohne das sie lachhaft gewesen wäre, merkte er die Auswirkungen.
Die Grenzen eines Paktes waren aus seiner Sicht ein wenig wie ein Gummiband. Es gab einen klaren Rahmen, auch für ihn, der durch die Formulierung festgelegt wurde. Allerdings fiel es Refizlak leicht, diesen Rahmen etwas zu übertreten. Mit jedem Schritt über die Grenze wurde es jedoch schwieriger und kostete es ihn von vornherein mehr Kraft. Und als ob dieser Verlust an Energie nicht schon genug wäre, schnalzte dieses gedachte Gummiband nach solchen Grenzüberschreitungen generell schmerzhaft auf ihn zurück. Mit eben jener Energie, die er davor investiert hatte, um die Grenze zu überschreiten. Desto weiter er also die Regeln dehnte, desto auslaugender und schmerzhafter wurde es für ihn.
Nur, dass die Paktgrenzen, anders als ein Gummiband, niemals ausleierten. Solange der Pakt Bestand hatte, hatten auch dessen Grenzen Bestand. Es wurde nicht leichter sie zu überschreiten. Im Gegenteil kostete es durch die schwindende Energie immer mehr Macht.
Deswegen würde er sich jetzt erst einmal wieder aufs Zusehen beschränken.
Auch, wenn Refizlak vor Wut kochte, ob der Fürsorge seines Gefäßes für diesen Blutsauger. Und über dessen Dreistigkeit, sobald er wieder stehen konnte! Es brachte nichts! Offensichtlich war der Vampir weder lernfähig, noch leicht zu beeindrucken. Refizlak würde nicht den Fehler machen und seine Energie auf kleine Strafen verschwenden. Diese würde er von jetzt an genau nach den Regeln durchführen.
Doch, sobald Senray irgendetwas Schlimmeres passieren würde, hätte er freie Hand. Und die würde er nutzen!
In seinem Zorn bereute Refizlak es richtiggehend, dass sein Gefäß die Entscheidung getroffen hatte, der vorgesetzten Vampirin zu sagen, dass sie nicht am finalen Einsatz teilnehmen würde. Dort hätte sie garantiert größeren Schaden erlitten – und durch die Kopplung mit der Ziegenberger Frau hätte Refizlak den Blutsauger sicher angemessen strafen können.
Doch es würde sich eine andere Gelegenheit ergeben.

30.05.2017 14: 09

Nyria Maior

Raistan sah nach oben und betrachtete die bunten Muster in der Glaskuppel der Bibliothek. Schon seit Stunden versuchte er, sich auf das Thema Schutzkreise gegen Untote zu konzentrieren, doch seine Gedanken schweiften immer wieder zu dem Gespräch ab, das er mit Nyria in der Trommel geführt hatte. Er konnte nur gut nachvollziehen, dass sie beunruhigt war, was den Rettungstrupp im Allgemeinen und den Fall Senray Rattenfänger im ganz Besonderen betraf. Auch ihm war aufgefallen, dass es diverse Spannungen gab, und er schloss sich selbst nicht davon aus. Dass Mina von Nachtschatten und Rach Flanellfuß ihm sein Experiment an Ophelia Ziegenberger immer noch nachtrugen, war nicht zu übersehen gewesen. Deshalb hatte er die Tatsache, dass ihm eben jener Versuch die Beförderung zur Dritten Stufe eingebracht hatte, bisher auch dezent unter den Tisch fallen lassen. Wie die Wette war das noch so etwas, was der Chief-Korporal und ganz besonders der Inspektor im Interesse des Gruppenfriedens nicht zu wissen brauchten.
Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, Ophelia Ziegenberger während des Rettungseinsatzes Raculs Einfluss zu entziehen, damit er sie nicht dem Rettungstrupp gegenüber als Druckmittel verwenden konnte! Er durfte sie lediglich nicht töten. Es sprach hingegen nichts dagegen, sie vor den Augen der Retter zu foltern um diese zur Kapitulation zu zwingen. Ein Integraler Schutzkreis gegen Untote, dessen war sich Raistan inzwischen sicher, würde zumindest für einige Minuten auch einem Uralten Vampir stand halten, wäre da nicht dieses kleine Problem gewesen, dass die Ophelia-Racul-Verbindung jeden Schutzkreis implodieren ließ. Frustriert schlug Raistan das Buch, das vor ihm auf dem Lesepult lag, zu. So sehr er sich auch den Kopf zerbrach und unzählige Möglichkeiten und Runenvariationen durchgegangen war - Für dieses Problem schien es keine Lösung zu geben.
Genau so wie es unmöglich war, Senray Rattenfänger von ihrem Pakt zu befreien, ohne sie zu töten. Wieder einmal kamen Raistan die unübersehbaren Parallelen der beiden Fälle in den Sinn. Beide Frauen waren auf Leben und Tod an eine Kreatur gebunden mit der man lieber nichts zu tun haben wollte. Abgesehen von ihrer unterschiedlichen Spezies und ihren bevorzugten Methoden gab es eigentlich keine nennenswerten Unterschiede zwischen einem Dämon und Racul dem Dritten von Ankh. Beide strebten auf ihre Art nach Macht und Dominanz und auch Vampire waren berüchtigt dafür, dass Händel mit ihnen mindestens einen verborgenen Haken hatten. Deshalb hatte Raistan sich auch größte Mühe gegeben, seine Abmachung mit Wilhelm so exakt und unmissverständlich wie nur möglich zu formulieren. Zwar war er mittlerweile zu der Überzeugung gekommen, dass der Rekrut keines dieser skrupellosen Ungeheuer aus diversen Geschichten war, aber man konnte sich nie genug absichern. Und wenn er zum betreffenden Zeitpunkt bereits gewusst hätte, dass Wilhelm Schneider in einen Dämonenpakt gezwungen worden war, hätte er ihn niemals in seinen Kopf gelassen.
Raistan schüttelte leicht den Kopf. Was für eine Ironie es gewesen wäre, wenn ihm ausgerechnet die Absicherung, nicht von einem Vampir manipuliert zu werden, einen Besuch von einem Dämon eingebracht hätte. Nicht auszudenken, wenn er aus Unwissen um die Gesamtsituation ein Bannritual durchgeführt und dabei aus Versehen Senray Rattenfänger getötet hätte! Er wollte gar nicht daran denken. Die Obergefreite hatte bereits viel zu teuer für ihn zweites Leben bezahlt und Raistan wünschte ihr von ganzem Herzen, dass es wenigstens lang und glücklich sein würde bevor der Dämon ihre Seele in seine feurige Domäne riss. Nyria hatte sich sehr erstaunt gezeigt, dass ausgerechnet ein stiller, gutherzig wirkender Mensch wie Senray Rattenfänger einen Dämonenpakt eingegangen war. Raistan hingegen steckte tief genug in der Materie drin um zu wissen, dass die wenigsten Pakte auf den ausdrücklichsten Wunsch eines verrückten, machthungrigen Beschwörers geschlossen wurden. Dämonen waren die Brindisianische Muffia des Übernatürlichen - Sie lagen auf der Lauer bis jemand so richtig in Schwierigkeiten steckte, und machten dann ein Angebot, das die betreffende Person in ihrer Verzweiflung nur zu gern annahm, ohne auf das Kleingedruckte des Vertrags zu achten. Die Leute, die hin und wieder an die Tore der Unsichtbaren Universität klopften, weil sie sich Hilfe beim Brechen eines Dämonenpakts erhofften, waren in den meisten Fällen ganz normale Bürger, die in einer schweren Notlage zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren und die Aufmerksamkeit eines Dämons erweckt hatten. Manchen von ihnen konnten die Zauberer helfen, manchen, wie Senray Rattenfänger, nicht.
Und richtig kompliziert wurde es, wenn ein nicht austreibbarer Dämon anfing, zusätzlich zu seinem Wirt auch noch andere Personen an sich zu binden, wie es nun im Fall Wilhelm Schneider geschehen war. Zugegeben, zu einem gewissen Grad war der Rekrut selbst schuld. Wer Risiken einging wie das uneingeladene Herumstöbern in den Köpfen anderer Leute, musste hinterher mit den Konsequenzen leben.
Unwillkürlich knöpfte der junge Zauberer die Manschette seines rechten Ärmels auf und entblößte seinen rechten Unterarm. Deutlich standen die vier verkrusteten Brandwunden von der Größe einer Centmünze auf der blassen Haut hervor, umgeben von einem bläulichen Bluterguss, der grob die Form von Wilhelm Schneiders Hand hatte. Ja, wer ungefragt in den Köpfen anderer herumstöberte, kam nicht immer ungeschoren davon. Aber was hatte den Rekruten Schneider in Senray Rattenfängers Kopf so dermaßen interessiert, dass er unbedingt heimlich in ihrem Bewusstsein danach suchen musste? Hätte er sie nicht auch einfach fragen können?
Raistan zog seinen Ärmel wieder über die Verletzungen und schloss die Knöpfe. Im Gegensatz zum Rekruten hatte er bei seinem Experiment zumindest abschätzen können, was ihn erwartete, und entsprechende Vorsichtsmaßnahmen ergriffen. Wilhelm Schneider hingegen war völlig ahnungslos und unvorbereitet in Senray Rattenfängers Bewusstsein eingedrungen, in dem Glauben, die Gedanken einer nervösen jungen Frau vorzufinden, und unversehens die Fänge des Dämons gestolpert. Kein Wunder, dass er bei dem Treffen in Ophelia Ziegenbergers ehemaligem Zimmer so nervös gewesen war. Es lag nicht nur an dem, was er im Rogi Feinstichs Bewusstsein gesehen hatte. Er hatte sich nach seiner Dämonenerfahrung davor gefürchtet, was er abgesehen von vampirischer Geistesmanipulation noch im Kopf eines Zauberers vorfinden mochte. Und das, wie Raistan zugeben musste, nicht ganz unberechtigt. Wenn Wilhelm an die Erinnerungen an die Dinge aus den Kerkerdimensionen geraten wäre, die sich ihm mit aller Macht aufdrängen wollten - Nicht auszudenken, was das für eine Wirkung gehabt hätte.
Aber abgesehen von der Angewohnheit, ungefragt die Gedanken anderer Leute zu lesen, schien der Rekrut in Ordnung zu sein. Die Vehemenz, mit der er sich beim Kommandeur und auch später bei der Enthüllung des Paktes für Senray Rattenfänger eingesetzt hatte, hatte Raistan beeindruckt. Seine Sorge um das Wohlergehen der Obergefreiten ging so weit über das hinaus was der Pakt ihm aufgezwungen hatte, und wirkte aufrichtig. Der Eindruck bei der dritten Besprechung hatte nicht getrogen - Die beiden waren eindeutig ein Liebespaar geworden. Statt Zwietracht zu säen, hatte der Dämon die beiden eng zusammengeschweißt - Genau der umgekehrte Effekt von dem, was einer Pandämoniumskreatur normalerweise gefiel. Hoffentlich gab es nicht irgendwann feurige Konsequenzen...
Raistan verschränkte die Arme auf dem Tisch und bettete seinen Kopf darauf. Auch wenn sie teilweise nicht viel von ihm hielten und er sie eigentlich kaum kannte, irgendwann in den letzten anderthalb Wochen hatten die so unterschiedlichen Mitglieder des Rettungszirkels angefangen, ihm etwas zu bedeuten. Selbst bei der arroganten Assassinin, die ihn wahrscheinlich nur als einen unwichtigen Schwächling betrachtete, war es ihm nicht mehr egal ob sie lebend und unverletzt aus der ganzen Sache herauskam. Und Nyria - Raistan wusste nicht ob er einen zweiten solchen Verlust in seinem Leben verkraften konnte. Warum verwehrte Bregs ihm bloß das Recht, wenn alles schief ging zumindest mit ihnen allen zusammen im Kampf zu sterben? Lieber wollte er tot sein als zum zweiten Mal einen Teil seiner Seele herausgerissen zu bekommen.
Das wäre jetzt der perfekte Moment in dem ein Dämon an mich herantreten und mir versprechen könnte, dass Nyria auf jeden Fall überleben wird, ging Raistan zynisch durch den Kopf. Und für einen Augenblick würde er wirklich versucht sein, den Pakt einzugehen. Aber erstens widersprach es seinen sämtlichen Prinzipien und zweitens würde Nyria nicht wollen, dass jemand für sie ihre Seele verkaufte. Auch sein Bruder hätte sicherlich nicht gewollt, dass Raistans Seele der Preis für sein Leben gewesen wäre. Der junge Zauberer seufzte leise. Er hatte sich lediglich so drastisch ausgedrückt um Nyria klar zu machen, wie groß die Versuchung manchmal sein konnte. Sein Leben war bisher nicht sonderlich schön gewesen und er betrachtete es meistens als etwas, an dem das Schicksal mehr hing als er selbst, aber seine Seele gehörte ihm und so sollte es auch bleiben. Eine Ewigkeit der Höllenqualen im Pandämonium konnte im Vergleich zu einem unglücklichen Leben sehr lang werden.
Raistan kniff sich in die Nasenspitze. Es half nichts, sich voreilig in düsteren Gedanken zu verlieren. Noch war es nicht zum schlimmsten gekommen. Sie hatten eine Chance, wenn sie besser waren als Racul der Dritte von Ankh. Wenn sie sich zusammenrauften und sich nicht länger mit kleinlichem persönlichem Hickhack aufhielten. Raistan verstand nur zu gut, weshalb Bregs in der Senray Rattenfänger-Frage auf eine Entscheidung der Gruppe gepocht hatte. Es war letztendlich eine Frage des Vertrauens.
Vertrauen. Das war das Schlüsselwort. Raistan hob den Kopf als ihm eine plötzliche Idee kam. Er konnte Ophelia Ziegenberger vielleicht nicht vor Raculs Einfluss beschützen, aber er konnte herausfinden, wo sie sich befand. Alles, was er dazu brauchte waren eine Kristallkugel, einen Gegenstand der der Entführten gehörte und eine Person, mit der es eine beidseitige emotionale Bindung gab. Idealerweise Vertrauen.

30.05.2017 16: 26

Mina von Nachtschatten

Es klopfte. Zögerlich.
"Ja?"
Eine kleine Gestalt mit braunrotem Haar schob sich durch die Tür. Nervös knetete sie die Hände ineinander.
"Mä'äm? Also es ist... ich bin ein paar Minuten zu spät, es... es tut mir leid, aber es... nun ja... ging nicht eher."
Mina hob verwundert die Augenbrauen.
"Senray? Was kann ich denn für dich tun?"
Die Obergefreite hob kurz den Blick und Mina sah in große dunkle Augen, in denen ein unruhiges Flackern lag. Die Wangen der Kollegin waren gerötet und ihr Atem ging etwas zu schnell. Dann richtete sich ihr Blick rasch wieder auf ihre Schuhspitzen. Irgendetwas hatte sie vor kurzem aufgewühlt - das war nicht nur die altbekannte Nervosität der vampirischen Vorgesetzten gegenüber.
"Ich, also... das... Gespräch, Mä'äm? Welches wir... welches wir ausgemacht hatten?", murmelte sie zaghaft.
Natürlich, der Termin war vereinbart worden, allerdings hatte die Vampirin nicht mehr damit gerechnet, dass Senray ihn auch tatsächlich wahrnehmen würde. Nicht, nach der letzten Eröffnung durch Breguyar. Welche nun Vieles in einem klareren Licht erscheinen ließ: Zum einen die ominöse Beziehung der Obergefreiten zu Wilhelm Schneider - diese hatte sich, nachdem was in der letzten Nacht besprochen worden war, in ihren Augen als reines Mittel zum Zweck herausgestellt, auch wenn sich Mina noch immer nicht erklären konnte, warum es dafür nötig sein sollte, das verliebte Pärchen zu mimen. Zum anderen die im wahrsten Sinne des Wortes feurige Reaktion auf Ophelias Anwesenheit... Ein Dämon, soso... Sie hatten ja noch nicht genügend andere Probleme. Mina hatte sich die Erklärungen des Kommandeurs, sowie die ergänzenden Worte des Rekruten, kommentarlos angehört. Sie kannte sich mit derlei Dämonen und nicht aus, richtigen Dämonen sozusagen, und verspürte auch keinerlei Bedürfnis, an diesem Umstand etwas zu ändern. Zumal Feuer für Vampire naturgemäß eine eher ungesunde Angelegenheit war. Eine in der Tat beunruhigende Neuigkeit, dass sich so etwas die ganze Zeit über unbemerkt in ihrer Mitte aufgehalten hatte. Was das für Senrays Mitarbeit innerhalb der Rettungstruppe bedeutete, tja, das würden sie sehr bald entscheiden müssen. Für Mina selbst stand allerdings bereits mehr oder weniger fest, dass sich daraus einige... Einschränkungen für die Kollegin ergeben würden. Das gebot schon allein der gesunde Menschenverstand, es stand zu viel auf dem Spiel. Gesetzt den Fall, die anderen würden das auch so sehen. Es wäre nicht das erste Mal in der jüngeren Vergangenheit, dass die Meinungen zu einem bedeutsamen Punkt vollkommen auseinander gingen... Die Vampirin betrachtete die kleine Menschenfrau eingehend. Wie hatte diese nur an solch eine Wesenheit geraten und sich obendrein auch noch zu einem Pakt mit derselben verdonnern lassen können? Allerdings war Mina gleichzeitig nicht umhin gekommen, Besorgnis erregende Parallelen zu Ophelias eigener Situation zu bemerken: Beide Wächterinnen standen unter einem Einfluss, der an sich außerhalb ihrer Kontrolle lag und in einem, nun ja, "Kopfproblem" resultierte, mehr oder weniger zumindest, welches wiederum der Abhilfe von außen bedurfte und potenziell gefährlich war. Es brauchte also jeweils jemanden, der ihnen half, damit fertig zu werden und es, wenn irgend möglich, zu überwinden. In Ophelias Fall war das gründlich daneben gegangen. Blieb zu hoffen, dass es bei Senray anders enden würde.
Doch hatte man das Unbehagen ob der eigentlich Nachricht erst einmal verdaut und betrachtete die Angelegenheit mit etwas Abstand - dann war dem zwar noch immer nichts positives abzugewinnen, doch es stellte sich immerhin die Erkenntnis ein, dass Senray bisher weder das Wachhaus in Brand gesteckt, noch eine andere Katastrophe ausgelöst hatte. Lediglich Wilhelm hatte Schaden davon getragen, doch trug der an dieser Misere offenbar die alleinige Schuld. Einfach so in fremden Gedanken herumzuschnüffeln... in seinem Fall zwar wenig überraschend, aber dennoch, eine derart heftige Ahndung der eigenen Neugier war niemandem zu wünschen. Doch abgesehen davon? Wie dramatisch konnte die Angelegenheit also sein, zumal der Kommandeur die DOG ohne drastische Auflagen im Wachedienst belassen hatte. Das hätte Breguyar nicht getan wäre die Gefahr, welche von der Obergefreiten ausging, eine akute gewesen. Also hieß die Devise wohl wieder einmal abwarten sowie die Sache im Auge und bei jeder Entscheidung im Hinterkopf behalten. Aktiv etwas gegen das Problem unternehmen konnte Mina selbst ohnehin nicht und es war wohl klüger, diejenigen daran arbeiten zu lassen, die etwas von der Materie verstanden. Gleichzeitig war es aber wohl nicht die schlechteste Idee wenigstens zu versuchen, Senray aus zu unübersichtlichen Situationen herauszuhalten.
"Ich erinnere mich an deine Bitte", nahm Mina den Gesprächsfaden wieder auf. "Nur hatte ich angenommen, dass du für diese Unterhaltung keinen Anlass mehr sehen würdest, nachdem..." Die Vampirin hielt kurz inne. Woher nahm sie eigentlich die Gewissheit, es würde Senray ausgerechnet darum gehen? Es war das naheliegende Thema, freilich, aber vielleicht hatte die Obergefreite auch etwas ganz anderes auf dem Herzen? Es drehte sich schließlich nicht alles auf der Scheibe um eine gewisse inoffizielle Rettungsmission.
Mina machte eine Geste, als wollte sie ihre vorherige Bemerkung beiseite wischen.
"Wie auch immer. Worüber möchtest du mit mir sprechen?"
Senray biss sich auf die Unterlippe.
"Es geht... also, ich, es, es geht schon um die Sache."
Sie ignorierte den angebotenen Stuhl und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Ihr Blick hatte begonnen, ziellos im Raum umher zu irren und sie schien bestrebt, tatsächlich überall hinzuschauen - nur nicht ins Gesicht der Vampirin.
"Ja?"
Mina bemühte sich um einen Tonfall, welcher die Obergefreite zum Weitersprechen ermutigen würde.
"Ähm... es ist, es ist so, Mä'äm. Ich... also, ich, ich kann nicht..."
"Du kommst zu mir, um über etwas zu sprechen, über das du eigentlich gar nicht reden kannst? Oder willst?"
Mina legte fragend den Kopf schief. Derweil wurde Senray immer nervöser.
"Ich, ich... ich möchte, ich kann... ich..." Sie schluckte schwer. "Es ist... es geht um... mein Pakt..."
Mina kamen Wilhelms Worte wieder in den Sinn.
"Es ist wegen deiner Schweigepflicht?", versuchte sie es auf gut Glück.
Senray nickte heftig. Ins Schwarze!
"Aber es... es ist wichtig, Mä'äm. Es gibt da... etwas und das ist gefährlich, etwas, wenn ich auf Ophelia reagiere, das wusste ich bis vor kurzem selbst noch nicht, aber es ist da und es ist... ihr müsst das wissen."
Die kleine Wächterin hatte zum Ende hin immer schneller gesprochen, nur um dann abrupt abzubrechen und ängstlich in sich hineinzuhorchen, voller Sorge, vielleicht schon zu viel gesagt zu haben. Viel mehr würde sie wohl von sich aus nicht offenbaren können, auch auf eine konkrete Nachfrage nicht. Wilhelm hatte sehr deutlich gemacht, dass es für sie beide gefährlich war, sollte jemand versuchen, Senray auf diese Weise auszuhorchen. Aber auf der anderen Seite schien die Angelegenheit von einiger Dringlichkeit zu sein, ansonsten wäre die DOG nicht extra deswegen zu ihr gekommen.
Mina nahm sich einen längeren Moment Zeit, um das Problem zu überdenken.
"Du darfst also keine konkreten Informationen preisgeben", meinte sie dann langsam. "Was ist, wenn ich rate? Und richtig liege?"
Ein nachdenklicher Ausdruck legte sich auf Senrays Gesicht, dann nickte sie zögerlich.
Nun denn, einen Versuch war es wert.
"Du sagst, es geht um deine Reaktion auf Ophelia, das Verhalten von Feuer, sobald du dich in ihrer Nähe befindest. Flammen reagieren ungewöhnlich auf deine Emotionen. Dieser Effekt auf deiner Seite - mit dem stimmt etwas nicht? Vielleicht hat er sich verstärkt?"
Kopfschütteln.
"Es ist etwas Neues hinzugekommen?"
Erneutes Kopfschütteln.
"Bei dir hat sich also nichts verändert?"
Ein Nicken.
In Ordnung, etwas gefährliches, etwas, was sie erfahren mussten, was sich aber nicht auf die bisherige Ausprägung von Senrays Fähigkeit bezog. Was blieben dann noch für Alternativen? Hmm, war es nicht auch bei allen anderen, welche auf Ophelia reagiert hatten so gewesen, dass nie nur eine Partei betroffen gewesen war? Mina begann Übles zu schwanen, aber sie musste erst ganz sicher gehen.
"Es findet also nicht auf deiner Seite statt?", hakte die Vampirin nach.
Nicken.
"Auf ihrer?"
Heftiges Nicken.
"Es passiert etwas bei Ophelia, wenn du eine Flamme beeinflusst?"
"So ähnlich wie bei anderen Leuten... die Sache mit den Gedanken", warf Senray ein. Nun, da die erste Hürde überwunden war schien sie wieder etwas beisteuern zu können. "Nur eben... wie bei mir. Eben anders."
"Gut, also Ophelia ist gelegentlich unbeabsichtigt in anderer Personen Köpfe eingedrungen, konnte Gedanken empfangen und senden. Sprechen wir auch in deinem Fall von einer gegenseitigen Wirkung?"
Dem nun folgenden Nicken haftete schon beinahe eine Art Erleichterung an, als wäre eine schwere Last mit einem Mal gemildert worden.
"Du willst mir sagen, dass jedes Mal wenn du eine Reaktion gezeigt hast auch auf Ophelias Seite die Flammen verrückt gespielt haben?"
Mina schaffte es nicht, das Entsetzen ganz aus ihrer Stimme zu halten. Jetzt wo es ausgesprochen war schien es so logisch - warum waren sie nicht schon eher auf diesen Gedanken gekommen? Wer wusste schon, was bisher bei Ophelia während Senrays Triangulationsversuchen geschehen war - was noch geschehen konnte, näherte die Obergefreite sich weiter?
Senray sank schwer sich zusammen, das Ausmaß des Ganzen schien ihr nur allzu schmerzlich bewusst zu sein.
"Es tut mir leid... ich wollte das nicht, ich..."
"War das auch schon in er Vergangenheit so?"
"Das weiß ich nicht, Mä'äm. Ehrlich. Aber... aber es ist... wahrscheinlich."
Mina atmete bewusst tief durch.
"Verstehe." Sie bemühte sich um einen ruhigeren Tonfall. Wenigstens wussten sie es jetzt, besser spät als nie. Es konnte keine Absicht dahinter stehen, es bis jetzt zu verschweigen zu haben, Senray hatte einfach keinen Grund zu lügen - und wäre in ihrer aktuellen Verfassung wohl auch nicht in der Lage dazu gewesen.
"Das ist in der Tat wichtig. Es wird uns außerdem helfen, weitere Entscheidungen zu treffen."
Mochte es noch so gut gemeint gewesen sein - leider verfehlten sowohl Wortwahl als auch Redeweise vollkommen ihre Wirkung.
"Es, es tut mir so leid, Mä'äm, hätte ich es... es eher gewusst, dann hätte, hätte ich, aber ich konnte ja nicht ahnen und ich, ich wollte doch nicht, dass... also ich würde nie... Ophelia kann ja nichts, nichts dafür und... und es ist wichtig, dass... ich habe sie gefährdet, habe alle gefährdet, es, es tut mir so leid... ich weiß, ich würde nur, ich... ich..." Jetzt bekam sie auch noch einen Schluckauf. Senray war dabei, sich unkontrolliert in die Sache hineinzusteigern und ihr Herz schien drauf und dran, aus der Brust der DOG zu springen, nur um zu fliehen und sich irgendwo verstecken zu können. Das war nicht nur Schuldgefühl, Angst und mangelndes Selbstbewusstsein, das war blanke Panik auch jenseits der eigentlichen Thematik. So ging das nicht weiter! Vielleicht war jetzt eine gute Gelegenheit, jene Frage anzusprechen, welche Mina ohnehin in dieses Gespräch hatte einfließen lassen wollen.
"Obergefreite Rattenfaenger, jetzt atme einmal tief durch. Und dann sagst du mir in aller Ruhe, wo das Problem liegt."
Senray wagte einen ängstlichen Blick.
"Aber... ich habe doch gerade...", stotterte sie unsicher.
Mina unterbrach sie mit einer Handbewegung.
"Das meine ich auch nicht. Ich möchte von dir wissen, was dein Problem mit mir ist. Der Grund für diese kopflose Angst, die du vor mir zu haben scheinst. Denn der Umgang mit deinem... lass mich sagen, unfreiwilligen Beschützer löst ja auch nichts derartiges aus, zumindest ist es kein Vergleich."
Senray starrte kurz - dann wurde sie rot und entschied sich für eine eingehende Betrachtung des Fußbodens.
"Ähm...", brachte sie hilflos hervor.
"Ich spreche dabei nicht nur von unseren aktuellen Ermittlungen oder einem konkreten Einsatz, welcher sich daraus ergeben wird, in hoffentlich nicht mehr allzu ferner Zukunft. Wenn du ständig die Nerven verlierst, nur weil du mit mir zusammenarbeitest, dann ist damit niemandem geholfen. Mehr noch, in potenziell gefährlichen Situationen muss jeder bestmöglich funktionieren und es ist entscheidend, sich aufeinander verlassen zu können. Dann kann man sich so etwas einfach nicht leisten oder auch nur einen Gedanken an ungeklärte interne Probleme verschwenden, welche zum Hindernis werden könnten. Verstehst du, worauf ich hinauswill?" All das hatte Mina im freundlichsten Ton zu dem sie in diesem Augenblick im Stande war hervorgebracht, doch es entlockte Senray nicht mehr als ein schwaches Nicken. Immerhin, eine Verbesserung zu vorher. "Also?"
Für einen Moment blieb es still. Senray kniff die Lippen zusammen, die vor der Brust zusammengeballten Hände zitterten leicht. Herrje, und dieses verschüchterte Persönchen trug eine derart bösartige Wesenheit in sich - und hatte das bis jetzt überlebt? Allein das machte sie eigentlich bemerkenswert. Aber gerade als Mina begann anzunehmen, dass da wohl keine Antwort mehr kommen würde, riss sich Senray sichtlich zusammen:
"Es ist nichts... persönliches. Es ist... du bist... naja, also, eben ein Vampir und deswegen..." Die Obergefreite zuckte unsicher mit den Schulter.
"Und Wilhelm..."
Senray wurde noch röter im Gesicht.
"Das ist etwas anderes", murmelte sie.
"Ah ja..." Die Vampirin seufzte. Also doch speziesbedingt. Mina war sich nicht sicher, ob das wirklich die bessere der beiden denkbaren Optionen war. Aber diese Sache mit Wilhelm... mochte sein, dass sie sich damit zu weit aus dem Fenster lehnte, im Grunde ging sie das Privatleben ihrer Kollegen ja nichts an. Wären da nicht die immer noch unklaren Gründe für die Aufrechterhaltung dieser Farce, sowie ihre Restzweifel an der Selbstlosigkeit des Rekruten gewesen... des Rekruten, welcher mit einiger Sicherheit den Rettungstrupp auch bei seinem finalen Schlag begleiten würde...
"Und, war das seine Idee?", fragte Mina rundheraus.
Die Obergefreite zuckte zusammen.
"Seine... Idee?"
"Natürlich könnte ich mich irren, aber... das Pärchen glaube ich euch nicht. Der Grund, aus dem er ein Auge auf dich hat, ist mittlerweile offenbart. Warum also diese Maskerade?"
Hatte sie sich gerade ein wenig beruhigt gehabt, so begann Senray auf diese Frage hin umgehend, erneut Signale höchster Nervosität zu senden. Herzrasen, hastige Atmung, der leichte Geruch von Angst... Das Thema hatte wohl einen weiteren freiliegenden Nerv getroffen. Doch langsam aber sicher begann dieses ständige Hin und Her, die immer wieder überschießende Reaktion Senrays auf den emotionalen Stress Mina selbst nervös zu machen. Sie war schließlich auch nur ein Vampir und irgendwann meldete sich selbst der kontrollierteste Instinkt und forderte Aufmerksamkeit ein. Vielleicht war es besser, das Gespräch an dieser Stelle zu beenden?
"Je nun, wenn du es mir nicht erzählen willst..." Sie machte Anstalten, sich von ihrem Platz zu erheben, um die Obergefreite aus ihrem Büro zu komplimentieren.
"Es geht um Korporal Steinstiefel", platzte die DOG plötzlich heraus. "Und es war unser beider Idee."
"Es geht hier um Glum?" Langsam ließ sich Mina wieder auf ihren Stuhl sinken. Anscheinend war der interessante Teil doch noch nicht vorbei. "Ist das diese Geschichte mit den Briefen und der Taube?" Sie erinnerte sich noch gut an die sehr ähnliche Szene von vor einigen Tagen, in welcher Senray ihr stammelnd von ihren bisherigen Versuchen, Ophelia mithilfe ihrer Brieftaube finden zu wollen, berichtet hatte. Und wie besorgt sie gewesen war, ihr Vorgesetzter könnte genaueres darüber erfahren.
Senray nickte unglücklich.
"Ein... Missverständnis. Glum... also der Korporal denkt, ich hätte... ich würde meine Taube benutzen, um einem... einem Verehrer... und dann kam zufällig Wilhelm vorbei und... wenn es einen anderen Weg, also..." Ihre Stimme versagte.
Mina dachte einen Moment nach.
"Eine Frage", meinte sie dann langsam. "Warum um alles auf der Scheibe hast du Glum nicht erzählt, dass es sich um einen Irrtum seinerseits handelt - ohne dabei die Existenz eines vermeintlichen Empfängers romantischer Korrespondenz irgendwo in der Stadt zu bestreiten?"
Kurz schien der Scheu vor der Vorgesetzten vergessen - Senray starrte Mina groß an und so etwas wie Begreifen malte sich auf ihr Gesicht.
"Oh", war daraufhin alles, was sie sagte.
Nun ja, wer kannte das nicht: Der naheliegendste Gedanke war häufig der, der einem einfach nicht in den Sinn kommen wollte, wenn man ihn gerade gebrauchen konnte. Aber es war irgendwie beruhigend, dass zumindest diesem Detail eine vollkommen harmlose Erklärung zugrunde lag und Wilhelm doch kein seltsames Spielchen spielte.
"Du wirst es ihm doch nicht erzählen. Oder, Mä'äm?"
Senrays leise Stimme riss Mina aus ihren Ãœberlegungen. Die Vampirin musste sich ein Schmunzeln verkneifen. Der kleinen DOG ging das Thema wirklich nahe.
"Warum sollte ich? Was du vor deinem Abteilungsleiter verheimlichst ist in diesem Fall ganz allein deine Entscheidung." Sie lächelte ermutigend. "Aber wenn du mich fragst: Ich glaube nicht, dass er es dir nachtragen würde. Solltest du dich irgendwann entschließen, ihm die Wahrheit zu sagen."
Senray seufzte kummervoll.
"Um nun vielleicht noch einmal einen Schritt zurückzugehen: Apropos zukünftiger Einsatz...", wechselte die Vampirin das Thema. Wo sie doch gerade bei Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit waren. Zumal das was Senray ihr vorhin erzählt hatte die Angelegenheit nicht unbedingt vereinfachte. Obwohl, in anderer Hinsicht griff eigentlich das genau Gegenteil: Es sollte eine Entscheidungsfindung an sich wesentlich beschleunigen. "Ich meine, natürlich kann ich das nicht allein festlegen. Aber ich möchte dir auch keine falschen Hoffnungen machen: Ich fürchte, nachdem was wir jetzt wissen, stehen die Chancen für eine aktive Beteiligung deinerseits wohl eher schlecht."
Die andere nickte erneut, schicksalsergeben, doch da war auch eine neue Entschlossenheit in ihrer Haltung, eine Gewissheit, die in dieser Form unerwartet kam. Mina hätte vielmehr mit Enttäuschung und vielleicht ein wenig Trotz gerechnet.
"Ich weiß Mä'äm." Festigkeit auch in der Stimme. Der Gedanke konnte Senray also keinesfalls ganz fremd sein.
"Vielleicht..." Mina dachte einen Augenblick nach. Es musste sich furchtbar anfühlen, von einer Sache ausgeschlossen zu werden, die einem derart wichtig war, und das nur aufgrund äußerer Umstände. Senray musste gewusst haben, dass sie ihre Aussichten mit diesen zusätzlichen Informationen gänzlich zunichte machte. Und trotzdem hatte sie sich überwunden und von sich aus dieses Gespräch gesucht, trotz ihrer Angst vor der vampirischen Vorgesetzten - um zu helfen, den Teil beizutragen der noch in ihrer Macht lag, mit Blick auf das Gelingen des Ganzen und dabei die persönliche Motivation hintenanstellend. Mina widerstrebte es, dies komplett unhonoriert zu lassen. Aber da gab es einfach nicht viele Möglichkeiten, so leid ihr das auch tat. Vielleicht konnte man ihr wenigstens ein für sie sprechendes Argument an die Hand geben? Auch wenn das wahrscheinlich nichts ändern würde?
"Kannst du es denn kontrollieren? Die Reaktion auf Ophelia?", erkundigte sie sich. "Ich meine damit sichere Kontrolle, allein durch dich, unabhängig von dem Dämon."
"Nein, Mä'äm."
Die kleine Wächterin tat einen tiefen Atemzug, dann hob sie den Blick und sah Mina direkt in die Augen - zum allerersten Mal während dieser Unterredung und vielleicht sogar während ihrer gesamten Wachelaufbahn.
"Ich... es ist vielmehr so... ich darf auf keinen Fall für den finalen Einsatz eingeteilt werden, Mä'äm. Ich... ich bin eine Gefahr, Mä'äm. Für, für alle. Das... habe ich erst heute richtig begriffen."
"Was ist passiert?" Denn es musste etwas vorgefallen sein, sonst hätte die Obergefreite das nicht in dieser Art und Weise formuliert.
Die dahingehende Unbedachtheit ihrer Bemerkung schien nun auch Senray aufzufallen, sie rang kurz um Worte und brach den Blickkontakt ab - wenn auch nur, um blinzelnd gegen aufsteigende Tränen anzukämpfen.
"Wilhelm...", sagte sie dann matt. "Seine Bindung durch mich an... an ihn. Es... es war eine Kleinigkeit und trotzdem... er ist zu Schaden gekommen. Und... Ich bin Schuld. Aber, aber es geht ihm schon wieder besser", fügte sie hastig hinzu. "Doch... ich, ich kann das nicht mehr..."
Jetzt begannen sie also schon, sich gegenseitig außer Gefecht zu setzen, lange bevor der eigentlich Gegner überhaupt in Reichweite gekommen war... Mina schloss kurz die Augen. Das wurde ja immer schöner! Aber gleichzeitig glaubte sie nun auch die Belastung, unter der Senray stand, wesentlich besser erfassen zu können. Und wenn es keinen nicht wieder gutzumachenden Schaden angerichtet hatte, dann hatten sie damit wohl gerade noch einmal der Punkt abgepasst, an dem es noch möglich war, von der auf den Abgrund zurasenden Kutsche abzuspringen. Da musste sie die Obergefreite jetzt nicht auch noch mit der Frage nach Details quälen.
"Gut", meinte Mina langsam. Dann schüttelte sie den Kopf. "Oder eben auch nicht gut. Auf jeden Fall..." Sie hielt kurz inne, um ihre Gedanken zu sortieren. Da war jetzt eine ganze Menge, was sie sich durch den Kopf gehen lassen konnte. "Auf jeden Fall bedeutet das ja nicht, dass du nicht weiter mit uns an der Planung verschiedener Strategien arbeiten kannst", stellte sie fest. Senray ganz auszuschließen, dafür bestand wahrhaftig kein Grund. "Es gib auch so noch eine ganze Menge vorzubereiten, andere Dinge, bei denen du dich einbringen kannst. Wenn du das möchtest."
Die Obergefreite nickte schwach.
"Danke, Mä'äm."
War da sowas wie ein Anflug von Dankbarkeit zu hören?
"Gibt es sonst noch etwas, was du gern besprechen möchtest?"
"Nein, das... das war alles, Mä'äm."
Senray wandte sich zum Gehen und es war wohl keine Absicht, dass sie die wenigen Schritte bis zur Tür im Rückwärtsgang tat. Die darin zum Ausdruck kommende Angst würde man ihr wahrscheinlich nicht so ohne weiteres nehmen können. Auch wenn das mittlerweile wohl zu ihrem geringstes Problem geworden war.
"Dann bis bald, Senray. Und danke für deine Offenheit."
Doch bereits während dieser letzten Worte verschwand die Obergefreite auf den Gang hinaus.

01.06.2017 19: 26

Ophelia Ziegenberger

Er gestand es sich nur ungern ein aber für kurze Zeit hatte der Alte sein Ziel erreicht gehabt – und ihn wirklich nervös gemacht. Die Androhung einer Bestrafung hatte viel zu lange im Raum gestanden. Immerhin lag der Anlass dazu inzwischen schon nahezu drei Wochen zurück. Worauf wartete Racul, fragte er sich immer und immer wieder, in den langen Stunden zwischen seinen Routinen. Nun wusste er es. Der Alte hatte auf Ophelia gewartet! Darauf, dass diese wieder aufnahmefähig genug wäre, Bestandteil des Plans zu sein. Und was das für ein Plan war!
Als Racul ihn zur Verkündung der späten Strafmaßnahme zu sich befohlen hatte, sogar in den unterirdischen Salon seines Privatreiches, den er sonst so gut wie nie aufsuchte, da hatte sich ein unterschwelliges Zittern in seine Nerven geschlichen und er war seltsam froh darüber gewesen, die vorangegangenen Stunden bei seiner kleinen Hexe verbracht zu haben. Nichts hätte ihn mehr angewidert gehabt, als dass Racul seine Schwäche gewittert hätte. Doch so... ihre Nähe hatte ihm merklich gut getan und so konnte er zumindest Ruhe und Gelassenheit mimen. Die Oberfläche seiner Gesichtsmuskulatur blieb frei von jeglichem Ausdruck einer Emotion und sein Inneres glich einem dunklen nächtlichen Gewässer bei Windstille!
"Deine Sühne wird darin bestehen, ihr für einen ununterbrochenen Zeitraum von zehn Stunden sozusagen jeden Wunsch von den Augen abzulesen! Tue ihr Gutes, verwöhne sie, trage sie auf Händen. Du wirst dabei ihre wahren Wünsche berücksichtigen und du wirst dabei so weit gehen, wie es mein Wille gestattet, das heißt, soweit deine Möglichkeiten dazu reichen, ohne unser verborgenes Agieren hier zu gefährden. Und ohne sie und ihren Gesundheitszustand zu gefährden! Das schließt selbstverständlich aus, ihr die Freiheit zu schenken. Aber ich nehme an, dass es sehr wohl ihren Wunsch beinhalten wird, mit Rücksicht und Zuvorkommenheit von dir behandelt zu werden, nach all den kleinen Freuden, die du dir unrechtmäßig mit ihr gegönnt hast! Sie soll wissen, dass dies deine von mir verhängte Strafe für Grenzüberschreitungen weit über das gestattete Maß hinaus ist, sowie deine auferlegte, wenigstens teilweise, Wiedergutmachung an ihr!"
Der Gedanke hatte ihn in der ersten Sekunde mit Abscheu erfüllt, ganz so, wie es beabsichtigt gewesen war. Ein Umstand, den der Alte zumindest an seinem Innehalten und Zögern ablas – und mit Zufriedenheit zur Kenntnis nahm, ehe er ihn auch schon sich selbst überließ.
Ophelia verhätscheln? Dieses langsam dahinsiechende Gerippe voller lächerlichem Widerstand gar mit Freundlichkeit bedenken? Dieses abgenutzte Opfer, das ihn zuerst mit ihren Aufmüpfigkeiten verspottet, dann mit ihren Wehleidigkeiten genervt und zum Schluss mit ihrem Schweigen nur noch gelangweilt hatte? Diese Ewigsterbende, die einfach nicht gewillt war, ihm den kleinen Gefallen zu tun und den endgültigen Schritt zu gehen, endlich mal zu krepieren und ihn damit vom Alten zu erlösen? Anstelle eines Spinnenwebfadens, an dem sie hing, war er scheinbar auf einen Kaninchendraht gestoßen, der unter dieser kränklichen Haut gelauert und nur darauf gewartet hatte, entdeckt zu werden und sie unter den Lebenden zu halten! Sie war penetranter Dreck unter seinen Schuhen, der ihn hinderte, ihn in seinen persönlichen Plänen aufhielt, der nur darauf wartete, fortgespült zu werden, um einem neuen Anfang Platz zu machen! Und ihr sollte er nun mit Galanterie aufwarten? Als Strafmaßnahme? Niemals!
Doch allein dieser Widerwillen, sein inneres Aufbäumen gegen die ausdrückliche Vorgabe des Meisters, verlangte ihm bereits dermaßen viel Kraft ab, dass er das wohl vertraute Zittern in seinem Rückrat aufsteigen spürte. Es gab auf diesem Wege kein Entkommen vor dem Willen des Alten! Befehle, älter als die Menschenfrau, zogen ihre Bahnen durch sein Blut. Die offene Konfrontation würde ihm verwehrt bleiben!
Aber wie stand es in diesem Fall um seine oft erprobten, unergründlichen Wege?
Sebastian hatte sich zur Ruhe gezwungen, seine Schultern entspannt, seinen Nacken, den Kopf langsam aufgerichtet und mit geschlossenen Augen die Formulierung zugelassen.
"...jeden Wunsch von den Augen abzulesen..."
Er musste nach Schlupflöchern suchen, das wusste er. Sein vertrautes Terrain, sein Spezialgebiet. Wo andere von der Klarheit und Unantastbarkeit einer Anweisung ausgingen... da fand er stets eine weitere Ebene. Den Sinn verkehren. Ins Gegenteil wenden. Die Buchstaben bestehen lassen, doch deren Sinn neu arrangieren. Denn auch ein Herzenswunsch mochte unter Umständen schnell zu einem Alptraum werden, so die Umstände anders waren, als erwartet.
"...ihre wahren Wünsche berücksichtigen..."
Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen und wuchs allmählich in die Breite.
Oh ja! Er kannte sie gut! So viele Stunden innigster Erkundungen ihrer Gedanken, ihrer Ängste, ihrer Sehnsüchte lagen hinter ihm, Zeiten ungestörter Zweisamkeit, in denen sie ihm nichts entgegenzusetzen gehabt hatte. Lange, bevor dem Alten aufgegangen war, wie wenig ihm wirklich an ihrem Wohlergehen lag. Monate der Berührung, endlose finstere Stunden seines Zugriffs. Nächte, in denen er sie allein durch das Heraufbeschwören von Bildern in ihrem Inneren in so tiefe Verzweiflung gestürzt hatte, dass ihr Weinen sie auslaugte bis in die Knochen. Sie hatte mehr als nur einmal aus purer Erschöpfung aufgeben und ihn bis in ihren Schlaf hinein gewähren lassen müssen, wo seine Gespinste ihre Träume umfangen und sie selbst dort noch gejagt hatten. Wo er sie erst fallen ließ, wenn jene trostlose Einöde in ihr Einzug hielt, die den Kämpfen auf dem Fuße folgte, so dass Racul, ihrer Stimme in seinem Sinn längst überdrüssig, lediglich mit Zufriedenheit ihr Schweigen zur Kenntnis nahm.
Raculs Ignoranz war dessen leichtsinnigste und lukrativste Eigenheit – und so köstlich auszunutzen! Da verweilte der Alte schon so lange auf der Scheibe und verstand noch immer nichts von den Zusammenhängen des menschlichen Wesens, von dem feinen Faden, der Sinn und Körper, Seele und Sein miteinander verband und welcher so leicht entflochten werden konnte.
Und ihm selber war ihr Leid gleichgültig gewesen. Nein. Sein Hexchen hatte es nicht gern, wenn er log. Es stimmte: Das Gegenteil war der Fall gewesen. Er hatte jede Minute ihrer Qualen genossen! Er wusste sehr gut, was ihre "wahren Wünsche" wären. Und was noch besser daran war: Er sah auch den Pfad dorthin vor sich ausgebreitet, diese nur geradeso nahezu zu erfüllen. Und zugleich selber dabei den größten Spaß zu haben!
Sebastian machte sich in den wenigen verbleibenden Stunden bis zu seiner festgelegten "Strafe" daran, gewisse Vorbereitungen zu treffen. Und so etwas wie Vorfreude stieg dabei in ihm auf.
Der Alte hatte ihn wieder einmal verkannt! Er hatte ihn auf die Knie zwingen wollen und ihm doch nur eine bisher ungeahnte Möglichkeit an die Hand gegeben, ein bereits verworfenes Spielzeug neu zu entdecken, eine abgelegte Puppe wieder erwartungsvoll zur Hand zu nehmen.
Sebastian hatte sich trotz der plötzlich so drängenden Umstände die Zeit dafür genommen, einen groben Plan auszuarbeiten. Und dieser klang überaus verheißungsvoll.
Er würde es verhältnismäßig langsam angehen und dann die Intensität der Erfahrung nach und nach für sie steigern.
Und somit befand er sich nun zum ersten Mal an diesem späten Nachmittag auf dem Weg zu ihr, um die kommenden Ereignisse für sie einzuläuten. Denn was konnte schöner sein, als Vorfreude?
Er entriegelte jedes einzelne Schloss vor ihrer Tür mit genüsslicher Langsamkeit. Dann zog er selbige auf und trat ein.
Ophelia saß mit panischem Blick aufrecht auf ihrem Bett, das Schultertuch fest um sich gewickelt, die Beine über die Kante herunter gesetzt. Sie war eindeutig vorgewarnt worden und wollte sich ihm möglichst stark präsentieren, keine Schwäche zeigen. Was wirklich amüsant war, wo er doch nur zu gut wusste, wie es wirklich um sie stand! Sie konnte zwar wieder sitzen und sie würde ihm – vermutlich – nicht auf halber Strecke wegklappen. Das war es aber auch schon. Ihr Herz hatte Mühe, auch nur seinen Anblick beim Betreten des Zimmers zu verkraften. Und ihr Atem wisperte unterschwellig von der süßen Mühsal einer nur zu Sterblichen in schwerer Krankheit. Es war so knapp gewesen! Nur ein winzig kleiner Schritt vor seinem Ziel...
Die lästige Igorina an ihrer Seite ließ keinen Zweifel daran, von wem sie gewarnt worden war. Aber davon würde er sich nicht stören lassen. Das Personal auszublenden war die leichteste Übung und Ophelias angstvolle Vorahnungen bargen einen ganz eigenen Reiz, der für Vieles entschädigte.
Schon ihr Blick förderte wieder das alt vertraute Kribbeln in ihm zu Tage.
Oh, er hatte sie in der Tat zu früh fallengelassen! Wenn sie ihn noch so ansehen konnte, dann hatte er damals nicht sämtliche Möglichkeiten ausgereizt. Er hatte wirklich gedacht gehabt, ihre emotionalen Reserven seien endgültig aufgebraucht gewesen, als sie aufhörte, zu reden. Aber dieser Blick...
Der Spieltrieb nahm in ihm überhand und er entschied sich spontan, sogar einen entscheidenden Schritt weiterzugehen, als er dies bisher geplant hatte. Er würde die Situation dadurch würzen, dass er wirklich den Gentleman gab! Das hatte auch früher schon gut bei ihr funktioniert und stets ihr Gefühlskarussel ins Schleudern gebracht. Einzig seine schwindende Geduld war ihm dabei stets von Neuem in die Quere gekommen. Aber heute... hier und jetzt, würde er sich zusammenreißen, um die lohnende Ernte am Schluss auch einfahren zu können.
Er trat dicht vor sie... und ging dann langsam auf ein Knie, bis ihre Blicke sich auf gleicher Höhe trafen.
"Ophelia?"
Ihr Innerstes erbebte und sie musste schwer schlucken. Doch wie so oft in all den Monaten, weigerte sie sich, beiseite zu schauen. Sie wollte damit ungebrochene Selbstachtung demonstrieren. Wie niedlich.
Aber bitte, das konnte sie haben! Es würde ihm ein Vergnügen sein, jedes einzelne der sich unweigerlich anbahnenden Gefühle aus diesem Blick aufzusaugen und auszukosten.
Nur zum Spaß machte er die Probe aufs Exempel und grinste sie mit seinem Raubtierlächeln an.
Ein Schaudern richtete ihr die feinen Härchen im Genick auf, ohne dass sie auch nur das Geringste dagegen unternehmen konnte.
Fast hätte er in kindischer Freude gelacht.
Stattdessen streckte er ihr, wie bittend, beide Hände entgegen.
"Ich komme zu dir, weil unser beider Herr es so wünscht. Ich soll Buße tun, für meine Vergehen, für mein eigenmächtiges und grenzüberschreitendes Handeln. Für meine angebliche Unfreundlichkeit dir gegenüber. Er hat uns damit eine Verpflichtung auferlegt, an der niemand zu rühren vermag. Mir diejenige, dir die kommenden Stunden über, deine innigsten Wünsche zu erfüllen – und dir diejenige, meine Bemühungen anzunehmen."
Ihre Augen weiteten sich und ihr Puls beschleunigte sich bereits jetzt merklich. Womit sie mehr Einsicht in ihn erkennen ließ, als Racul. Sie zweifelte keine Sekunde daran, dass diese Vorgabe unangenehme Folgen haben mochte, ganz gleich, mit welch hehrer Motivation sie erdacht worden war.
Er ließ seine geöffneten Handflächen langsam höher schweben, in eindeutiger Absicht ihren Schläfen entgegen. Inzwischen blinzelte sie heftig und kämpfte sichtlich gegen den sinnlosen Impuls an, zurückzuweichen. Er gab seiner Stimme jene sanfte, tiefe Note, die mehr als nur eine junge Frau bereits erfolgreich in falsche Sicherheit gewogen hatte. Nicht, dass ausgerechnet sie noch darauf hereinfallen würde! Im Gegenteil!
"Es ist eine Bestrafung." Er wusste, dass sie das schadenfrohe Glitzern in seinen Augen sehen würde – und er würde einen Dämon tun, es zu unterdrücken! "Meine Bestrafung. Ich nehme nicht an, dass du sie mir verweigern möchtest?"
Sie presste ihre Lippen fest aufeinander.
"Dachte ich es mir doch. Nun denn! So viele Stunden für uns, um deine Wünsche wahr werden zu lassen. Ich werde mir die allergrößte Mühe geben. Und zur Sicherheit, zu deinem eigenen Besten, wäre es gut, vorher zu schauen, ob du gut genug für diese Überraschungsreise vorbereitet bist. Ich vermute, du hast brav deine Medizin genommen, als man dir meinen Besuch ankündigte? Mal sehen, ob das ausreicht, um meine Nähe zu ertragen! Du gestattest?"
Er wartete keine Antwort mehr ab und legte seine Finger beidseitig an ihren Kopf, gerade, als sie doch noch, im tief verwurzelten Reflex, zurückzuckte.
Die Berührung war regelrecht elektrisierend! Ihr Puls flatterte hastig an seine Haut und ihr Atem strich kurz keuchend über sein Gesicht. Er fing den rückwärtsgewandten Ruck ab, wie eine stählerne Barriere und hielt sie fest. Doch zumindest gedanklich erfolgte keine Berührung! Die übliche Reaktion der Stille im geistigen Äther, wenn er sie berührte, senkte sich wie das nostalgische Gefühl einer lange vermissten Heimat um ihn und er schloss mit genussvollem Seufzer die Augen.
Was für eine Wohltat!
Ein leichtes Zittern stieg in ihr auf und sie begann nach Angst zu duften.
"Ophelia? Ift allef in Ordnung?"
Er schlug die Augen auf und erdolchte die Igorina mit seinem Blick. Leider schien das diese nicht zu stören. Sie legte der Gefangenen besorgt eine Hand auf die Schulter. Fast hätte er die Alte aus einem Instinkt heraus angefaucht. Schon verlor sich das kaum zu erahnende Beben in dem zerbrechlichen Körper zwischen seinen Händen. Die Igorina sah ihm trotzig entgegen, ehe sie auch schon wieder schweigend von ihr abließ. Aber der Schaden war angerichtet. Er sah Ophelia in die Augen und sie hatte sich wieder im Griff. Und noch immer wechselte nicht der leiseste Gedankenanflug zwischen ihrer beider Geister.
Nun gut, er hatte Zeit. Er hatte es ja ohnehin diesmal langsam angehen wollen. Dann eben sehr langsam.
Der Vampir lockerte seinen Griff um ihr Gesicht, strich mit der Linken stattdessen an ihrer Wange herab und fuhr ihr mit der Rechten inniglich durch das offene Haar. Intime Gesten, die ihm schon vor Monaten verboten worden waren, weil sie stets mit einem unweigerlichen Grenzübertritt einhergegangen waren.
Sie ruckte ihren Kopf minimal beiseite, um zu verdeutlichen, dass dies nicht ihrem Willen entsprach.
Er verstand das selbstredend und spürte dicht unter seiner eigenen Haut die formalen Vorgaben schlummern, die sein Handeln lenken sollten. Er genoss diese Zutraulichkeiten und hasste Grenzen. Aber das war erst der Beginn! Und sie durfte nicht merken, wie viel Einfluss sie momentan wirklich mit einem klaren Nein aufbauen könnte! Nur zögerlich ließ er von ihr ab, um mit einer Hand in seine Hosentasche zu greifen.
"Ich denke, wir können getrost davon ausgehen, dass du nicht noch mehr Schutz benötigst. Dann also... dein erster Herzenswunsch..." Er angelte ein schmales Stoffstück hervor. "Dem Meister war Geheimhaltung von jeher wichtig und es wäre mir nicht recht, ihn zu enttäuschen. Daher..."
Das längliche Tuch wurde mehrmals gefaltet, dann geglättet. Er hob es in die Höhe. "Überraschung!"
Ehe sie etwas erwidern konnte, war er schon daran gegangen, ihr die Augenbinde vorzulegen und diese am Hinterkopf fachmännisch zu verknoten.
Ihre gesunde Hand fuhr in die Höhe, doch er schlug sie sanft beiseite, um sein Werk ungestört zu beenden. Dann erhob er sich aus der knieenden Haltung und fing ihre tastende Hand kurz vor ihrem Gesicht ab. Er umfing sie nahe dem Handgelenk und trat zurück, im Begriff, ihr aufzuhelfen. Dabei ahmte er den zärtlichen Tonfall eines gewissen Herrn aus ihren Erinnerungen nach.
"Madame?"
Ihre Finger zuckten, dann erwiderte sie den Griff auch schon automatisch, als er sie von der Bettkante in die Höhe zog.
"Geht ef?" Igorina war an ihre Seite geeilt und fasste sie am tauben Oberarm unter, doch das würde er gleich unterbinden. Sein Plan sah anders aus.
"Ich kümmere mich selber um sie. So lauten meine Anweisungen. Du kannst vorausgehen und dafür sorgen, dass sie unbeschadet das Ziel erreicht – wenn es denn schon unbedingt sein muss, dass du uns begleitest. Aber mehr gestatte ich dir nicht, ist das klar?" Die Alte sah in lauernd an, nickte dann jedoch zögerlich, ehe sie Ophelia mit einem letzten Schulterdrücken losließ. Und voraus ging.
Gut!
Sein Blick wanderte wieder zu Ophelia, welche deutlich verunsichert neben ihm stand, die Augenbinde um und ihre einzige aktive Möglichkeit, sich ihm zu widersetzen, fest in seiner Hand. Er grinste. Und wandte sich der Tür zu, wobei er sie einfach mit sich zog.
"Igorina, wir nehmen den Weg zur Linken!"
Zuerst versuchte sie noch, einen möglichst großen Abstand zu ihm zu wahren. Ein Anliegen, welches sich jedoch schnell relativierte, nachdem sie den Türrahmen passiert hatten. Von da an folgte sie ihm dichtauf und leicht hinter ihm laufend. Oder vielmehr stolpernd. Ihr Zustand war erbärmlich und es würde sicherlich nicht lange dauern, bis sie am Ende ihrer Kräfte wäre. Immerhin war es das erste Mal seit Wochen, dass sie überhaupt wieder auf den Beinen war! Von selbst wäre sie vermutlich noch lange nicht aufgestanden, um auch nur einen Schritt zu gehen. So aber kämpfte sie das Rauschen ihres protestierenden Kreislaufs zurück, ein ums andere Mal. Schnell wurde aus dem mühsamen Folgen, ein Sich-Ziehen-Lassen. Er war sich nahezu sicher, dass sie obendrein versuchen würde, sich den Weg, den sie abliefen, zu merken.
Soll sie doch! Das wird ihr weder gelingen, so wie es gerade um sie steht, noch würde es ihr etwas bringen, falls sie es doch hinbekäme.
Sie hatten gerade erst die inneren Räume hinter sich gelassen und waren im langen Gang, als sie endlich einknickte. Sie schlingerte eine Sekunde, halb bewusstlos, ihr Herzschlag wurde schneller und unregelmäßig und dann sackte sie weg, fiel einfach zu Boden, einzig halb in die Höhe gehalten von ihrer Hand in der seinen.
Er drehte sich grinsend um, die zurückeilende Igorina mit eisiger Geste fast nebenbei abwehrend und ging abwartend in die Hocke.
Langsam zog sie sich an seinem Griff in eine sitzende Position und saß so, schwer atmend, auf dem kalten Stein.
"Geht es noch?"
Sie ließ den Kopf hängen, sichtlich darum bemüht, einfach nur zu sitzen und zu atmen.
"Wir haben noch einen langen Weg vor uns, weißt du?"
Allein der Gedanke ließ sie schwindeln und es amüsierte ihn köstlich, wie deutlich sichtbar sich dies an ihrem Schwanken ablesen ließ.
"Und wir haben nicht viel Zeit. Es wäre wirklich schade, den Moment zum Erfüllen deines Herzenswunsches, zu verpassen. All die Mühe umsonst."
Aus den Augenwinkeln konnte er Igorina sehen, wie sie neben ihm stand, bereit, ihrer Patientin zu helfen, es aber nicht durfte. Ihre zu Fäusten geballten Hände waren ein netter Bonus der ganzen Aktion.
"Ophelia...", er ließ seine Stimme sanft und schmeichelnd klingen. "Es wäre fatal, wenn du dir hier in der Kälte den Tod holen würdest. Lass mich dir helfen!"
Sie schauderte, doch entweder bereitete es ihr wirklich schon zu viel Mühe, auch nur bei Bewusstsein zu bleiben oder aber sie hatte sich, zu ihrem eigenen Nachteil, darauf festgelegt, ihm nicht mal mehr mit ihrer Mimik oder Gestik zu antworten.
Hervorragend! Das darf ich getrost als nonverbale Zustimmung interpretieren!
Er versetzte seine Füße in der Hocke etwas und fasste ihren Körper unter. Dann hob er sie in einer einzigen schwungvoll-geschmeidigen Bewegung auf seine Arme.
Eine Sekunde lang versuchte sie, sich zu wehren, sich mit ausgestreckter Hand von seinem Oberkörper abzudrücken. Doch mit der nächsten Schwindelattacke legte sich auch das und sie fiel hilflos gegen ihn.
Der Vampir strahlte vor Schadenfreude und nickte der frustrierten Igorina zu.
"Womit ich ganz klar die Vorgaben erfülle. Ich trage sie auf Händen! Und wenn es nur dafür ist, um schneller voran zu kommen!"
Den folgenden Weg konnte sich sein derzeitiges Opfer unmöglich merken. Immer wieder sackte sie in seinen Armen weg. Ihr Körper lief auf Sparflamme und holte sich jedes Gramm gestohlener Kraft durch ein Abschalten überflüssiger Systeme zurück. Und, in Luftlinie betrachtet, mochte die zurückgelegte Strecke kaum beeindrucken. Aber es gab eben nicht nur die langen Gänge, sondern auch unzählige Türen und Treppen, die aufhielten. Und es gab kurze Wartezeiten, wenn die vorauseilende Assistentin die Fallen nicht schnell genug entschärfte.
Doch irgendwann ging es konstant aufwärts und sie näherten sich ihrem Ziel. Er spürte ihr Ahnen, als aus den Steinstufen des Kellers, gekachelte Bodenfließen wurden, als die klamme Kühle von einer wärmeren Luft verdrängt wurde, die nicht mehr nach Stein, sondern nach Staub und Kartoffeln roch, nach Zwiebeln und Glas und Feuerholz, als die Kacheln von dem hohlen Pochen hölzerner Stiegen unter seinen Schuhen abgelöst wurden und dann plötzlich fast gänzlich verstummten, als dichter Teppich seine Schritte dämpfte. Angenehme Wärme umschmeichelte sie und es roch nach Blumen und frisch gebrühtem Kaffee.
Ophelias Körper stand unter Hochspannung, ihre Sinne waren geschärft, was deutlich am minimalen Rucken ihres Kopfes ablesbar war, als sie alle diese Sinneseindrücke in sich aufnahm.
"Da wären wir!"
Sein Arm umfasste weiter ihre Schultern, während er ihre Beine herabgleiten ließ und sie langsam auf dem Boden abstellte. Als er sicher war, dass sie nicht sofort wieder umkippen würde, ließ er sie los und entfernte ihre Augenbinde. Dann trat er einen großen Schritt zurück.
Sie zuckte heftig zusammen, riss ihren rechten Arm in die Höhe und verdeckte ihre Augen.
Der Vampir lachte.
"Du weißt schon, dass du dich gerade ziemlich klischeehaft benimmst? Dabei habe ich dich nicht mal gebissen!"
Ophelia richtete sich wieder auf. Dabei ignorierte sie nahezu die eigentliche Umgebung, den Raum, in dem sie sich befanden, mit den umlaufenden Bücherregalen und dem Schreibtisch. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die beiden Frontfenster, durch welche das rotgoldene Licht eines abendlichen Sonnenuntergangs hinein fiel und das Zimmer mit warmem Leuchten flutete.
Die Ãœberraschung war ihm eindeutig gelungen.
Die abgemagerte Frau stand reglos mitten im Raum. Ihr weißes Nachthemd schien das Licht zu trinken. Und sie selber... sie konnte nichts weiter tun, als das unerwartete Schauspiel auf sich einwirken zu lassen.
"Ich dachte mir, ich fange mit etwas Leichtem an. Meine bevorzugte Beleuchtungsvariante für deine Räumlichkeiten hatte dir ja nie so wirklich zugesagt. Du hast dir so oft Sonnenschein gewünscht... bitteschön, sollst du haben!"
Sebastian umrundete sie ansatzweise, um sich schräg vor ihr auf die Schreibtischkante zu setzen, so dass er ihre Reaktionen besser im Blick hätte.
Witzigerweise wirkte selbst ihre knochige Abgezehrtheit in diesem Licht bezaubernd. Sie war so blass, dass sie beinahe mit ihrem Nachthemd um die Wette strahlte. Aber ihre grauen Augen glitzerten und funkelten unter den aufsteigenden Tränen, die wie silberne Spuren über ihre Wangen zu ziehen begannen. Und ihr Haar schien plötzlich wieder in all seiner verlorenen roten Pracht zu glühen. Sie hatte etwas an sich, das ihn an die Ästhetik der alten Meister erinnerte, deren Werke er in seinem Teil der Schatzkammer sammelte. Wie eine Darstellung reiner Unschuld. Oder eine Variante des "Märtyriums" einer späteren Schaffensperiode des begnadeten Brindisianers?
Igorina trat schweigend hinter sie und legte ihr das Schultertuch um, welches Ophelia bei ihrem Sturz im Gang zurückgelassen hatte.
Diese blinzelte bei der sachten Berührung und wollte näher an eines der Fenster treten. Der Einfallwinkel der Sonnenstrahlen wanderte immer schneller von ihr fort und sie wollte den leuchtenden Bahnen folgen.
Sebastian trat schnell vor sie und hob die Augenbinde, um sie ihr wieder anzulegen.
Ophelia blickte verwirrt, ungläubig, schüttelte fassungslos den Kopf und war tatsächlich drauf und dran, sich an ihm vorbei zu schieben. Doch er zog sie wieder zurück. Ihre großen Augen riefen unter Tränen, dass er ihr das nicht antun könne, dass sie nur die letzten Strahlen, das letzte Verglühen am Horizont noch sehen müsse, wenige Sekunden!
Seine Augen konterten genussvoll mit der kühlen Feststellung, dass er es sehr wohl konnte – und auch tat.
Er legte die Augenbinde an... und stützte sie, als ein Teil ihrer Energie sich zu verflüchtigen schien. Er zog sie an sich und hielt sie tröstend in seinen Armen geborgen, während er selber sehr wohl die Gelegenheit nutzte, ihr über das rot glänzende Haar zu streichen und all die unzähligen Licht- und Farbreflexe darin auszukosten.
"Schschsch! Schon gut! Nicht weinen! Wenn dir der Anblick so weh tut, dann will ich ihn dir nicht länger zumuten. Es ist gut. Du hast es schon überstanden. Und...wir sind hier zwar im zweiten Stock, wodurch zufällige Blicke eher unwahrscheinlich sind. Aber es wäre wirklich nicht gut, wenn eben doch irgendwer gerade in dem Moment hoch schauen und eine weißgesichtige Made hinter dem Fenster meines offiziellen Büros sehen würde. Dafür hast du sicherlich Verständnis, nicht wahr? Wir wollen ja auch niemanden über Gebühr verschrecken. Machen wir uns besser auf den Rückweg! Vielleicht war es ja der falsche Herzenswunsch und dann ist es ein Segen, dass es nicht der einzige ist, den ich dir heute zu erfüllen gewillt bin?"
Sie stemmte sich kraftlos gegen seine Umarmung. Doch er löste diese nur gerade eben soweit, dass er ihre Schultern wieder mit einem Arm umfassen und sie mit dem anderen von den Füßen holen konnte. Das Schwindelgefühl, das sich ihrer daraufhin bemächtigte, brachte sie ihm wieder näher und kurz darauf lief er mit ihr den eben erst genommenen Weg zurück, Igorina immer vorneweg.
"Vermutlich ist es besser, wenn wir für den Rest der Nacht in deinem Raum bleiben, hm? Kein Problem. Ich habe vorgesorgt."
Zurück im Roten Zimmer legte er sie auf ihrem Bett ab. Kaum, dass er einen Schritt beiseite getreten war, eilte Igorina schon herbei und kümmerte sich um Ophelia. Sie riss ihr die Augenbinde vom Gesicht, welche sie betont gleichgültig auf den Boden fallen ließ, bettete sie und gab ihr zu trinken.
"Fein, fein! Ihr entschuldigt mich einen Moment? Für deinen zweiten Herzenswunsch muss ich etwas holen. Bin gleich wieder zurück."
Er konnte es kaum erwarten, ihren Blick zu sehen, weswegen er sich beeilte. Glücklicherweise hatte er bereits alles zurechtgelegt gehabt, so dass er nur noch nach nebenan musste, in seinen Arbeitsraum zur Linken von ihrem Zimmer. Schwungvoll öffnete er die Tür. Eine Petroleumlampe stand auf der kahlen Metallfläche des Seziertisches in der Mitte und spendete dem geparkten Menschen etwas Licht. Dessen Blick richtete sich teilnahmslos ins Leere.
"Du bist später dran, keine Sorge! Ein bisschen Geduld noch. Erst kommt dies hier! Wir wollen uns ja nicht zu schnell auf die ganz großen Themen hinarbeiten, nicht wahr?"
Nach dieser kaltherzigen Begrüßung ignorierte Sebastian seinen "Gast" weitestgehend. Dessen Geist war leicht zu handhaben. Erst recht, wo diese Art von Ruhemodus von den wenigsten sterblichen Gehirnen als bedrohlich wahrgenommen wurde. Er war nichts, wogegen ein Bewusstsein instinktiv anzukämpfen begann.
Sebastian nahm das kleine Beistelltischchen vorsichtig auf, das er mit allem Nötigen vorbereitet hatte. Papier, Tinte, Federkiel. Er trug das kleine Tischchen vorsichtig zur Tür hinaus – und ließ den reglosen Mann wieder allein im Halbdunkel zurück.
Im Roten Zimmer angekommen stellte er seinen neuen Arbeitsplatz dicht neben ihr Bett und zog sich dann einen der beiden Sessel heran. Er setzte sich, indem er die Hosenbeine leicht lüpfte und sein Jackett links und rechts neben den Armlehnen hoch zupfte. Dann schüttelte er die Ärmel mit den Manschetten aus, als wenn er sich für eine Herausforderung lockern müsse.
Ophelia beobachtete all das schweigend, mit ängstlichem Blick auf die Schreibutensilien.
Er stützte sich auf seine Ellbogen vor und legte die Hände vor seinem Kinn übereinander.
"Dein zweiter Herzenswunsch... wobei ich vorweg betonen möchte, dass das nicht deine persönlichen Prioritäten spiegelt! Da eine Reihenfolge festzulegen, kann nur willkürlich erscheinen, nicht wahr? Aber meiner persönlichen Dramaturgie folgend, müssen wir ja noch irgendeine Möglichkeit zur Steigerung haben. Wie auch immer... schon an diesem Beispiel zeigt sich, wie komplex und keinesfalls eindeutig diese Sache mit den Wünschen sein kann. Ich dachte mir daher, dass ich mich hier nicht ausschließlich auf mein untrügliches Gespür verlassen, sondern dich direkt mit einbeziehen sollte."
Ihre Aufmerksamkeit klebte an ihm, wie flatternd verendendes Kroppzeug an Insektenfallen.
"Du sehnst dich danach, deine Familie zu kontaktieren!"
Ihre Pupillen weiteten sich und sie hielt den Atem an.
"Selbstverständlich gibt es dabei einige Dinge zu berücksichtigen. Zum einen können wir ihnen wohl kaum verraten, wo du dich aufhältst und wir sollten ihnen auch keine falschen Hoffnungen in dem Punkt machen, dass du jemals zu ihnen zurückkehren könntest. Denn das wird ja, wie wir beide nur zu gut wissen, nicht passieren. So gesehen muss ich dir leider eine eher egoistische Neigung bescheinigen, bei diesem Wunsch. Denn, was außer Kummer bei deiner Familie könntest du damit bewirken?"
Ihre Lippen wurden blass, so fest, wie sie diese zusammenpresste.
Er winkte verspielt ab.
"Aber das macht ja nichts. Wenn man genauer darüber nachdenkt, so wie ich das getan habe, als ich mich für verschiedene Wege entscheiden musste, deine Sehnsüchte zu erfüllen, dann stellt man überraschenderweise fest, dass du über diesen Punkt tatsächlich in sehr flexibler Weise denkst. Der Schlüssel liegt hier in dem Begriff des ‚Kontaktierens’, habe ich Recht?"
Er zwinkerte ihr schelmisch zu.
"Dir würde es schon genügen, davon zu wissen, dass etwas von deiner Gedankenwelt sie irgendwie erreichen konnte. Sie müssten das nicht einmal als von dir kommend zuordnen können! Es geht dir dabei – schon um sie vor mir zu schützen – eher um einen ideellen Brückenschlag, richtig? Etwas, von dem du dann einfach weißt und das dir Halt geben kann. Oder könnte. Theoretisch zumindest. Und da habe ich mich zu dem Schluss durchgerungen, dass das machbar sein sollte."
Er zog das Blatt Papier näher, nahm den Federkiel zur Hand und tunkte diesen in das geöffnete Tintenglas.
"Was schreiben wir ihnen?"
Igorina schickte sich doch dreister weise wirklich an, sich auf die Bettkante zu ihr zu setzen, um ihre Hand zu halten.
Er fuhr sie mit scharfer Stimme an.
"Das reicht! Racul hat dir die Erlaubnis erteilt, uns am heutigen Abend Gesellschaft zu leisten? Schön für dich! Er wird aber ganz sicher nicht alle Eventualitäten berücksichtigt haben. Igorina... verschwinde in die Ecke dort und erfülle deine Pflicht, indem du uns im Blick behältst... von dort aus! Und zwar ausschließlich von dort aus!"
Sie wollte gegen den Befehl aufbegehren. Das war deutlich zu sehen. Doch die seitens Racul auf ihn übertragenen Zuständigkeiten, Rechte und Mächte entfalteten ihre Wirkung und unterstützten eine Weisungsbefugnis, die weit über das normale Maß eines persönlichen Assistenten hinaus reichte.
Igorina drehte auf dem Absatz um und stellte sich mit dem Rücken zur Wand in die Zimmerecke. Damit wurde sie für ihn auf einen Schlag unbedeutend.
Er setzte wieder sein gut gelauntes Lächeln auf und wandte sich Ophelia zu. Welche entsetzt auf die Bedienstete starrte.
"Ophelia? Habe ich deine Aufmerksamkeit?"
Ihr Blick schnellte zu ihm zurück.
"Viel besser! Wir wollten deinen Eltern schreiben. Vorschläge? Wünsche?"
Ihr Blick einte nun Hilflosigkeit und emotionalen Schmerz in schönem Gleichgewicht zueinander. Und wieder enthielt sie sich einer eindeutigen Reaktion!
Es läuft wirklich genau nach Plan! Sie hält daran fest, eine direkte Interaktion mit mir zu vermeiden. Was es mir herrlich einfach macht, ihre Zustimmung zu interpretieren.
"Nicht? Dann werde ich dir die Arbeit abnehmen und für dich einen kurzen Brieftext entwerfen."
Sie schloss ihre Augen.
Und er beugte sich mit Feuereifer über das Papier, bevor man im Raum für eine ganze Weile nur noch das Kratzen der Schreibfeder, das Knistern des Kaminfeuers und ihren angestrengten Atem hörte. Dann legte er die Feder ab und strahlte sie an.
"Fertig! Möchtest du wissen, was du ihnen schreibst?"
Oh, wie sehr sie sich doch Mühe gab, ihr Herz zu verbarrikadieren! Hoffnungslos! Ihr Körper verriet sie im Sekundentakt. Das Zittern der Hand, das verkrampfte Atmen.
"Das ist natürlich nur ein erster Entwurf..."
Er reichte ihr das Papier über den schmalen Tisch hinüber – und fast gegen ihren Willen griff sie langsam danach. Sie hielt es sich vor, stützte ihren Arm dabei auf der Bettdecke ab. Doch es half nichts. Ihre Hand zitterte so stark, dass die eng gesetzte, leicht schnörkelige Schönschrift unlesbar sein musste.
"Wie unhöflich von mir, verzeih! So kannst du ihn vermutlich nicht erkennen. Warte! Ich helfe dir."
Schnell stand er auf, stellte das Tischchen beiseite, nahm ihr den Brief ab und legte sich dicht neben sie ins Bett.
"Viel besser, nicht wahr? So kann ich dir den Brief genau auf Augenhöhe halten."
Zum ersten Mal an diesem Abend mied sie seinen Blick und sah starr geradeaus, anstatt ihm in die Augen. Was ihn aber keinesfalls störte. Er hielt das Papier, während sie so tat, als wenn sie sich darauf und nicht auf seine unmittelbare Nähe konzentrieren würde. Während dessen wanderte sein Blick über ihr Gesicht, ihr Haar, ihre Haut... ihren Hals...
Sie musste schwer schlucken.
Planabweichung! Warum nicht alle Seiten ihrer Seele bespielen? Ein Gefühlschaos in noch größerem Ausmaß provozieren? Und es bot sich einfach gerade so schön an...
Er ließ zu, dass seine Stimme leiser und betörender wurde, gestattete sich das tiefe Timbre, das normalerweise den Momenten der Lust vorbehalten war.
"Ich hatte ganz vergessen, wie ansehnlich du einst warst, Ophelia..."
Ihre Halsmuskeln spannten sich an und ihr ganzer Körper, dicht neben dem seinen, versteifte sich.
Er lehnte seine Stirn an ihre Schläfe, flüsterte ihr rau und sehnsuchtsvoll ins Ohr.
"Dir ist bewusst, dass es einen Wunsch tief in dir gibt, den ich bisher außer Acht zu lassen gewillt war, nicht wahr?"
Er schmiegte sein Gesicht mit einer langsamen Bewegung in ihr Haar und atmete ihren Duft tief ein. Wenn man Krankheit und Verfall beiseite schob, dann entfaltete sich dabei ein olfaktorisches Panorama tiefster Verwirrung: Angst, Verzweiflung, Hilflosigkeit... aber trotz allem auch noch Trotz und... ja, auch Ambivalenz.
Sebastian musste leise kichern und die Freude wurde dadurch vervielfacht, dass sie plötzlich entsetzt nach Luft schnappte. Sie hatte verstanden und egal, wie sehr sie es abstreiten würde, wenn sie die stimmlichen Möglichkeiten dazu gehabt hätte... es ließ sich nicht leugnen! Die Einsamkeit der letzten Monate forderte ihren Tribut.
Er senkte seine Stimme soweit, dass selbst die Igorina am anderen Ende des Zimmers sie nicht mehr hören können würde, das Gesagte ausschließlich Ophelia vorbehalten.
"Es ist ein so fundamentales Bedürfnis, berührt zu werden, nicht wahr?"
Er ließ die Hand mit dem unbeachteten Brief sinken, so dass sein Arm sich wie von selbst um sie legte, ihren Oberkörper umschloss.
Das Problem war nur, dass er damit eindeutig gegen ihren Willen handelte, ganz egal, was er ihr mit seiner Interpretation einzureden versuchte. Und das war mehr als offensichtlich! Ihr Herzschlag raste und das Zittern, das sich nun ihres schmächtigen Leibes bemächtigte, deutete mehr auf Abscheu und Verzweiflung hin, denn auf Erregung.
Er hielt dem inneren Kampf gegen die ihm auferlegten Grenzen noch eine weitere Sekunde lang stand, schon aus Prinzip. Dann zog er sich seufzend zurück. Schwungvoll erhob er sich und setzte sich wieder auf den kleinen Sessel, als wenn nichts gewesen wäre. Er überschlug die Beine und hielt den Brief mit einem sarkastischen Lächeln locker in der aufgestützten Hand.
"So wenig interessiert es dich, was deine Eltern in ihrem Postkorb vorfinden werden?"
Sie hatte zu viel damit zu tun, ihren Puls zu beruhigen, um ihm zu antworten.
Sebastian schaute fast gelangweilt auf den Brief in seiner Rechten.
"Na ja, es stimmt schon. Zu mehr, als einem Entwurf taugt er wohl eher nicht. Zu viele Informationen enthalten, um als unverfänglich durchzugehen. Wir sollten ihnen lieber nicht schreiben, dass du sie vermisst, als wenn es dir das Herz zerreißen würde. Oder dass du eineinhalb Mal gestorben bist in der Zwischenzeit, seit sie dich zuletzt gesehen haben. Wie war das? Gebranntes Terrain? Nein, deine Großtante hatte es anders genannt, nicht wahr? Wie auch immer... dazu dein schwülstiger Stil und deine Handschrift... nein, diesen Brief können wir so nicht auf Reisen schicken."
Er knüllte ihn entschlossen mit beiden Händen zusammen und warf ihn über die Schulter. Dann zog er das Tischchen wieder näher und begann vergnügt mit einem zweiten Anschreiben. Welches deutlich schneller fertig wurde. Keine zwei Minuten später legte er den Federkiel ab.
Inzwischen sah sie ihn wieder an.
Sebastian hob den Brief und drehte ihn zu ihr um, hielt ihn so mit spitzen Fingern auf ihre Sichthöhe. Er beobachtete ihre Mimik, als sie dessen Anblick erfasste.
Sie runzelte die Stirn. Dann sah sie ihn vorwurfsvoll an.
"Was? Erfüllt das nicht deinen Wunsch? Sei ehrlich! Sei ganz, ganz ehrlich zu dir selbst! Es ist ein Brückenschlag, die Kernaussage trifft es auf den Punkt und dennoch wird der Brief keinen gefährlichen Verdacht erregen, nicht wahr? Also ich bin der Meinung, dass es sich hierbei um ein diplomatisches Meisterwerk handelt!"
Ihre Augen verfinsterten sich. Zorn brodelte plötzlich unter der Oberfläche und verlieh der Situation eine ganz neue, frische Dynamik.
Und wieder... sie gibt kein deutliches Widerwort! Sehr schön!
Er legte den Brief zufrieden vor sich ab. Anstelle der eben genutzten Kopie ihrer elegant schwungvollen Schrift, zierte das Blatt diesmal eine krakelige Kinderhandschrift. Und darin stand geschrieben:
"Hallo! Das hier ist eine Nachricht. Viele Grüße!"
Mit bösem Lächeln blickte er über den Tisch zu ihr, als er den Brief unordentlich zu falten begann.
"Ich werde persönlich für seine Zustellung sorgen, damit auch nichts schief geht. Vielleicht sehe ich deine Eltern dann ja sogar? Keine Angst! Ich werde sie nicht weiter behelligen."
Er steckte den Brief achtlos in seine Hosentasche, was ihm, seiner Meinung nach, ein reizend authentisches Flair verleihen würde. Dann lehnte er sich entspannt zurück und betrachtete sie.
"Wie schnell die Zeit doch vergeht, wenn man Spaß hat!"
Ihr Blick wanderte hinter ihn und blieb für einen Moment an der dort wartenden Igorina hängen. Er schnalzte mit der Zunge.
"Ts! Wenn du dich bitte etwas mehr konzentrieren könntest? Das wäre gar zu freundlich. Sonst müsste ich dir noch Unhöflichkeit unterstellen."
Sie sah ihn wieder an und diesmal bedachte sie ihn dabei mit bitterem Vorwurf in diesen entzückend redseligen Augen.
"Nein, wirklich! Du weißt ganz genau, dass ich mich nach deiner Aufmerksamkeit verzehre. Da müssen wir uns nichts vormachen. Dazu kennen wir uns doch gegenseitig viel zu gut, Ophelia. Wenn schon, denn schon! Wenn ich dir schon von meiner kostbaren Zeit schenke, dann sollte sich das auch für mich lohnen. All die vielen Momente zu Beginn unserer Freundschaft, in denen du von deinen Erinnerungen an diesen Möchtegern-Assassinen abgelenkt warst, wo du dich doch eigentlich gedanklich mir hättest widmen sollen! Das war hart für mich. Und hat mir gar nicht gefallen, wenn du dich noch daran erinnerst."
Er ließ die Worte einen Moment nachwirken und nahm erheitert zur Kenntnis, wie ihre Gedanken sich– wie gewünscht – dem eigentlichen Thema des Abends zuwandten. Jenem Bereich in ihr, der das höchste emotionale Potential zum Anzapfen barg. Dem Gefühlsblock innerhalb ihrer Persönlichkeit, den sie besonders früh vor ihm zu verbergen gelernt hatte: Rach Flanellfuß!
Bis dahin hatte es immer viel Spaß bedeutet, Dinge in ihr anzustoßen, die sie dazu brachten, sich ausgerechnet an ihren Verlobten zu erinnern. Diese Gefühle reichten weiter in ihre Persönlichkeit hinab, als alles andere, sie gingen bis in die tiefsten Ebenen, wurzelten dort, wo auch die Überzeugungen wohnten, die gemeinhin als "Sinn", "Daseinszweck" oder "Glaube an das Gute" tituliert wurden und die jedwedes Wesen antrieben. Und allein die Trauer, welche aus der dort geschlagenen Wunde eiterte, resultierend aus ihrer erzwungenen Trennung von dem jungen Mann, war ein unerschöpflicher Energiequell, an dem der Vampir sich nicht satt trinken konnte! Raculs Beschluss, ihm ausgerechnet diese Genugtuung zu verleiden, war einer der wenigen hellen Momente des Alten gewesen – wenn man es rein vom strategischen Gesichtspunkt aus betrachtete. Nicht nur war die Frau nach solchen Vorfällen unberechenbarer und schwerer zu kontrollieren gewesen, nein, es war auch schnell offensichtlich geworden, dass diese Richtung die realistische Chance barg, dass sie innerlich zerbrechen würde. Und zwar so sehr, dass ihr Lebensfunke verglühte! Ihm selber wäre das natürlich nur zu lieb gewesen. Aber der Alte hatte eben dieses eine Mal schneller verstanden, als es für ihn, Sebastian, gut gewesen war. Und sein Ansinnen unterbunden. Aber hier und jetzt...
Sebastian grinste dreckig bei dem Gedanken.
Der Alte hatte ihm quasi freie Hand gegeben, in dem lächerlichen Wunsch, ihn zu strafen. Und er hatte damit auch dieses Verbot aufgehoben. Racul, der Dritte von Ankh, hatte sich selbst sabotiert! Denn welchen größeren Herzenswunsch konnte die geraubte Braut schon haben, als ihrem seelischen Gegenpart wieder näher zu kommen?
Wenn man es denn schaffte, diesen Bereich unter all den Trümmern wieder freizulegen, ihn zu Tage zu fördern, nachdem sie ihn so lange versiegelt gehalten und geleugnet hatte! Aber hier half nur Fingerspitzengefühl und Geschick. Er durfte es nicht zu offensichtlich angehen, sonst wäre sie vorgewarnt und würde seine Bemühungen zu schnell abwehren. Sie musste gewissermaßen abgelenkt sein, ihre emotionale Hintertür unbewacht lassen, so dass er einen Fuß in den Türspalt bekäme, wenigstens das, um von da aus per Hebelwirkung weiterzukommen. Jene Seelentür, zu der er sich den exakt passenden Nachschlüssel für diesen Abend organisiert und diesen nebenan geparkt hatte. Es gab eben verschiedene Wege ins Innere eines denkenden und fühlenden Wesens und manche wirkten schneller, direkter, als andere.
Sebastian tat gedankenverloren, ehe er sich scheinbar mit einem Ruck ins Hier und Jetzt zurückholte. Er atmete dramatisch seufzend tief durch.
"Wie auch immer. Dein dritter Herzenswunsch!"
Ihre Hand krampfte sich in die Zudecke.
"In diesem Fall war ich mir tatsächlich sehr sicher. Da werde ich voll ins Schwarze treffen. Aber um diesen Wunsch auch in angemessener Weise erfüllen zu können, benötigt es professionelle Hilfe von Außen."
Ophelia wirkte verwirrt. Auf ihrer Stirn zeichneten sich Falten ab.
Er beugte sich enthusiastisch vor, die Ellbogen auf die Knie abgestützt und die Hände aneinandergelegt.
"Musik! Ich habe für unseren weiteren Abend einen Musiker organisiert!"
Sie versteinerte regelrecht, ihr Gesicht wurde ausdruckslos und ihre Augen blieben bewegungslos auf ihn gerichtet, ohne das leichteste Zwinkern.
Er rieb sich die Hände, wortwörtlich.
"Ich gebe zu, nachdem Racul mich darauf aufmerksam gemacht hat, wie wenig Abwechslung vom eintönigen Einerlei deiner Unterbringung bei uns ich dir während deines Gastaufenthaltes bisher zugestanden habe, fiel es mir wie Schuppen von den Augen! Es stimmt schon. Etwas mehr Unterhaltung – eben auch für dich und nicht nur für mich – wäre wohl drin gewesen. Was kann es schließlich schaden? Und vielleicht, ganz eventuell, stelle ich dir demnächst sogar ein Grammophon zur Verfügung. Aber für den heutigen Abend wäre das zu kurzfristig gewesen. Solch ein Gerät sollte schließlich auch eine gewisse Qualität mitbringen. So blieb mir nur die Möglichkeit, einen wirklichen, echten Künstler mitzubringen. Dafür ist die Varianz in seinem zur Verfügung stehenden Repertoire größer. Er kann über 120 Stücke aus dem Sinn heraus spielen, ohne die Noten vor sich stehen zu haben. Was auch mit ein Grund dafür war, dass ich ausgerechnet ihn ausgewählt habe. So musste ich mir keine Gedanken um irgendwelche einzupackenden Blätter oder Hefte machen. Und wir können uns einfach spontan entscheiden, was er uns vorspielen soll. Überaus praktisch, richtig?"
Noch immer rührte sie sich nicht.
Du ahnst die Falle dahinter, nicht wahr? Du bist dir nur noch nicht sicher, wie genau diese aussieht. Aber das ist in Ordnung. Das hier ist keine Bärenfalle, die dir brachial die Knochen bricht. Das hier ist schleichendes Gift, bei dem du erst begreifst, wie es dir schadet, wenn es längst zu wirken beginnt. Und damit du mir nicht wieder in letzter Sekunde durch die Finger schlüpfst, hier noch schnell etwas zur Ablenkung.
Er beugte sich etwas vor und angelte nach der achtlos fortgeworfenen Augenbinde am Boden.
"Ein kleines Wort zur Warnung! Der Herr ist nicht gänzlich freiwillig Bestandteil unserer kleinen Abendunterhaltung."
Ein Schaudern durchlief sie und ihre Augenlider begannen nervös zu flattern.
"Bisher ist es mir gelungen, ihn geistig weit genug von dem abzuschirmen, was er gesehen oder gehört hat, um ihn im Anschluss wieder unbehelligter Dinge gehen zu lassen. Das eine oder andere Detail wird zu löschen sein, aus seinen Erinnerungen, aber das bewegt sich alles noch im üblichen Rahmen, das ist nichts, was unmöglich wäre. Bis jetzt!"
Er sah sie ernst an, als wenn ihm wirklich daran läge, dass sie kooperieren würde, zum Besten aller Beteiligten.
"Im Moment ist er der Überzeugung, seine Künste bei einem romantischen Dinner einzubringen. Bei einer heimlichen Liebelei, deren Anblick ihm aus möglicherweise kompromittierenden Ehrengründen heraus nicht zugestanden werden wird. Ich habe dich als Dame aus adligen Kreisen geschildert, der nicht daran gelegen ist, ihre unstandesgemäße Affäre von den Häuserdächern geflötet zu hören."
Er rollte das längliche Tuch penibel zusammen.
"Es wäre von Vorteil, wenn du wenigstens alles unterlassen würdest, was diesem Eindruck zuwider spräche. Denn... was die Folge sein muss, sollte unser Besucher allzu misstrauisch werden... das ist dir bewusst, oder?"
Ophelia nickte langsam.
Und damit wären die Weichen gestellt! Wunderbar! Du wirst dich vor allem darauf konzentrieren, diesen Unbekannten vor irgendwelchen Konsequenzen deines Handelns zu schützen. Und dabei deine eigenen Mauern um dein Herz aus den Augen verlieren. Endlich!
Der Vampir erhob sich entschlossen. Bevor er sich zum Gehen umwandte, erklärte er noch.
"Der Mann ist darüber informiert, dass du dich auch anhand deiner Stimme nicht zu erkennen geben wirst, dass wir miteinander nur flüstern werden, solange er anwesend ist. Das allein wird ihn also nicht weiter verwundern. Ich erwarte allerdings, dass es zu keinen peinlichen Szenen kommt. Nun denn..."
Er machte sich wieder auf den Weg nach nebenan.
Die Lampe war inzwischen heruntergebrannt und verloschen aber das störte ihn nicht. Er öffnete die Tür und rief den Musiker per Gedankenbefehl zu sich. Er gab ihm die Violine in die Hände, die er ihm zuvor genommen hatte, und verband ihm dann grob die Augen. Er hatte nicht vor, diesen Menschen im Anschluss wieder gehen zu lassen. Er würde ihn sich als frühe Morgenmahlzeit genehmigen, sobald er mit Ophelia durch wäre. Aber erst mal wäre es ein klarer strategischer Vorteil, sie das glauben zu lassen. Vielleicht verriet er es ihr später, mal sehen. Aber zuerst...
"Du weißt, welche beiden Stücke du gleich zum Besten geben wirst?"
Der Künstler "erwachte" aus seiner Trance und befand sich sofort wieder in dem Zustand amüsierter Aufgeregtheit, in welchem er ihn vorgefunden hatte, kurz bevor er ihn für sich vereinnahmte. Die angebliche Mission, das Anheizen verbotener Liebe mit seinen Gaben, das hatte noch verlockender auf den Mann gewirkt, als das Schweigegeld.
"Selbstverständlich, Herr! Erst das schwungvoll leidenschaftliche, für euer Tanzbein, Herr. Und danach das tragische, um einander in den Armen zu liegen. Aber wie steht es mit dem Danach..."
Er unterbrach ihn gelangweilt, ehe er sich des Scheins wegen noch einmal zusammenriss. Das wäre der Zeitpunkt, zu dem es bereits gleichgültig wäre, ob überhaupt noch Musik spielen würde. Aber das konnte er dem Gegenüber noch nicht offenbaren.
"Dann ist es an der Dame, weitere Wünsche zu äußern. Überlassen wir es also ihr, den weiteren Abend zu gestalten, sobald sie dazu bereit ist, nicht wahr?"
Der Musiker grinste breit unter der Augenbinde und war voller Tatendrang, als er nickte.
Was Sebastian nur recht sein konnte. Er nahm ihn lachend bei der Hand und führte ihn unbeschwert plaudernd den kurzen Weg zu Ophelia.
"Wenigstens ist dieser Auftrag eine echte Abwechslung zu den üblichen Anstellungen, würde ich vermuten?"
"Oh ja, das kann man wohl sagen, Herr! Und ich möchte betonen, dass es mir ein Vergnügen sein wird, Herr."
"Das Vergnügen wird ganz und gar das unsere sein, da bin ich mir sicher. Was ich von deinen Künsten bisher vernehmen durfte, war ganz vorzüglich."
Der Mensch seufzte kurz.
"Dein Wort in Oms Gehörgang, Herr! Ein paar Aufträge mehr hätten es in der letzten Zeit schon sein können – erst recht solch großzügig entlohnte, wie der deine. Ich werde zeigen, wie man richtig spielt, wie man das Herzblut aus den einzelnen Noten herausquetscht, Herr, glaub mir! Du wirst zufrieden sein."
Da bin ich mir sicher. Aber nett, es bestätigt zu bekommen. Da erübrigt sich wenigstens eine aufwändige Motivationsrunde.
Sie betraten das Zimmer, in welchem der Vampir den Musiker auf die andere Seite der Sitzgruppe führte, um ihn dort sich selbst zu überlassen. Der Mann räusperte sich dezent und verneigte sich ehrerbietig ins Leere hinein.
"Mylady!"
Dann begann der Violinenspieler damit, möglichst dezent sein Instrument zu stimmen.
Sebastian trat an das Bett heran.
Ophelia hatte sich inzwischen wieder aufgesetzt hatte, wohl in einem blödsinnigen Anflug von Respekt dem Fremden gegenüber. Sie sah erschrocken zu ihm auf, als er ihr galant den Arm bot und sie gut hörbar zum Tanzen aufforderte. Er genoss ihre Reaktion in vollen Zügen, erst recht in dem Wissen, was gleich folgen würde.
"Mylady, es ist alles bereitet, wie Ihr es wünschtet. Einem leidenschaftlichen Abend zu zweit steht somit nichts mehr im Wege. Es wird mir eine Ehre sein, euren Weisungen zu folgen, von Musik beflügelt dem Herzen zu folgen und gemeinsam mit euch auf den Schwingen der Nacht über diesen Tanzboden zu gleiten. Darf ich es somit wagen?"
Sie blickte verzweifelt zu dem Musiker, der sich mit sichtlichem Grinsen hinter seiner Augenbinde darum bemühte, das Gehörte auszublenden und so zu tun, als wenn er nichts mitbekäme. Dann sah sie zu ihm auf. Sie überlegte fieberhaft, wie weit sie gehen könnte, mit einer Ablehnung, deutete hastig mit der Rechten auf ihre Beine und ihren gesamten, körperlichen Zustand. Sie tippte sich ans Herz und deutete mit flacher Hand und unstetem Gelenk ein sachtes Zittern an.
Er beugte sich zu ihre herab und flüsterte dicht an ihrer Wange.
"Er geht von einem Tanzabend aus. Sein Auftritt soll immerhin einem verliebten Paar gelten, das sich aneinander schmiegen und Körperkontakt teilen möchte. Das hier ist für ihn nicht als reiner Konzertabend angekündigt worden."
Sie kaute auf ihrer Unterlippe und ihre Blicke wurden verzweifelter.
Er strich ihr zärtlich das Haar hinters Ohr, was sie sofort wieder einen panischen Blick zu dem Künstler werfen ließ.
"Komm schon! Das hier ist dein Herzenswunsch, nicht der meine! Und ganz gewiss auch nicht der seine. Wir alle sind nur deinetwegen hier. Du hast dir Musik gewünscht, nun lass es uns schnell hinter uns bringen. Vielleicht genießt du auch einfach mal? Nicht, dass mir das wichtig wäre. Aber es würde die Situation vielleicht etwas entspannen. Schon allein ihm zuliebe wäre das vielleicht eine gute Idee, damit seine Chancen steigen, dass er ohne Misstrauensausbruch den Abend übersteht. Oder möchtest du lieber noch etwas länger warten und ihn damit direkt gefährden?"
Sie schüttelte heftig den Kopf, musste sich daraufhin aber sofort abstützen.
Er fing sie auf und hielt sie an beiden Händen aufrecht.
"Dann überlass dich dem Moment! Ich helfe dir! Wenn es zu anstrengend wird, trage ich dich wieder wie vorhin, ja? Und du... du lässt dir den Wunsch erfüllen und dann haben wir es beide endlich hinter uns. In Ordnung?"
Er spürte eine Anspannung in sich, die einer gespannten Feder glich. Dies war der Moment, auf den er so lange hingearbeitet hatte! Sie musste einfach zustimmen! Wenn sie ihm jetzt die Zusammenarbeit verweigerte, dann wäre der Plan undurchführbar und sie würde sich seinem inneren Zugriff neuerlich entziehen.
Der Musiker half ihm unbewusst.
"Ist alles in Ordnung, Herr? Mylady? Möchtet ihr, dass ich beginne? Oder soll ich noch warten?"
Sie griff fast sofort mit einem unterschwelligen Beben nach seiner Hand und ließ sich langsam von ihm aufhelfen.
Er lächelte breit, mit ausgefahrenen Fangzähnen, so sehr setzte ihm die Vorfreude zu, als er dem Musiker zurief.
"Alles gut, wir sind gleich soweit! Der Abend ist nur nicht mehr ganz so jung, hier in unserem kleinen Nest. Wir hatten schon sehr schöne Stunden und haben auch dem... Tee bereits reichlich zugesprochen. So dass wir nicht mehr ganz sicher auf den Füßen sind. Aber wir sind dennoch ganz erpicht darauf, an deiner Aufführung Anteil zu haben. Somit... spielt auf, Maestro!"
Und das tat er!
Der Musiker hatte nicht zu viel versprochen. Schwungvolle, fröhliche Tanzmusik füllte sofort darauf den Raum und Sebastian wartete keine weitere Sekunde darauf, Ophelias ausdrückliche Zustimmung abzuwarten, um sie neuerlich auf die Arme zu heben. Er überließ es ihr, sich den wilden Drehungen entgegen und damit automatisch dicht an ihn zu lehnen, um nicht von seinen Armen zu fallen, während er sie in einem leidenschaftlichen Tanz wirbelnd durch das kleine Zimmer trug, als wenn sie sich auf dem Parkett eines Ballsaals befänden. Ihre Finger krallten sich in seine Schulter und ihr Kopf wandte sich mit fest geschlossenen Augen seinem Brustkorb zu, so als könne sie so den Schwindel ausmerzen, der sie nun regierte. Ihr Nachthemd wehte mit sachtem Flattern um die Beine über seinem Arm.
Die Musik war schnell und melodisch, ein fröhlicher Tanz, der es gerade eben so noch in die etwas liberaleren Tanzsäle geschafft hatte, in denen nicht sofort die Nasen gerümpft wurden, wenn Paartänze auf der Tanzliste auftauchten, welche sich nicht in ordentlich aufgestellten Reihen bewegten. Eine schwungvolle Melodie, die das Leben feierte, wie einen heißen Sommertag, mit wehenden Fahnen und dem pochenden Trommeln wilder Herzen. Und die Musik dauerte an. Er hatte ihre Reaktionen bis hierher richtig vorausgesehen und dem Spieler die Anweisung gegeben, die Melodie zu dehnen. Dieser Tanz würde ein langer Tanz werden. So lang, wie Ophelia Zeit dazu benötigen würde, innerlich loszulassen und wirklich auf die Musik zu lauschen. Eine Runde folgte auf die nächste und er bemühte sich dabei darum, sie nur in statthaftester Weise zu berühren, um ihrem Körper und ihrer Psyche die Gelegenheit zu geben, sich zu öffnen. Aber sie kämpfte dagegen an, oh, so sehr!
Er lachte in kalkulierter Weise, für den Violinespieler bestimmt.
"Maestro, etwas langsamer bitte! Wir sind nicht mehr ganz so trittsicher..."
Der Musiker reagierte arglos mit einem fröhlichen Lachen und die Musik schmolz dahin. Das Stück blieb das Gleiche! Doch nun klang es nach einem glücklichen Abend auf einem Hügel, mit lauer Luft und hohen Wolken.
Sebastian legte seine Wange leicht auf ihren Kopf und flüsterte mit verständnisvoller Stimme.
"Ophelia... bitte! Entspanne dich! Du weißt, dass es seine Idee war. Und ich kann dich nicht wieder alleine und in Ruhe lassen, ehe ich meine Aufgabe erfüllt habe. Ich weiß, du möchtest nichts sehnlicher, als dass ich dich in Ruhe lasse und glaube mir, das würde ich nur zu gerne. Du weißt doch, wie sehr ich dich verachte. Glaubst du da wirklich, dass ich länger als nötig Zeit mit dir verbringen würde? Lass es uns schnell hinter uns bringen. Du weißt, ebenso wie ich es tue, dass du lange schon davon geträumt hast, nicht nur Musik zu hören, sondern dich ihr auch wieder einmal anzuvertrauen, dich ihr hinzugeben. Bevor du dies nicht getan hast, kann ich den Wunsch nicht als erfüllt ansehen. Du musst schon ein bisschen mitarbeiten."
Ihre dünnen Finger krampften sich noch einmal in seine Schulter.
Er wisperte ihr ins Haar.
"Lass es zu... genieße doch einfach nur einen Moment lang, was ich dir hier biete, bitte! Die Gelegenheit ist einmalig, denke nicht, dass sie sich wiederholen wird. Und sie ist nur für dich. Vergeude sie nicht!"
Und endlich lösten sich ihre knochigen Fingerspitzen aus seiner Schulter. Ihr Hand rutschte an seinem Brustkorb hinab, wo sie zur Ruhe kam und ihr schmächtiger Körper in seinen Armen tat einen tiefen, zitternden Atemzug. Sie begann, sich zu entspannen.
Ein bösartiges Grinsen breitete sich auf seinen Zügen aus.
Endlich!
Er wartete noch, bis ihr Herzschlag sich dem Rhythmus anzupassen begann und ihre Atemzüge gleichmäßiger und tiefer wurden. Und als ihr Kopf an seiner Brust sich leicht bewegte, weil ihre verkrampfte Haltung sich soweit gelockert hatte, dass sie wahrhaftig nach einer etwas bequemeren Position für diesen an seiner Schulter suchte, da sagte er leise im Vorbeitanzen zu dem Künstler:
"Bitte, Maestro, spielt doch das nächste Lied in eurem Repertoire!"
Der sanfte Übergang der einen Melodie zur anderen war so geschickt angelegt, so fließend, dass ihr Kopf erst verstand, als ihr Herz längst in der Schlinge zappelte.
Sie hatte ihre Wange unbewusst an sein Jackett geschmiegt, ihre Finger strichen zärtlich über das Hemd darunter und ein leiser, sehnsuchtsvoller Seufzer drang an seine hämischen Ohren, ehe sie plötzlich zusammenzuckte. Ihre Finger krallten sich fast schmerzhaft in sein Hemd. Aber das war ein Schmerz, den er gerne ertragen würde!
Der Künstler machte seine Sache wirklich gut. Selten hatte er eine Violine auf diese zärtliche Art weinen gehört um eine Vergangenheit, die es nicht mehr gab. Die Töne vibrierten mit einer derart leisen Intensität durch die Luft, dass sie wie magische Sphärenklänge schwebten. Der Inhalt der Melodie war auch ohne jeglichen Text sofort nachvollziehbar: Eine tragische Liebe, eine Trennung, unmögliche Hoffnung.
Und für Ophelia musste das in unerträglichem Maße umso mehr zutreffen, denn dies war das Lied gewesen, zu dem Rach Flanellfuß ihr damals, vor einem halben Leben, seine unverbrüchliche Liebe eingestanden und um ihre Hand angehalten hatte!
Sebastian tanzte seelenruhig weiter, als wenn er die Veränderung in ihr nicht bemerkt hätte.
Und während dessen säbelte jeder weitere Bogenstreich blutige Fetzen aus ihrem offen und bloß liegenden Herzen. Ihr Atem ging stoßweise und ihr Körper krampfte in seinen Armen, während sie Hemd und Jackett mit ihren frei fließenden Tränen tränkte. Jeglicher Kampfeswille schien aus ihr heraus zu rinnen und sie lehnte schwer, gänzlich widerstandslos an ihm an.
Vielleicht hätte er diesen Triumph einfach nur genießen sollen. Doch es juckte ihn gar zu sehr in den Fingern, das Ganze mit einem Sahnehäubchen zu garnieren. Weswegen er in verliebtem Tonfall hinzufügte:
"Ich würde ja behaupten, dass wir hier ein hübsches Pärchen abgeben. Der verliebteste Mann in diesem Gebäude mit der hübschesten Frau in diesem Gebäude in seinen Armen. Aber... so leid es mir tut! Das wäre gelogen. Wir müssen wohl ausweichen auf den hübschesten Mann mit der verliebtesten Frau, richtig?"
Eine Mischung aus Schluchzen und verzweifeltem Lachen entrang sich ihrer Kehle und sie schlug mit einer winzigen, geballten Faust gegen seinen Brustkorb.
Der Musiker hielt bei dem Geräusch inne.
"Ist... soll ich weiterspielen?"
Sie schlug gerade ein drittes Mal zu, als sie sich plötzlich wieder an ihre Rolle in diesem makaberen Spiel erinnerte. Sie öffnete ihre Augen, sah zornig zu ihm auf und schüttelte unter Tränen den Kopf.
Das war leider sehr eindeutig.
Er ließ sie kurzerhand fallen.
Sie landete mit einem schweren Geräusch und sofort rannte Igorina zu ihr, durch den akuten Vorfall von seiner letzten Weisung entbunden.
Ach, wie ungünstig!
Igor tauchte wie aus dem Nichts bei seiner Frau auf – und war sofort darauf wieder verschwunden, während sie der Gefangenen kurzerhand aufhalf und sie ins Bett brachte.
Der Violinenspieler merkte unzweifelhaft, dass irgendwas hier nicht stimmte. Zu viele Personen bewegten sich nun zu schnell schweigend in dem Raum um ihn herum und er war sich nur noch nicht sicher, ob es besser für ihn wäre, sich schnell ohne Augenbinde zu entfernen – oder ob er auf Unwissenheit plädieren und brav mit verbundenen Augen warten sollte. Ihm ging wohl auf, dass es möglicherweise eine dumme Idee gewesen sein könnte, einem mysteriösen Unbekannten und zudem einem Vampir, blindlings zu vertrauen.
Nun ist es auch schon egal...
"Alles in bester Ordnung, mein Lieber. Wir haben uns nur etwas fallen lassen... aber das wird schon wieder. Nichts, was sich nicht regeln ließe."
Mit einem Gedanken war er bei dem Musiker, packte ihn im Genick und an der freien Hand und riss ihn soweit zurück, dass er freien Zugang zu den plötzlich panisch unter dessen Haut hüpfenden Hauptschlagadern hatte. Er biss zu und ignorierte den Todesschrei des Mannes völlig. Der dauerte eh nicht lange an. Der Rausch des frischen Blutes in seiner Kehle ließ ihn leicht benebelt nur noch halb registrieren, wie die andere Hand des Mannes, halb eingeklemmt zwischen ihrer beider Körper, wild um sich schlug. Die Violine zerbrach splitternd.
Dann war da plötzlich Raculs donnernde Stimme, sowohl in seinem Kopf, als auch im Raum.
Der Leichnam wurde ihm aus den Händen gerissen, Holz fiel klappernd zu Boden.
"Was soll das werden, Sebastian?"
Er öffnete die Augen und blickte mit warmer Zufriedenheit dem Zorn seines Meisters in die Augen.
"Meine Bestrafung."
Und das war es! Der Moment des absoluten Triumphes. Jener Augenblick, der alles zum Kippen brachte, der den Zeitenlauf im Hause Racul in ein Vorher und ein Nachher teilen würde.
Sebastian teilte seine Lippen in ein blutiges Grinsen, gekrönt durch die voll ausgefahrenen Augenzähne.
"Möchtest du mich gleich noch mal strafen, Meister? Jetzt sofort? Ich bin bereit! Was soll es sein? Pure Gewalt? Schmerz? Zwang? Oder eine ganz tolle, ausgefeilte Strategie? Lass dir nur Zeit, ich warte auch gerne wieder einige Wochen. Vielleicht klappt es dann besser?"
Racul sah ihn an und das Schweigen wurde nahezu unerträglich.
Hinter dem Meister standen Igor und seine Frau. Und auf dem Bett lag Ophelia, noch immer schluchzend, dabei jedoch hin und her gerissen zwischen seinem Anblick und dem des Toten.
Und sie alle wussten es in diesem schicksalhaften Augenblick!
Er stand inzwischen weit über den Worten und Formulierungen. Er hatte Übung darin, sie sich zu unterwerfen. Er hatte Macht angesammelt, ebenso wie Reichtum. Raculs Kontakte waren zu den seinen geworden und über all dem, hatte er sich endgültig unentbehrlich gemacht. Ihre Positionen waren in Bewegung geraten und Raculs Stern hatte den Zenit überschritten. Von jetzt an, war der Meister überflügelt und würde dem Beispiel der Gefangenen folgen müssen. Racul, der Dritte von Ankh, würde lernen müssen zu dulden. Zu schweigen!
Akzeptiere es! Deine Zeit ist abgelaufen und meine glorreiche Zukunft beginnt!
Die Stimme des Igors klang beinahe verschüchtert, als er um Anweisungen für diese unmögliche Situation bat.
"Meifter?"
Racul zuckte unter seiner aufwärts wandernden Braue zusammen und es war Sebastian, der spöttisch antwortete, ohne seinen provokanten Blick von dem alten Greis abzuwenden.
"Ja?"
Der Alte kniff die Augen zusammen. Dann tat er mürrisch.
"Igor! Räumt hier auf! Wenn etwas sein sollte... ihr wisst, wo ich zu finden bin. Ich ziehe mich zurück."
So etwas wie tiefe Zufriedenheit perlte in ihm empor und er lachte leise.
Racul drehte sich ihm mit wütendem Blick zu.
"Ãœbertreib es nicht, Sebastian! Ich bin noch nicht..."
"Natürlich nicht, Meister! Ich werde mich hüten! Danke für die Warnung!"
Er schloss genüsslich die Augen, legte den Kopf in den Nacken und leckte sich langsam die Lippen sauber. Dann richtete er den Blick auf Ophelia.
Welche diesen ängstlich erwiderte.
"Was meinst du? Können wir deine Herzenswünsche als erfüllt ansehen?"

05.06.2017 22: 07

Magane

Die Mittel, die ihr hier im blauen Zimmer zur Verfügung standen, waren sehr begrenzt. Sie konnte sich Tee machen, dazu war alles vorhanden, selbst die ausgefalleneren Zutaten hatte Igor ihr besorgt. Aber Tee war auch nicht alles. Und mit Sicherheit nichts womit man Tage zubringen konnte. Das Nähzeug taugte als Beschäftigung genau so lange wie etwas zu nähen war. Ohne Sebastian als Beobachter war das ein erschreckend kurzer Zeitraum. Er musste sie schon sehr abgelenkt haben, wenn ihr die Arbeit allein so viel leichter von der Hand ging. Als Igor ihr das Frühstück brachte, hatte Magane ihn gefragt, ob sie eine Badewanne und Badewasser bekommen könne. Igor hatte genickt und war etwa eine Stunde später erst mit einem Badezuber und danach nach und nach mit Eimern voller heißem Wasser aufgetaucht. Zuletzt brachte er noch Seife und Handtücher. Mag bedankte sich bei ihm und fühlte, als er weg war, die Wassertemperatur. Noch etwas zu warm, entschied sie, aber die Vorbereitungen waren auch noch nicht ganz abgeschlossen. Sie brühte sich einen frischen entspannenden Melissentee auf und stellte einen der Stühle neben den Zuber, auf dem sie den Tee abstellen konnte. Jetzt fehlte nur noch ein Buch, dann wäre das Arrangement perfekt. Sie zog sich aus und stieg in die Wanne. Das herrlich warme Wasser entspannte sofort die, nach der merkwürdigen Nacht, gequälten Muskeln. Hatte sie ihn richtig verstanden? Würde er sie heute den ganzen Tag in Ruhe lassen? Ein ganzer Tag um sich von dieser Nacht zu erholen, das war fast zu schön um wahr zu sein. Aber was machte sie nun mit dieser vielen freien Zeit? In ihrem normalen Leben war freie Zeit eigentlich überhaupt nicht vorhanden und das war auch gut so. Ihr Oma sagte immer, Hexen mit Freizeit seien eine Gefahr für sich selbst und für andere. Aber was sollte hier schon passieren? Sie war hier die geringste Gefahr, zumindest wenn man von Ophelia mal absah, die war noch ungefährlicher. Was sollte sie hier schon anrichten? Bösen Tee mischen? Mag trank einen Schluck Tee. Sie könnte mal wieder versuchen zu borgen, einfach nur so mal schauen, ob dort draußen ein Wesen war, durch dessen Augen man vielleicht noch etwas Spannendes erfahren konnte. Sie lehnte sich im warmen Wasser zurück und versuchte ihren Geist von ihrem Körper zu lösen. Nur dass ihr Körper das anscheinend nicht wollte. Sie hatte das schon früher so empfunden, ihr Körper wollte nicht schutzlos zurückgelassen werden. Schade, sie hatte wirklich geglaubt, dass es ihr inzwischen gelingen konnte. Nach den endlosen Meditationen und dem nahezu nutzlosen Gependel wäre das endlich mal etwas nützliches gewesen.
Sie meditierte eine Runde, hauptsächlich um nicht nachdenken zu müssen. Im Gegensatz zu dem leeren Geist, den sie zum Pendeln und für Begegnungen mit anderen brauchte, ließ sie jetzt allein und ohne Suche zu, dass sich Bilder aus ihrem Gedächtnis in den weißen Raum schlichen. Innerhalb weniger Augenblicke war sie umgeben von ihrer Familie und arrangierte die geliebten Menschen zu Gruppen, die es in Wirklichkeit noch nie gegeben hatte. Schaffte sich ein imaginäres Familienidyll, an dem sie sich festhalten konnte. Gab es überhaupt noch eine Chance, dass das jemals eintreten konnte? Sie sehnte sich schon seit Jahren nach einer heilen Familie. Genaugenommen sehnte sie sich danach, seit sie die Familie ihres Spiegelichs gesehen hatte, in den vier Tagen in der Parallelwelt vor fünf Jahren. In ihrem Geist harmonierten die Kinder hervorragend mit ihrem, ihnen noch weitgehend unbekannten, Stiefvater. Wie es in Wirklichkeit sein würde konnte sie unmöglich erraten. Aber wie wahrscheinlich war eine solche Begegnung inzwischen überhaupt noch? Sebastian war sehr überzeugt davon, dass sie ihm bis zu ihrem Lebensende erhalten bleiben würde und solange sie hier in diesem Kellerloch festsaß würde ihre verstreute Familie nicht zusammenfinden.
Wenn es doch nur eine Möglichkeit der Kontaktaufnahme nach außen gäbe. Selbst ein einseitiger Kontakt wäre schon schön. Ob sie wohl hier raus pendeln konnte? Funktionierte das überhaupt, mit selbstgezeichneten Karten und improvisierten Pendeln? Sie beendete die inzwischen sehr oberflächlich gewordene Meditation. Dieser Gedanke war zu verlockend, sie musste das ausprobieren. Magane verließ die Wanne, trocknete sich ab und zog sich schnell an. Sie entschied sich für ihre eigene Kleidung, zum einen, weil sie sich, nach der langen Zeit in Hosen, in Kleidern nicht mehr wohlfühlte und zum anderen weil sie wissen wollte, ob ihr die Bluse gelungen war. Das nasse Haar flocht sie zu einem unordentlichen Zopf. In einem Spiegel hätte sie sich so sicherlich nicht gefallen, aber sowas gab es hier unten ja nicht, deswegen konnte es ihr auch egal sein. Dafür saß die neue Ausschnittlösung der Bluse ganz passabel. Erstaunlich, was man von toten Schneidern noch lernen konnte. Mathies Arbeit hatte sie zu seinen Lebzeiten nicht interessiert, aber nach seinem Tod hatte sie sich ausführlich mit seinen Aufzeichnungen beschäftigt, zunächst nur auf der Suche nach seinem Mörder, aber dann war das Interesse tatsächlich gewachsen. Sie war lange nicht so gut, wie sie es wäre, wenn sie eine entsprechende Lehre gemacht hätte, aber für den Hausgebrauch reichte es bei weitem. Und was ihr an Können fehlte machte sie mit Sorgfalt und einer guten Portion Verbissenheit wieder wett.
Also Pendeln. Zum Pendeln brauchte man zuallererst das namensgebende Pendel. Das war normalerweise entweder ein Kristall - Kristalle waren äußerst beliebt für magische Dinge - oder ein Metallgewicht mit Spitze, an einer Kette oder Schnur. Beides hatte sie nicht zur Verfügung. Kristalle fehlten hier völlig und an metallischen Gegenständen hatte sie nur den Om-Anhänger, der aufgrund religiöser Interferenzen für Magie unbrauchbar war und ihren Ring. Sie nahm also den schmalen silbernen Ring vom Finger, der müsste eigentlich funktionieren, er selbst hatte keine direkte Verbindung zu einer lebendigen Person außer zu ihr. Dann nahm sie die kaputte Kette aus ihrer Umhängetasche. Der Federringverschluss war so weit in Ordnung, ein bisschen verbogen vielleicht, aber die Kette war kurz vor der Öse gerissen. Magane entfernte das kurze Ende und steckte es wieder in die Tasche, dann schlang sie die Kette einmal um den Ring und zog das gerissene Ende durch den Verschluss. Das Ergebnis war nicht besonders lang, aber ein brauchbares Pendel. Jetzt fehlte nur noch die Karte. Worauf konnte sie eine Karte zeichnen? Das Papier, dass sie zum Aufschreiben der Zutaten hatte, war zu klein um darauf eine Karte zu zeichnen. Aber mit dem Bleistift konnte man direkt auf den Tisch schreiben. Sie räumte eine ausreichend große Fläche des Tisches frei und zog versuchsweise einen großen Kreis. Der Strich war blass, aber erkennbar. Als nächstes kam das Ankhdelta auf der ihr zugewandten Seite des Kreises. Eine Karte der Stadt hätte sie nicht weitergebracht, von ihren Kindern hatte sie nichts dabei, was man zum Pendeln hätte benutzen können. Mag ergänzte einige Ortschaften auf der anderen Seite des Meeres, so wie sie ihr im Gedächtnis waren und betrachtete dann ihr Werk. Passabel war vermutlich das Beste was man darüber sagen konnte, aber es kam ja auch nicht auf die Schönheit der Karte an, sondern auf ihre Existenz.
Die Hexe leerte ihren Geist, manchmal fragte sie sich, warum sie ihren Geist nicht gleich leer ließ, dann bräuchte es nicht jedes Mal eine bewusste Entscheidung. Sie konzentrierte sich und schob auch diese Gedanken beiseite. Als sie sicher war, dass keine eigenen Gedanken mehr die Verbindung beeinflussen konnten, nahm sie ihre Haarforke zur Hand, die sie am Morgen auf dem Boden vor dem Bett wiedergefunden hatte. Zweifellos handelte es sich dabei um einen Gegenstand in ihrem eigenen Besitz. Aber es war auch ein Geschenk des Mannes zu dem sie Kontakt suchte, noch dazu ein handgemachtes Geschenk. Sie hob das improvisierte Pendel und versuchte die Verbindung zwischen dem Haarschmuck und seinem Schöpfer zu erspüren. Die Bindung zu ihr war offensichtlicher und auch stärker, aber darunter bestand die andere Spur noch, ein zartes Band, das stark unter Spannung stand. War die Entfernung vielleicht zu groß? Die Bestandteile des Pendels hatten ihre eigenen Bindungen und wollten sich nicht in die neue Rolle fügen. Sie waren nicht, wie das, einzig zu diesem Zweck erschaffene, Pendel in ihrer Schreibtischschublade, von sich aus suchend. Es war kompliziert das eigenwillige Ding in ihrer linken Hand davon zu überzeugen, dass es nicht länger aus einer Halskette und einem Ring bestand, sondern nun zu etwas Neuem geworden war. Als sie das Neue endlich überzeugt hatte eine frische Verbindung zu dem Gegenstand in ihrer rechten Hand zu knüpfen, fand sie nicht sofort die Spur zum Handwerker wieder, sondern erstmal nur die zu sich selbst. Magane konzentrierte sich stärker und sorgte für noch größere Ruhe in ihrem Innern, wo inzwischen die einzelnen Gegenstände begonnen hatten sich gegenseitig anzuzicken. Sie schien einen Teil ihrer Persönlichkeit auf diese drei häufig getragenen Dinge übertragen zu haben und dabei handelte es sich nicht unbedingt um den angenehmsten Teil. Dieser Versuch war das vielleicht schwierigste, was sie jemals getan hatte. Das lag weniger daran, dass sie ein hartes Stück Magie zu wirken hatte, dem war nicht so, es war vielmehr der Kampf gegen Dinge die sich für zickige Kontrollfreaks hielten. Allen voran der Ring, den sie schon den größten Teil ihres Lebens trug. Die meisten hielten ihn für ihren Ehering, aber da lagen sie falsch, gegen Eheringe hatte sie sich bisher bei allen drei Ehemännern standhaft wehren können. Dieses kleine Schmuckstück hatte ihrer Mutter gehört. Sie hatte es nach dem Tod ihrer Eltern in der Asche des Schlafzimmers gefunden, wo er von allen Anderen übersehen worden war. Das Feuer hatte ihm nichts anhaben können, weil er unter dem Bett gelegen hatte, welches ihn vor der größten Hitze beschützt hatte, während es ebenfalls vollständig verbrannte. Er war das Einzige, was sie von ihren Eltern hatte, und somit unendlich kostbar. Aber das hieß auch, dass er seit über dreißig Jahren pausenlos Kontakt zu ihr hatte und es kaum ertragen konnte als Pendel missbraucht zu werden. Die Kette spielte sich als religiöse Tugendwächterin auf. Sie war zwar kein geweihtes Objekt und verursachte damit auch keine Interferenzen, aber Bestandteil eines schnöden Pendels zu sein war ihr zutiefst zuwider, zumal Magie Om ein Gräuel war. Magane drängte sich die Frage auf, ob sie dieser Kette nach einer Reparatur überhaupt noch trauen konnte, aber dann gelang es ihr den Gedanken schnell wieder zu vertreiben, bevor er sich manifestieren konnte. Die Forke schließlich war am wenigsten zickig. Dafür entdeckte sie auf halbem Weg eine Verbindung zu den Nachfahren des Rindes aus dessen Knochen sie geschnitzt war und weigerte sich dann standhaft mit dem Ring zusammenzuarbeiten, der langsam aber sicher glühend heiß wurde. Als auch die Kette heiß wurde ließ Magane beides fallen und gab den Versuch auf. Sie konnte die Dinge nicht gegen ihre Natur zwingen.
Das war weit anstrengender gewesen als sie gedacht hatte, sie stand auf und streckte sich. Ihr Kopf fühlte sich an, als hätte sie eben einen stundenlangen Streit hinter sich gebracht. Kopfschmerzen... warum musste immer alles Kopfschmerzen machen. Ophelia löste sie aus, Sebastian hatte ganz furchtbare verursacht und jetzt auch noch die Magie. Sie setzte neues Teewasser auf und ging dann wieder an den Tisch zurück und mischte sich abwesend ein Schmerzmittel zusammen. Schmerztee - Tee - ihre Lösung für beinahe alles, das einzige was sie wirklich konnte. Es war so deprimierend, wenn sie wenigstens eine richtige Hexe wäre, mit einer richtigen Ausbildung in den Bergen. Dann hätte sie vielleicht eine Chance auf eine Flucht, weil sie dann über echte Macht verfügen würde. So hatte sie nur ein Talent für Kräutermischungen und Energien. Und selbst die Energie ließ sie im Stich, wenn sie sich ablenken ließ. Abgelenkt von ihrer eigenen Persönlichkeit in ihren persönlichen Dingen. Zu schwach um sich gegen diese lächerlichen Spuren ihrer Selbst zu behaupten. Mag goss den Tee auf. Sie verabscheute ihre Schwäche und Unwissenheit. Aber sie konnte nichts dagegen tun. Es gab jetzt keine Möglichkeit mehr bei einer fremden alten Hexe in die Lehre zu gehen. Sie war zu alt, sie hatte Verpflichtungen, sie war eingesperrt. Drei gute Gründe und keiner davon war die Wahrheit... sie mochten alle drei wahr sein, aber sie waren nicht die Wahrheit. Die Wahrheit war, dass sie auch wenn sie jung, ungebunden und frei wäre, niemals wieder woanders leben wollte. Ankh-Morpork mochte ein Drecksloch sein, aber sie liebte die Stadt, mehr als sie ihre Heimat jemals geliebt hatte. Magane trank ihren Tee und der Schmerz verschwand, der Tee wirkte sehr schnell.
Die Hexe schüttelte den Kopf, sie musste diese Zweifel an sich selbst begraben. Magie begann im Kopf, nicht in der Ausbildung, sie musste an sich glauben. Je mehr sie an ihre eigenen Kräfte glaubte, umso besser war sie. Sie griff nach dem störrischen Ring und befreite ihn von der Kette. Wo der Ring gelegen hatte, hatte sich ein Kringel in die Tischplatte eingebrannt. Genau in der Mitte des gekokelten Ringes befand sich Kom. Magane lachte leise, genau dort sollte David sein, wenn alles in Ordnung war. Aber es hatte doch nicht funktioniert, also war der verkohlte Kreis um Kom reiner Zufall. Sie steckte sich den noch leicht warmen Ring wieder an den Finger, strich liebevoll mit den Fingern über den Haarschmuck und beschloss solche Experimente in Zukunft zu unterlassen. Es hatte keinen Sinn, Kraft auf ergebnislose Bemühungen zu verschwenden, es war äußerst unwahrscheinlich, dass sie in näherer Zukunft Gelegenheit bekam ihre Reserven wieder aufzufüllen. Sie versank in Erinnerungen an die Familie, die sie verloren hatte, nicht nur an die Zeit und den Tod sondern jetzt auch noch an die Umstände. Das war alles einfach zu viel, ihr stiegen die Tränen in die Augen und auch wenn das normalerweise nicht ihre Art war Schwierigkeiten zu begegnen, weinte sie nun hemmungslos. Keine Möglichkeit der Kontaktaufnahme, allein, gefangen in einem Keller und vertraglich verpflichtet zu bleiben. Sie würde ihre Kinder nicht aufwachsen sehen, stattdessen würde sie hier langsam aber sicher dem Tod immer näher kommen. Wenigstens wäre der so etwas wie ein Freund, wenn er dann eines Tages kam um sie zu holen. Sebastian war nicht der schlimmste Faktor an dieser Katastrophe, er wäre es vielleicht gern, das Schlimmste war die Alternativlosigkeit. Jetzt wo er diesen Weg gewählt hatte, gab es keinen anderen mehr. Da war keine Möglichkeit zur Umkehr, kein "zurück auf Anfang". Es war müßig darüber nachzudenken, ob sie den Tee von Außen an den Vampirhaushalt hätte liefern können. Oder ob sie um Ophelia zu isolieren auch ein Mittel hätte finden können, dass ein Igor hätte herstellen können. Sie hatte ja noch nicht einmal das Rezept aufgeschrieben, weil sie gedacht hatte, dass dazu immer noch Zeit wäre, wenn die Nebenwirkungen ausgeräumt waren. Auch das Herunterregeln des magischen Anteils, zur Absicherung, falls etwas mit ihren Fähigkeiten passierte, hatte sie zwar vorgehabt, aber noch nicht versucht. Im Moment war sie einfach die Einzige, die Ophelia abschirmen konnte, ohne sie dabei weiter auszulaugen. Also gab es nur zwei Wege aus dieser Lage, entweder starb Ophelia, dadurch würden Mags Dienste nicht länger benötigt und sie wäre selbst innerhalb kürzester Zeit tot. Oder sie starb und Ophelia war wieder auf sich gestellt, was sie so entkräftet wie sie war, nicht mehr lange überstehen konnte. Sie waren beide in diesem tödlichen Spiel gefangen und keine würde den Tod der anderen überleben, zumindest nicht lange. Die Erkenntnis traf sie mit voller Wucht, ihr Leben war nicht nur von den Launen des skrupellosen Vampirs abhängig, sondern auch von der zerbrechlichen Gesundheit der Freundin und vor allem davon, was Sebastian noch mit ihr anstellte. Wenn er sie erneut an den Rand des Todes trieb, hatte sie dann noch einmal die Kraft sich an ihr Leben zu klammern? Oder war sie längst an dem Punkt angekommen, an dem sie den Tod mit offenen Armen empfangen würde? Hatte sie ihr mit der Bereitstellung des Tees wirklich einen gefallen getan, oder hatte sie das Leiden nur verlängert? Nicht nur die Qualen verlängert, ihr darüber hinaus auch noch die Sprache geraubt. Gefangen in gleich mehrerlei Hinsicht, in diesem Keller, in der geistigen Umklammerung des Alten, in ihrem ausgemergelten Körper und nun auch noch in ihrem Kopf, ohne die geringste Möglichkeit sich mitzuteilen. Nein, das war keine Hilfe, sie hatte das Leiden verlängert und verschärft. Das einzige was sie mit ihrem Tee verbessert hatte war, dass Ophelia wenigstens in ihrem Kopf allein und frei war, wenn sie dann starb. War es das wert? Eigentlich wäre das jetzt eine Frage gewesen um sie Ophelia zu stellen, aber das war ja nicht möglich.
Die Hexe lehnte sich zurück und dachte weiter über diesen Punkt nach. Sie hatte den Nutzen ihrer Bemühungen nie zuvor in Frage gestellt, bei den Anderen sah das durchaus anders aus. Rach war ihren Tees gegenüber von Anfang an skeptisch gewesen und auch Mina hatte geäußert, dass Drogen eventuell nicht der richtige Weg waren. Mit Rogi hätte sie keine Debatte zu dem Thema geführt, aber dazu war auch kaum Gelegenheit gewesen. Mag ging in Gedanken den Rettungstrupp durch, die meisten hatte sich zum Tee nicht weiter geäußert, aber allein schon, dass der Einbruch damals nahezu unter den Tisch gefallen war, zeigte, dass die Anderen dem keine größere Bedeutung beimaßen. Und das Pendeln hatten sie mehrheitlich belächelt und als Hokuspokus abgetan. Noch während Maganes Gedanken sich darum drehten, dass sie als Hexe nicht ernstgenommen wurde, forderte die Magie ihren Tribut und sie döste ein.
Magane träumte, wie auch schon in der Nacht zuvor, von einem bestimmten Abend in Kom, auch wenn ihr Unterbewusstsein einige Details änderte, war der Abend trotzdem fast genau so abgelaufen. Bewusst erinnerte sie sich nicht so genau an die Musik die gespielt worden war, aber ihr Unterbewusstsein gab sie scheinbar perfekt wieder. Genauso verhielt es sich mit dem Raum, wenn sie wach war konnte sie sich nicht an den Fußboden oder die Wandfarbe erinnern, aber im Traum waren da Parkett und cremeweiße Wände. Irgendwas stimmte hier nicht, die Musik war nicht in Ordnung, als würde einer der Streicher ein ganz anderes Lied spielen. Mag löste sich aus der Umarmung ihres Tanzpartners und erntete dafür einen zutiefst enttäuschten Blick. Sie ging zu den Streichern um zu fragen was los war, aber die fremde Melodie kam nicht von ihnen. Woher kam das? Das gehörte nicht hier her. Sie verabschiedete sich mit einem Handkuss von David und wachte auf.
Tatsächlich, die fremde Melodie kam durch die Wand, von nebenan... von Ophelia. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Sie lauschte konzentriert, die Musik war leise, aber sehr klar, was eigentlich nur bedeuten konnte, dass es sich nicht um eine Aufnahme handeln konnte. Demnach musste es sich um einen lebendigen Musiker handeln, ein hohes Sicherheitsrisiko. In der aktuellen Situation einen Musiker hier herunter zu bringen erschien ihr als extrem leichtsinnig, schließlich waren Künstler im Allgemeinen nicht unbedingt die Verschwiegensten. Andererseits gab es für jemanden der so skrupellos war wie Sebastian eigentlich keine Grenzen, vermutlich stand der Geiger sowieso längst auf seinem Speiseplan. Eine kleine Welle des Bedauerns erfasste sie, aber dann machte sie sich bewusst, dass ein satter Sebastian ihr eindeutig lieber war als ein hungriger. Soweit war es also schon gekommen, sie nahm den Tod eines Anderen zu ihrem Vorteil billigend in Kauf. Der Todgeweihte spielte einen lebhaften und sehr schwungvollen Tanz, einen von der Sorte bei der die Herren die Damen herumwirbelten und schwindelig machten, damit sie danach umso dankbarer in die starken Arme ihres Partners sanken. Eine perfide Methode größere Nähe herzustellen, die bei einem sich sowieso schon in Liebe zugeneigtem Paar vielleicht so grade eben noch akzeptabel war, aber als Verführungstaktik war so etwas in Maganes Augen sehr verwerflich und was hierbei im Nachbarzimmer vorging vermochte sie sich kaum vorzustellen. Ophelia war doch mit Sicherheit noch zu schwach zum Tanzen. Andererseits war sie inzwischen ein solches Fliegengewicht, dass es auch einem Menschen nicht schwer gefallen wäre sie zu tragen und jemand mit übermenschlichen Kräften und ohne jedes Gewissen würde sie auch diesen Umständen schwindelig tanzen. Aber mit welchem Ziel, was konnte er damit bezwecken? Was konnte er von Ophelia noch wollen, was diesen Aufwand wert war?
Die Musik wurde langsamer, das Stück blieb allerdings das selbe. Der Geiger verstand sein Handwerk, es gelang ihm übergangslos das Tempo zu drosseln. Normalerweise wäre dies der Moment, wo die Dame dem Herrn ins Ohr flüsterte, dass ihr schwindelte und sie ein Päuschen bräuchte. Unter den gegebenen Umständen fand ein solcher Dialog wohl kaum statt, aber das war sicherlich auch nicht nötig. Konnte es sein, dass der einzige Sinn hinter dieser merkwürdigen Aktion war Ophelia zu quälen? Sie an alle das zu erinnern was sie verloren hatte. Nein, nicht an alles was sie verloren hatte, nur an Rach, den begnadeten Tänzer, der ihr die Gefangenschaft im Wachhaus unter anderem mit Musik versüßt hatte. Ophelia hatte so von ihm geschwärmt, in den gemeinsamen Stunden der Teetestphase, 41 Fehlversuche lang. Sie waren sich nah gekommen, hatten Gemeinsamkeiten entdeckt und einfach geredet und natürlich war Rach eins der Kernthemen gewesen. Die Freundschaft, die die beiden so unterschiedlichen Frauen geschlossen hatten, war vielleicht das einzige was von alledem jetzt noch wichtig war. Um dieser Freundschaft willen würde Sebastian dafür leiden müssen, das was er tat war nun wirklich zu widerlich, um ungestraft zu bleiben.
Der Geiger stimmte ein anderes Stück an, ein trauriges, voller Schmerz und Jammer. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er endlich aufhörte, damit wieder Ruhe einkehren konnte. Die Sorge um den Geisteszustand der Freundin wurde beinahe unerträglich. Wie schmerzlich musste das alles für sie ein? Wenigstens war die Wirkung des Tees absolut, bei ihren inzwischen angewachsenen Fähigkeiten würden sich starke Gefühle ansonsten sicherlich nicht mehr nur in Kopfschmerzen, sondern auch in Emotionsschüben auf sie übertragen. Vielleicht, wenn sie hier jemals lebend heraus kämen, würde sich irgendwann später einmal eine Gelegenheit finden den Tee kurzfristig abzusetzen und das auszuprobieren. Forschen und experimentieren, das konnte doch nicht ihr ernst sein, rief sie sich augenblicklich zur Ruhe. Wie konnte sie ausgerechnet jetzt an so etwas denken?
Es rumste, irgendwas war zu Boden gefallen. Was konnte da drüben herunterfallen? Es gab doch da fast nichts... Konnte es sein, dass er Ophelia hatte fallen lassen? Und dann nur wenige Augenblicke später ein Schrei. Ein Mann schrie in Todesqualen. Doch der Schrei währte nicht lange, vermutlich endete er in einem leise gurgelndem Laut, zu leise um durch die Wände zu dringen. Das war dann wohl das Ende des Geigers... dass er die Stirn besaß ihn vor ihren Augen zu töten. Abscheulich. Genau wie den Botenjungen bei meiner Entführung, nur dass er den nicht hat leiden lassen. Aber der Schrei passte vermutlich besonders gut in Sebastians Zermürbungsplan und deswegen musste der Musiker eben unter Schmerzen sterben. Kaum hörbar zerbrach die Geige und Magane erinnerte sich unwillkürlich an die zerbrochene Bratsche, damals vor einer halben Ewigkeit. Damals hatte Tod bei der Zerstörung des Instruments nachgeholfen, nur um darauf spielen zu können. Aber heute schien er dazu nicht in Stimmung zu sein. Vielleicht war es besser, dass er verzichtete, Tods Spiel war grauenhaft.
Das war auch nicht weiter wichtig, denn in diesem Moment wurde es plötzlich wieder lauter nebenan, eine Stimme, die klang wie ein Erdrutsch - rau, heiser und unaufhaltsam - brüllte: "Was soll das werden, Sebastian?" Der Rest des Dialogs war nicht laut genug um durch die Wand zu dringen, aber genau diese Frage war die Frage das Abends. Der neue Spieler im Nebenzimmer konnte einfach nur der große Meister sein. Bei der Stimme verspürte Magane keinerlei Wunsch ihn näher kennen zu lernen. Bei ihr war die Stimme des Gegenübers so wichtig... aber dieser Kerl lief nicht Gefahr Gedichte rezitieren zu müssen. Wer er wohl vor seinem Tod gewesen war? Ob er sich selbst noch daran erinnern konnte? Mag wusste nicht ob sie froh sein sollte, dass der Alte eingegriffen hatte. War er besser als Sebastian? Konnte er ihn noch stoppen? Konnte Sebastian überhaupt noch durch irgendwen gestoppt werden? Gestern war er so nervös gewesen... aber das was heute Abend dort drüben geschehen war war nicht das Werk eines nervösen Vampirs gewesen. Das war eine Machtdemonstration. Er hatte einen Weg gefunden aus etwas was ihn so nervös gemacht hatte eine Demonstration persönlicher Macht zu machen und Ophelia gleichzeitig erneut zu quälen. Dieser Abend hatte alles verändert und jetzt musste sie sich fragen, wie sie auf diese neue Konstellation reagieren sollte. Was wollte sie sein, wenn Sebastian die Macht an sich riss? Seine Beute oder seine Gefährtin?

08.06.2017 12: 02

Mina von Nachtschatten

"Rach?"
Langsam wandte der Inspektor sich um, die Hand an der Türklinke zu seinem Büro. Einen kurzen Moment noch ging sein nachdenklicher Blick durch Mina hindurch, in irgendwelche weit entfernten Gefilde, die mit einiger Sicherheit nichts mit dem Wachealltag zu tun hatten. Und was er da sah, schien ihn in nicht geringem Maße zu beunruhigen... Doch dann festigte sich sein Fokus, auch wenn es Rach offensichtlich einige Mühe kostete, seine Gedanken zurück ins Hier und Jetzt zu zwingen.
"Ja... oh, Mina, was gibt's?" Er lächelte, doch es sah abgespannt aus. Kein Wunder, die aktuelle Situation zehrte an ihrer aller Nerven und bei ihm musste das ganz besonders der Fall sein.
"Wenn es gerade ungünstig ist..."
"Nein, nein, alles in Ordnung. Ich habe nur..." Er holte tief Luft. "... die Tage gezählt. Stunden, um genau zu sein." Das Lächeln gefror zu einem Zerrbild desselben.
"Es dauert nicht mehr lange." Mina bemühte sich, aufmunternd zu klingen, aber so ganz wollte es ihr nicht gelingen. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie sich selbst exakt das Gleiche immer und immer wieder erzählen musste, um die eigene Ungeduld zu zügeln - und es nicht einmal da schaffte, sonderlich überzeugend zu sein.
Rach nickte langsam, ehe er mit angespannter Stimme fortfuhr:
"Trotzdem. Jeder Tag mehr, denn sie dazu verdammt ist dort zu verbringen..."
Mina verbot sich einen Kommentar, der im wesentlichen darauf hinausgelaufen wäre, dass sich die gesetzte Frist eng an eine Idee knüpfte, die Rach höchstselbst eingebracht hatte.
"Mir gefällt das auch nicht", meinte sie nur.
"Ich weiß. Genauso wie ich weiß, dass es so die klügere Variante ist. Die durchdachte. Die vernünftige." Er zuckte unglücklich mit den Schultern. "Wie stellst du das an?", wollte er dann wissen. "Die ganze Zeit derart rational zu bleiben? So..."
"Distanziert? Kalt, gefühllos, verbissen nur auf die Fakten konzentriert?"
"Jetzt übertreibst du aber."
"Tue ich das? Frag mal die anderen." Sie seufzte. "Und außerdem überschätzt du mich - es gelingt mir nur einen Großteil der Zeit über." Ein bitterer Tonfall legte sich über ihre Worte als sie fortfuhr: "Stimme der Vernunft. Meistens hasse ich mich dafür."
"Es ist immer noch besser, als die ganze Zeit panisch in einen Abgrund zu starren und nicht zu wissen, ob man doch irgendwann fällt. Und außerdem behält so wenigstens einer einen kühlen Kopf. Wir sind ja nicht gerade dass, was man ein Team wie Pech und Schwefel nennt." Der Inspektor rang sich zu einem schiefen Grinsen durch. "Aber du bis bestimmt nicht zu mir gekommen, nur um dich aufbauen zu lassen. Also, was kann ich für dich tun?"
Die Vampirin zögerte kurz. Sollte sie ihn wirklich mit dieser Lappalie behelligen? Einem sich vergleichsweise vollkommen unwichtig ausnehmenden Detail, einer Randnotiz in all dem was zur Zeit vor sich ging? Doch andererseits mussten es ja auch mit diesen Dingen vorangehen und vielleicht wusste er ja tatsächlich etwas darüber oder hatte wenigstens einen hilfreichen Gedanken. Wenn etwas schwierig war hieß das noch lange nicht, dass das restliche Leben vollständig innehalten und beiseite treten musste. Sie zog ein Blatt Papier hervor und entfaltete es. Feines Bütten, in einer eleganten Handschrift beschrieben. Ein kurzer Brief. Aus irgendeinem Grund schien sie es momentan mit derartigen Schriftstücken zu haben.
"Du hast doch noch Kontakt zu Ophelias Familie, oder?", kam sie auf den eigentlichen Anlass zu sprechen, aus welchem sie ihn aufgesucht hatte.
"Nicht regelmäßig..."
Rach kratzte sich nervös am Handgelenk. Die Frage schien ihm nicht sonderlich angenehm.
"Wie sieht es mit ihrer Schwester aus, Dschosefien Kasta?"
"Worauf willst du hinaus?"
Mina reichte ihm das Schreiben.
"Das hier habe ich kürzlich erhalten. Madame Kasta bittet mich zu einem Kaffee. Aus heiterem Himmel. Sie schreibt sehr freundlich, keine Frage, aber an Details hat sie gespart." Rach überflog die wenigen Zeilen, während Mina fortfuhr: "Mich interessiert einfach, ob du dir vorstellen kannst, was sie auf dem Herzen haben könnte. Es ist ziemlich lange her, dass ich das letzte Mal etwas von Ophelias Schwester gehört habe. Und wir sind nicht unbedingt im Guten miteinander verblieben." Das war noch nett ausgedrückt.
Ein müdes Lächeln kämpfte sich seinen Weg auf Rachs Züge.
"Ja, soweit ich weiß firmierst du innerhalb der Familie unter der Bezeichnung "diese Person"."
"Ich kann nur gegenwärtig weder die Zeit noch die nötige Geduld für ein Kaffeekränzchen aufbringen, bei dem ich mir einmal mehr die immer gleichen Vorwürfe anhören darf. Ich... ich kann's einfach nicht, verstehst du?"
"Sie war verzweifelt. Mag sein, dass sie sich gelegentlich im Ton vergriffen hat. Auch, was den Inhalt ihrer damaligen Nachrichten anging."
"Trotzdem." Die Vampirin schüttelte den Kopf. Bei der Erinnerung an die verschiedenen schriftlichen Auseinandersetzungen mit der Kasta machte sich ein alter Ärger erneut bemerkbar. "Ich habe nie ganz verstanden, warum sie sich in ihren Bemühungen letztendlich einem gesellschaftlichen Standesbewusstsein gebeugt hat. Es ging um ihre Schwester - da sollte es ihr doch vollkommen egal sein, ob sie mit ihrem Engagement in ihren Kreisen unangenehm auffällt oder ob sich ein solches über das angeblich gesellschaftlich akzeptable Maß hinaus erstreckt. Das ist doch lächerlich."
Es war nur einer der Gründe, aus welchen Mina im Grunde wenig Interesse an dem anstehenden Gespräch hatte. Allerdings war es ihr unhöflich erschienen, Ophelias Schwester ohne eine hinreichende Begründung vor den Kopf zu stoßen, beziehungsweise lediglich etwas vorzuschieben, das nicht mehr war, als ein Bauchgefühl oder eine persönliche Haltung. Denn ließ man ihre Differenzen einmal beiseite verfolgten sie ganz genau das gleiche Interesse. Oder hatten es verfolgt. Wie auch immer, um das Treffen jetzt noch vernünftig absagen zu können hatte sie die endgültige Entscheidung einfach zu lange vor sich hergeschoben.
Rach nickte bedächtig, während seine Finger wie von selbst den oberen Falz der Seite nachzogen.
"Etwas Gutes hat die Sache: Offiziell hat sie aufgegeben. Zumindest habe ich das bisher angenommen. Aber was das hier bedeuten könnte..." Er klopfte sich mit der Briefkante in die Innenseite der freien Hand. "Doch was ich sagen wollte: Eigentlich geht die Familie davon aus, Ophelia sei tot. Und damit besteht für Racul kein Grund, sie aus dem Weg räumen zu lassen."
Sie schwiegen einen Moment. Dann sprach Mina etwas aus, was ihr schon eine Weile im Kopf herumging, zu dem sich aber nie ein guter Gesprächsanlass geboten hatte.
"Dann hast du es ihnen nicht gesagt? Dass wir Fortschritte machen?"
Rach seufzte tief. Einmal mehr wirkte er unsäglich erschöpft. In seinem ständigen Auf und Ab zwischen brennendem Enthusiasmus und Tatendrang und nahezu aggressiver Aufgeregtheit, bis hin zu den sich unweigerlich einstellenden Momenten der Verzweiflung, schien er sich in diesem Moment auf halbem Wege in die emotionale Talsohle zu befinden.
"Zunächst habe ich nicht daran gedacht. Es sind so viele Dinge passiert... Und später, nun ja." Er zuckte mit den Schultern. "Wie in vielerlei anderer Hinsicht ist es so vermutlich besser. Wir können nicht noch eine aufgebrachte Familie im Hintergrund gebrauchen, um die wir uns sorgen müssen. Auch unter dem Gesichtspunkt, dass wir ja offensichtlich allesamt beobachtet werden. Aber frag mich nicht, ob es auch richtig war."
Er bedachte Mina mit einem langen Blick.
"Wirst du es ihr erzählen? Für den Fall, dass sie fragt? Denn so wie ich Dschosefien kenne wird sie sich diese Kontaktaufnahme zweimal überlegt und damit sehr gute Gründe haben, warum sie mit dir persönlich sprechen möchte."
Mina zögerte kurz. Das war in der Tat eine sehr gute Frage.
"Ich weiß es nicht", erwiderte sie dann ehrlich. "Tue ich es und unsere Bemühungen schlagen fehl, dann wäre es so, als würden sie Ophelia ein weiteres Mal verlieren. Ganz zu schweigen davon, dass sie durch eben dieses Wissen unbedacht in die Schusslinie geraten könnten..."
"Wir werden nicht scheitern!", fiel ihr Rach ins Wort. Die Stimme des Inspektors bebte vor verzweifelter Hoffnung.
"Wir wollen nicht scheitern, Rach. Das ist ein Unterschied."
Seine Schultern sackten ein Stück nach unten.
"Würdest du es denn wissen wollen? Egal, was es kostet?", erkundigte sich Mina vorsichtig.
Er sah sie vollkommen offen an.
"Immer!", sagte er fest. "Ich würde es immer wissen wollen."
Sie nickte langsam. Das war anzunehmen gewesen. Aber Rach war immerhin noch halbwegs bei Vernunft zu halten, was überstürzte Handlungen anging. Mina war sich ganz und gar nicht sicher, ob sich das auch von einer Familie Ziegenberger-Kasta sagen ließ...
"Wann ist das Treffen?", unterbrach Rach ihre diesbezüglichen Überlegungen.
Die Vampirin seufzte.
"Jetzt gleich. Ich sollte mich auf den Weg machen."
"Dann... viel Glück?" Er gab ihr den Brief zurück. "Aber denk daran, heute Nachmittag findet die strategische Besprechung statt", meinte er noch.
"Keine Sorge." Sie lächelte freudlos. "Es ist ein guter Grund, sich kurz zu fassen."

Claras Café in der Filigranstraße lag nur einen Katzensprung von der Lehrergilde entfernt. Wahrscheinlich war dies der Hauptgrund für die Anwesenheit der auffallend vielen streng gekleideten Gäste, welche mit leidgeprüften Mienen in ihren Kaffeetassen rührten und ab und an geistesabwesend über diverse Kreideflecken an Revers oder Ärmel wischten. Ein Klientel, welches den Wert einer stillen, entspannten Pause hoch schätzte. Wenn man sich unterhielt, dann in leisem höflichem Tonfall und jeder, der dagegen verstieß, wurde umgehend mit einem strengen, vielfach in den Klassenzimmern der Stadt erprobten Blick gemaßregelt. Trotz seiner recht zentralen Lage und der Nähe zum Gildenbezirk, ging es bei Claras demnach vergleichsweise ruhig zu und der Anlass für alle nicht der pädagogischen Zunft angehörenden Gäste, sich in diese nicht eben fröhliche Runde zu begeben, lag wiederum in der Nachbarschaft des Cafés zu einer anderen städtischen Institution begründet: Gerüchten zufolge hatte der Besitzer sehr gute Beziehungen zur Bäckergilde, weswegen die neuesten Kreationen der Backkunst oft zuerst an diesem Ort zu erstehen waren. Für das Privileg, eine von Ignatz Fondants Torten noch vor den eigenen Nachbarn probiert zu haben, nahm so mancher eine hochgezogen Augenbraue oder eine gemurmelte Rüge vom Nebentisch gern in Kauf. Naja, wer Wert auf so etwas legte... Aber wenn man einmal davon ausging, dass Dschosefien Kastas Wahl des Treffpunkts nicht allein mit der Qualität der angebotenen Backwaren zusammenhing - dann war ihr unter Umständen nur daran gelegen, eine potenziell lautstarke Diskussion von vornherein auszuschließen. Was wiederum auf eine interessante Einschätzung der Person schließen ließ, die man eingeladen hatte.
Vorsichtig schob sich die Vampirin zwischen den vollbesetzten Tischen im Eingangsbereich hindurch und ließ sich dann von einem verbindliche lächelnden, wenngleich schweigsamen Kellner in den hinteren Bereich des Lokals führen. Der Mann trug sogar Filzüberschuhe, um seine Schritte zu dämpfen. Offenbar hatte man die Kontrolle des Geräuschpegels gleichsam zum Anliegen des Hauses erhoben. Nun, da sie nicht vorhatte den Frieden zu stören, musste ihr das wohl kein Kopfzerbrechen bereiten oder sie sich selbst zu besonderer Umsicht anhalten. Mina hatte sich entschieden, Dschosefien nichts von den aktuellen Ermittlungen zu erzählen - je weniger außerhalb des Wachhauses kursierte, um so besser. Demnach würde das hier wohl zu nichts weiter als einem kurzen Austausch höflicher Floskeln geraten. Und sollte irgendwann doch einmal herauskommen, dass sie der Familie wissentlich etwas verschwiegen hatte, nun ja... viel unbeliebter, als es ohnehin schon der Fall war, konnte sie sich ohnehin nicht mehr machen. Abgesehen davon, dass dies ohnehin kein Punkt war, der ihr schlaflose Nächte bereitet hätte.
Ophelias Schwester erwartete sie bereits. Sie hatte für das Gespräch eine kleine Sitzgruppe neben einem Paravent gewählt, was eine gewisse Ungestörtheit sowie einen räumliche Trennung zu den direkt daneben befindlichen Tischen gewährleistete, dabei aber immer noch einen guten Blick in Richtung Eingangstür bot. Ein günstiger Platz, wenn man nicht von der Ankunft des Gesprächspartners überrascht werden wollte. Der Tisch war bereits eingedeckt und neben einem Korb mit kleinen Brötchen reihten sich diverse gläserne Marmeladentöpfchen nebeneinander wie Perlen an der Schnur. Dschosefien Kasta hatte die Hände auf der blütenweißen Tischdecke gefaltet und lächelte ihr entgegen. Sie trug ein cremefarbenes Nachmittagskostüm mit weißen Spitzenakzenten und lediglich das auf dem dazu passenden Hütchen drapierte Stück schwarzer Schleier tat dem gesellschaftlich versierten Betrachter kund, dass sich in der Familie der Dame wohl vor einiger Zeit ein tragisches Unglück ereignet haben musste. Ansonsten machte Dschosefien einen gelösten und souveränen Eindruck, ganz so wie jemand, der eine Entscheidung getroffen hatte und diese nun ruhigen Gewissens in die Tat umsetzt - und weniger wie eine Schwester, welcher aufwühlende Neuigkeiten hinsichtlich des Verbleibs einer lieben Verwandten zu Ohren gekommen waren. Mina entspannte sich ein wenig. Dschosefien Kasta schien tatsächlich keine Ahnung von den letzten Entwicklungen zu haben. Doch wenn es sich so verhielt, machte es den Anlass der Einladung nur umso rätselhafter. Das, sowie der wohlwollende Ausdruck auf Dschosefiens Gesicht. Mina konnte sich nicht erinnern, Ophelias Schwester ihr gegenüber schon einmal positiv eingestellt erlebt zu haben.
"Fräulein von Nachtschatten." Madame Kasta erhob sich höflich, in dem Moment, in welchem Mina an den Tisch herantrat. "Schön, dass Sie es sich einrichten konnten." Sie reichte ihr die Hand zur Begrüßung und wies dann auf den freien Stuhl ihr gegenüber. "Bitte."
"Danke für die Einladung. Auch wenn diese mich ehrlich gesagt ein wenig überrascht hat."
"Das kann ich Ihnen nicht verdenken. Es ist ja schon eine ganze Zeit lang her..."
Ein weiterer Kellner trat lautlos heran und platzierte eine hohe Porzellankanne neben dem Körbchen. Dem Geruch nach handelte es sich um Kaffee.
"Ich war so frei, mich bereits um Getränke und eine Kleinigkeit zur Stärkung zu bemühen. Ich hoffe, dies ist Ihnen recht so? Sollte Ihnen der Sinn nach etwas anderem stehen, so kann ich versichern, dass alles was Sie auf der Speisekarte finden ausgezeichnet ist."
"Das ist überaus freundlich, dankeschön."
Mina nickte, was Dschosefien zum Anlass nahm dem immer noch wartenden Caféangestellten ein Zeichen zu geben, die Tassen zu füllen. Dann entfernte sich der Mann ebenso leise, wie er gekommen war. Ophelias Schwester wartete noch einen Moment, um ihrem Gast die Gelegenheit zu geben, sich zuerst an den bestellten Speisen zu bedienen. Als dies ausblieb griff sie schließlich selbst nach einem der süßlich duftende Brötchen.
"Um auf ihre Bemerkung von eben zurückzukommen, auf die zum Ausdruck gebrachte Überraschung ob meines Schreibens und der darin geäußerten Bitte... nun, ich will den Anlass dieses kleinen Treffens gar nicht verhehlen." Sie strich eine dünne Schicht Erdbeermarmelade auf die eine Brötchenhälfte, legte das Gebäck dann aber auf ihrem Teller ab, ohne etwas davon zu sich genommen zu haben. "Ich muss zu meiner Schande gestehen, eine Zeit lang benötigt zu haben, bis es mir bewusst geworden ist. Bis ich einsehen konnte, was im Grunde auf der Hand lag. Doch der Tod meiner Schwester..." Nachdenklich tippte sie gegen den Griff des Messerchens, welches sie fein säuberlich auf die Serviette gelegt hatte. Dann sah sie auf und lächelte erneut, wenn auch ein wenig angespannter als zuvor. "Nun, es gibt Themen, über die fällt es mitunter schwer zu sprechen, nicht wahr?"
Man musste schon sehr genau hinsehen, um den Anflug von Schmerz in ihren Augen wahrzunehmen, die unterdrückte Trauer, welcher es verboten war, nach außen zu dringen. Was das anging war Dschosefien Kasta die perfekte Beherrschung und in gewisser Weise erinnerte Mina das an die Art, wie sie selbst mit alldem umging. Sie waren beide die Sorte Frau, welche es sich erst dann erlaubten Anzeichen von Schwäche zu zeigen, wenn sie absolut sicher sein konnten, dass niemand hinsah. Und selbst das nur unter ganz bestimmten Umständen. Auch, wenn Dschosefien ihre Stärke aus anderen Gründen präsentierte oder zumindest glaubte präsentieren zu müssen... Mina empfand in diesem Moment einen seltsamen Anflug von Sympathie für die andere. Egal, was sie ihr hinsichtlich vergangenem Verhalten vorwarf - Ophelias Verschwinden musste für ihre Familie einen Schlag bedeutet haben, den sie allerhöchstens erahnen konnte. Das war auch noch einmal etwas anderes als in Rachs Fall. Die Qual, die es bedeuten musste, sich jegliche Gefühlsregung aus Sorge vor gesellschaftlicher Sanktionierung zu verbieten... und selbst wenn dieses Problem hausgemacht was, so handelte es sich am Ende bei Dschosefien Kasta auch nur um jemanden, der nicht aus seiner Haut konnte - dem diese Haltung von klein auf eingeimpft worden war. Wie leicht war über dieser sorgsam gepflegten Fassade doch der Mensch zu vergessen, dem das alles unerträglich nah ging...
"Ich verstehe, was Sie meinen", hörte sie sich selbst sagen. "Die richtigen Worte zu finden ist dann gewiss ebensowenig leicht."
"Aber genau darum geht es mir! Um die richtigen Worte. Die ich für absolut notwendig erachte." Dschosefien straffte ihre Gestalt. "Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen."
Vor Überraschung hätte Mina um ein Haar den Zuckerlöffel in ihrer eigenen Tasse versenkt. Denn das es sich um ein derartiges Anliegen handelte - das kam nun wirklich unerwartet. Und wahrscheinlich musste man ihr das auch sehr deutlich ansehen, denn Ophelias Schwester gab ihr keine Gelegenheit, etwas zu erwidern. Schnell fuhr sie fort:
"Ich war manchmal nicht ganz fair zu Ihnen, als wir noch gemeinsam nach meiner geliebten Schwester suchten. Die Umstände... Ich war wohl nicht ganz ich selbst. Was natürlich keine Entschuldigung für mein damaliges Verhalten ist! Mir ist jetzt vollkommen klar, dass Sie und Ihre Kollegen alles getan haben, um Ophelia zu finden und sollte ich undankbar ob Ihrer Mühen erschienen sein oder den Anschein erweckt haben, diese zu missachten, so tut es mir von Herzen leid." Sie suchte den Blick der anderen, vollkommen offen und ehrlich, und Mina wurde klar, dass Dschosefien all das was sie sagte auch genauso meinte, ohne jeglichen Hintergedanken. Auch wenn sie von ihr nicht die beste Meinung hatte - manipulativ war die andere nicht.
Madame Kasta beugte sich ein Stück nach vorn und ihr Tonfall bekam einen inständig bittenden Beiklang:
"Es würde mir viel bedeuten, hätten Sie die Güte, mir zu verzeihen."
Mina wurde bewusst, dass sie Ophelias Schwester immer noch regungslos anstarrte. Die Wächterin hatte ja mit viel gerechnet - doch keinesfalls mit einer solchen Eröffnung. Da brauchte es jetzt einfach einen Moment mehr, um die eigenen Gedanken zu sortieren. Doch die Frau ihr gegenüber erwartete eine direkte Antwort und Mina wollte verhindern, dass Dschosefien ihr Schweigen missverstand. Die Vampirin riss sich zusammen.
"Ja, ich meine, ja natürlich, also...", begann sie.
Nicht sehr eloquent, aber immer noch besser als die Alternative. Und es schien auszureichen. Tatsächlich sah Dschosefien derart erleichtert drein, dass sich erneut der Gedanke aufdrängte, dass eine der Anwesenden die andere wohl vollkommen falsch eingeschätzt hatte.
"Das beruhigt mich ungemein." Ophelias Schwester atmete tief durch. "Wissen Sie, in meiner Position kann man sich einen solchen Fehler nur schwerlich erlauben - ihn wieder zu beheben ist allerdings noch viel komplizierter und ich bin ja so froh, auf Ihr Verständnis zu stoßen, das ist nicht selbstverständlich." Sie nickte ernst. "Und in diesem Zusammenhang möchte ich es nicht versäumen, noch eine weitere Einladung auszusprechen: Unsere Familie plant eine kleine Gedenkfeier, vielleicht sogar eine Art Gedenkgottesdienst, für Ophelia auszurichten, wir sind mit dem Tempel der Anoia bereits im Gespräch. Der Zeitpunkt steht noch nicht fest, allerdings soll es sehr bald sein. Bitte, geben Sie auch Ophelias engeren Vertrauten und guten Kollegen auf der Wache Bescheid, wir würden sie sehr gern dabei wissen. Um gemeinsam mit diesem Kapitel abzuschließen."
Es klapperte etwas lauter als beabsichtigt, als Mina ihre Kaffeetasse wieder abstellte, was ihr einen verärgerten Blick von einem der näher gelegenen Tische eintrug. Sie ignorierte es. Gerade hatte sie sich soweit wieder gesammelt gehabt um anzufangen, darüber froh zu sein, dass es sich bei Dschosefiens Anliegen um ein so harmloses, ja eigentlich sogar sehr zuvorkommendes handelte. Und nun so etwas. Eine offizielle Gedenkfeier? Nach außen hin sicherlich das richtige Zeichen... andererseits eine nervliche Zerreißprobe. Es gab einige Leute, denen man das wohl besser nicht zumuten sollte, die sich aber auch schlecht vor solch einem Termin drücken konnten.
Währenddessen fuhr Dschosefien Kasta fort; ihr schien nicht aufzufallen, dass ihre Gesprächspartnerin nur noch mit halbem Ohr zuhörte.
"...insbesondere, was Rach angeht. Selbstredend wird ihm noch eine persönliche Einladung zugehen. Er soll wissen, dass er trotz allem für uns mittlerweile zur Familie gehört und jederzeit..."
Mina hielt den Blick fest auf die dunkle Flüssigkeit in der Goldrandtasse geheftet. Das Argument hinsichtlich 'Ophelia noch einmal verlieren, alles ein weiteres Mal durchleben' löste sich soeben in Luft auf - dieses Gefühl würde so oder so aufkommen, blieb die Familie bei ihrem Plan. Aber sie konnte es trotzdem nicht riskieren, oder? Sie konnte nichts in Aussicht stellen, was sich am Ende vielleicht nicht einmal im Ansatz bewahrheiten würde. Mina biss ich auf die Unterlippe. Oder wäre es am Ende vielleicht doch die richtige Entscheidung? Rach hatte auch gesagt, er wolle es immer wissen. Und hatte sie sich nicht eigentlich vorgenommen, keine Entscheidungen mehr für andere zu treffen, welche diese rein vorsorglich in Schutz nahmen? Wenn es um derart persönlich bedeutsame Dinge ging? Wäre es nicht um ein Vielfaches grausamer, die Familie Ophelias das Vorgenommene in die Tat umsetzen zu lassen, in dem Wissen, dass sie dies unter Umständen gar nicht durchstehen müssten? Wir werden nicht scheitern...
"...soll schließlich ein Grabstein aufgestellt werden. Damit..." Das Stocken in Dschosefiens Stimme ließ Mina aufschauen. Der Blick der anderen glitt über ihren Kopf hinweg in weite Ferne. "...damit es eine Ort gibt, zu dem man... So ist es so trostlos, denken Sie nicht? Da ist nichts, und sie nirgends zu wissen, dass... sie braucht doch ein Platz für sich. Was würde ich dafür geben..." Sie räusperte sich.
"Frau Kasta..."
"Verzeihung, ich habe mich vergessen. Das geht mir alles immer noch so schrecklich nahe."
"Frau Kasta..."
"Ja?"
Mina schloss kurz die Augen, verfluchte sich im Stillen... und sprach dann besonders leise weiter:
"Was ich Ihnen jetzt sage muss unter allen Umständen unter uns bleiben. Niemand, ich wiederhole, absolut niemand darf davon erfahren, nicht einmal der Rest Ihrer Familie. Darüber darf keinerlei Zweifel herrschen."
Dschosefien zog fragend eine Augenbraue nach oben, doch der nachdrückliche Tonfall der Vampirin hielt sie von einer entsprechenden Zwischenbemerkung ab. Sie gestattete sich lediglich ein verhaltenes Nicken, um Mina anzudeuten, sie solle fortfahren.
Diese formulierte ihre folgenden Sätze mit Bedacht:
"Es könnte, unter Umständen, eine gute Idee sein, besagten Termin noch nicht festzulegen", meinte sie langsam. "Das bedeutet nicht, Sie sollten nicht mit der Planung fortfahren, für einen außenstehenden Beobachter darf sich nichts geändert haben. Aber... warten sie noch ein wenig mit der eigentlichen Umsetzung. Wir verfolgen seit geraumer Zeit einen neuen... Ansatz. Ich will und kann nichts versprechen, vielleicht ändert sich überhaupt nichts! Doch lassen Sie noch etwas Zeit verstreichen und... gute Güte, halten Sie Ihr Gesicht unter Kontrolle!"
Dschosefien, deren Augen während der letzte Worte immer größer geworden waren, senkte hastig den Blick auf die Tischplatte. Fahrig tastete sie nach der Serviette, stieß dabei das Messer zu Boden, machte Anstalten es aufzuheben, verharrte dann mitten in der Bewegung und vergrub die zitternden Hände in den Stofffalten ihres Kleides.
"Wollen Sie da andeuten, dass...", brachte sie heiser hervor.
"Es ist von allergrößter Wichtigkeit für die Sicherheit aller Beteiligten keinerlei Verdacht zu erregen. Sie dürfen sich nichts anmerken lassen, dieses Wissen existiert faktisch nicht. Gut möglich, dass man uns auch in diesem Augenblick beobachtet."
Eines musste man Dschosefien lassen: Sie reagierte so gut es ihr die Situation gestattete. Sie starrte auf den Teller und wagte es nicht einmal zu nicken - auch wenn sie offensichtlich kurz davor stand, zu kollabieren. Ihr Herz raste und sämtliches Blut war aus ihrem Gesicht gewichen. Lange würde sie das so nicht mehr durchhalten. Und trotz allem begann sie die Aufmerksamkeit der anderen Gäste zu erregen. Hier und da wurden bereits Köpfe zusammengesteckt und die ersten machten lange Hälse.
Das war ein Fehler, Mina von Nachtschatten. Ein dummer, emotional bestimmter Fehler.
Nun musste sie zusehen, wie sie wieder aus der Sache herauskamen, ohne nicht wiedergutzumachenden Schaden anzurichten. Mina entdeckte einen Kellner, welcher wenig dezent um eine hochgewachsene Pflanze am Durchgang zur Küche herum lugte. Kurz entschlossen winkte sie ihn heran.
"Es tut mir sehr leid, aber meine Freundin hier ist etwas indisponiert." Sie hob die Stimme ein wenig mehr als notwendig, aber nicht zu sehr, als dass es verdächtig gewirkt hätte. Gerade so viel, damit anwesende Klatschmäuler auch etwas verstanden, was sie dann weiter tratschen konnte. "Sie hat vor einiger Zeit einen schweren Verlust erlitten und die Trauer setzt ihr immer noch stark zu. Gibt es hier vielleicht ein etwas weniger exponiertes Eckchen, in dem sie in Ruhe wieder zu sich finden kann, bevor sie den Heimweg antritt?"
Der Mann nickte eifrig und zauberte sogar ein sauberes Tuch aus der Westentasche, welches er Ophelias Schwester reichte. Dieser rannen mittlerweile vereinzelte Tränen über die Wangen, welche sie mit hektischen Bewegungen versuchte, wegzuwischen. Dann half er Dschosefien auf und hakte sie links unter, während Mina ihren rechten Arm ergriff. Unter tröstlichen Gemeinplätzen führten sie die völlig aufgelöste Frau durch eine Tür in den dem Personal vorbehaltenen Bereich des Cafés, fort von neugierigen Blicken - und gar zu aufmerksamen Ohren.

Der Angestellte hatte ihnen Einlass in einen kleinen Aufenthaltsraum am Ende eines langen schmalen Ganges gewährt und sie dann mit dem Hinweis allein gelassen. Sie sollten sich so viel Zeit nehmen, wie sie benötigten. Mina verharrte an der geschlossenen Tür, um sicherzugehen, dass sich draußen niemand mehr aufhielt, um zu lauschen. Der Raum hatte keine Fenster und befand sich mitten im Gebäude, also war dies der einzige Schwachpunkt. Aber alles blieb still. Und das betraf nicht nur den Gang.
Es verstrich einige Zeit, ehe Dschosefien Kasta wieder das Wort ergriff.
"Wo ist sie? Wer hat sie geholt?"
Ophelias Schwester hatte soweit ihre Fassung wiedergewonnen, als dass sie mit gefestigter Stimme sprechen und ihre Mimik einigermaßen unter Kontrolle halten konnte. Durch die Finger jedoch lief noch immer ein kontinuierliches Zittern und sie hielt die Hände ineinander verschlungen auf dem Schoß gebettet, fast so als müsse sie sich auf diese Weise selbst festhalten.
"Wie geht es ihr?"
"Den Umständen entsprechend..." Mina wandte sich der anderen zu. "Jedoch wissen wir nichts genaues."
Dass Ophelia schwer krank gewesen und eine gewisse Zeit wie ein Tier in einem Käfig gehalten worden war würde sie Dschosefien ersparen. Abgesehen davon, dass diese einen weiteren Schock bestimmt nicht gut verkraftet hätte - sie wirkte jetzt noch so, als könnte sie jeden Moment von dem alten Sessel, auf welchen sie sie gesetzt hatten, zu Boden sinken.
"Ist sie in der Stadt? Oder woanders?"
"Das kann ich Ihnen nicht sagen."
"Und warum nicht?" Dschosefien sah sie verständnislos an. "Was würde es für einen Unterschied machen? Ich werde schon nicht direkt von hier aus dorthin eilen, um... um sie den Klauen desjenigen zu entreißen, der sich anmaßt, meine kleine Schwester besitzen zu dürfen!" Ihre Hand fuhr ob dieses ungewollten Ausbruchs an den Mund und sie räusperte sich verhalten.
Den Klauen desjenigen... Wenn Dschosefien gewusst hätte, wie nah sie der Wahrheit damit tatsächlich kam. Es war nicht unwahrscheinlich, dass Racul Ophelia tatsächlich als nicht viel mehr als einen Besitz betrachtete, ein lästiges Objekt, welches man aus bestimmten Gründen in seiner Nähe dulden musste. Und rein traditionell betrachtet hätte er sogar die Möglichkeit, dass... Nein! Rasch schob Mina den Gedanken beiseite. Zumal sie die Thematik an gewisse Streitgespräche mit Ophelia selbst erinnerte, an Vorwürfe, die gefallen waren als die Nerven einmal blank lagen:
"Du... du wolltest an meiner statt... für mich... mit ihm verhandeln... um mich quasi?" - "Das macht dich nicht zu einem..." - "...Objekt. Oder doch lieber Opfer?" - "Ophelia..." - "Vielleicht gefällt dir auch eher der Begriff "Eigentum"?" - "Das habe ich jetzt nicht gehört!" - "Ihr seid alle gleich! Ihr denkt, ihr hättet von Natur aus das Recht, zu entscheiden..."
"Hätten Sie vielleicht die Güte, mir zu antworten?" Dschosefien Kastas Stimme schnitt scharf in ihre Erinnerungen.
"Verzeihung, ich war kurz abgelenkt", murmelte Mina und vertrieb energisch die letzten Gedanken an diese Episode. Die Geister der Vergangenheit konnten warten. Jetzt erforderte das hier ihre volle Aufmerksamkeit. Mina war mehr als bewusst, dass sie ab nun jedes weitere Wort auf die Goldwaage legen musste, wollte sie nur den Hauch einer Chance haben, dass ihre eigene Nachgiebigkeit nicht mehr gefährdete als einen Nachmittag im Cafè.
"Das habe ich gemerkt." Ophelias Schwester bedachte sie mit einem missbilligenden Blick. "Also wiederhole ich: Wer hat sie? Ich verlange das zu wissen!"
"Und auch ich betone gern noch einmal: Das kann ich Ihnen nicht sagen." Mina verschränkte die Arme, während Dschosefien immer aufgeregter wurde - und auf damenhaftes Verhalten nunmehr keinen Pfifferling zu geben schien.
"Sie müssen mir diese Informationen geben. Ich bin ihre Schwester!"
"Und wenn Sie Lord Vetinari persönlich wären - ich kann nicht und ich werde nicht. Das ist keine reine Willkür meinerseits. Es ist notwendig."
"Was heißt hier notwendig! Ich akzeptiere das nicht! Und meine Eltern werden das auch nicht tun, wenn ich..."
"Sie werden es Ihnen nicht erzählen." Mina sah Ophelias Schwester fest an und ihre Stimme war ruhig und beherrscht, als sie nun fortfuhr: "Wenn ich Sie nochmals daran erinnern dürfte: Es darf keiner erfahren. Eigentlich hätte ich es nicht einmal Ihnen verraten dürfen. Daher muss Ihnen diese eine Information vorerst genügen, je weniger Sie wissen, desto besser ist es. Es geht hier nicht nur um Ophelias Sicherheit. Verschwiegenheit ist unser bester Verbündeter und in diesem Fall lebenswichtig. Ein falsches Wort, ein Wimpernzucken im falschen Augenblick und alles ist dahin. Habe ich mich klar ausgedrückt?"
"Ich werde schweigen. Aber ich muss es wissen!"
"Nein."
Dschosefien ballte die Fäuste, funkelte die Vampirin noch einen Moment an. Doch dann senkte sie den Blick und ein klagender Laut entrang sich Ihrer Kehle. Sie schlug die Hände vor's Gesicht.
"Das können Sie doch nicht tun", wisperte sie entmutigt. "Ich habe so hart daran gearbeitet, mir eine emotionale Basis zu schaffen auf der ich stehen kann. Und nun kommen Sie daher und schlagen sie entzwei. Da können Sie doch nicht allen Ernstes auf meine gefühlsmäßige Distanzfähigkeit zählen."
Ja, das war ihr in den letzten Minuten schmerzlich bewusst geworden... Aber sie durfte sich nicht von Dschosefiens Aufgebrachtheit anstecken lassen. Das hier musste auf eine ruhige, sachlichere Ebene zurückfinden; sie musste Ophelias Schwester in dem sicheren Wissen verlassen können, dass diese an sich zu halten im Stande war.
"Ich tue das nicht, weil ich Sie quälen möchte", erwiderte Mina sanft. "Sondern weil es keine andere Möglichkeit gibt. Jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt. Aber Sie können darauf zählen, dass ich es Sie umgehend wissen lassen werden, wenn die Dinge zu einem Abschluss gefunden haben. Welcher auch immer das sein mag."
Dschosefien nickte langsam, dann atmete sie tief durch. Eine sichtbare Veränderung ging mit ihr vor. Die Gestalt straffte sich und die Mischung aus Leid und Wut verschwand von ihrem Gesicht. Dschosefien Kasta gab nach - und akzeptierte.
"In Ordnung", sagte sie. "Ich werde Ihnen in dieser Hinsicht vertrauen. Nicht, dass ich eine andere Wahl hätte, aber..." Sie strich Ihren Rock glatt. "Sie haben offensichtlich nicht aufgegeben, als ich schon lange keine Hoffnung mehr hatte. Und das ist viel mehr wert, als das Stillen meines Wissensdrangs um jeden Preis." Madame Kasta erhob sich. "Ich werde jetzt nach Hause gehen. Seien Sie gewiss, dass nicht einmal mein Mann von dem erfahren wird, was hier gesprochen worden ist. Es wird alles so sein wie zuvor", verkündete sie entschlossen. Sie nickte Mina zu und bewegte sich in Richtung der Tür. Als sie sich auf gleicher Höhe mit der Vampirin befand hielt sie allerdings noch einmal inne. Sie sah die Wächterin an.
"Danke", sagte sie mit warmer Stimme, "Danke, dass ich es wissen darf. Ich werde warten. Jede einzelne Sekunde des Tages."
Dann trat sie auf den Gang, ein gesellschaftlich höchst akzeptables Lächeln auf den Lippen, als wäre alles wieder in bester Ordnung. Die perfekte Fassade. Mina folgte ihr, sie verabschiedeten sich freundlich vor dem Café und dann ging eine jede ihrer Wege. Niemand hätte auch nur erahnen können, was vorgefallen war. Dennoch schaffte es Mina erst an die zwei Straßen weiter, ihre innere Anspannung abzuschütteln. Das war gerade noch einmal gut gegangen. Kaum der Rede wert, dass sie sich nun zur angesetzten Strategiebesprechung verspäten würde.

09.06.2017 12: 23

Magane

Ein stechender Schmerz im Gesicht weckte Magane aus ihrem extrem unruhigen Schlaf. Sie setzte sich ruckartig auf und tastete die Stelle knapp unter ihrem rechten Auge ab. Da war Blut. Wie konnte sie sich im Bett verletzt haben? Reflexartig strich sie sich durchs Haar. von dem unordentlichen Zopf vom Vortag war nichts übrig geblieben, aber da war etwas anderes. Etwas Stacheliges hatte sich in ihren Haaren verfangen. Vorsichtig um sich nicht noch einmal zu stechen, versuchte sie den Fremdkörper aus dem Gewusel zu befreien. Blütenblätter einer dunkelroten Rose rieselten auf die Bettdecke. Das war also Sebastians Art Blumen zu schenken. Stachelige Rosen im Bett. Mistkerl. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte sie den Stiel, mit Blättern und dem Rest einer ehemals ausgesprochen schönen Blüte in der Hand. Natürlich hatte die ganze Vorsicht nicht genutzt und ihre Finger bluteten jetzt ebenfalls. Sie stand auf, um ihre Bürste zu holen. Es waren jeden Menge Stacheln abgebrochen, die jetzt noch ausgebürstet werden mussten. Kaum zu glauben, dass er den gestrigen Abend mit so etwas gekrönt hatte... und nun würde sie auch noch nach Blut riechen, wenn er kam. Wenigstens dürfte er satt und gut gelaunt sein. Es wäre wirklich praktisch einen Spiegel zu haben, aber so musste sie sich auf ihr Gefühl verlassen. Als sie glaubte alle Stacheln gefunden zu haben, legte sie die Bürste weg und inspizierte ihre Hände. Es hatte gleich vier Fingerkuppen erwischt und die würden ewig nicht richtig heilen, aber das ließ sich jetzt nicht mehr ändern. Dank der schlecht heilenden Narbenhaut hatte sie immer besonders auf ihre Hände achtgegeben, nur war das hier nicht möglich gewesen. Außerdem hatte sie auf jeden Fall fertig sein wollen, bevor er hier auftauchte. Das gelang ihr so grade eben, allerdings war sie auch noch nicht umgezogen, als die Tür aufging und sie mit einem fröhlichen "Guten Morgen , meine Rose!" begrüßt wurde.
"Guten Morgen", sie beschloss die Rose nicht zu erwähnen. Auch auf das Gehörte der vergangenen Nacht wollte sie nicht von sich aus das Gespräch lenken, war sie sich doch nicht sicher, ob ihm klar war, dass sie einiges mitbekommen hatte. Sich dumm stellen war eine seit Jahren erprobte Methode und erforderte nur wenig schauspielerisches Talent.
"So schweigsam heute?"
"Hab schlecht geschlafen", das war nichts was verschwiegen werden musste, da er während sie schlief hier drin gewesen war, wusste er das vermutlich sowieso schon.
"Wahrscheinlich ist dir dein freier Tag nicht bekommen, das wird nicht mehr vorkommen. Ich lass dich nicht mehr so lange allein, Röschen." Eine Drohung im Gewand eines liebevollen Versprechens, wie charmant.

Die Rose war ein Volltreffer gewesen, der Kratzer im Gesicht, die zerstochenen Finger, die verheißungsvolle Duftnote von ein wenig frischem Blut an der Schönheit im strahlend weißen Nachthemd, und das alles mit so geringem persönlichen Einsatz. Das perfekte Kosten/Nutzen-Verhältnis. Wenn er sie jetzt noch überzeugen konnte, dass sie ihn in ihren Kopf ließ, konnte dies ein perfekter Tag werden... aber das eilte nicht, sie hatten Zeit. Er tigerte scheinbar ziellos im Raum umher und beobachtete ihre Reaktionen. Sie achtete darauf ihm nie den Rücken zuzukehren, was zwangsläufig bedeutete, dass sie ihn die ganze Zeit im Blick behalten musste.
"Hast du dich gestern sehr gelangweilt?"
"Nein, überhaupt nicht", sie fühlte sich sichtlich unwohl, woran mochte das wohl liegen?
"Was hast du den Schönes gemacht, so ganz allein?"
"Dieses und jenes, Hexen finden immer etwas zu tun", sie schien nicht darüber reden zu wollen, aber er hatte bemerkt, dass sie den Tisch fast komplett abgeräumt und etwas auf die Tischplatte gezeichnet hatte. Sebastian blieb vor dem Arbeitsplatz stehen und sah sich das genauer an. Eine Karte? Interessant... oder eigentlich nicht wirklich interessant, egal was sie damit versucht hatte, es konnte sowieso nicht durch die Ablenkzauber brechen. Sie hatte sich wohl hauptsächlich Kopfschmerzen dabei eingehandelt, aber faszinierend, sobald sie unbeobachtet war versuchte sie etwas. Die kleine Hexe hatte noch lange nicht aufgegeben. Die Zeichnung auf dem Tisch schien eine Karte der Länder jenseits des Runden Meeres zu sein. Und was hatte der verkohlte Ring zu bedeuten? Sie würde nicht freiwillig antworten und er hatte jetzt im Moment auch keine Lust sie zu zwingen, vielleicht später...
"Sag mir, Röschen, deine Hexerei, beschäftigt die sich nur mit Kräutertees?"
Sie sah ihn misstrauisch an, wahrscheinlich spürte sie, dass er langsam zu seinem heutigen Anliegen vordrang.
"Nein, ich mache schon mehr als nur Tees, aber die Tees sind meine Spezialität. Worauf möchtest du hinaus?"
Er war mit einer blitzschnellen Bewegung hinter ihr, hatte sie gepackt und ihren Kopf zur Seite gezogen, so als wollte er zu einem Nackenbiss ansetzen, hielt dann aber inne und flüsterte: "Lass uns das in der Stille deines Kopfes besprechen."
"Lass mich los!"
Sie wand sich und kämpfte gegen seine Umklammerung, für einen Moment war er versucht ihrem Widerstand mit Gewalt zu begegnen. Aber dann machte er sich bewusst, dass er - zumindest im Augenblick - Kooperation auf freiwilliger Basis wollte, Unterwerfung allein wäre zwar reizvoll, würde ihn aber seinem Ziel nicht näher bringen. Sebastian lockerte seinen Griff und schwang sie herum wie im Tanz, so dass er ihr in die Augen sehen konnte. Sie erwiderte seinen Blick kämpferisch und weckte damit erneut den Wunsch sie zu jagen, zu fangen, zu brechen. Trotzdem lächelte er entwaffnend charmant und versuchte es erneut, freundlicher.
"Meine Liebe, wärst du so gütig mich in deinen Geist einzulassen? Mich dürstet nach der herrlichen Stille und danach mit dir ungestört zu sein."
"Wärst du im Gegenzug zu meiner Zusage so freundlich mich loszulassen? Lass mir doch wenigstens die Illusion, dass du dich an den Vertrag gebunden fühlst und nichts tust, was ich nicht will", auch sie lächelte und ein Aufblitzen in ihren Augen verriet, dass sich hinter ihrer Bitte durchaus eine Warnung verbarg. Er gab zum Schein nach, über diese Bitte würden sie noch reden müssen, später wenn er hatte was er wollte und sie zum spielerischen Teil übergehen konnten. Sie erzitterte, als er im Loslassen sanft über ihre nackten Arme strich. Bei Weitem nicht so gelassen, wie sie tat. Er grinste, sie spielte die starke selbstständige Hexe mit der großen Lebenserfahrung, aber tief in ihrem Innern war sie das junge Mädchen, allein in der Wüste. Einsam, verlassen und vollkommen unerfahren. Vielleicht war das ja der Schlüssel zu ihren Erinnerungen, wenn er Bilder aus ihren Träumen einsetzte...
Magane machte eine einladende Geste in Richtung des flauschigen Teppichs und er kam der Aufforderung nach und setzte sich im Schneidersitz, so bequem wie eben möglich hin. Danach setzte sie sich in der gleichen Haltung ihm gegenüber. Ihre Hände locker auf ihren Knien viel zu nah an den seinen. Sebastian rutschte sicherheitshalber ein Stückchen zurück, man konnte ja nie wissen.
"Bereit? Hast du genug Abstand zu meinen Händen?"
"Bereit, wenn du es bist", sein Geist umschlich längst ihre mentale Barriere und wartete nur darauf eingelassen zu werden. Als sich endlich eine Öffnung in der steinernen Hülle zeigte, schlüpfte er schnell durch, bevor sie es sich doch noch anderes überlegte. Er sah sich um, wieder der gleiche leere weiße Raum. In der Mitte saß sein Hexchen im Schneidersitz auf dem Boden und sah ihn mit großen Augen an. Hier in ihrem Geist, wo ihre Regeln galten, trug sie nicht mehr das Nachthemd, das so großzügigen Blick auf ihren verführerischen Hals und ihr reizendes Dekolletee bot. Zwar war ihre Kleidung hier ebenfalls weiß, aber hochgeschlossen und abweisend, ein wenig prüde sogar. Er schüttele den Kopf und ließ sich ihr gegenüber nieder.
"Wie wählst du eigentlich dein hiesiges Erscheinungsbild?"
"Das kann doch nicht das sein, was du mit mir besprechen wolltest."
"Nein, das ist Neugier... also?"
"Ich wähle es nicht, das ist mein Bild von mir."
"Dein Bild von dir ist so zugeknöpft?"
"Im Moment, ja", sie lächelte ihn unschuldig an.
"Gut...", er räusperte sich und wechselte das Thema, "ich würde mich gern ein wenig umsehen, gibt es hier noch mehr?"
"Jede Menge und alles sieht genau gleich aus."
"Bist du sicher? Was wäre wenn wir ein paar Meter in die Richtung gingen?" Er zeigt in eine beliebige Richtung und änderte dort eine Kleinigkeit, in dem er intensiv daran dachte.
"Dort ist nichts, dieser Raum ist eine Illusion."
"Das ist mir klar, aber ich mag nicht rumsitzen... lass uns ein paar Schritte gehen. Oder tanzen! Ich könnte für Musik sorgen." Sie reagierte genau wie erwartet mit offensichtlicher Erregung - Wut zwar, aber Erregung. Für einen kurzen Augenblick wechselte die Farbe der Umgebung in ein schmutziges Grau und mit seinen realen Sinnen nahm er einen Anstieg ihrer Herzfrequenz wahr. Aber auch diesmal hatte sie sich sofort wieder unter Kontrolle.
"Von mir aus. Aber für die Musik sorge ich lieber selbst", sie schloss für einen Moment die Augen und konzentrierte sich sichtlich, dann erklang leise klassische Musik, gespielt von einem Streicherensemble, dessen Bild sie allerdings nicht mit heraufbeschworen hatte. Wahrscheinlich wollte sie nicht zu den Klängen der vergangenen Nacht tanzen und holte deswegen etwas aus ihrer eigenen Erinnerung, leider öffnete sie dabei keinen Zugang zu selbiger. Das war aber auch gar nicht nötig, denn er erkannte die Musik aus ihren Träumen.
"Sehr schön, sehr stilvoll. Darf ich bitten, meine Liebe?" Er bot ihr seine Hand und sie stand auf.
Sie tanzten langsam und für Maganes Geschmack zu eng, erst an Ort und Stelle, bevor er sie allmählich in die Richtung führte, in die er vorher gezeigt hatte. Sie hatte die Augen geschlossen und hing vermutlich der Erinnerung nach, aus der die Musik stammte, die sie allerdings streng von dieser Bewusstseinsebene getrennt hielt. Er änderte kühn noch ein paar Kleinigkeiten der Umgebung, solange sie nicht hinsah.
Nach einer Zeit, die sich wie Minuten anfühlte, aber kaum einzuschätzen war, bemerkte sie, dass etwas anders war als zuvor.
"Was ist das für ein Untergrund?" Sie schlug die Augen auf und sah sich um, "Wo kommt der Sand her?"
"Ich weiß nicht, wir sind in deinem Kopf", er versuchte einen unschuldigen Blick, scheiterte aber kläglich, weil er das Grinsen nicht unterdrücken konnte.
"Ich habe hier nichts verändert! Wo hast du diesen Sand her?"
"Vielleicht vom Strand, man bringt ja immer versehentlich Sand aus dem Urlaub mit", mit dem Kommentar hatte er es eine Spur zu weit getrieben und fing sich eine mentale Ohrfeige, die doch tatsächlich weh tat.
"Ich weiß nicht wo du den Sand und das gelbliche Licht her hast, aber solltest du irgendwie an die Wüste in meinen Erinnerungen gekommen sein, so lass dir gesagt sein, dass mich diese Erinnerung nur stärker macht."
"Wieso, was hat es damit auf sich?"
"Ich war nie zuvor so frei und bin es auch seit dem nie wieder gewesen", sie lachte und holte die kleine Echse aus ihrer Erinnerung dazu. Dabei bot sich wieder kein Schlupfloch. Die Hexe schien wirklich zu wissen was sie tat, selbst mit Provokation bleiben die Bewusstseinsebenen klar voneinander getrennt. Diese Kontrolle war bemerkenswert, aber auch schrecklich lästig. Also gut, die Wüste bedeutete für sie also Freiheit. Nicht unbedingt eine Empfindung die er nachvollziehen konnte, aber darauf kam es auch nicht wirklich an. Er sah ihr zu, als sie sich, ihn scheinbar völlig vergessend, in den Sand setzte und begann mit der kleinen Echse zu spielen. Dabei wirkte sie genauso vertieft, wie ihre jüngere Ausgabe. Sebastian setzte sich zu ihr und wartete. Im Gegensatz zum Traum bemerkte sie hier seine Anwesenheit, er konnte spüren, dass sie sich unwohler fühlte, je näher er ihr kam. Die Gelassenheit war nur Fassade, eine weitere Kostprobe der Selbstkontrolle.
Geduld gehörte nicht unbedingt zu seinen Stärken. Was wollte sie nur damit erreichen? Wenn sie darauf wartete, dass er einfach ging und sie wieder in Ruhe ließ, konnte sie lange warten. Er streckte die Hand aus und passte einen günstigen Moment ohne Reptil ab, um ihre zu ergreifen.
"Eigentlich wollte ich mit dir reden."
"Dann schlage ich vor, du fängst damit an, sag einfach was du willst", sie spielte mit der Linken weiterhin mit der Echse. Das fing langsam an ihn zu nerven.
"Genaugenommen ist Freiheit das Thema über das ich mit dir reden will", mit der sehr offenen Formulierung hatte er eine emotionale Reaktion provozieren wollen, wurde aber enttäuscht, sie reagierte überhaupt nicht. In diese Falle tappte sie also nicht... "Wie du dir sicher denken kannst geht es nicht um deine Freiheit."
"Sondern?"
"Um meine."
"Komisch, ich dachte, du seist frei...", sie schickte die Echse weg und widmete ihm ihre volle Aufmerksamkeit, "aber das ist vielleicht die begrenzte Sicht der Gefangenen."
"Es war eine dumme Idee mit dir darüber reden zu wollen, vergiss es", er stand auf und klopfte sich den Sand vom Abbild seines edlen nachtblauen Anzuges, bevor er sich zügig ein paar Schritte entfernte. Auch wenn er ihr den Rücken zugewandt hatte, konnte er dennoch spüren, dass sie aufstand und ihm hinterher lief. Er grinste, Menschen waren doch alle gleich, man musste nur die richtigen Saiten zupfen. Sie schloss zu ihm auf, er bemühte sich wieder um ein neutrales Gesicht und drehte sich zu ihr um.
"Der Meister kontrolliert dich?"
"Ja."
"In wie fern?"
"Ich kann mich seinen Befehlen nicht widersetzen. Er hat den Gehorsam eingebrannt."
"Und hier kann er dich nicht erreichen? Deswegen ist es hier still für dich?"
"Genau, du bist erst die zweite Person, bei der es so herrlich still ist. Bei der ich einen rebellischen Gedanken haben darf, ohne gleich bestraft zu werden", da war Mitleid in Augen, sie glaubte ihm und bedauerte ihn. Neugier und Mitleid, die vielleicht größten Schwächen, die Menschen haben konnten.
"Was ist mit der anderen Person passiert?"
"Die trinkt jetzt deinen Tee und ihr Geist ist dadurch auch für mich fest verschlossen."
"Das erklärt, warum du nicht von ihr lassen konntest... jedenfalls kannst du hier bei mir frei sein. Und vielleicht kann ich ja auch etwas an dieser Bindung ändern, mit der Zeit."
"Danke, das ist mehr als ich zu hoffen wagte. Aber nun sollten wir wieder zurückkehren. Er könnte misstrauisch werden", er lächelte, sie hatte von sich aus gesagt, dass sie vielleicht etwas ändern konnte. Damit war es ihre Idee. Er zog sich aus ihrem Geist zurück.

Sie blinzelte, der Vampir saß ihr nicht mehr gegenüber, sondern lag jetzt lauernd auf dem Bett. Natürlich war er schneller wach, er musste ja auch keine Meditation beenden und dabei die Schlupflöcher wieder abdichten. Dieser Kontakt war unheimlich anstrengend gewesen. Ob er wusste wie sehr sie das anstrengte? Magane stand auf, am liebsten hätte sie ihn weggeschickt, aber sie wusste, dass er noch nicht fertig war mit ihr. Diese Kontrolle, unter der er behauptete zu stehen, klang gruselig. Andererseits bedeutete das nur, dass er nicht der größte Mistkerl im Haus war und das hatte sie schließlich schon gewusst.
"Und, was jetzt?"
Er zeigte sein schönstes Raubtierlächeln und klopfte neben sich aufs Bett.
"Jetzt würde ich einfach noch gerne einige Zeit deine Gesellschaft genießen."
Sie war so müde, wenn er doch nur ginge, dann könnte sie den Rest des Tages einfach verschlafen. Aber er würde nicht gehen... Gesellschaft genießen, was auch immer das heißen mochte. Magane ging zum Bett hinüber und setzte sich steif auf die Kante.
"Möchtest du mir vielleicht erzählen, warum die Wüste für dich Freiheit bedeutet?"
"Eigentlich möchte ich das nicht."
"Schade, ich würde das so gerne verstehen."
"Ich bin bei meinem Onkel und meiner Tante aufgewachsen. Die haben mich nicht gut behandelt. Mit 14 Jahren bin ich ausgerissen und habe bei meiner Flucht einen Wüstenstreifen durchquert. Dort ist mir erst so richtig bewusst geworden, dass ich frei war und gehen konnte wohin ich wollte und werden konnte was immer ich wollte."
"Und dann bist du ausgerechnet Stadtwächterin in Ankh-Morpork geworden?"
"Nicht sofort...", sie schwankte etwas hin und her.
"Leg dich doch hin, du siehst aus als würdest du jeden Moment von der Kante kippen."
"Dann wirst du mich beißen..."
"Nicht sofort", er zwinkerte ihr zu und zog sie zu sich.

10.06.2017 23: 05

Ophelia Ziegenberger

Sie erreichte das Wachhaus viel zu spät. Die Besprechung musste längst im vollen Gange sein. Immerhin hatten die Kollegen auch noch anderes zu tun, als nur auf eine säumige Stellvertreterin zu warten. Aber das ließ sich nun nicht ändern, immerhin war der Grund ihres Zuspätkommens ein triftiger.
Mina eilte die Treppen hinauf, in die zweite Etage des Wachhauses, bis sie vor der geschlossenen Bürotür des Kommandeurs stand. Das Stimmengemurmel dahinter drang nur leise hindurch, laut genug jedoch für ihr gutes Gehör, um Rachs Stimme zu erkennen.
"...die Unterlagen gut genutzt worden. Das ist zumindest auch das, was Chief-Korporal von Nachtschatten meinte, als wir kurz darüber sprachen. Von daher dürften wir, zumindest was die reine Theorie angeht, inzwischen alle gut vorbereitet sein, zu dem Thema."
Die Stimme des Kommandeurs, die ernst und knapp gehalten antwortete.
"Sehr gut! Dann jetzt zu Kanndras neuesten Informationen!"
Sie hatten tatsächlich ohne sie begonnen.
Den leichten Stich, den sie ob dieses Gedankens verspürte, tat sie schnell als irrational ab.
Natürlich hatten sie das! Sie selber hätte auch nicht ewig auf irgendeinen Zuspätkommer gewartet. Und obendrein ging es hier nicht um ein lockeres Kaffeekränzchen, es ging um Ophelia und Magane! Da durften sie sich keine Verzögerungen leisten!
Mina straffte ihre Schultern und öffnete die Tür zum Kommandeursbüro, ohne das übliche Klopfen.
"Entschuldigt bitte, ich wurde leider aufgehalten. Ich frage nachher, nach dem, was ich bisher verpasst habe. Macht bitte einfach weiter, ich setze mich dazu und... ah, danke! Schon bereitgestellt. Also, wie gesagt... macht weiter, ich finde schon rein!"
Der Raum wirkte regelrecht von Licht geflutet, so wie die Sonne über die schräg eckversetzten Fenster herein fiel und sich in die Besprechungsecke ergoss. Der sonst sicherlich dominant wirkende Schreibtisch gegenüber der Tür verblasste regelrecht im Vergleich zu dem Stuhlkreis, der sich nun gut besetzt um die Püschologenkautsch mit dem niedrigen Tischchen davor scharrte. Und der Stuhl, der dem Eingang am nächsten stand, war als einziger frei geblieben.
Die Vampirin nickte einmal in die Runde und setzte sich damit direkt neben die dicht heranragende Schreibtischkante zu ihrer Rechten, sowie Rogi zu ihrer Linken.

Rogi konzentrierte sich wieder auf die Besprechung – und somit in diesem Moment vor allem auf Kanndra. Die Späherin saß gleich links von ihr, auf dem der Tür zugewandten Ende der Kautsch und sie setzte dazu an, von ihrer Erkundung der Kanalisation, rund um das künftige Einsatzgebiet, zu berichten.
"Um es kurz zu machen: Dieser Weg ist für uns nicht gangbar. Ich war einen gesamten Vormittag da unten und auf der Suche nach einem möglichen Weg ins Innere des anzunehmenden Kellerlabyrinths. Und alles, was ich gefunden habe, waren dicht gemauerte Zugänge, verschweißte Stahltüren oder durch Einstürze verschüttete Gänge in den Richtungen, wo wir sie frei benötigen würden. Ich denke, ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich vermute, dass auf diese Weise das gesamte Areal absichtlich unpassierbar gemacht wurde. Und diese Blockaden sind nicht neueren Datums. Algenbewuchs, Rost, Tierspuren... alles das lässt darauf schließen, dass seit Jahrzehnten niemand mehr den ernsthaften Versuch gewagt hat, sich Zugang zu verschaffen. Da kommen wir weder schnell, noch unauffällig durch. Und schon gar nicht alle auf einmal oder sicher."
Blockierte unterirdische Gänge und zusätzliche Fallen. Der einfachste und zugleich effektivste Weg, um eine groß angelegte unterirdische Anlage abzusichern. Und dass es diese Fallen gab, da war sie sich absolut sicher. Ihr Gespür dafür, hatte sich unzweifelhaft bemerkbar gemacht, auch wenn sie keine Gelegenheit dazu gehabt hatte, die Flure zu erkunden. Es war wichtiger gewesen, hundert Prozent konzentriert da zu sein, um sofort zu Ophelia durchzukommen, sobald es ihr gestattet wurde. Und sie bereute es nicht, sich auf die Kranke konzentriert zu haben. Dennoch... jetzt, in diesem Moment, wurde Rogi wieder schmerzlich bewusst, wie wenig sie an genauen Details beitragen konnte, obgleich sie ihr schon so nahe gewesen war. Hatten ihre Bemühungen überhaupt irgendetwas Gutes zu Tage gefördert? Wenn sie an die kurzen Augenblicke in Ophelias Nähe zurückdachte, dann sprang sie unweigerlich immer zu dem Punkt zurück, an dem Ophelias Hand sich um die ihre gekrampft hatte, bei der Erkenntnis, dass es Rach auch nach all der langen Zeit ohne sie so schwer fiel, mit dem Verlust umzugehen. Nein, das war ganz sicher keine Hilfe gewesen! Andererseits... sie hatte sich über ihren Besuch gefreut gehabt! Da war die FROG sich sicher. Aber würde dieser Energieschub genügen, um sie längerfristig zu motivieren? Um sie dazu zu bringen, auch jetzt noch, wo Rogi nicht mehr zu ihr durfte, ausreichend zu trinken? Sie befürchtete, trotz gegenteiliger Beteuerungen, dass die anderen es nicht gänzlich ernst nahmen, wenn sie sie darauf hinwies, dass Ophelia nicht transportfähig sei. Sie konnten es sich vermutlich einfach nicht vorstellen, was das heißen mochte. Oder sie wollten es nicht, verdrängten die Bilder dazu aus ihren Gedanken. Etwas, das sie selber auch gerne gekonnt hätte.
Und wer wusste, wie die Lage inzwischen aussehen mochte?
Kanndra runzelte die Stirn, dann fügte sie ihrer Auflistung düster hinzu:
"In der untersten Ebene bin ich auf einen Abwasserkanal gestoßen, der weiter in diese Richtung reichte, als die bis dahin gefundenen Tunnel. Dieser Weg endete für mich aber an einem stabilen Gitter, durch welches nur noch das Wasser durchkonnte. Dahinter... da war ein hoher Schacht. An dessen Grund, also direkt hinter dem Gitter, waren riesige Metallnägel aufgerichtet worden. Es handelte sich ganz offensichtlich um eine vor längerer Zeit ausgelöste Falle. Da lag ein aufgespießtes Skelett auf den Stangen."
Von schräg gegenüber erklang unpassend enthusiastisch die Stimme der sonst so gelangweilten Assassinin.
"Eine effektive Fallgrube! Wie charmant! So etwas funktioniert ja heutzutage kaum noch, die Leute sind so vorsichtig geworden."

Kanndra blickte für einen Moment pikiert zur anderen Seite des Sitzkreises, doch die elegante Gildenschülerin lächelte nur süßlich und auch alle anderen enthielten sich ausnahmsweise mal eines Kommentars. Rachs Blick richtete sich finster gen Boden, allerdings nicht, wegen irgendetwas, das seine Schwester gesagt haben mochte oder auch nicht. Er war tief in Gedanken und schien bereits auszuloten, was solche Fallen für den finalen Rettungseinsatz bedeuten mochten.
Sie räusperte sich
"Wie gesagt... für unsere Zwecke: Unpassierbar! Wir müssen weiter nach einer Art Hintereingang suchen, um wenigstens von zwei Seiten auf einmal angreifen zu können."
Zu ihrer Linken, mittig des lang gezogenen Polstermöbels, meldete sich Nyria zu Wort.
"Ich bin dran, an der Sache. Demnächst will ich mein Glück versuchen. Es sollte kein Problem darstellen, die Küchenhilfe für einen Zugang ins Gebäude zu überreden, damit ich nachts zu einem der Salons durchschleichen und den angeblichen Liebesbrief deponieren kann. Wenn alles läuft, wie geplant, wenn ich mich wandeln und alles in Windeseile abgrasen kann, dann sollte da nichts schief gehen. Gertie empfindet die Chancenungleichheit als ungerecht und scheint mir einem kleinen Abenteuer nicht abgeneigt. Und gleichzeitig ist sie keines von diesen Plappermäulern. Das wird schon!"
Kanndra freute es tief in ihrem Inneren, das zu hören, weswegen sie zufrieden nickte.
Es war gut, einen echten Plan in der Hinterhand zu haben. Und die Gefreite machte sich wirklich. Da stimmte alles. Natürlich konnte sie diese lockere Gelassenheit als Szenekennerin gut gebrauchen. Aber Kanndra kam nicht umhin zu denken, dass die Werwölfin sich auch als Mitglied der regulären FROG-Truppe gut machen würde. Und sie konnten Nachwuchs wahrlich gut gebrauchen! Ob es nach dem anstehenden halb-illegalen Einsatz einen Ansatzpunkt dafür gäbe, sie zu fragen...

Nyria hatte nur kurz mit sich gerungen, als ihr die Idee dazu gekommen war. Immerhin war das keine lustige Planung, das war ihr von vornherein klar. Aber einfach nur einmal alle paar Tage irgendwas tun zu können, sei es unauffällig Streife zu gehen rund um den Block oder einmal die Woche den Kontakt zu der Küchenhilfe zu suchen – wenn es hoch kam – das lastete sie einfach nicht aus! Nicht, dass sie sich gelangweilt hätte oder mit dem normalen Arbeitsaufkommen der SEALs zu wenig zu tun gehabt hätte, bewahre! Aber genau hierfür, für diesen ganzen Schlamassel rund um die beiden verschwundenen Kolleginnen, da musste es doch einfach möglich sein, mehr zu tun!
Und deswegen ihr Entschluss.
Den sie halt auch irgendwann mal erwähnen sollte. Bregs hatte es schließlich nicht so gern, wenn man unangekündigte Alleingänge startete.
Gerade, als er etwas sagen und zum nächsten Punkt überleiten wollte, deutete sie also noch mal mit der Hand auf, so dass er mit fragendem Blick innehielt.
"Ja?"
"Ich würde da gerne noch was machen. Zusätzlich. Und ganz unabhängig von den ganzen anderen Plänen hier."
"Und das wäre?"
Bregs gegenüber richtete sich Mina von Nachtschatten etwas mehr auf ihrem Stuhl auf und blickte ihr konzentriert entgegen. Nyria sah abwechselnd von einem zum anderen, als sie erklärte:
"Die Unterlagen der Assassinen, von denen wir vorhin schon sprachen, enthielten einen Haufen interessanter Hinweise auf diverse beim Fallenbau verwendete alchimistische Substanzen. Solche Substanzen haben in den meisten Fällen ziemlich charakteristische Gerüche. Und ich dachte mir, wenn ich im eigentlichen Rettungseinsatz später dabei bin und mich nicht halb überflüssig fühlen will, dann sollte ich mehr können, als nur gut zu Fuß zu sein. Ich will sehen, dass ich mich mit einigen der typischen Gerüche auseinandersetze, damit ich sie dann im Ernstfall erkennen kann, möglichst bevor sie uns gefährlich werden."
Gegenüber sahen sowohl Rach, als auch Esther plötzlich sehr aufmerksam zu ihr hin und auch auf den übrigen Gesichtern sah sie überraschte Zustimmung.
Neben dem Schreibtisch meldete sich die RUM-Stellvertreterin mit leicht skeptischem, ernstem Blick zu Wort.
"Die Idee ist zweifelsohne gut. Fragt sich nur, wie du an solche Substanzen heran zu kommen gedenkst."
Nyria grinste
"Kein Problem, Ma 'am! Ich komme da schon dran."
Sie ließ die Aussage so im Raum stehen.
Die von Nachtschatten zog langsam eine Braue in die Höhe. Sie sah nur kurz durch den Raum, zum Kommandeur, ehe sie sich mit verschränkten Armen, tief durchatmend, zurücklehnte und mit einem reservierten kleinen Nicken sagte:
"Dann... gut. Ich gehe dann einfach mal davon aus, dass... du weißt, was du tust und wir nichts Genaueres wissen müssen."
Nyrias Blick schnellte auf die andere Seite des Sitzkreises und sie sah, dass auch Bregs sich mit verschränkten Armen zurück gelehnt hatte. Seine Mimik wurde dabei allerdings von einem deutlich amüsierten Funkeln im Auge dominiert.

Da ging ein weiterer freier Nachmittag oder Abend in den nächsten Tagen dahin!
Raistan fand sich innerlich seufzend umgehend damit ab. Etwas anderes würde ihm vermutlich sowieso nicht übrig bleiben. Immerhin kannte er Nyria gut genug. Sie würde ihn ganz selbstverständlich mit einplanen in diese haarsträubende Geschichte. Sie bräuchte garantiert eine unabhängige Kontrollinstanz für solche Tests. Und vielleicht sogar jemanden, der ihr später Papiertücher und Wasserglas reichte.
Das konnte doch nicht gut gehen, sich durch allerlei gefährliche Dinge durchzuschnüffeln, zumal mit ihrer empfindlichen Nase! Sie tat ihm jetzt schon leid.
Die Werwölfin bemerkte seinen mitleidigen Blick und grinste ihn trotzig an.
Er rollte demonstrativ mit den Augen, ehe er sich wieder hinter der vorwitzig aus seinem Zopf fallenden Haarsträhne versteckte.
Die Besprechung wandte sich nun fort von den Vorbereitungen, hin zu grundsätzlichen Fragen des eigentlichen Einsatzes. Nicht umsonst lief das Training diesmal unter einem rein theoretischen Motto, dem der strategischen Überlegungen. Alles Laufen, Springen und Kämpfen konnte schließlich nicht zum Erfolg führen, wenn sie keinen Plan hatten. Beziehungsweise, wenn dieser Plan nicht ihnen allen gewahr wäre. Das war einzusehen. Theoretisch. Ihn wurmte nur leider noch immer der Fakt, dass sein persönlicher Einsatz in dem zu erahnenden Plan so unbedeutend sein sollte!
Selbst Senray Rattenfänger schien bessere Chancen darauf zu haben, am Stürmen der Vampirlauer teilnehmen zu dürfen, als er! Das Thema war zwar noch nicht wieder zur Sprache gekommen aber...
Sein Blick wanderte automatisch zu ihr hinüber, wie sie klein und verschüchtert zwischen den Lichtbahnen der Fenster in ihrem Rücken saß. Eine zurückhaltende junge Frau im Schatten. Erst recht, wenn man den hoch gewachsenen Vampir zu ihrer einen und die Assassinin mit dem überbordenden Selbstbewusstsein zu ihrer anderen Seite sah. Sie schien regelrecht zu verblassen, war unscheinbar und still. Und doch...
Der Dämon lauert in ihrem Inneren. Eine bösartige Feuerkreatur, spezialisiert auf Schmerz und Zerstörung. Eigentlich dazu bestimmt, ausgetrieben und verbannt zu werden. Um keinen Schaden anzurichten. Und der Dämon weiß inzwischen, dass wir von ihm wissen... Wie viel bekommt er wohl von all dem hier mit?
Raistan war gut, in dem, was er tat. Er wusste, dass er das dämonische Wesen aus der jungen Frau herauszerren und es in seine eigentliche Heimatdimension zurückschleudern könnte, wenn man ihn ließe. Es handelte sich nur um eine Frage der Vorbereitung. Die Zusammenstellung der Schutzkreise mochte aufwändig sein. Und vielleicht, je nach Machtspektrum der Kreatur, wären einige Kollegen zur Unterstützung nicht verkehrt. Aber selbst da war er sich nicht sicher, ob es nötig wäre. Er hatte in den vergangenen Jahren viele Dämonen bezwungen, dieser wäre nicht der erste. Und die entsprechenden Handgriffe und grundlegenden Formeln saßen. Der eigentliche Knackpunkt war ein ganz anderer.
Ich bräuchte seinen Namen...
Senray Rattenfänger blickte auf, ihre Augen richteten sich genau auf ihn, wenn auch nur für eine einzige, kurze, verschreckte Sekunde und es schien, als wenn sie genau wisse, worüber er nachdachte. Und da waren Schuld und Angst in diesem Blick.
Er senkte den seinen, unangenehm berührt.
Nein, die Schwierigkeit war eine ganz andere, nicht der geheimnisvolle Name der Pandämoniumsbrut in ihr. Und er hatte diese über allem lauernde Schwierigkeit tatsächlich kurz vergessen gehabt... er würde sie damit töten, wenn er seinem Drängen nachgeben und einen Bannversuch wagen würde!
Es ist gut, dass ich den Namen nicht weiß. Damit gerate ich nicht ernsthaft in Versuchung. Sie soll dieses unscheinbare Leben nicht umsonst so teuer erkauft haben.
Der Zauberer sah wieder auf, suchte ihren Blick.
Doch nun mied sie diesen.

Araghast Breguyar war sich nicht völlig sicher gewesen, inwieweit er sich in die Besprechung einbringen sollte. Abgesehen von der strittigen Situation um seine eigene Person, dieses elendig Inoffizielle, gab es da ja noch den Umstand, dass es Mina von Nachtschatten zu verdanken war, dass diese ganze Ermittlung überhaupt Bestand hatte. Und besonders nach der Aussprache zwischen ihnen, die gewisse Differenzen zwar angekratzt, sie aber mitnichten beigelegt hatte, schien es ihm ratsam, sie nicht willentlich zu übergehen. Natürlich, er war der ranghöchste Offizier hier... aber das allein hatte noch nie dafür gesorgt, brenzlige Situationen ohne größeren Schaden beizulegen.
Der Begriff des "Brenzligen" hallte als unbeabsichtigtes Wortspiel einen Moment in ihm nach und sein Blick huschte zu der Obergefreiten.
Nein, erst noch ein, zwei andere wichtige Punkte ansprechen, bevor wir zu der entscheidenden Frage des Tages kommen. Solange müssen wir alle uns noch gedulden. Aber diese Gruppenentscheidung hat zu viel Sprengkraft, um sie jetzt schon auf den Tisch zu bringen. Die Gefahr ist zu groß, darüber andere Sachen zu vergessen.
"Gut. Dann...", er sah zu dem Chief-Korporal hinüber, doch Mina von Nachtschatten erwiderte den Blick nur mit äußerster Gelassenheit. Und nachdem sie zuvor schon, beim Eintreten, nur mit ruhiger Zurückhaltung auf seinen Besprechungsvorsitz reagiert und sich widerspruchslos in die Runde eingegliedert hatte, entschied er, einfach so weiter zu machen. "Dann kommen wir zu einer grundlegenden Frage, was die Strategie des Einsatzes angeht."
Er lehnte sich vor, auf dem Stuhl, die Arme auf den Oberschenkeln abgestützt.
"Wir haben die Wahl zwischen zwei Optionen. Theoretisch. Option eins ist ein Überraschungsangriff. Das möglichst unauffällige Stürmen des Geländes in der Hoffnung, so spät wie möglich entdeckt zu werden, um einen gewissen Vorsprung rauszuarbeiten, ehe es von Seiten der Hausbewohner zu einem, wie auch immer gearteten, Widerstand kommt. Option zwei wäre ein offener Angriff, bei dem es vor allem darum ginge, die im Haus gebündelten Kräfte mehr oder weniger heraus zu locken und dadurch aufzusplitten. Mein bevorzugtes Szenario habe ich für mich persönlich bereits festgelegt, doch es würde mich interessieren, ob ihr zu dem gleichen Schluss kommt. Es mag schließlich sein, dass hier in dieser gemischten Truppe andere Bedenken aufkommen, als mir allein in meinem kleinen Kämmerchen. Deswegen stelle ich die Entscheidung zur Debatte."

Wilhelm Schneider wusste augenblicklich, als die Frage in den Raum gestellt wurde, welches Szenario es werden würde.
Die Assassinin an Rach Flanellfuß' Seite fasste seine Gedanken knallhart in Worte.
"Es glaubt doch nicht wirklich irgendwer in diesem Raum ernsthaft daran, dass es dieser Gruppe möglich wäre, unbemerkt in das Labyrinth einzudringen? Durch ein Gebäude, dessen Grundriss wir nicht kennen? An Bediensteten vorbei, die übermenschlich stark und unnatürlich loyal an ihren Herrn gebunden sind? In einen Bereich hineinfindend, zu dem uns die genaue Verortung des Zugangs noch fehlt? Durch ein Labyrinth findend – was an sich schon auf zu erwartende Desorientierung hindeutet – in welchem mit Fallen zu rechnen ist? Wie lange sollten wir realistischerweise einplanen für den Weg in den Untergrund, bis hin zu den beiden Vermissten? Zehn Minuten? Eine halbe Stunde? Und die Gegenseite macht in der Zwischenzeit was? Däumchendrehen? Schlafen? Alle auf einmal? Wohl eher nicht."
Nyria, ihr gegenüber, schnaufte deutlich.
"So reizend optimistisch."
Rach, neben seiner Schwester, ließ sich schwer gegen die Stuhllehne fallen und fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht.
Esther blickte ungerührt in die Runde und reckte ihr Kinn.
"Was? Es stimmt doch!"
Und Wilhelm musste ihr im Stillen zustimmen.
Kanndra rieb sich nervös die Hände, während sie mit verhaltener Stimme und leicht abwesendem Blick in die Runde sagte:
"Egal für welche Option wir uns entscheiden: Wir müssen da in zwei Gruppen reingehen! Wir können nicht offenen Auges alle an einer Stelle zusammen geklumpt auf einen Gegenschlag warten. Wir brauchen Rückendeckung. Oder wenigstens eine Hoffnung darauf, Verstärkung zu bekommen, die dem Gegner in den Rücken fallen kann!"
Mina nickte, auch wenn ihre Augen dunkel und ahnungsvoll wirkten.
Rogi stützte sich mit ihren Händen auf ihren Knien ab und beugte sich vor, ihr Blick hatte eine fast fiebrige Intensität, als sie die Aufmerksamkeit der anderen einzufangen versuchte und sich für ein offenes Vorgehen aussprach.
"Wir müffen sogar sichtbar herantreten! Wenn wir Igor und Igorina aus ihrem Vertragsverhältnif löfen wollen, dann können wir daf nur, in Form einef Mobs! Daf kann man nicht gleichzeitig haben, Heimlichtuerei und einen Mob. Fonft wirkt der nicht!"
Kanndra fixierte Rogi mit einem Blick.
"Wenn wir uns aufteilen, um unsere Chancen zu erhöhen... welche Mindestpersonenanzahl muss ein Mob dann traditionell erfüllen, um sozusagen rechtlich bindende Wirkung zu zeigen?"
"Drei oder vier Perfonen. Drei wären die unterfte Grenze und könnten unter Umftänden fragwürdig sein. Vier find sicher. Aber in beiden Fällen gilt, auch nur, wenn die technische Ausstattung ftimmt und die Motivation deutlich rübergebracht wird."
Kanndra schien bereits innerlich durchzuzählen, als der Kommandeur sie unterbrach.
"Bevor wir ins Detail gehen... es gibt also keine Gegenstimmen? Alle sind sich einig?"
Wilhelm folgte automatisch seinem Blick, einmal den Sitzkreis herum. Das ernste Nicken war einhellig. Die Werwolfkollegin fasste die Stimmung zusammen.
"Wir wären schön dämlich, den einzigen Vorteil, den wir auf unserer Seite haben, zu verschenken. Wenn wir deren Personal durch Fackeln und Mistgabeln einstampfen können, dann wird diese Chance gefälligst genutzt!"
Wilhelm selber nickte, als der Blick des Kommandeurs ihn von rechts traf.
"Sör! Ein Überraschungsmoment mit so vielen schlagenden Herzen in unterirdisch beengten Tunneln... das ist unmöglich zu realisieren. Jeder Vampir dort unten, erst recht einer, von dem wir wissen, dass er sich dort schon so lange in der Stille verborgen halten muss, wird uns lange im Voraus kommen hören. Wir müssen sie voneinander trennen und sie einzeln abpassen, wenn irgend möglich. Der Mob gäbe uns, meiner Meinung nach, einen eindeutigen Vorteil."
Araghast Breguyar nickte knapp zu seinen Worten.
Senray zu seiner Linken senkte den Blick und haspelte leise:
"Wenn ich... also, falls... dann würde ich die Option mit dem Mob bevorzugen, weil, na ja... was die anderen eben auch schon... ähm, gesagt haben, Sör?"
Breguyars Blick wanderte fragend weiter und Esther zuckte nur mit der Schulter.
"Meine Meinung habe ich ja bereits kundgetan. Es bleibt nur der Direkteinstieg in das Objekt."
Und Rach nickte resigniert.
"Das wird wohl die sinnvollste Variante sein."
Wilhelm beobachtete, wie ein etwas längerer Blick zwischen dem Kommandeur und der Vampirkollegin wechselte, ehe diese nickte. Breguyar straffte die Schultern und lehnte sich zurück.
"Nun, dann wäre das geklärt. Und ich bin froh, dass wir uns einig sind."
Der Blick des Kommandeurs wanderte zu Senray und eine deutliche Anspannung rieselte durch die Truppe im Raum.
Das Herzklopfen der kleinen Kollegin stieg rasant an.
Der Vampir sah zu ihr und wie auf ein geheimes Zeichen hin, suchte auch sie sofort seinen Blick. Was ihn sofort zum Lächeln brachte. Welches sie wiederum zaghaft erwiderte. Ehe sie den Blickkontakt hastig abbrach, um sich auf das Folgende zu konzentrieren.
Araghast blickte mit einem Räuspern in die Runde.
"Ich hatte ja darum gebeten, dass ihr euch Gedanken darüber macht, inwieweit ihr euch imstande fühlt, die Präsenz des Dämons innerhalb des Rettungstrupps zu akzeptieren. Oder ob der Aufgabenbereich der Obergefreiten Rattenfänger sich wieder vollständig auf deren reguläre Zuständigkeiten beschränken sollte, um eventuell erhöhte Gefährdungen im Einsatz auszuschließen. Zwei Tage sollten dafür genügt haben und so bitte ich jetzt um eure Entscheidungen."
Wilhelm fand es schwer, ihren trommelnden Herzschlag zu ertragen. Sie hatte ihm vor der Besprechung bereits unter vier Augen ihren Entschluss mitgeteilt, um ihn zu beruhigen. Und er war erleichtert gewesen, davon zu erfahren! War es immer noch. Aber er wusste auch, wie viel es ihr bedeutet hätte, teilzunehmen, Ophelia aktiv zu helfen. Besonders, nachdem zu all ihren alten Sorgen, Ängsten und Schuldgefühlen noch diese neue hinzugekommen war – diese Fehleinschätzung der Auswirkungen ihres Triangulierens. Kein Wunder, dass es ihr schwer fiel, sich nun zu Wort zu melden. Er war gerade dabei zu überlegen, ob er ihr die Mühsal dieses Eingeständnisses abnehmen und für sie sprechen sollte, als sich zu seiner Überraschung stattdessen Mina von Nachtschatten leise einschaltete.
"Wenn ich etwas dazu sagen dürfte, Sör?"
Das Wort war ihr schnell erteilt und so fuhr sie mit ruhigem Blick auf Senray fort.
"Die Problematik stellt sich inzwischen anders dar, ist damit quasi bereits geklärt. Die Obergefreite hatte gestern von sich aus das Gespräch mit mir gesucht und zu dieser Gelegenheit darum gebeten, beim finalen Rettungseinsatz außen vor zu bleiben."
Aus dem Augenwinkel sah Wilhelm den intensiven Blick Raistans zu dieser Eröffnung, wurde aber umgehend von Senrays Nervosität wieder abgelenkt. Er hätte ihr so gerne seine Hand beruhigend auf die ihre gelegt. Doch ihre panische Angst vor seinesgleichen verbot ihm von vornherein jegliche Berührung. Das mochte mal gut gehen. Aber sicher nicht in einer ohnehin dermaßen angespannten Situation. So bemühte er sich darum, ihr mit seinem Blick Beistand zu bieten.
Es war Rachs Stimme, die ihn aus dem Blickkontakt heraus warf und ihn wieder auf die anderen Personen im Raum achten ließ.
"Warum? Warum bist du dir plötzlich so sicher in dieser Entscheidung, nachdem du zuvor so zögerlich warst? Irgendwas ist passiert..."
Wilhelm erinnerte sich plötzlich wieder daran, dass Ophelias Verlobter ein außergewöhnlich guter Beobachter war. Ein Umstand, den er in letzter Zeit außer Acht gelassen hatte, so sehr, wie ihn die Gedanken um den Zauberer und später um Senray und seinen Zwangspakt vereinnahmt hatten.
Senrays Augen blickten nun flehentlich zu ihm. Und er wusste zweifelsfrei darum, dass es Schuldgefühl war, welches ihr jetzt die Luft abschnürte. Dabei konnte sie doch wirklich nichts dafür! Wie nur sollte er ihr das begreiflich machen, dass er ihr niemals Vorwürfe dafür machen würde, dass sie sich für den Pakt, für ein Weiterleben, entschieden hatte vor so langer Zeit? Sie musste doch damals fast noch ein Kind gewesen sein, demzufolge, was sie ihm während ihrer Beichte im Boucherie durchblicken lassen hatte! Zumal schon der Ansatzpunkt falsch gedacht war; nicht ihr durfte man die jetzigen Schmerzen zur Last legen, sondern der Kreatur, die diese Schmerzen zufügte! Der Dämon hatte eine Wahl, er konnte den Pakt greifen lassen - oder auch darauf verzichten. Stattdessen... er nutzte sie beide aus, zu seiner eigenen Befriedigung. Gerade die willkürliche Unverhältnismäßigkeit seiner Strafen zeigte es doch, unterstrich es: Dem Dämon wäre jeder Vorwand recht gewesen, um Qual zu verbreiten! Nichts, was Senray tun oder unterlassen würde, könnte das Wesen davon abhalten. Sie waren beide gleichermaßen dem Zufall ausgeliefert. Und wie konnte sie sich ernsthaft für den Zufall verantwortlich fühlen? Aber es schien ihm, als wenn seine Gedanken viel Zeit benötigen würden, ihre emotionale Gegenwehr zu unterwandern. Als wenn sie lange brauchen würde, seine Sicht zu verstehen.
Wieder war es Mina, die emotionsarm erklärend eingriff und so die Last von den Schultern des kleinen Vogelherzens nahm.
"Zum einen konnte sie mir einen Umstand vermitteln, der generell Einfluss auf ihren weiteren aktiven Einsatz haben muss. Die Flammenreaktion, die wir beobachten konnten, sobald die Obergefreite in Ophelias Senderadius geriet, stellte sich als beidseitig heraus. Das war ihr vorher nicht bewusst. Und dann hat es etwas gedauert, bis sie diesen Umstand, trotz der Bindungen ihrer Schweigeklausel, zu transportieren vermochte. Wir müssen also davon ausgehen, dass es jeweils auch auf Ophelias Seite zu einer Feuerreaktion gekommen ist, die deutlich sichtbar ausgefallen sein könnte. Ich denke, ich brauche nicht zu erklären, was das bedeutet und dass allein dieser Fakt es ausschließt, sie wieder in diesen Radius zu schicken. Eine Erkenntnis, die sie teilt."
Rachs beherrschtes Luftholen war nur zu deutlich zu hören und Wilhelm kam nicht umhin, von der unterschwelligen Nervosität berührt zu werden, als Puls und Atmung gleich mehrerer Personen im Raum sich leicht erhöhten.
Nyrias Stimme, trocken und doch betroffen.
"Ach, du Scheiße!"
Rachs Augen verrieten, dass dessen Selbstbeherrschung bei weitem nicht so vollständig war, wie er es gerne gehabt hätte. Aber seine Stimme klang erstaunlich ruhig, als er fragte:
"Und weiter? Du sagtest zum einen, Mina. Was hat es dann mit dem bisher unausgesprochenen zum anderen auf sich?"
"Der andere, sehr überzeugende Grund für ihren Entschluss, besteht in dem von dir bereits vermuteten Zwischenfall. Es ist tatsächlich etwas passiert." Das Zögern in Minas Erklärung war kaum merklich – und doch so aussagekräftig. "Es gab eine Rückkopplung zwischen ihr und Wilhelm, aufgrund von dessen Paktverpflichtung gegenüber dem Dämon. Die Sache ist noch mal glimpflich ausgegangen, wie ich mir habe sagen lassen. Aber es hätte auch anders sein können. Der Vorfall hat ihr verdeutlicht, dass sie unbeabsichtigt im entscheidenden Moment zu einer Gefahr für die Mission, zumindest aber für ihn als Kollegen werden könnte. Etwas, das vermieden werden sollte."
Senray suchte wieder seinen Blick. In ihrer Not wollte sie damit beginnen, wie so oft, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, auf ihrer Unterlippe zu kauen - er intensivierte kurz seinen Blick, richtete seine Aufmerksamkeit blitzschnell auf ihren Mund und zurück und schüttelte andeutungsweise den Kopf, ganz sacht nur. Doch sie verstand. Mit einem erschrockenen Weiten ihrer Augen und einem schweren Schlucken setzte sie sich plötzlich aufrecht und blickte wieder in die Runde, ihre Lippen nun fest aufeinander gepresst.
Er war so auf sie konzentriert, dass Raistans Stimme ihm fast den Boden unter den Füßen weg zog. Er brauchte einen Moment, um sich zu fassen und der Frage mit scheinbarer Gelassenheit begegnen zu können - und sei es nur für Senray.
"Wie genau sah diese Rückkopplung aus?"
Verdammt schmerzhaft. Und deutlich.
Aber das konnte er so nicht sagen. Es würde ihre Schuldgefühle ins Unermessliche steigern und das wollte er nicht. Außerdem wurde dadurch ja auch nichts besser, wenn er im Nachhinein herumjammern würde. Also lächelte er Raistan entgegen und antwortete möglichst unbefangen.
"Ich wurde nachdrücklich daran erinnert, dass es da etwas gibt und ich gefälligst besser auf sie aufpassen soll. Wir hatten sozusagen eine kleine Meinungsverschiedenheit in unserer Dreierkonstellation und der mit dem feurigsten Temperament musste unbedingt Recht behalten. Aber jetzt hängt der Haussegen wieder gerade."
Er registrierte die skeptischen Blicke, das Stirnrunzeln rundum. Aber sie alle überließen das Wort dem Zauberer. Der offensichtlich nicht zufrieden war mit seiner Antwort.
"Wilhelm... das ist kein Witz. Ophelias Rettung ist dir doch ebenfalls wichtig. Was, wenn das, was euch passiert ist, auch während des Rettungseinsatzes geschieht? Nimm die Sache gefälligst ernst!"
Wenn du wüsstest, wie ernst ich die Sache nehme... aber gut, dir sind ihre Gefühle im Moment nicht bewusst... vielleicht sogar egal. Und du hast ohnehin eine andere Sicht auf die Situation. Ich werde das akzeptieren...
Er hielt dem Blick stand.
"Du willst also Details... nun gut." Er räusperte sich und warf ihr noch ein Lächeln zu, welches sie unsicher erwiderte, ehe er mit einem leisen Seufzer ausholte. "Senray hatte einen kleinen häuslichen Unfall. Nichts Schlimmes, eine unbedeutende Lapalie. Aber eben eine minimale, kurzfristige Beeinträchtigung ihres körperlichen Gesundheitszustandes. Meine Definition einer Verletzung hätte zwar anders gelautet, den Regularien des Paktes jedoch, unter dessen Wirkung ich stehe, genügte es ganz offensichtlich. Eine formale Berechtigung für den Dämon, mich für meine Saumseligkeit zu strafen. Weil ich nicht ausgiebig genug an ihrer Seite war, um sie davor zu bewahren. Es beliebte der Kreatur, diese Verletzung in vielfacher Weise auf meinen Körper zu übertragen. Da ich mich zu dem Zeitpunkt ohnehin in unmittelbarer Nähe des Boucherie befand, wo ich sie zu Recht vermutete, wartete ich nicht lange ab, was weiter passieren könnte, sondern ging zu ihr, um nachzusehen. Im Grunde war da nichts. Es war ein falscher Alarm, ein..."
Senrays Stimme unterbrach ihn mit einem Flüstern, für ihn jedoch war es unüberhörbar.
"Wilhelm, das war nicht Nichts!"
Er lächelte ihr beruhigend zu.
"Tut mir leid, ich wollte damit nicht behaupten, dass es dir nicht wehgetan hätte..."
Aus purem Reflex schubste sie ihn zaghaft von der Seite, Empörung in der Stimme: "Nicht bei mir! Du weißt genau, was ich meine, du unmöglich..." Dann erst wurde ihr das eigene Verhalten bewusst und sie verstummte mit hochrotem Kopf.
Er lachte leise.
Ha! Eins zu null für mich! Du hast dein Schuldgefühl vergessen. Alles ist besser, als diese selbstzerstörerischen Zweifel.
Sein wunderschöner kleiner Zauberer verstand allerdings keinen Spaß.
"Wilhelm! Ich dachte, wir wären uns einig gewesen?"
Er grinste ihn vergnügt an, wurde dann aber wieder ernst.
"Entschuldigung! Ja, natürlich. Details, ich verstehe. Sie hatte einen Papierschnitt am Finger. Ich dann auch. Aber bei mir hat die Kreatur daraus sehr viele mehr gemacht, als nur einen. Und auch deutlich tiefere Schneisen geschlagen, als es Papier getan hätte. War sehr überraschend, so auf offener Straße. Und zugegebenermaßen keine Erfahrung, die ich so schnell wiederholen möchte."
Sein nonchalanter Tonfall verfehlte leider vollständig die erhoffte Wirkung. Bei der kompletten Gruppe aller Anwesenden.
Es war einen Versuch wert...
Raistan erhob sich und kam um den kleinen Tisch herum auf ihn zu.
"An deinen Händen also? Darf ich?"
Der Zauberer ging völlig selbstverständlich vor ihm auf ein Knie und forderte mit ausgestreckten Händen die seinen ein.
Wilhelm spürte ein Schaudern, ein wohliges Rieseln, eine heiße Emotionsdusche bei dem Anblick des Magiers, der mit ernstem Gesicht so dicht vor ihm kniete. Nur zögerlich streckte er ihm seine Hände entgegen und so etwas wie Scham durchzuckte ihn.
Seine Hände waren vom Dämon gezeichnet, ihre einstige Makellosigkeit verloren. Und er hatte sich bereits mit dem Gedanken abgefunden, dass er mit dem Dreck der Dämonenmale auf seiner Haut anscheinend auf Dauer existieren müsste, dass sie eben nicht wieder zu heilen schienen, wie es normale Wunden taten. Ausgerechnet vor Raistan, der die unreine Brut erbittert bekämpfte, eine solche Schande vorzeigen zu müssen...
Ihre Hände berührten sich und Wilhelm verstummte, sich nur zu sehr der Blicke um ihn her bewusst. Ebenso, wie der blassen Striemen, die seine Hände über und über bedeckten.
Aber das sind die Male, die mich an meine Verpflichtung erinnern. Ich muss es positiv zu sehen versuchen. Es geht nicht darum, vor Raistan zu bestehen. Es geht darum, Senray vor Schaden zu bewahren. Und anstelle von sinnloser Rachsucht, kann ich diese Linien, für mich, auch umwerten: sie dafür stehen lassen, dass Senray ihr Vorhaben überdacht hat und die Sicherheit des Wachhauses wählt. Es ist also nichts Unreines. Es ist gut so, wie es ist. Ich kann es eh nicht ändern.
Raistans Hände an den seinen, wie sie diese umfassten, drehten und wendeten, fühlten sich kühl an.
Wilhelm sah vorsichtig zu ihm auf, betrachtete das ernste Gesicht des jungen Mannes vor ihm, wie sich auf dessen Zügen Besorgnis abzeichnete. Auf dessen sehr blassem Antlitz! Kurz kam ihm der Gedanke, wie es wohl in diesem Moment um Raistan stünde. Menschliche Haut fühlte sich zu den wenigsten Gelegenheiten kühl an, im Vergleich zu der seinen. Meistens lauerte dann ein Problem dahinter.
Die Stimme des Kommandeurs zu seiner Rechten war plötzlich ganz nahe und schreckte ihn auf. Der Vorgesetzte beugte sich ebenfalls vor, um einen genauen Blick auf den Gegenstand der Untersuchung zu erhaschen. Und er klopfte dem Zauberer jovial auf die Schulter.
"Scheint so, als wenn deine Aufgabe während des Rettungseinsatzes feststünde, Kleiner. Bei der Obergefreiten bleiben und darauf aufpassen, dass sie sich nicht die Fingernägel abbricht."

Der Dämon hätte am liebsten Gift und Galle gespuckt.
Nicht nur saß sie schon wieder an seiner Seite und suchte auf jämmerlichste Weise seinen Beistand, nein! Es war mal wieder Vampir-Wilhelm-packt-aus-Kaffeekränzchen-Zeit! Die Zecke schickte sich an, über seinen letzten Eingriff zu plaudern, als wenn jener nicht viel mehr gewesen wäre, als ein versehentlicher Schnitt mit dem Rasiermesser am frühen Morgen! Lange her, einmal tupfen und gut. Ach, geht schon, war ja nichts!
Natürlich, da wäre mehr drin gewesen. Wenn es denn schon eine Klinge sein musste, mit der er strafte. Selbst hier unterlag er Einschränkungen. Sie schnitt sich, also war ein Schnitt die angemessene Züchtigung. Wenn es nach seinen sehnlichsten Wünschen gegangen wäre, dann wäre deutlich mehr drin gewesen! Wenn er nicht an die verdammten Regeln gekettet wäre, ihn nicht jeder Schritt über den Rand des Gestatteten hinaus, so dermaßen schröpfen würde, dann... Es hätte ihm beispielsweise eine höllische Freude bereitet, den Vampir wirklich auszubluten. Am besten, indem er anstelle der Fingerkuppen gleich auf seine Arme gezielt hätte. Wie schön voll und satt das gute Rote aus dem Kaltblütler geflossen wäre, wenn er statt der winzigen kleinen Schlitze an seinen Extremitäten die großen Adern der Körpermitte der Länge nach geöffnet hätte! Oder die Kniekehlen. Auch immer nett. Und obendrein so amüsant anzuschauen, wenn sie damit zu fliehen versuchten. So viele Möglichkeiten! Stattdessen...
Er hatte sich nicht geirrt in dem Blutsauger: arrogant und überheblich, manipulativ und lernresistent! Er schlich sich in Senrays Herz und lachte seine Macht aus! Als der Vampir ihm noch von Angesicht zu Angesicht gegenüber stand, auf seiner Ebene, da hatte jener gezittert wie Espenlaub und es hätte nicht viel gefehlt gehabt, bis dass die Zecke sich vor Angst in die Hosen gemacht hätte! Aber kaum seinem direkten Wirkkreis entkommen, vergaß dieser jeglichen Respekt, jegliche Dankbarkeit dafür, überhaupt noch unter den Lebenden weilen zu dürfen!
Wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe, direkten Einfluss zu nehmen auf das Geschehen außerhalb! Ich würde meine Fehler beheben und ihn brennen lassen! Ihn auflodern lassen, wie trockenen Reissig im heißen Wüstenwind! Das wäre ein Moment argloser, reiner Freude - und anschließend eine Sorge weniger. Aber es muss ja alles komplizierter sein, als nötig! Verfluchte Beschränkungen!
Er hielt inne.
Sinnlose Gedankenspiele. Ich bin dabei mich zu verrennen. Ich! Diese Ziellosigkeit ist falsch, nichts als eine Vergeudung meiner kostbaren Energie. Ich muss mich konzentrieren, wieder ein klares Bild vor Augen haben. Und das dafür gnadenlos verfolgen. Alles andere war... wertlos. Vergeudung.
Senrays Gefühle und Gedanken umschwirrten ihn und überlagerten sich wie undeutliche Wolkenformationen. Sie schwelgte mal wieder in Selbstmitleid. Und in... Gefühlen für den Vampir!
Seine Wut loderte auf, hell und heiß, wie der konzentrierte Feuerstrahl eines Drachen, mit dem Unterschied, dass es ihm vergönnt war, die Intensität dieser Erfahrung lange Zeit über konstant auf einem wirklich hohen Level zu halten.
Ich finde einen Weg! Und wenn ich warten muss! Oh, Wilhelm Schneider, wir beide, wir haben so viel Zeit, nicht wahr? Und ich brauche nicht mal Energie auf eine Jagd auf dich zu verschwenden! Du bleibst immerhin freiwillig in meiner Nähe, in ihrer Nähe. Wie überaus praktisch für eine heiß servierte Rache! Und glaube mir, dreckige kleine Zecke... ich halte die Augen offen! Du entkommst mir nicht! Ob du es schaffst, deinen Pakt zu erfüllen oder nicht. Ich lass dich nicht mehr ungeschoren davon kommen. Und wer weiß? Vielleicht nimmst du mir die Arbeit ja sogar ab? Die nächsten Wochen könnten dir problemlos den Garaus machen.
Schon viel besser. Er musste sich auf die positiven Dinge konzentrieren, wirklich.
Betrachten wir also die Sonnenseiten, du elendiges Nachtschattengewächs, richtig?

Esther wäre am liebsten aufgestanden und gegangen.
Was für eine unfähige Verlierer-Truppe! Es konnte doch nicht angehen, dass sie – selbstredend nur für ihren Bruder – bei einem solchen Selbstmordkommando mitziehen würde? Wo blieb da ihre Selbstachtung? Wo ihr Überlebensinstinkt? Es war absurd! Jetzt auch noch ein Dämon und ein Vampir, die lustige Spielchen miteinander ausfochten! Man bräuchte sich nur mal vorstellen, was alles schief gehen konnte in den Labyrinthgängen! Und was dementsprechend auch logischerweise schief gehen würde. Denn so lauteten nun mal die ungeschriebenen Naturgesetze: Was schief gehen konnte, tat das gewöhnlich auch, wenn es darauf ankam!
Kaum hatte der Zauberer seine Neugier befriedigt und sich wieder zu seinem Platz begeben, konnte sie nicht länger an sich halten.
"Schön-schön! Könnten wir jetzt vielleicht wieder auf unsere Planungen zurückkommen und konkret werden? Meines Wissens sollte es heute um Strategie gehen? Um das genaue Vorgehen, wenn es soweit ist? Und nicht um Händchenhalten. Es gibt hier Leute, die auch irgendwann mal wieder weiterarbeiten müssen. Es stirbt sich schließlich nicht von allein. Zumindest nicht innerhalb der Regeln. Oder sonderlich profitabel."
Und, als wäre ihr offener Einwurf ein zwar mit gerümpfter Nase zur Kenntnis genommenes aber doch inständig erhofftes Trompetenfanal gewesen, ging es plötzlich ganz schnell voran.
Nach der anfänglichen Feststellung, dass sie als Mob in das Anwesen eindringen und dabei eine Formvorgabe von mindestens drei Personen je Stoßtrupp erfüllen müssten, sowie nach dem Entschluss, sowohl den Zauberer, als auch die Dämonenträgerin aus dem finalen Einsatz herauszuhalten, wurden zwei Gruppenkonstellationen festgelegt. Elendigerweise bestand man darauf, Jules und sie zu trennen. Sie hatte dabei keine Angst um sich selbst. Und sogar ihre Sorge um Jules hielt sich in Grenzen. Sie konnten beide gut auf sich selbst aufpassen. Aber es ging ihr wirklich gegen den Strich, dass man sich hier anmaßte, über sie zu bestimmen, als wenn irgendwer hier Lord Witwenmacher wäre, brütend über die neuen Stundenpläne! Und dann kam noch dazu, dass Rach es sich nicht nehmen ließ, sich demonstrativ ihrer Gruppe anzuschließen. Nichts, aber auch rein gar nichts, hätte deutlicher rufen können: Ich muss auf dich aufpassen, damit dir nichts passiert! Und damit du auch keinen Ärger machst.
Brüderchen, manchmal bin ich deinen Beschützerinstinkt so leid! Lass mich doch endlich mal alleine machen! Ich kann das!
Die Gruppeneinteilung war einfach auch insgesamt irgendwie... mit der Werwölfin würde sie zurechtkommen. Aber der Vampir?
Die andere Gruppe würde neben ihrem Freund auch Mina, die Igorina und Kanndra, die gut durchtrainierte FROG beinhalten. Jules konnte sich wenigstens nicht über eine mangelnde Kondition seiner Leute beschweren. Das würde gerade so durchgehen.
Für sich selbst und die zurück bleibende kleine Wächterin plante der Kommandeur der Wache bereits jetzt ein, sich um passende Alibi für die Zeit des Rettungseinsatzes zu kümmern.
Als wenn es unbemerkt geblieben wäre, was wir hier abziehen. Man kann nur von Glück sagen, wenn entsprechende Beobachtungen und Vermutungen innerhalb des Wachhauses verbleiben. Es ist eben ein geschlossenes System, hervorragend geeignet für jede Art von Gerüchten.
Nach und nach wurden die fließenden Informationen zäher und es zeichnete sich ein Ende der Besprechung ab.
Endlich! Ich halte es keine Sekunde länger auf diesen mörderischen Stühlen aus. Das sind vorsintflutliche Folterinstrumtente! Kein Wunder, wenn hier alle so zerschlagen und unmotiviert wirken, wenn sie den ganzen Tag solche Holzmarter über sich ergehen lassen müssen. Sowas würde in der Gilde zum Feuerholz wandern, aber so was von!
Der Kommandierende atmete tief durch.
"Gibt es sonst noch etwas, was zur Sprache kommen sollte?"
Oh, bitte nicht! Ich will endlich nach H...
Gleich zwei Hände schnellten in die Höhe.
Und die Assassinin rutschte mit deutlich zu hörendem Stöhnen tiefer in die Lehne ihres unbequemen Sitzmöbels zurück.

Rach fühlte sich unendlich erschöpft. Diese Besprechung schien mit einem Tiefpunkt nach dem anderen aufzuwarten und er konnte Esthers ungeduldige Reaktionen gut nachempfinden. Auch wenn er der Ansicht war, dass sie es wieder einmal übertrieb und sich zu sehr gehen ließ. Trotzdem! Auch er wünschte sich kaum mehr, als dass er sich von der Szenerie entfernen dürfte. Erst Kanndras niederschmetterndes Fazit zu den Einstiegsmöglichkeiten über die Kanalisation. Inklusive der befürchteten Bestätigung eines vermutlich ausgedehnten Fallensystems.
Dann die Erörterung rund um die Feststellung, dass es ihnen wohl kaum möglich sein könnte, das Labyrinth unbemerkt zu infiltrieren.
Wenn er doch nur alleine etwas hätte ausrichten können! Vielleicht hätte es dann sehr wohl eine Möglichkeit gegeben, unbemerkt bis zu Ophelia zu kommen? Aber dieser Wunsch war natürlich illusorisch. So viele Fallstricke, so viele Zufallsfaktoren. Und selbst dann, wenn er bis zu ihr käme. Was dann? Nein, es war unmöglich. Er musste die Zusammenarbeit suchen, seien die Begleitumstände auch noch so unangenehm.
Und jetzt der Zwischenfall um Wilhelm Schneider! Der Kerl zog so viele Probleme an sich, dass es unschön war. Und er konnte ihn einfach nicht ausstehen, nahm ihm die Übergriffigkeiten auf Ophelia noch immer übel. Das machte es nicht besser.
Er sah müde zu Mina, als diese sich auf Breguyars Frage hin gemeldet hatte. Ihr zuliebe würde er sich wohl noch mal zusammenreißen können und andächtig lauschen. Oder zumindest so zu wirken versuchen.
"...kam mir der Gedanke, dass die Obergefreite einen nicht unwichtigen Anteil an den Vorbereitungen damit übernehmen könnte, dass sie sich um die Bereitstellung der Materialien kümmern könnte, die für unseren Auftritt als Mob im entscheidenden Moment benötigt würden. Fackeln, Mistgabeln... solche Dinge. Wäre das wohl in deinem Interesse?"
Mina sah fragend zu Senray Rattenfänger.
Welche plötzlich aufzublühen schien, als wenn ihr jemand neues Leben eingehaucht hätte. Sie setzte sich mit einem Ruck aufrecht, die Schultern gespannt, der Blick hellwach, begleitet von einem eifrigen Nicken.
"Gerne, Ma' am! Sehr, also... na ja... gerne eben. Ich werde mir allergrößte Mühe geben, jeden mit dem, uhm... Nötigsten zu versorgen."
Das ist wirklich aufmerksam von ihr. Bewundernswert, wie Mina den Überblick bewahrt. Das wird Senray Rattenfänger mehr in die Gruppe einbinden, sie in diesem Zusammenhang mehr auslasten. Was effektiv Einzelgängeraktionen vorbeugt. Sehr geschickt.
Die Vampirin, mit der ihn nach diesem Jahr der größtenteils gemeinsamen Suche eine stabile Verständnisbasis verband, sah direkt zu ihm hinüber, als sie fortfuhr.
"Bei der Gelegenheit möchte ich noch kurz anmerken, was der Grund für mein verspätetes Erscheinen zu Beginn dieser Sitzung war. Vor einiger Zeit erreichte mich eine Einladung seitens Ophelias Schwester, Dschosefien Kasta, zu einem klärenden Gespräch unter vier Augen. Ich habe diese angenommen. Heute Vormittag. Und es stellte sich dabei heraus, dass sie nicht nur einige eher persönliche Vorkommnisse zu klären wünschte, sondern dass sie auch im Begriff stand, einen Gedenkgottesdienst für Ophelia abzuhalten, zu dem sie viele ihrer Freunde und auch uns, ihre Kollegen, einzuladen gewillt war."
Rach fühlte sich bei diesen Worten so elend, als wenn ihm jemand ein Messer in den Leib gerammt hätte und im Begriff stand, dieses genüsslich in seinen Eingeweiden zu drehen. Er schloss mit einem lautlosen Ächzen die Augen und wollte sie am liebsten nie wieder öffnen.
Ein Gedenkgottesdienst! Sie... ist nicht tot. Sie lebt. Ich weiß, dass sie lebt. Ich bilde mir das nicht nur ein...
"Rach?"
Er öffnete die Augen nur mühsam und sah wieder zu ihr hin, wortlos.
"Ich habe es ihr gesagt."
Seine Gedanken flossen nur zäh, doch irgendwann erreichte ihn die Information. Er lehnte sich schwer mit den Ellenbogen auf die Knie vor. Er lächelte schwerfällig.
"Und du bist dir sicher, dass das eine gute Idee war?"
Mina legte leicht den Kopf schief und fast war es, als wenn sie nur mit ihm reden würde.
"Wie war das? Frag mich nicht, ob es die richtige Entscheidung war? Aber ich habe es nicht über mich gebracht. Sie war drauf und dran, für Ophelia einen Grabstein auszusuchen."
Er brach den Blickkontakt, sah zu Boden, als das Messer in seiner Brust einen unbarmherzigen Ruck in Richtung des Magens machte.
Mina sprach einfach weiter.
"Sie weiß nichts Genaues. Nur, dass sie die Pläne zu einer Gedenkfeier noch etwas hinziehen und sich dabei unauffällig verhalten soll. Aber sie wird nun täglich auf gute Nachrichten warten. Oder eben auch schlechte. Ich weiß wirklich nicht, ob das besser ist, als... aber..."
Der Kommandeur meldete sich mit scharfer Stimme zu Wort.
"Sie wird dichthalten?"
Mina atmete tief ein und straffte ihre Schultern.
"Ja, Sör! Sie ist es gewohnt, eine gesellschaftlich akzeptierte Fassade aufrecht zu erhalten. Und sie hat verstanden, dass alles, was die Aufmerksamkeit unbekannter Beobachter auf den Umstand lenken könnte, dass wir in dieser Richtung aktiver sind, als wir es deren Meinung nach sein sollten, in mehr als nur einer Hinsicht gefährlich wäre. Sie wird schweigen!"
Das Gespräch wanderte von ihm fort. Was Rach nur recht war.
Er vermisste sie so schmerzlich! Jeden Tag, jede einzelne Stunde! Sie in solcher Gefahr zu wissen, ohne eingreifen zu dürfen. Nur die Füße stillzuhalten.
Er rieb sich müde mit den Händen übers Gesicht, ehe er sie wieder über die Knie abgestützt hängen ließ und in Gedanken versunken vor sich hinstarrte.
Wenn er doch nur zu ihr könnte, so wie Rogi es gekonnt hatte! Einen Blick auf sie erhaschen, ihre Hand halten, sie berühren, sie trösten, mit ihr sprechen... ihr ein ums andere Mal versprechen, dass sie auf dem Weg waren!
Nicht mehr lange, Ophelia! Nicht mehr lange! Halte durch!
Raistan, der sich eben als zweiter zu Wort gemeldet hatte, setzte gerade zum anscheinend letzten Punkt auf der heutigen Agenda an.
"Ich denke, es gibt eine Möglichkeit, auf magischem Wege einen Blick auf Ophelia Ziegenberger und Magane Schneyderin zu werfen."
Die Worte verwirrten ihn so sehr...
Der Magier fuhr zögerlich, mit leicht unsicherem Blick in die Runde, fort.
"Es wäre dem Pendeln nicht unähnlich, quasi artverwandt. Ein Blick durch die Kristallkugel, um sich ein Bild des aktuellen Aufenthaltsortes übermitteln zu lassen. Natürlich wissen wir bereits, dass sie sich irgendwo in dem bekannten Areal unterirdisch aufhalten müssen. Aber, auch wenn es nur um die Übermittlung eines rein optischen Eindrucks ginge... wir könnten eventuell Details erkennen, die nähere Rückschlüsse auf die Verortung zulassen. Zumindest rein theoretisch."
Ein Bild... von Ophelia... sie sehen...
Ihm fehlte es fast an der nötigen Kraft, zu atmen, seine Stimme war nicht mehr, als ein Flüstern.
"Was brauchst du dafür?"

13.06.2017 0: 45

Mina von Nachtschatten

Mit einem Ächzen ließ sich Rabbe auf den Kantinenstuhl fallen und zog ihren Kaffeebecher heran. Eine kurze Pause, bevor die eifrige Betriebsamkeit ihres Tschobs sie wieder voll und ganz in Anspruch nehmen würde. Nur fünf Minuten, maximal zehn. Mehr war heute einfach nicht drin.
Sie nippte an dem heißen Getränk, ignorierte den seltsamen Nachgeschmack, welcher ein deutliches Indiz dafür war, dass der Kaffeedämon einen schlechten Tag hatte, und ließ den Blick schweifen. Es war wenig los an diesem Nachmittag: Ein Stück weiter hinten im Raum saß der Kollege Schneidgut an einem Tisch, umgeben von losen Blättern und schrieb emsig irgendetwas auf, für das Rabbe wahrscheinlich selbst dann kein Interesse heucheln könnten, wenn sie es darauf angelegen würde. Irgendwelcher Rechtsverdreherquatsch vermutlich. Ihr direkt gegenüber schickten sich die SUSen Gilgory und Pochtli an, die Kantine zu verlassen, munter über irgendwelche Chemikalien plaudernd, welche unverwechselbare Verätzungen an einem Mordopfer verursacht hatten. Rabbe verzog angewidert das Gesicht. Sie war gewiss nicht zimperlich, aber während ihrer Abordnung zur Abteilung Suchen und Sichern hatte sie so manches unschöne Beispiel dafür zu Gesicht bekommen, was Menschen - und Vertreter anderer Spezies - in der Lage waren einander anzutun. Entsprechend gewannen die Beschreibungen der beiden Wächter in ihrer Vorstellung etwas zu sehr an Lebendigkeit. Rasch wandte sie ihre Aufmerksamkeit anderen Dingen zu - oder hätte dies getan, wäre die Auswahl nicht äußerst begrenzt gewesen. Neben dem immer noch hochkonzentrierten Jargon, der ihre Anwesenheit wahrscheinlich noch gar nicht wahrgenommen hatte, blieb da eigentlich nur noch Mamsell Piepenstengel, welche lautstark in ihrer Küche hantierte. Was diese Option zu einer rein akustischen machte. Weder erstrebens- noch bemerkenswert. Nun, da konnte sie eigentlich auch gleich in ihr Büro zurückkehren, oder? Und lieber dort noch für einige Augenblicke die Füße auf den Tisch legen.
Rabbe war schon drauf und dran, diesen Plan in die Tat umzusetzen, als einige von denen auftauchten. Der Chief-Korporal hielt inne. Es war beinahe so etwas wie ein seltsames kleines Ritual, dessen Zeuge sie bereits gelegentlich geworden war, auch wenn die konkreten Abfolgen und Protagonisten jeweils leicht differierten. Diesmal war es Rach Flanellfuß, welcher sich als erster zeigte. Interessant. Und aufschlussreich: Wenn der Inspektor schon hier war, dann konnte sich der Rest auch bereits unbeobachtet verteilt haben und die große Vorstellung fiel für heute aus. Denn manchmal, wenn sie sich im Haus getroffen hatten, dann quollen sie gerade in dem Moment aus irgendeinem Büro oder Aufenthaltsraum, in dem man sich selbst zufällig auf dem Gang aufhielt. Ein anderes Mal kehrten sie von irgendwo außerhalb ins Wachhaus zurück, gelegentlich sogar in zivil, wenngleich nie als geschlossene Gruppe. Zettel an Türen, die Zimmer reservierten. Das plötzliche Verschwinden der immer gleichen Kollegen. Gerüchte um sonderbare Passierscheine für ganz bestimmte Personen. Einmal sogar die Reste von Mobiliar, welches einer wie auch immer geartete Belastungsprobe offensichtlich nicht stand gehalten hatte. Gemunkel, Geraune... Ja, es gab einiges, was auf die Aktivitäten des ominösen "Ziegenberger-Rettungszirkels" schließen ließ sowie darauf, dass eben diese in letzter Zeit mächtig an Fahrt aufgenommen hatten. Rabbe war sich nicht ganz sicher, was sie davon hielt. Auf der einen Seite, natürlich, jedes Opfer verdiente irgendwie Gerechtigkeit und jedes Verbrechen gehörte gesühnt. Das war schließlich die Aufgabe, der sie sich alle verschrieben hatten, auch wenn die persönlichen Herangehensweisen mitunter sehr voneinander abwichen... Aber auf der anderen Seite... es ging hier schließlich um Ophelia Ziegenberger. Ausgerechnet um die Kollegin, welche für massive interne Probleme verantwortlich gewesen war, wurde nun dieser Wirbel veranstaltet. Die Frau hatte Informationen nach außen weitergegeben, ob nun absichtlich oder nicht spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle. Sie war zuletzt nichts anderes als ein Sicherheitsrisiko gewesen und dass einige Leute im Lichte dessen ein derartiges Aufhebens um sie als Person gemacht hatten... nun, vor einiger Zeit noch hätte Rabbe das absolut nicht nachvollziehen können. Doch mittlerweile glaubte sie, so seltsam das auch sein mochte, zumindest Rach im Ansatz zu verstehen. Natürlich nahm sich der Kerl im Allgemeinen viel zu wichtig und wirklich mögen würde sie ihn nie. Aber... es war schon hart, was er durchmachte. Auf persönlicher Ebene, da konnte man in diesem Fall wohl keine professionelle Distanz erwarten. Dennoch, ob er sich schon einmal Gedanken darüber gemacht hatte wie es weitergehen sollte, wenn Ophelia tatsächlich wieder auftauchte? Was dann zu geschehen hatte? Würde alles von vorn losgehen, das gleiche alte Dilemma? Vielleicht noch schlimmer, als beim letzten Mal? Und was, wenn sie sich am Ende doch als die Verräterin herausstellte, für die Rabbe sie schon einmal gehalten hatte? Die Wächterin wiegte bedächtig den Kopf hin und her und beobachtete, wie der Inspektor nun an den Kaffeedämon herantrat und sich mit einer frisch gefüllten Tasse des heutigen Gesöffs versorgte. Die Angelegenheit würde wohl noch eine Weile interessant bleiben. Und auch wenn Rabbe selbst sich keinesfalls einzumischen gedachte - informiert zu sein konnte ja nicht schaden. Selbst in der Rolle eines unbeteiligten Beobachters würde man rasch bemerken, sollte sich irgendetwas getan haben. Nahm man beispielsweise Rach hier, mit seinem gehetzten angespannten Blick: Der war stets ein zuverlässiger Stimmungsmesser, wie es im Rettungszirkel stand. Und sollte die Sache einen ungünstigen Ausgang nehmen, dann würde ein Blick in sein Gesicht wohl genügen, um umgehend im Bilde zu sein.
Eine Bewegung an der Tür zur Kantine erregte ihre Aufmerksamkeit und sie erhaschte gerade noch einen Blick auf die vorbeieilende von Nachtschatten. Auch so ein Fall, steckte ganz tief mit drin. Aber allen Anschein nach lief die Abteilung RUM nach wie vor; die Stellvertretende ließ sich also zumindest nicht soweit von all dem vereinnahmen, als dass sie ihre Pflichten vernachlässigt hätte. Und was andere Wächter mit ihrer Freizeit anstellten, das war Rabbe herzlich gleichgültig. Zumal an der RUM-Vampirin auch weit weniger Hinweise auf aktuelle Geschehnisse abzulesen waren, als an manch anderem. Meist nachdenklich konzentriert blieb es reine Spekulation, wie es in ihrem Innern aussah...
Dem Chief-Korporal auf dem Fuße folgten die Gefreite Maior und dieser dünne Kerl, mit dem man sie in letzter Zeit ständig sah. Rabbe hatte gehört, dass es sich dabei um einen Zauberer handelte, der angeblich auch mit dem Chef ganz dicke war. Vielleicht eine Erklärung dafür, wie er als Zivilist es geschafft hatte, sich in die Ermittlungsgruppe zu drängen. Obwohl... soweit sie sich erinnern konnte, war Breguyar auch nicht gerade ein bekennender Freund der Ziegenberger...
Nach den beiden - kam niemand mehr. Hmm. Rabbe spürte einen kurzen Anflug von Enttäuschung. Das andere interessante Duo war nicht aufgetaucht, die Veränderung in der Gruppenkonstellation, welche sie tatsächlich überrascht hatte. Wilhelm und die kleine DOG. Merkwürdige Dinge passierten im Dunstkreis dieser Ermittlung...
Ein eigenwilliges Geräusch unterbrach ihren Gedankengang - eine Art gequältes Husten, welches eindeutig von Rach ausging. Der Inspektor starrte entgeistert in seine immer noch fast volle Tasse, bevor er diese entschlossen auf dem Tablett mit dem schmutzigen Geschirr abstellte. Ein hämisches Grinsen machte sich auf Rabbes Gesicht breit. Der Herr war wohl anspruchsvoll, wie? Mittlerweile sollte er doch eigentlich begriffen haben, dass man hier keinen hochklassigen Kaffee erwarten konnte. Obwohl der heutige zugegeben einen der letzten Plätze auf der Geschmacksskala belegte. Aber schon allein für diesen Gesichtsausdruck hatte es sich gelohnt, doch noch einen Moment in der Kantine zu verweilen.
"Chief-Korporal Schraubenndrehr", erklang da eine Stimme schräg hinter ihr und Rabbe musste sich beherrschen, um nicht entnervt aufzustöhnen. Das, was nun unweigerlich folgen würde, machte der Gesichtsausdruck des Inspektors nun ganz und gar nicht mehr wett. Der hatte ihr gerade noch gefehlt.
"Sör", meinte sie stoisch, ohne den Kopf zu drehen.
Doch das war auch gar nicht nötig, denn Sebulon trat nun neben sie und drängte sich damit ganz von selbst in ihr Sichtfeld. Der Zwerg wippte nachdenklich auf seinen Zehenspitzen.
"Was hältst du davon?" Er nickte in Richtung des sich nunmehr rasch entfernenden Rach.
"Keine Ahnung, Sör." Rabbe zuckte mit den Schultern. "Habe genug mit meinen eigenen Aufgaben zu tun."
"Ich frage mich, was sie wollen", fuhr der Stammagent ungerührt fort. "Ob sie auf Gerechtigkeit aus sind. Oder auf Rache."
Rabbe hob skeptisch eine Augenbraue. Was sollte das denn werden? Weisheiten eines Verräterzwergs? Die Anwendung einer neuen Verhörmethode auf Kollegen? Er konnte doch nicht ernsthaft erwarten, dass sie ihm hier einen genaue Analyse ihrer bisherigen Beobachtungen oder auch nur das Fitzelchen irgendeiner Information liefern würde! Denn Gefallen würde sie ihm ganz gewiss nicht tun - wenn er den Rettungszirkel wegen irgendetwas auf dem Kieker hatte, dann sollte er seine Arbeit schön selber machen.
"Dir ist ja sicherlich bewusst, dass Rache die kurzsichtigere, die dumme Variante ist. Die, welche ernste Konsequenzen nach sich zieht. Gerechtigkeit hingegen ist der gangbare Weg, der, den jeder Wächter wählen sollte. Vielleicht wäre es angebracht, sie daran zu erinnern."
"Ich würde trotzdem beides verstehen", schoss es Rabbe durch den Kopf. Zumal Rache eine verdammt befriedigende Angelegenheit sein konnte. Hitzköpfig vielleicht, unüberlegt manchmal - aber auf jeden Fall besser für den eigenen Seelenfrieden, als ein weiteres Mal dabei zusehen zu müssen, wie ein Schuldiger glimpflich davonkam, weil er ein Schlupfloch im System gefunden hatte. Eines, das im Namen einer Gerechtigkeit nicht gestopft werden konnte. Allerdings war es wirklich keine uninteressante Frage, wenn man einmal genauer darüber nachdachte. Was wollte der Rettungszirkel? Was wollte Rach? Und was, wenn er das eine oder andere nicht bekommen konnte - oder eher: Wenn es ihm freistehen sollte, sich für eine Variante zu entscheiden. Nun, das hing wohl in nicht unerheblichem Maß vom Zustand der Ziegenberger ab - falls sie sie fanden. Ein großes "falls", in Rabbes Augen und ohne den Kollegen komplette Unfähigkeit unterstellen zu wollen: Wie wahrscheinlich war es, nach über einem Jahr in einem Vermisstenfall noch einen Erfolg zu erzielen? Sie hatten sich in die Sache verrannt und wenn auch nur die Hälfte der Geschichten, die im Wachhaus kursierten, wahr waren, dann handelte es sich im Fall einiger der Beteiligten um eine ziemlich heftige Obsession. Aus sowas stieg es sich nicht allzu leicht wieder aus... Rabbe kratze sich an der Nase. Wie auch immer, im Grunde waren das alles mehr oder weniger Mutmaßungen! Für sichere Informationen hätte man konkret fragen oder, noch schlimmer, sich einbringen, sich anstecken lassen müssen. Nein, danke! Aber sollte der Verräterzwerg auch nur ein Eckchen dieser Geschichte zu packen bekommen, welches sich als halbwegs beweisbar erwies, einen Faden, der nicht gleich abriss - dann würde er wahrscheinlich lange Zeit damit beschäftigt sein, das Geweben fröhlich aufzudröseln und bestimmte Leute konnten zusätzlich zu dem selbstgewählten Wahnsinn noch eine ganze Menge anderer Probleme bekommen. Was wohl geschah, wenn die Interessen derart zu kollidieren begannen? Wenn der Agent, für den es nur schwarz und weiß gab, begann sich einzumischen? Versuchte, sie aufzuhalten? Für einen kurzen Augenblick erlaubte sich Rabbe, diesen Gedanken weiterzuspinnen, dann schüttelte sie leicht den Kopf. Schon in der groben Theorie wurde daraus ein unschönes Szenario. Nein, dass war keinem Kollegen zu wünschen.
"Du denkst nicht, dass sie einer Erinnerung bedürfen?"
Musste der denn alles auf sich beziehen? Wenn er so weiter machte, dann würde sie mit einem gehässigen Kommentar nicht mehr lange an sich halten können. Es wurde höchste Zeit, den Zwerg abzuwimmeln.
"Mit Verlaub Sör, aber ich glaube der bessere Gesprächspartner für derartige theoretische Erörterungen sitzt da hinten", startete Rabbe einen entsprechenden Versuch und wies mit dem Daumen grob in die Richtung, in welcher sich Jargon noch immer über seiner Arbeit befinden musste.
"Theoretische Erörterungen..." Der Zwerg nickte langsam. "Sind sie das für dich?"
Sie hatte keine Lust auf den Mist! Natürlich konnte sie den Zwerg einfach stehen lassen, aber dann hätte sie ihn spätestens morgen erneut am Hals, diese elende IA-Klette! Konnte der nicht einfach gehen und jemand anderen langweilen? Oder machte es Sebulon etwa Spaß, der in solchen Belangen wahrscheinlich unkooperativsten Wächterin der Stadt auf die Nerven zu gehen? Am Ende noch, um ihr genau dieses Verhalten im passenden Moment unter die Nase reiben zu können? Dem Kerl war schließlich alles zuzutrauen! Rabbe überlegte. So gesehen wäre es das taktisch wahrscheinlich klügste Verhalten, einfach dummes Pulver zu nehmen...
"Keine Ahnung", erwiderte der Chief-Korporal also. "Aber woher soll ich auch wissen, wem der Palastschnüffler gerade auf den Fersen ist? Oder ob er was ganz anderes macht? Was interessieren mich denn Rach Flanellfuß' Geschäfte?"
"Nichts nehme ich an." Nun war es an Sebulon, mit den Schultern zu zucken. "Aber es hätte ja sein können, dass dir etwas aufgefallen ist, was du gern loswerden würdest."
Oha, das war doch mal unverhohlen! Und dann noch in diesem vertraulichen Tonfall. Sie musste weder etwas gutmachen, noch schuldete sie ihm einen Gefallen! Wenn er angenommen hatte, er könne sich ihren früheren Hass auf Flanellfuß und ihr Misstrauen gegenüber der Ziegenberger in irgendeiner Weise zu Nutze machen, dann hatte er sich gründlich verrechnet.
Sie schluckte den sich zunehmend stärker bemerkbar machenden Ärger hinunter. Immer schön ruhig bleiben, nur nicht unnötig provozieren - weniger Worte waren hier mehr.
"Nein, Sör, nichts, Sör", antwortete sie.
"Hmm."
Er schien zu begreifen, dass er auf diesem Weg nicht weiterkam.
"Du hast nicht zufällig Leutnant Mambosamba gesehen, oder Chief-Korporal?", versuchte er es mit einer neuen Taktik. Sicher, sich nach dem Verbleib einer Kollegin zu erkundigen war in diesem Zusammenhang ja auch viel unverdächtiger. Für wie dämlich hielt er sie eigentlich?
"Nein, Sör."
"Wie steht es mit Rogi Feinstich?"
"Nein."
"Die Gefreite Maior?"
"Keine Ahnung, wo die ist."
"Den Kommandeur?"
Rabbe wandte den Kopf und sah Sebulon nun zum ersten Mal direkt an.
"Sör, wenn ich es nicht besser wüsste müsste ich annehmen, dir sei die halbe Wache abhanden gekommen", meinte sie trocken. "Und das ist ja nun wirklich unwahrscheinlich."
Sie sah die Unzufriedenheit in seinen Augen. So langsam musste doch der Groschen fallen, dass er bei ihr mit jedweder Frage in diesem Zusammenhang auf Granit beißen würde.
"Außerdem ist es nicht mein Tschob, Kollegen zu beobachten. Das machen andere", setzte sie noch einen drauf. Das mochte nun doch ein Schritt zu viel gewesen sein oder eben auch nicht - zumindest ließ sich der Stammagent nichts anmerken. Und wenn schon, sei's drum. Ihre Geduld war erschöpft.
Rabbe schob ihren Stuhl zurück und erhob sich.
"War das dann alles, Sör?", fragte sie der Form halber.
Der Stammagent verschränkte die Arme hinter dem Rücken und wiegte nachdenklich den Kopf.
"Nun, es hat den Anschein", erwiderte er schließlich.
Endlich. Rabbe machte sich nicht die Mühe zu salutieren und verließ festen Schrittes die Kantine. Als sie sich der Treppe zuwandte bemerkte sie aus dem Augenwinkel eine sehr kleine Gestalt in Uniform, welche an ihr vorbei und in die Richtung flitzte, aus der sie gerade gekommen war. Der Wächter blieb vor Sebulon stehen und reichte etwas nach oben.
"Verräterbande", murmelte der Chief-Korporal leise vor sich hin. Ob sie am Ende beide am Rettungszirkel dran waren? Und war sich dieser des deutlichen Interesses seitens IA eigentlich bewusst?
"Lasst euch ja bei nichts erwischen", dachte Rabbe grimmig, während sie sich daran machte, die Stufen hinaufzusteigen und die Kollegen der Abteilung für interne Ermittlungen so aus dem Sichtfeld gerieten. "Den Triumph gönn ich dem Zwerg einfach nicht!"

18.06.2017 17: 46

Magane

Langweilige Buchhaltung. Ein Bestandteil seiner Aufgaben, auf den er gut hätte verzichten können. Andererseits behielt er so die Kontrolle. Und auf Kontrolle kam es schließlich an. Wenn es nur nicht so langweilig wäre, den Haushalt über die Rechnungsbücher zu beherrschen!
Er addierte die Ausgaben der vergangenen Tage und rechnete sie mit den Einnahmen auf.
Die Arbeit mit den Zahlen war so trocken... so blutleer. Dabei liebte er doch die Arbeit mit lebendigen Menschen, die Macht die er über sie hatte. Diese Art der Kontrolle war es, die er wirklich wollte. Trotz der immensen Ausgaben wuchs Raculs Vermögen stetig und das war allein sein Verdienst.
Er übertrug die Zahl aus der letzten Zeile der vorherigen Seite in die erste Zeile der aktuellen Seite und lehnte sich zurück.
Zeit für eine kleine Belohnung!
Sebastian richtete seine Aufmerksamkeit auf den Traum, in den er, unmittelbar nachdem sie wieder eingeschlafen war, eingebrochen war und dem er seitdem im Hintergrund lauschte. Die Musik war wirklich schön. Es waren die gleichen Stücke, die sie auch gestern aus der Erinnerung geholt hatte. Er mochte diesen Traum und sie hatte ihn beinahe so häufig, wie sie von Alpträumen heimgesucht wurde. Die zugegebenermaßen teilweise auf sein Konto gingen. So hatte sie am Nachmittag, als sie sich nicht länger gegen den Schlaf wehren konnte, geträumt, dass sie vor ihm weglief, er sie immer wieder einfing und dann für die Flucht bestrafte. Die Strafen waren immer grausamer geworden. Wie kam sie nur auf sowas? Dabei war er doch wirklich nett zu ihr gewesen, hatte sie den ganzen Tag zu nichts gezwungen und auch in keiner Weise bedroht. Selbst mit dem Biss hatte er gewartet bis sie schlief. Obwohl das gänzlich dem eigentlichen Zweck des täglichen Beißens widersprach!
In diesem Traum tanzte sie mit einem großen, dunkel gekleideten Mann mit schwarzen Locken und sehr dunklen Augen, den er zwar nicht kannte, der ihm aber seltsam bekannt vorkam. Sie sah wunderschön aus in dem bordeauxfarbenem Ballkleid, obwohl er ja fand, dass rot nicht ihre Farbe war. Er hätte für sie immer blau ausgesucht, dunkles blau. Das passte so viel besser zu ihren Augen. Ob es ihr auffiel, wenn er die Farbe ihres Kleides in ihrem Traum änderte? Bestimmt nicht, sie träumte diesen Tanz in einem recht dunklen Raum mit nur wenigen Spiegeln. Das Problem bei Traummanipulation war, dass man die enthaltenen Erinnerungen änderte, während ihr Besitzer auf sie zugriff. Deswegen musste man äußerst behutsam vorgehen, wenn man nicht bemerkt werden wollte.
Vorsichtig griff er in den Traum ein und färbte das Kleid und die Handschuhe von bordeaux zu nachtblau um und betrachtete sein Werk. Viel besser! Aber der fremde Kerl störte ihn irgendwie doch. Er nahm seine Stelle ein, ohne dabei das Äußere der erinnerten Person zu ändern. So musste er den Anderen wenigstens nicht mehr sehen. Dafür sah er jetzt, dass dieses Kleid für seinen Geschmack eine Spur zu bieder war. Kaum hatte er den Wunsch gedacht, war der Ausschnitt auch schon deutlich tiefer. Zum Anbeißen... Aber vorerst schaute er nur aus dieser neuen Perspektive zu, wie der ansonsten nicht so spannende Tanztraum weiter ging. So viel Aufmerksamkeit hatte er diesem speziellen Traum bisher noch nie geschenkt. Sie träumte ihn häufig aber bisher hatte er hauptsächlich die Musik wahrgenommen, die zumindest in ihrer Erinnerung sehr angenehm und auch recht nah an seinem Geschmack war. Aber jetzt konnte er sich ruhig auch das Bild gönnen. Welches allerdings wenig abwechslungsreich war. Auch wenn es aus der Perspektive des Fremden betrachtet eins der angenehmeren langweiligen Bilder war.
Irgendwann endete die Musik. Normalerweise war Sebastian spätestens an dieser Stelle aus dem Traum ausgestiegen. Aber heute nicht. Diesmal wollte er weiter zusehen.
Die Beiden tanzten noch immer, als hätten sie nicht bemerkt, dass die Musiker zu spielen aufgehört hatten. Nach einigen Augenblicken begann er mit der rechten Hand die Haarnadeln, eine nach der anderen, aus ihrer kunstvollen Hochsteckfrisur zu ziehen.
"Wedallat rosek kaargaman", sagte er mit einer leisen tiefen Stimme, "melek asur barehatim."
Sebastian war nicht in der Lage zu verstehen, was der Fremde sagte. Die Sprache war ihm nicht nur fremd, sie hatte auch keinerlei Ähnlichkeit zu Sprachen die er kannte. Er ärgerte sich darüber, dass die Hexe die Frechheit besaß, nicht auf morporkianisch zu träumen, wurde dann aber von ihrer Reaktion gebannt. Sie errötete! Diese köstliche Reaktion lebender Frauen hatte er schon sehr lange nicht mehr aus der Nähe gesehen und der Hexe, mit ihrer abgeklärten Kämpfernatur, hatte er sowas schon gar nicht zugetraut. Das Erröten stand ihr ausgesprochen gut, ließ sie jünger, frischer und lebendiger wirken...
Der Vampir bedauerte nun zutiefst, dass er nicht wusste, was der Andere gesagt hatte, sonst hätte er vielleicht diese Reaktion noch einmal provozieren können, im wachen Zustand, so dass er das Rauschen des Blutes und den Herzschlag dabei hören konnte.
Als die letzte Haarnadel gelöst war, fiel ihr das lange schwarze Haar als entfesselte Lockenflut auf die Schultern und verdeckte nun zumindest teilweise den Ausblick, den er zuvor genossen hatte. Der Andere strich ihr durch das aufgelöste Haar und drehte eine dünne Strähne mit dem Zeigefinger ein. Das war eine Geste, die er durchaus kopieren konnte. Das funktionierte mit dem glatten, nicht aufgedrehten Haar sicherlich genauso gut.
Mag lächelte ihr Gegenüber verliebt an und sagte leise: "Ani ledowdi, wealay tesuqatow." [17]
Noch während Sebastian sich fragte, ob er grade seine erste Kostprobe Omnianisch gehört hatte, beendeten die beiden ihren Tanz und verließen etwas zögerlich den Saal. Sie gingen eine endlos wirkende Treppe hinauf. Oben angekommen gingen sie durch einen ebenfalls langen Gang und blieben schließlich vor einer der hinteren Türen stehen. Er schloss auf, öffnete die Tür, drehte sich und hob Magane hoch, um sie über die Schwelle zu tragen, alles in einer einzigen fließenden und für einen Menschen recht schnellen Bewegung. Jedenfalls zu schnell, als dass sie hätte protestieren können. Im Innern der Wohnung setzte er sie wieder ab und trat ein paar Schritte zurück, offensichtlich in Erwartung ihres Zorns. Es folgte aber kein Wutausbruch, im Gegenteil! Sie lachte und zog die Schuhe aus. Er stimmte in das Lachen mit ein, trat wieder hinter sie und begann ihr Kleid aufzuschnüren.
Er sah noch eine Weile weiter zu, die Buchhaltung würde ihm nicht weglaufen.

19.06.2017 0: 02

Nyria Maior

Eine angemessene Menge Schraubgläser zusammen zu bekommen war der einfache Teil des Plans gewesen. Ein weitaus größeres Problem hatte darin bestanden, ungesehen ins FROG-Labor zu schleichen und sich die entsprechenden Proben abzufüllen, aber am Ende hatte sich Bregs dazu überreden lassen, Tyros mit einem Auftrag ans andere Ende der Stadt zu schicken. Dies hatte Nyria genug Zeit gegeben, sich zu bedienen. Nun standen die Proben diverser gefährlicher und giftiger Substanzen sorgfältig aufgereiht und beschriftet auf dem Boden von Nyrias Dachkammer, bereit für das Spezialtraining.
Seufzend betrachtete die Gefreite ihr Werk. Kein Werwolf den sie kannte zog sich freiwillig die Gerüche von ephebianischem Brandöl oder Lähmungsgift rein und auch sie selbst hätte lieber auf diese Erfahrungen verzichtet. Aber es half alles nichts. Wenn das unterirdische Verließ wirklich so mit Fallen gespickt war wie Feldwebel Feinstich vermutete, tat sie besser daran, mit ihrer Nase alchimistische Fallen frühzeitig zu erkennen. Auch wenn das hieß, dass sie den Einsatz auf vier Pfoten bestreiten musste, eine Aussicht die ihr nicht sonderlich gefiel.
Nyria griff nach dem ersten Glas. Pulver Nummer Eins. Sie hatte es nur der Vollständigkeit halber und zu Vergleichszwecken mit in ihre Sammlung aufgenommen. Der stechende Geruch nach Schwefel, Salpeter und Kohlenstaub war unverkennbar und sogar durch den geschlossenen Deckel schwach wahrzunehmen. Nachdenklich drehte sie das Glas in ihren Händen und beobachtete, wie das dunkle Pulver in seinem Gefäß herumrieselte. Sich die Gerüche einzuprägen war lediglich der erste Schritt. Wenn sie glaubte, so weit zu sein, würde sie sich die Augen verbinden und Raistan würde ihr die Gläser als Blindproben unter die Nase halten. Außerdem sollte sie sich dringend noch einmal mit Esther unterhalten. Auch wenn die Assassinin eine hochnäsige Ziege war, sie konnte vielleicht Duftproben von Fallengiften beschaffen die nicht zum Standardarsenal der Wache gehörten. Wenn sie denn bereit war, die Substanzen rauszurücken und sich nicht mit einem Assassinen-Berufsgeheimnis entschuldigte.
Und dann gab es, während sie in ihrer Wolfsform unterwegs war, noch das Problem mit der allgemeinen Kommunikation. Wenn sie etwas Gefährliches witterte, wie sollte sie den anderen mitteilen, um welche Substanz es sich genau handelte? Zwar hatte sie mit Raistan mittlerweile ein ausgeklügeltes, auf Pfotenklopfzeichen und dem Klackeralphabet basierendes Kommunikationssystem entwickelt, aber der durfte ja nun leider nicht dabei sein um zu übersetzen. Vielleicht konnte sie ein paar einfache Signale für 'Gift', 'Brennbar', 'Gas' und 'Nur Schmiere einer mechanischen Falle' geben und anschließend auf einer Liste mit der Pfote zeigen, was sie gerochen hatte?
Zum Glück blieben noch einige Tage Zeit um diese Fragen zu klären und nicht zum ersten Mal vermutete Nyria, dass die lange Lieferzeit des Anti-Vampir-Gifts ihnen letztendlich den Hintern rettete. Hätte der Inspektor seinen Wunsch bekommen und sie hätten gleich losgeschlagen, ohne Feldwebel Feinstich und ihr Insider-Wissen, dafür mit einem unentdeckten Feuerdämon im Gepäck, nicht auszudenken, was alles hätte schief gehen können. Schief gehen konnte immer noch genug, aber immerhin hatten sie die Zeit genutzt, die von der Gruppe ausgehenden Risiken zu eliminieren und zudem auch so etwas wie einen groben Schlachtplan entworfen.
In optimistischeren Momenten glaubte Nyria mittlerweile, dass die Operation tatsächlich klappen könnte. Wenn nicht irgendwo noch mehr unangenehme Überraschungen wie der Rattenfängersche Feuerdämon lauerten.

20.06.2017 0: 02

Magane

Klirrend ging ein Glas mit Kräutern zu Bruch. Er hatte sie erschreckt. Wie schaffte er es nur immer wieder sich derartig lautlos anzuschleichen? Dabei wusste sie, dass er im Raum war! Neuerdings machte er sich einen Spaß daraus, die Tage einfach auf ihrem Bett liegend zuzubringen. Sie hatte einfach vergessen, dass er da war, bis er sich lautlos anschlich und sie von hinten packte.
"Hexchen, mir ist langweilig."
"Dann solltest du vielleicht nicht bei mir rumhängen. Ich meine, hier gibts nicht mal Bücher um sich damit zu beschäftigen."
"Aber hier gibt es dich... mach doch mal was Interessantes." Sein leicht quengeliger Tonfall ließ Magane kurzfristig den blutrünstigen Jäger vergessen und an einen kleinen Jungen denken. Das verflog aber schnell wieder, als er ihre Haare zur Seite strich und in ihren Nacken pustete, sodass sich die Nackenhärchen aufstellten.
"Ich mache was Interessantes, nämlich genau das wozu ich hier bin - Tee mischen. Aber jetzt kann ich erstmal die Scherben aus dem Kraut fischen. Vielen Dank, dafür."
"Schneid dich nicht!" Er ließ sie zwar los, blieb aber dicht hinter ihr stehen um ihr weiter in den Nacken zu pusten.
Mit äußerster Vorsicht und extrem spitzen Fingern suchte sie den kleinen Haufen fein zerkleinerter getrockneter Blätter nach Glassplittern ab. Es dauerte eine Weile und sie zuckte dabei ein paar mal zusammen, weil Sebastian sich bewegte, schnaubte oder sonst was tat, um sie zu nerven. Und als hätte es nicht anders sein können, schnitt sie sich tatsächlich an der letzten Scherbe, einem gemeingefährlichen hauchdünnen Ding, das so scharf war, dass sie es als Skalpell hätte benutzen können. Sie fluchte, ausgerechnet wenn er hinter ihr stand musste sie mal wieder beweisen wie ungeschickt sie in Wirklichkeit war. Reflexartig zuckte ihre Hand zum Mund, wurde aber von dem Vampir abgefangen.
"Wir wollen doch nichts von deiner Ungeschicklichkeit verschwenden..." Er leckte das Blut von dem frischen Schnitt, der durch die extrem scharfe Kante schon beinahe wieder geschlossen war. "Siehst du, kaum noch etwas zu sehen."
Magane betrachtete die Wunde genauer und nickte. "Zu sehen ist das wirklich fast nicht aber deswegen ist es noch lange nicht heil. Dank der Brandnarben verheilen Verletzungen an meinen Händen sehr schlecht."
"Du weißt, ich könnte den Schnitt sofort versiegeln."
"Ja, das könntest du."
"Willst du das?"
"Muss ich mit Konsequenzen rechnen?"
"Das sollte man grundsätzlich immer aber im Moment hege ich keine Hintergedanken. Ich möchte nur Schaden von dir abwenden."
Mags Alarmsignale schrillten. Auch wenn er noch so aufrichtig klang, glaubte sie ihm kein Wort.
"Dann mach, von mir aus", eigentlich hatten sie sich geeinigt, beziehungsweise sie hatte gefordert, dass ihre Hände nicht mit seinen Zähnen in Berührung kommen sollten. Auch versiegelte Bisse waren noch sehr empfindlich und schmerzten sogar, je nach Stelle, manchmal. Das konnte sie an Händen und Handgelenken nicht brauchen. Aber er hatte sie ja nicht gebissen, sondern den Schnitt nur indirekt verursacht. Er versiegelte den Schnit und sah ihr dabei tief in die Augen.
"Wieso musst du dich immer so an mich anschleichen?"
"Das ist meine Natur", außerdem machte es ihm großen Spaß sie zu erschrecken, das war offensichtlich, auch wenn er nichts in der Richtung sagte.
"Also, was hättest du denn gerne, das ich tue, wenn dir das Teemischen zu langweilig ist?"
"Ich weiß nicht...", er tat so als müsse er darüber nachdenken, "vielleicht könnten wir nochmal etwas Zeit in deinem Kopf verbringen..."
Darauf wollte er also hinaus. Magane seufzte. So würde die neue Teemischung nie fertig werden. Dauernd hielt er sie auf.
"Gut, diesmal aber nicht auf dem Boden." Sie deutete aufs Bett, wo sie eigentlich nicht mit ihm zusammen sein wollte aber es war einfach bequemer als auf dem Boden. Er grinste anzüglich und sie bereute sofort die Entscheidung. Was auch immer er aus dieser Einladung machen mochte, es war nicht, was sie bezweckt hatte und gefallen würde es ihr auch nicht. Obwohl er sicherlich der Meinung war, sie brauche sich nur fallen zu lassen. Als ob das so einfach wäre, sich fallen lassen, den Widerstand aufgeben und genießen, was er ihr aufdrängte. Nein, das kam nicht in Frage, solange sie ihren freien Willen hatte würde sie nicht aufgeben.
Aber genau darum ging es ja, den freien Willen, nicht um ihren, um seinen. Es war an der Zeit dieser Verbindung auf den Grund zu gehen und zu schauen, ob sie überhaupt in der Lage war, seine Ketten zu sprengen. Vielleicht war er bereit ihren Widerstand zu akzeptieren, wenn sie ihm bei seinem half.
Die beiden setzten sich auf dem Bett gegenüber und Magane erlaubte ihm Zutritt zu ihrem leeren Geist. Das fiel ihr inzwischen leicht, sie wurde immer besser darin, sich abzuschirmen und konnte die Barriere jetzt ganz natürlich steuern. Nur kostete es sie trotzdem noch sehr viel Kraft. Sodass es ihr beim letzten Mal kaum gelungen war, lange genug bei Bewusstsein zu bleiben, um zum Bett zu kommen. Das war auch einer der Gründe für den Ortswechsel gewesen. Wenn sie sich überanstrengte, bräuchte sie wenigstens nicht mehr aufstehen.
Ihr mentales Abbild sah seinem, wie jedes mal im Schneidersitz sitzend, entgegen und wartete darauf, dass er damit herausrückte, was er heute von ihr wollte.
"Schau mich nicht so streng an, Hexchen", er kam auf sie zu und zog sie auf die Beine, "Ich bleib auch diesmal nicht so lange. Du brauchst nicht zu fürchten, dass es wieder so anstrengend wird." Sie glaubte ihm nicht. Aber sie hatte ja vorgesorgt.
"Also, meine Rose, hast du darüber nachgedacht, wie du mir helfen könntest mich von dem Alten zu befreien?"
"Dazu müsste ich sehen, was er mit dir angestellt hat und welcher Art eure Verbindung ist. Selbst wenn du mir das zeigen kannst, heißt das noch lange nicht, dass ich auch wirklich etwas tun kann."
"Das ist mir klar. Aber einen Versuch ist es allemal wert. Und sollte es nicht funktionieren, brauche ich mir bei dir wenigstens keine Sorgen um die Geheimhaltung zu machen. Der Meister interessiert sich nicht für dich, selbst wenn er dir in die Gedanken schauen könnte. Und mit wem sonst solltest du hier unten schon reden?"
"Können wir dann endlich anfangen?"
"Okay, ich versuche dir zu zeigen was damals passiert ist..." Er schloss die Augen und konzentrierte sich sichtlich. Dann verschwamm die klare weiße Umgebung und es tauchten fremde Personen auf. Die Fremden bildeten einen Kreis um sie und Sebastian, in welchem sie allerdings nicht mehr allein waren. Neben Sebastian stand sein jüngeres Selbst und starrte mit arroganter selbstgefälliger Mine über ihre Schulter. Äußerlich hatte er sich so gut wie nicht verändert aber der Jüngere wirkte naiver und unschuldiger, für ein gegebenes Maß an Unschuld. Magane zögerte, sie wusste, dass sie sich umdrehen und dem Feind ins Auge blicken musste. Aber sie wollte nicht. Sie fühlte sich nicht gut genug darauf vorbereitet. Sie wollte den Alten nicht sehen, wollte seine Stimme nicht hören, wollte ihn vor allem nicht in ihrem Kopf haben. Noch nicht einmal ein Erinnerungsbild von ihm. Stattdessen sah sie sich zunächst im Raum um, der allmählich immer mehr Konturen gewann. Sie standen auf einer Art Tanzfläche eines Clubs, der allerdings, bis auf die Bar, nicht viel mit menschlichen Orten der Vergnüglichkeit gemein hatte. Oder lag dieser Eindruck in der schlechten Gesellschaft begründet? Die sie umringenden Personen waren anscheinend ausschließlich Vampire. Keine weichgespülten Schwarzbandler oder solche, die Blut nur an hohen Feiertagen zu sich nahmen. Sondern welche von der bösen Sorte. Jäger, Raubtiere... die Sorte, vor der sie als Jugendliche gewarnt worden war. Aber die Jäger waren nicht unter sich, bei genauerem Hinsehen erkannte man, dass auch Beute anwesend war. Junge, hübsche Mädchen, zum größeren Teil nicht mehr im aufrechten Zustand und teilweise offensichtlich tot. Der Abend war wohl schon recht weit fortgeschritten. Den Kreisvampiren war auch der Genuss von Alkohol deutlich anzumerken. Trotzdem herrschte gebannte Stille. Was auch immer hier vorging, es schien sich um ein mitreißendes Schauspiel zu handeln. Welche Stimmung zuvor geherrscht hatte, ob ausgelassen oder entspannt, war unmöglich abzuschätzen. Aber jetzt sah es so aus, als stünden sie mitten in einer Kampfarena.
"Menschen, schwach und blass, ihr Geist ist so schlicht, viel zu leicht empfänglich", die Stimme des Alten ließ Magane erschaudern. Ein heiseres Flüstern, das sie an das Rauschen eines Sandsturmes erinnerte, eine unerbittliche Naturgewalt. Sie drehte sich langsam um und schaute den Alten an. Eine Gestalt, die nur noch sehr wenig Ähnlichkeit mit den Lebenden hatte. Der Körper mager, ausgezehrt. Der Schädel mit gräulicher Haut bezogen, das entstellte Gesicht zu einer provokanten Mine verzogen, die unnatürlich langen Fangzähne durch die ausgetrockneten Lippen nur unzureichend bedeckt. Die Urängste eines jeden lebenden Wesens verkörpernd, schien er aus den Tiefen der Alptraumwelt zu stammen. Man hatte unwillkürlich das Bedürfnis Weihwasser zu trinken, sich in eine Knoblauchhülle zu verpacken und zusätzlich den Hals mit einer stählernen Krause zu schützen. Eindeutig kein Kuschelvampir und kein Kandidat für einen schnellen Pflock zwischendurch. Hier müsste ein ernsthafter Vampirjäger ran. Wie jagte er? Wie verhinderte er, dass die Mädchen vor ihm flohen? Die Antwort musste in den mentalen Fähigkeiten liegen.
"Der Geist eines solch schwachen Geschöpfes kann für unsereins keine Herausforderung sein, das einzig Wahre wäre doch ein Kräftemessen untereinander. Zwei geübte Telepathen unter sich, sozusagen."
Eine Falle, ganz eindeutig... sie sah die beiden Sebastians an, der Jüngere hatte die Falle nicht bemerkt, das verstand sich von selbst, sonst wären sie nicht in dieser Lage. Sein arroganter Blick, das angriffslustige Glitzern. Kein Wunder, dass er seinem Gegenüber nicht gewachsen war. Der ältere Sebastian zuckte mit den Schultern, eine hilflose Geste, dann sagte er: "Am besten zeige ich dir, wie es damals aus meiner Perspektive war. Aber ich muss dich warnen: Meine Erinnerung ist lückenhaft und möglicherweise von Gefühlen verunreinigt. Jedenfalls glaube ich nicht, dass es etwas bringt, von außen zuzuschauen."
"Wie du meinst..." Er hatte ihr dies also als Vorbereitung gezeigt, das ganze Bild, vor der Detailaufnahme. Ob es solche Vampirparties noch gab? Aber dann mussten die verschwindenden Mädchen doch jemandem auffallen? Und was wenn die meisten Opfer einfach am nächsten Morgen mit einem Filmriss und einem üblen Kater erwachten und nie auf die Idee kamen, dass ihnen etwas anderes, als eine wilde Partynacht, passiert war? Die meisten... und die wenigen Toten ließen sich sicherlich auch irgendwie erklären, wenn sie nicht einfach 'verschwanden'. Nach ihr hätte vor 20 Jahren auch keiner ernstlich gesucht. Sie wäre einfach nur ein Mädchen gewesen, das sich von der Stadt hatte verschlucken lassen. Wie leicht hätte sie an solche Jäger geraten können...
Magane schüttelte den Kopf um den Gedanken loszuwerden und konzentrierte sich dann wieder auf die Aufgabe die vor ihr lag.
"Zeig mir, was du mir zeigen willst. Ich will diese Leute nicht hier haben."
Er schickte zuerst die Opfer weg und danach die Kreisvampire, bis nur noch er selbst, seine jüngere Ausgabe und Racul anwesend waren. Dann zog er sie an sich.
"Um dir das zu zeigen, müssen wir wenigstens zeitweise unsere geistigen Abbilder aufgeben und mit meinem jüngeren Ich verschmelzen. Bist du dazu bereit?"
"Habe ich eine Wahl?"
"Natürlich. Wir können jederzeit aufhören... Bist du bereit?"
"Ja!" Wieso zögerte er das hier so lange hinaus? Wollte er sie doch an den Rand ihrer Kräfte treiben? Solange sein Geist in ihrem Bewusstsein war, konnte sie ihm keine Energie entziehen, das wäre zu auffällig und ließe sich nicht verbergen.
"Okay, dann versuchen wir das mal. Stufenweise... schau mir in die Augen!" Er zog sie noch ein Stückchen näher zu sich. "Du musst versuchen, dein Bild in meinem zu versenken. Das geht am besten über die Augen. Stell dir vor, sie wären zwei Brunnen und du machst dich ganz winzig klein und springst hinein."
Es war nicht schwer sich vorzustellen, dass die dunkelblauen kalten Augen, in die sie sah, Brunnen wären. Aber dadurch wuchs nur der Widerwille hineinzuspringen! Wer sprünge schon bereitwillig in einen Brunnen? Sie riss sich zusammen und versuchte die Angst auszublenden. Das alles geschah in ihrem Kopf und sie konnte es jederzeit unterbrechen...
Sie zögerte trotzdem. Wenn sie sprang, wechselten sie dann in sein Bewusstsein? Magane wünschte sich inständig, sich mit solchen Dingen besser auszukennen. Oder sich wenigstens etwas auszukennen und sich nicht nur auf sein Wort verlassen zu müssen. Ihm zu vertrauen fiel ihr inzwischen ausgesprochen schwer.
Brunnen... klein machen und reinspringen...
Mag atmete tief durch und tat es. Mit etwas Konzentration war es wirklich einfach. Sie sprang und tauchte in sein geistiges Abbild ein, als sei es das Natürlichste der Welt, im eigenen Geist - in einem Eindringling - aufzugehen. Ein merkwürdiges Gefühl. Sie war sich Ihrer weiterhin voll bewusst, hatte aber kein Bild mehr von sich selbst, zum dran festhalten. Es war ein bisschen, wie mit geschlossenen Augen im Wasser zu treiben. Dafür hatte sie jetzt einen direkteren Zugang zu seinen Gedanken. Nicht so, dass sie irgendwas hätte manipulieren können - er könnte dies vermutlich in umgekehrter Lage sehr wohl - aber sie konnte sie hören.
Hallo, nochmal. So, das Gleiche machen wir jetzt nochmal mit meiner Erinnerung. Am besten hältst du einfach still. Er brauchte sich selbst dazu nicht in die Augen zu sehen, er konzentrierte sich einfach auf den Schritt in sein jüngeres Selbst und tauchte mühelos in die Erinnerung ein. Sowas machte er ganz offensichtlich nicht zum ersten Mal. Wahrscheinlich eine nützliche Fähigkeit, wenn man es mochte, in den Köpfen anderer Leute rumzupfuschen.
Ich pfusche nicht!
Ertappt versuchte Magane fortan, an nichts mehr zu denken.
Egal wie sich das jetzt gleich für dich anfühlt, es kann dir weder körperlich noch geistig schaden. Es ist nur eine Erinnerung an Schmerz.
Mag versuchte, nicht daran zu denken, welchen Schaden sie mit den Erinnerungen an Schmerzen ausrichten konnte und scheiterte kläglich.
Er quittierte ihre Gedanken mit dem mentalen Äquivalent eines schallenden Gelächters, das sich anfühlte wie ein Funkenschauer.
Du denkst zu sehr in Hexenbahnen, Röschen. Das hier ist nicht mit deinen Stacheln vergleichbar.
"Nun, bist du bereit für unser Kräftemessen?" Es musste sich um Racul handeln, es kam kein anderer in Frage. Aber seine geistige Stimme klang ganz anders, als erwartet. Eine getragene edle Stimme, vielleicht hatte er so zu Lebzeiten geklungen. Jedenfalls ganz anders, als das heisere Flüstern oder das erdrutschartige Grollen, das sie aus der Nacht von vor ein paar Tagen kannte.
Sebastian musste wohl genickt haben, denn plötzlich war eine Präsenz zu spüren, ein unangenehmer Druck gegen den sich Sebastian nach Kräften zu wehren versuchte.
Das Gefühl kannte sie nur zu gut, das war ein Ansturm gegen die geistigen Barrieren, wie sie ihn durch ihn auch schon erfahren hatte. Mit einem Mal war sie froh, dass der Alte sich nicht für sie interessierte. Wer konnte schon wissen, wie lange sie seiner Macht gewachsen wäre?
Es gelang Sebastian sogar zwischenzeitlich, den Druck zu senken aber offenbar konnte er nicht zum Gegenschlag ausholen. Aber auch dass war nur Vorgeplänkel, das wurde in dem Moment klar, als Sebastians Widerstand zerschmettert wurde. Der Druck löste sich schlagartig und wurde von einem Strom glühend heißer Energie abgelöst, die sich, einem Lavastrom gleich, durch seinen Geist wälzte.
Magane versuchte das Geschehen nachzuvollziehen, vieles verstand sie nicht. Aber was sie erkennen konnte war, dass hier etwas mit größter Brutalität und Rücksichtslosigkeit eingebrannt wurde. Unauslöschlich! Sie war sich sicher, dass ein solcher Eingriff nicht reversibel war, vermied es aber, diesen Gedanken weiter zu verfolgen, damit er ihn nicht mitbekam. Während sich der mentale Lavastrom durch Sebastians Nervenbahnen fraß, versuchte Magane ihm zu folgen. Es waren die gleichen Energiewege, die auch sie nutze, und sie reichten bis in die Finger- und Fußspitzen.
Was passiert, wenn du einem Befehl nicht gehorchst?
Sebastian antwortete nicht sofort, seine Erinnerung wand sich in Qualen und sie war heilfroh, dass sie davon nichts spüren musste.
Ich kann mich nicht widersetzen. Nicht direkt. Ich kann mich nur ganz vorsichtig und im Verborgenen wehren. Sein Wille ist Gesetz. Gegen seinen Willen handeln bedeutet Leid.
Vollkommen unvermittelt, ohne dass ein hörbarer Befehl ergangen wäre, kniete Sebastian nieder. Nicht aus freiem Willen, das war unverkennbar. Es war mehr so, als verspürten die Knie eine plötzliche Sehnsucht zum Boden.
Wir haben genug gesehen.
Mit einem Ruck verließen sie die Erinnerung und im gleichen Augenblick schob Sebastian Maganes Geist von sich. Diese hätte sowieso nicht gewusst, wie sie aus solch einer Lage aus eigener Kraft herauskommen sollte.
Sie erhaschte noch einen kurzen Blick auf die Erinnerung, sah den jungen Sebastian auf den Knien vor dem alptraumhaft über ihn erhobenen Alten. Dann schickte Sebastian auch diese Beiden weg und sie standen wieder allein in Mags Meditationsumgebung. Sie sah ihn voller Mitleid an.
"Ich werde sehen was ich tun kann. Aber das geht nicht von hier aus."
"Nein... natürlich nicht."
Er ging. Keine weiteren Scherze. Ihm war wohl nicht danach.
Sie dichtete schnell den Ausgang ab, den sie geschaffen hatte, um ihn herauszulassen, beendete die Meditation und kehrte in die Realität zurück.
Einige Augenblicke saßen die Beiden sich stumm gegenüber.
Dieses Wissen änderte nichts. Sie war und blieb sein Spielzeug, seine Blutquelle und was auch immer noch alles.
Aber es änderte ihren Blick auf ihn.
Er mochte brutal und kaltblütig sein aber er war auch eine gequälte Kreatur, die zu erlösen war. Selbst, wenn das final vermutlich nur mit einem Pflock im Herzen möglich war.
"Verschwenden wir keine Zeit." Sie nahm seine Hände und schloss die Augen. Wenn er gewollt hätte, wäre dies der perfekte Moment gewesen, um ihr seine wahre Natur zu demonstrieren. Aber er ließ die Gelegenheit verstreichen.
"Mal sehen, wie es inzwischen aussieht."
Sie fühlte sich ein, versuchte, seine Energie von der des Meisters zu unterscheiden und fand bald die tief eingebrannten Kanäle, begrenzt durch den puren Willen des Alten.
Das war es also. Nicht mehr wie glühende Lava, aber noch immer sehr viel mächtiger, als die Energie einer einzelnen Lebensform sein dürfte. So viel zu viel...
Magane bediente sich schamlos an der Energie, von der sie jetzt wusste, dass es nicht Sebastians war. So konnte sie ihn zwar nicht befreien aber vielleicht die Ketten etwas lockern. Und ganz nebenbei gewann sie auf diesem Wege etwas Kraft zurück.

22.06.2017 22: 24

Kanndra


Die Glocken schlugen und Tom Wechter zählte elf Schläge, ehe sie wieder verstummten. Seit Stunden trieb er sich auf dem Pseudopolisplatz herum, genauer gesagt, seit er den Urgroßeltern nach dem Abendessen unbemerkt entwischen konnte. Und dies war nicht der erste Tag, an dem er das tat. Inzwischen hatte er sogar schon eine gewisse Erfahrung darin, nicht nur den Wächtern nicht aufzufallen, um nicht wegen bösartigen Herumlungerns verhaftet zu werden, sondern auch den Mitgliedern der Bettlergilde und der vorherrschenden Straßengang aus dem Weg zu gehen.
Doch abgesehen von der Erkenntnis, dass die Wache einen wirklich schnellen Esel hatte, hatte ihm das alles bisher nichts gebracht.
Nicht genug, um die Gefühle in seinem Inneren zu beruhigen. Er vermisste seine Mutter schmerzlicher, als er sich eingestehen wollte. Schließlich war er ja schon fast ein Mann und ein Mann weinte nicht ständig seiner Mutter hinterher. Aber vielleicht durfte er trotzdem Angst um sie haben, wenn er nicht wusste, wo sie war und ob es ihr gut ging. Tom schätzte, dass war wohl in Ordnung. Und dann war da noch etwas, an das er versuchte, nicht zu denken und was doch in ihm brannte. Sie hatten sich gestritten, kurz bevor seine Mutter zu dem angeblichen Sterbefall gerufen worden war. Was, wenn der Streit gar dazu beigetragen hatte, dass sie so spät noch das Haus verließ? Dann war er schuld...
Tom schüttelte seinen Kopf, was eine Strähne seines wilden schwarzen Haarschopfes veranlasste, ihm ins Auge zu fallen. Unwillig pustete er sie wieder hoch und versuchte, eine bequemere Haltung auf dem leeren Fass zu finden, auf dem er saß. Doch dann stahl sich ein kleines Lächeln auf sein Gesicht, als er den Vampir bemerkte, der nicht weit von ihm über den Platz marschierte. Den kannte er. Er hatte die Vermisstenanzeige aufgenommen. Vielleicht hatte es nichts zu bedeuten, dass er um diese Stunde das Wachhaus verliess und er war bloss auf dem Heimweg oder so, aber Tom beschloss trotzdem, ihm zu folgen.

Wilhelm war einerseits froh, dass Senray von dem Training befreit war – er mochte sich lieber gar nicht erst vorstellen, was mit ihm passieren würde, wenn sie jemand versehentlich mit einer Mistgabel stach oder sie sich irgendwo den Kopf anschlug – andererseits konnte er sie so nicht im Auge behalten. Nun, sie lag hoffentlich friedlich schlafend in ihrem weichen Bett, während der Rest der Truppe sich auf getrennten Wegen zum Trainingsgelände im Haufen begeben und dann das stürmen eines Anwesens üben würde. Er konnte sie ja auch nicht rund um die Uhr bemuttern, auch wenn der Drang dazu noch stärker ausgeprägt war seit er diese schmalen weißen Linien auf seinen Fingern trug.
Rasch hatte er das noch immer belebte Viertel um die Götterinsel hinter sich gelassen und steuerte den Friedhof an der Teekuchenstraße an. Die friedliche Atmosphäre zwischen den Gräbern würde ihm gut tun und ihm helfen, seine Konzentration zu sammeln. Vielleicht hörten dann die Gedanken in seinem Kopf auf, ständig um die DOG und ihren Dämon zu kreisen. In der Tat schien die Luft erfrischender auf dem Gelände zu sein und sich wie ein kühlendes Laken auf seine Haut zu legen. Leise knirschte der Kies unter seinen Füßen, der die Wege bedeckte. Aus dem Augenwinkel meinte er eine Bewegung zu seiner Linken wahrgenommen zu haben, doch bei genauerem Hinschauen war nichts mehr zu sehen. Ein Verfolger? Kurz runzelte er die Stirn. Oder...? Er sah noch genauer hin und las den Namen auf der Gruft, die in der nämlichen Richtung stand. Dann grinste er verständnisvoll, denn der sagte ihm durchaus etwas. "Gute Jagd, mein Freund", murmelte er grinsend und setzte seinen Weg fort. Er würde sich jetzt doch etwas beeilen müssen, um nicht zu spät zu kommen.

Ausgerechnet auf den Friedhof ging er! Ob er dort wohnte? Das taten die Blutsauger doch, oder? Am Eingang zögerte der Junge kurz und biss sich unentschlossen auf die Unterlippe. Nachts waren Friedhöfe irgendwie gruselig. Doch dann gab er sich einen Ruck. Er wollte endlich wissen, was los war.
Tom hatte genug Schleichen geübt, um den Kiesweg zu meiden. Schnell huschte er zwischen den Grabsteinen und Gruften weiter. An einer Stelle hätte der Vampir ihn fast entdeckt, doch er konnte rechtzeitig in Deckung gehen. Anscheinend war dieser auch nicht besonders aufmerksam, denn auf dem weiteren Weg hatte er keine Probleme mehr, ihm zu folgen. Bald konnte es nur noch ein Ziel geben und Toms Aufregung stieg. Der Haufen! Wurde seine Mutter hier vielleicht gefangen gehalten? Das Gelände war riesig, irgendwo konnte man hier sicher auch Geiseln verwahren, wenn man wollte. Jetzt musste er aufpassen, dass er den Wächter nicht aus den Augen verlor.

So langsam trudelten alle ein. Nyria hatte bereits eine Runde gedreht, nur um das Gelände kennen zu lernen und sicher zu gehen, dass sie keine wie auch immer gearteten Überraschungen erwarteten. Als endlich alle versammelt waren, erläuterte Leutnant Mambosamba den Trainingsplan für die nächsten Stunden. Die Überlegung, ob ihr noch Zeit für eine Zigarette blieb, lenkte die Gefreite solange ab, bis die Späherin einige Gartengeräte holte.
"... werden wir quasi die Waffen des Mobs einsetzen. Nicht jeder hat schon mal eine Mistgabel in der Hand gehabt, geschweige denn sich mit ihr zur Wehr gesetzt."
Nyria lachte laut auf. "Na, das kann ja lustig werden. Dann misten wir den Vampirstall mal richtig aus!"
Esther verdrehte nur die Augen und Rach rang sich ein gequältes Lächeln ab. Die übrigen Anwesenden lachten mehr oder weniger herzlich.
"Wollen wir hoffen, dass uns das gelingt. Nun, jeder nimmt sich bitte eine und dann stellen wir uns dort drüben in einem großen Kreis auf. Genug Abstand zum Nachbarn halten bitte! Wir wollen ja nicht noch mehr... Verluste."
Beherzt griff die Szenekennerin nach der Forke und schloß sich den Anderen an, als sie einen Hauch eines fremden Geruches wahrnahm. Jemand war noch hier.

Er hatte dem Vampir folgen können bis an den Fuß des Hügels, der sich in der Mitte des Geländes erhob. Als er merkte, dass sie nicht nur am Ziel angekommen waren, sondern sich auch weitere Wächter dort aufhielten, war er auf einen Baum geklettert, der ihm freie Sicht auf das Geschehen verschaffte, ohne von den Anderen bemerkt zu werden. Das, was sie taten, war jedoch reichlich merkwürdig. Der Kommandeur und der dunkelhäutige Leutnant Mambairgendwas gaben an die anderen einige Mistgabeln aus und dann begannen sie damit herum zu fuchteln. Zumindest sah es am Anfang danach aus. Sie trainierten einige Zeit damit, ehe sie ausgerechnet zu seinem Baum kamen und um ihn herum Aufstellung nahmen. Als er es merkte, war es schon zu spät zum Abhauen.
"Bei einem vampirischen Gegner sollte man natürlich möglichst versuchen, das Herz zu treffen", erläuterte die Späherin und malte mit Kreide ein X an den Stamm. "Bitte sehr." Auf die auffordernde Geste der Wächterin hin, versuchten drei Leute gleichzeitig, das Kreuz zu treffen, kamen sich dabei aber ziemlich in die Quere. "Wir versuchen das erstmal Einer nach dem Anderen. Du zuerst, Wilhelm", kommandierte Breguyar.
Tom versuchte, sie möglichst klein zu machen und still zu verhalten. Das fortdauernde Training fesselte ihn dann aber doch derart, dass er sie nicht kommen hörte.
"Wen haben wir denn hier?", fragte auf einmal eine Stimme hinter ihm.

Von ihrem Posten in den Ruinen auf dem Hügel aus hatte Kanndra Wilhelms Verfolger bereits bemerkt, als der Rekrut zur Gruppe gestoßen war und hatte ihn im Auge behalten, bis sie wusste, wo er sich verbarg. Zunächst wollte sie ihn auch nur ein wenig ärgern, als sie sein Baumversteck als Sparringspartner wählte. Aus der Nähe bestätigte sich jedoch, was sie schon von Anfang an geargwöhnt hatte, nämlich dass es sich um einen ziemlich jungen Spion handelte. Es machte sie wütend, dass Racul anscheinend auch nicht davor zurückschreckte, Kinder für seine Zwecke zu missbrauchen. Aus einem Impuls heraus kletterte sie zu dem Jungen hoch. Als sie ihn ansprach, starrte er sie erschreckt an und irgendetwas an ihm kam Kanndra bekannt vor. "Kannst du runter klettern?"
"Klar", kam empört zurück.
"Gut, dann sehen wir uns unten. Macht mal eine Pause", rief sie ihren Kollegen zu. "Wir haben einen Gast."
Als beide wieder auf sicherem Boden waren und sie sein Gesicht im Fackellicht sehen konnte, fiel es ihr ein. "Du bist Tom, oder? Maggies Sohn?" Wie sehr er inzwischen seinem Vater ähnelte...
Er nickte trotzig.
Als Mutter wusste die FROG, dass er sich nur weigern würde, wenn sie ihn jetzt einfach nach Hause schicken würden. Sie konnte ihn im Übrigen verstehen, so wie sich in den meisten Augen um sie herum Verständnis und Mitleid abzeichnete. "Was hältst du davon: du hilfst uns noch ein wenig bei unserem Training, das im Übrigen ein Geheimnis zwischen uns bleiben muss und dann bringe ich dich nach Hause. Ist das ok?"
Diesmal ein vorsichtiges Nicken.
"Gut, dann... Hmmm, du gehst in die Ruine und wir versuchen, uns an dich anzuschleichen. Also gut die Ohren gespitzt!"

Mit Begeisterung war Tom noch eine Stunde dabei und hatte so viel Spaß wie seit Tagen nicht mehr. Da war es auch nicht mehr so schlimm, dass ihn diese Kanndra danach nach Hause brachte, als wäre er noch ein Baby.

24.06.2017 15: 39

Magane

Bedauerlicherweise hatte er auch andere Pflichten, wenn er schon ihre wachen Stunden mit der Hexe verbrachte, musste er wenigstens während sie schlief seinen anderen Aufgaben nachkommen. Aber so konnte er immerhin nebenher in ihren Träumen spionieren und nach ihren Schwachstellen suchen. Das war natürlich alles anderes als fair, nach all dem was sie für ihn tat, ihrer Opferbereitschaft und ihren Bemühungen ihm zu helfen. Andererseits war Fairness noch nie die Maxime seines Handelns gewesen und er würde sich schrecklich langweilen, wenn er jetzt anfinge sie zu schonen. Und außerdem wurmte es ihn, dass er so viel von sich hatte preisgeben müssen und dass sie ihn dafür bedauerte. Mitleid... sicherlich eine ihrer größeren Schwächen, aber dass sie es jetzt auch noch für ihn empfand war irgendwie... widernatürlich. Jäger sollten von ihrer Beute nicht bedauert, sondern gefürchtet werden. Aber wenn sie ihm wirklich helfen konnte, könnte Furcht sie vielleicht davon abhalten.
Der Traum in dem er sich diesmal wiederfand hatte wenig einladendes, ein total verqualmter Raum, in den sich langsam Flammen hineinfraßen. Er suchte nach ihr. Sie musste hier irgendwo sein, es war schließlich ihr Traum. Aber bei dem Rauch konnte er kaum etwas erkennen. Wenn dies eine reale Situation wäre, bräuchte er nur nach ihrem Herzschlag zu lauschen. Nur konnte ihm das jetzt nicht weiterhelfen, denn wo sich ihr panisch schlagendes Herz befand war ihm deutlich bewusst. Das hätte er vermutlich überall im Haus... ach was, im ganzen Stadtteil, noch hören können. Er versuchte sich zu konzentrieren, die Hitze, die er nicht wirklich spürte, sondern die nur Teil ihres Alptraums war, auszublenden. Logisch betrachtet war dies nicht einfach nur ein Traum der Angst vor dem Feuer ausdrückte, solchen Alpträumen lagen meist wahre Begebenheiten zu Grunde. Die vernarbten Hände. Waren die Narben bei einem solchen Feuer entstanden? Wenn dem so war, dann war zu erwarten, dass sie sich hier irgendwo versteckt hielt und versuchte sich mit bloßen Händen zu verteidigen. Auf der am weitesten vom Feuer entfernten Seite des Zimmers konnte er einen großen rechteckigen Schemen erkennen, der sich beim näherkommen als Schrank entpuppte. Ein wahrscheinliches Versteck. Er bewegte sich weiter darauf zu und glitt dann durch die Seitenwand ins Innere des Schrankes. Da war sie, ein kleines Mädchen von vielleicht 5 Jahren, zusammengekauert in der Ecke. Unter den Händen, die sie schützend vor das Gesicht erhoben hatte, waren ihre fest verschlossenen Augen kaum zu sehen. Auch von dem vermutlich feuchten Tuch, das sie über Mund und Nase gebunden hatte, um sich vor dem Rauch zu schützen, sah man nur die Ecke die über das Kinn ragte. Es krachte, anscheinend waren Teile des Daches eingestürzt und jetzt begann auch das Holz des Schrankes zu schwelen. Langsam wurde es Zeit diesen Traum zu verlassen, bevor er zu seinem natürlichen Ende kam und sie aufwachte. Mit einem solchen Alptraum konnte er sowieso nicht viel anfangen, mit der Angst vor dem Feuer ließ sich hier unten nur schwerlich spielen. Er ließ das kleine Mädchen im Feuer zurück und wandte sich wieder der Haushaltsführung zu, vielleicht war ihr nächster Traum unterhaltsamer.

25.06.2017 0: 01

Nyria Maior

Jedes Mal wenn Nyria an den Brief dachte, der sicher verstaut in der Innentasche ihres Mantels steckte, musste sie unwillkürlich lächeln. Raistans immer roter anlaufende Ohren und Mina von Nachtschattens bemüht neutraler Tonfall, als sie den unglaublich schwülstigen Text Satzteil für Satzteil diktiert hatte, waren einfach zu herrlich gewesen. Der Inhalt des Briefs hatte sämtliche Erwartungen der Gefreiten mehr als haushoch übertroffen. Es wäre eine schwere Enttäuschung, wenn Gerti eine solche Lektüre nicht als angemessene Entlohnung für ihre Hilfe beim der Infiltration des Internats betrachten würde.
Im Laufe der Tage hatte sich auch der penetrante Duft des Parfüms auf ein selbst für ihre feine Werwolfsnase erträgliches Maß reduziert. Nyria hatte im Moment des Auftragens einfach nicht darüber nachgedacht, dass teure Duftwässer möglicherweise höher konzentriert waren als gewöhnliches Rasierwasser. Zugegeben, sie hatte das Zeug auch nur ausgesucht weil sie den Namen lustig fand und es eindeutig ein Produkt für Männer war. Und so hatte sie die Nächte der letzten Woche in Gesellschaft einer langsam schwächer werdenden Duftwolke Odeur d'Magicien verbracht, die unter dem losen Dielenbrett in ihrer Dachkammer hervorwaberte. Immerhin war Damien zu übernächtigt und Menélaos zu beschäftigt gewesen um eine große Veränderung in der Büroluft zu bemerken und zwei Tage mehr oder weniger Kettenrauchen hatten die letzten für Menschen wahrnehmbaren Spuren des Parfüms in Büro 105 zuverlässig getilgt.
Vor Nyria schälte sich das Wirtshausschild der Grünen Gans aus der Dunkelheit. Zeit, wieder in ihre Rolle zu schlüpfen. Die Szenekennerin setzte eine betont unbekümmerte Miene auf und betrat die Schenke. Bei ihrem letzten Treffen vor ein paar Tagen hatte sie Gerti so weit gebracht, dass diese dem Einschmuggeln eines Briefes nicht abgeneigt war. Jetzt begann der wirklich ernste Teil der Operation 'Fächelschule'. Hoffentlich war die Angelegenheit wirklich so einfach wie sie bei den Besprechungen behauptet hatte. Zugegeben, sie hatte recht dick aufgetragen, aber der Wunsch, der hochnäsigen Assassinin einmal die Schmollschnute aus dem Gesicht zu wischen war einfach übermächtig gewesen.

Gerti wartete bereits an einem abseits gelegenen Tisch, vor sich einen Humpen Bier. Nyria winkte ihr zu, gab ihre Bestellung an der Theke auf und setzte sich dazu. Zuerst plauderten sie über allgemeine Dinge, bis Nyria das Gespräch langsam auf das Internat lenkte. Schließlich hielt sie den richtigen Zeitpunkt für gekommen. Sie griff in die Innentasche ihres Mantels und holte den Brief hervor.
"Zeit für's Geschäft." verkündete sie.
"Das ist er?" erkundigte sich Gerti.
Nyria nickte. "Brennende Liebesschwüre eines gewissen jungen Mannes, dessen Namen ich nicht nennen werde, an das Fräulein Carolina von Innstetten. So heiß, dass sie fast das Papier entzünden auf dem sie geschrieben stehen!"
"Das machst du öfter, oder?" erkundigte sich Gerti ein wenig misstrauisch. "Die Briefe lesen die du auslieferst?"
Nyria zuckte mit den Schultern.
"Manchmal. Wenn sie versprechen, interessant zu sein. Aber ich verrate niemandem, was drin steht." Sie lächelte schief. "Wer weiß, wie viel ich dafür gekriegt hätte, dem Lord von Krabbenweiß zu stecken, dass er einen Nebenbuhler hat. Dazu noch einen, der bei seiner Angebeteten um einiges höher im Kurs steht als er selbst. Aber ich habe zumindest eine gewisse Berufsehre."
Sie zog ein flaches, scharfes Messer aus ihrem Stiefelschaft und erhitzte die Klinge über der Flamme der Kerze, die auf dem Tisch stand. Dann schob sie die Schneide vorsichtig unter das Siegel und löste es so Stück für Stück, während sie sich stumm dazu gratulierte, für die maximale Bruchsicherheit extra viel Wachs verwendet zu haben. Gerti sah ihr gebannt zu. Schließlich klappte der Brief auf. Nyria faltete ihn auseinander und überreichte ihn dem Küchenmädchen mit einer angedeuteten Verbeugung.
"Für Sie, verehrtes Fräulein." näselte sie in ihrer besten Imitation eines Butlers.
Die Gefreite beobachtete Gertis Reaktion, während diese las. Der Gesichtsausdruck der jungen Frau verriet zuerst Erstaunen, gefolgt von Ungläubigkeit, peinlich berührtem Erröten und schließlich einem breiten Grinsen.
"Meine Güte." sagte sie nach Beendigung ihrer Lektüre und ließ den Brief auf den Tisch sinken. "Wie viele professionelle Poeten hat der Kerl wohl bezahlt um so etwas zusammen zu texten?"
"Keine Ahnung." log Nyria und dachte mit einer gewissen Bewunderung an Chief-Korporal von Nachtschatten. "Geld hat er ja genug."
"Genug um sich teures Parfüm leisten zu können." kommentierte Gerti und schnupperte am Papier. "Und ich dachte immer, nur Frauen sprühen ihre Liebesbriefe mit Duftwasser ein." Sie zwinkerte Nyria zu. "Weißt du, die feinen Fräuleins sind auch fleißig beim Schreiben von Liebesbriefen dabei. Wenn unsereins mal die Internatspost zum Postamt bringen muss, riecht der Sack immer wie sämtliche Gewächse der Scheibenwelt durcheinander."
"Tja, wer so richtig verliebt ist verliebt ist scheut wohl keinen Aufwand." Unwillkürlich musste Nyria an Rach Flanellfuß denken und wie er Cori Celesti und das Pandämonium für Ophelia Ziegenberger in Bewegung setzen würde.
"Vornehme Leute vielleicht. Unsereins muss sich mit 'He Mädel, willste'n Bier' zufrieden geben." Gerti faltete den Brief wieder zusammen und gab ihn Nyria zurück. "Das ist halt der Preis den man zahlen muss wenn man nicht richtig fächeln und Tee trinken kann."
Vorsichtig erwärmte die Szenekennerin die Rückseite des Siegels über der Kerzenflamme und klebte es wieder an Ort und Stelle. "So gut wie neu." sagte sie und blies auf den Umschlag um das Siegelwachs schneller abkühlen zu lassen. Dann verstaute sie den Brief wieder in ihrem Mantel.
"Und wie geht es nun weiter?" fragte Gerti. Die Art und Weise, wie sie mit dem Henkel ihres Bierkrugs spielte, verriet ihre aufkommende Nervosität.
"Ich soll den Brief in einer Schmuckvase an einem Ort namens Blassvioletter Salon verstecken." antwortete Nyria. "Weißt du, wo das ist?"
"Ja. Der Salon ist allerdings ziemlich abgelegen und es ist ein weiter Weg von der Küche dorthin." Unschlüssig fuhr Gerti mit den Fingern über den Rand ihres Krugs. "Wir könnten leicht erwischt werden. Nachts gehen der Hausmeister auf dem Hof und die Mamsell auf den Fluren Patrouille. Du weißt schon, wegen ausbüxender Mädchen und so."
Nyria nickte, wie sie hoffte, verständnisvoll. "Eben darum werde ich es auch allein erledigen." erklärte sie.
"Aber das..." begann das Küchenmädchen.
"Du willst deinen Dschob behalten, oder?" fiel Nyria ihr ins Wort und legte ihre Hand auf Gertis Arm. "Wenn ich alleine gehe und erwischt werde, wird niemand je erfahren, dass du irgendwas damit zu tun hast. Wenn wir hingegen zusammen erwischt werden, dann bist du möglicherweise deine Stelle los."
Sie sah, wie Gerti zögerte und legte deshalb schnell nach.
"Alles was ich brauche ist eine gute Wegbeschreibung." Eines ihrer frechen Grinsen blitzte kurz auf. "Und ich verspreche auch hoch und heilig, nichts zu klauen oder kaputt zu machen."
Gerti schien zu einem Entschluss zu kommen.
"Also gut." sagte sie und begann, mit ihrem Finger und Bier einen groben Plan des Internats auf die Tischplatte zu malen.

Lady Deirdre Wagens Institut war ein rechteckiges, alleinstehendes Gebäude, das bis auf die Frontseite von einer hohen, mit Metallspitzen besetzten Mauer umgeben war. Schon beim ersten Vorbeischlendern hatte es Nyria mehr an ein Gefängnis als an ein Internat erinnert und sie bezweifelte stark, dass sich sämtliche Schülerinnen freiwillig dorthin begeben hatten. Wer konnte sagen ob ihre Mutter, wenn sie nicht kurz nach Nyrias Geburt die Scheidung eingereicht hätte, sie im passenden Alter nicht auch in ein solches Institut verbannt hätte damit sie lernte wie man jemandem mit dezenten Fächelbewegungen erklärte, dass er sich dorthin scheren sollte wo die Sonne nicht schien?
Gerti ignorierte den Haupteingang und führte Nyria zu einem schmalen, aus massiv wirkenden Gitterstäben bestehendem Tor.
"Das hier ist der Lieferanteneingang." erklärte sie flüsternd. "Von hier ist es nur ein kurzes Stück an der Mauer entlang bis zur Küche. Sobald wir drin sind ist der Hausmeister keine Gefahr mehr."
Nyria spähte durch die Gitterstäbe. Der Hof lag in völliger Finsternis. So weit, so gut.
Gerti kramte in den Taschen ihrer Schürze und förderte einen Schlüsselbund zu Tage. Metall klapperte gegen Metall, als sie aufschloss und Nyria hindurchwinkte.
Das Zuschlagen des Tors war für Nyria wie ein Startschuss. Nun gab es kein Zurück mehr. Der Rettungstrupp und in ihrer Vorstellung irgendwie auch Ophelia Ziegenberger und die SuSi-Abteilungsleiterin zählten auf sie.
Gemeinsam tasteten sie sich an der Mauer entlang und auf gewisperte Kommandos von Gerti wich sie den Mülltonnen aus, die dort standen. Sie hatten Glück. Anscheinend hatte der Hausmeister in dieser unangenehmen Spätwinternacht besseres zu tun, als sich draußen auf dem Hof kalte Füße zu holen. Nyria konnte es ihm nicht verdenken. In der Unsichtbaren Universität gab es heute Schweinebraten mit Brauner Soße. Normalerweise hätte sie sich unter dem Tisch satt gefressen und sich anschließend mit der Welt zufrieden auf dem Fußende von Raistans Bett zusammengerollt. So ungern wie sie ohne Vollmondnotwendigkeit auf vier Pfoten unterwegs war, die Küche der UU war es immer wert. Warum konnte Bregs Mamsell Piepenstengel nicht mal zur Nachhilfe dorthin schicken?
Die Trauer über die entgangenen kulinarischen Genüsse hielt immer noch an als Gerti plötzlich stehen blieb.
"Versteck dich hinter der Kohlentonne neben der Treppe und warte hier." wisperte sie Nyria ins Ohr. "Ich gehe rein, löse Hanna bei der Küchenbereitschaft ab und hole dich dann sobald die Luft rein ist."
"In Ordnung." gab die Werwölfin ebenso leise zurück und tat wie ihr geheißen. Der Kohlenstaub biss unangenehm in ihre Nase und sie fühlte sich entfernt an das Pulver Nummer Eins aus ihren Schnüffelübungen erinnert. Nur zu gern hätte sie eine Zigarette geraucht, aber das kam gerade nicht in Frage. Erstens befand sie sich in unmittelbarer Nähe zu brennbaren Dingen und zweitens brauchte sie für ihr Vorhaben ihren Geruchssinn in Topform. Gedämpfte Stimmen kamen aus dem angeklappten Kellerfenster unter dem Gitter neben ihr und Nyria spitzte ihre Ohren.
"Du bist früh." stellte eine unbekannte weibliche Stimme fest.
"War nichts interessantes los in der Gans." antwortete Gerti. "Freu dich doch. Dann kannst du früher ins Bett."
"Ich verstehe nicht, was du immer in dieser Kneipe treibst." bemerkte die andere Stimme. "Die anderen reden schon. Eine junge Frau, die alleine Gasthäuser aufsucht, das gehört sich einfach nicht."
Nyria konnte sich förmlich vorstellen, wie Gerti die Hände in die Hüften stemmte.
"Die Fächelschülerinnen bekommen euch nicht." schnappte das Küchenmädchen. "Haltet eure Schnäbel und kümmert euch um euren eigenen Kram. Was ich in meiner Freizeit mache geht niemanden was an, solange ich pünktlich auf der Arbeit bin, selbst wenn ich beschließe, sämtliche Bierfässer der Gans leer zu saufen und sämtliche Kerle des Viertels abzuschleppen."
Unwillkürlich musste Nyria grinsen.
"Ist ja gut." brummte die andere Stimme mürrisch. "Ich bin dann mal im Bett."
Schritte entfernten sich und kurz darauf öffnete Gerti die Tür zur Küche. Nyria schlüpfte aus ihrem Versteck und stieg die Stufen hinab.
"Blöde Kuh." murmelte Gerti, nachdem Nyria die geräumige Küche betreten hatte, und machte eine obszöne Geste in Richtung der schmalen Wendeltreppe, die in einer Ecke aufwärts führte. "Spielt sich hier als Moralapostel auf und übt das Fächeln und Knicksen vor dem Spiegel. So eine parfümierte Monstrosität wie in deiner Tasche von einem reichen Kerl zu kriegen ist ihr heimliches Lebensziel."
"Das kann sie durch den Eintritt in eine der entsprechenden Gilden auch leichter und in größeren Mengen haben." bemerkte Nyria trocken, während sie die Umgebung sondierte. Die Küche der Fächelschule war tadellos aufgeräumt und sämtliche Metalloberflächen und -gegenstände glänzten im Licht der Deckenlaterne. Die Szenekennerin wollte sich gar nicht vorstellen, wie viel tägliche Schrubberei so viel fleckenlose Sauberkeit beinhaltete. Ein Essensaufzug führte an der Schmalseite des Raumes nach oben und direkt daneben befand sich eine Tür, offensichtlich die einzige direkte Verbindung zwischen der Lebenssphäre der Dienerschaft und der der Schülerinnen. Anscheinend war den feinen Fräuleins ein allzu häufiger Kontakt mit potentiell moralisch verdorbenen Leuten wie Gerti nicht zuzumuten.
In Gedanken ging Nyria noch einmal die Karte durch, den Gerti mit Bier auf die Tischplatte in der Gans gemalt hatte. Eigentlich war es objektiv betrachtet gar nicht so schwer. Sie musste das Gebäude einmal entlang der dem Hof zugewandten Längsachse durchqueren und der letzte Raum auf der rechten Seite war der Blassviolette Salon. Die Schwierigkeit bestand eher darin, nicht erwischt zu werden. Der Flur war an dieser Stelle ein totes Ende und Nyria hatte ein unbestimmtes Gefühl, dass der Salon abgeschlossen war.
"Okay." sagte sie in gleichen Teilen zu Gerti und zu sich selbst. "Dann mache ich mich mal auf den Weg."
"Pass auf dich auf." Gerti hielt ihre gedrückten Daumen hoch. "Auf dass das Meisterwerk der Balzpoesie seinen Bestimmungsort erreicht."
"Wenn ich bloß wüsste, dass es in der Sache auch wirklich ein glückliches Ende gibt." sagte Nyria leise und überließ es Gerti, diese Bemerkung als Anspielung auf das fiktive tragische Liebespaar zu interpretieren. Dann gab sie sich einen Ruck, fischte einen Kerzenstummel aus einer ihrer Manteltaschen und schritt auf die Küchentür zu. Zeit, ihre Arbeit zu erledigen.

Die Flure des Fräuleininstituts waren genauso perfekt geputzt wie die Küche und verströmten einen leichten Geruch nach Bohnerwachs. Auch wenn Gerti ihr versichert hatte, dass sich im Erdgeschoss lediglich der Speisesaal, das Musikzimmer, die Unterrichtsräume und die Salons für den erlaubten gesellschaftlichen Kontakt befanden, gab sich Nyria mit dem Schleichen größte Mühe, während sie sich fragte, wie der Stundenplan einer Internatsschülerin wohl aussehen mochte. Montags: Nadelarbeit und korrekter Gebrauch des Stickrahmens. Dienstags: Angemessene leichte Konversation und Plauderei über das Wetter. Mittwochs: Atmen im Korsett und wie man in den richtigen Momenten stilvoll in Ohnmacht sinkt. Donnerstags: Menuett für Anfängerinnen und Fortgeschrittene. Freitags: Pianoforte, Gesang und wie man sich in Opernhaus nicht als Kulturbanausin blamiert. Samstags: Zirkel zur Diskussion erbaulicher Literatur für junge Damen. Sonntags: Wie man das Personal richtig schikaniert. Oktotags: Anwendung des Gelernten bei sozialer Interaktion mit ausgewähltem Besuch. Allein die Gedanken daran ließen sie schaudern. So verquer und nicht immer einfach ihr Leben auch gewesen war, es hatte sie von all den Verpflichtungen zu denen ihr Stammbaum sie sonst gezwungen hatte verschont.
Einmal erklangen Schritte im Stockwerk über ihr und Nyria ging vorsorglich hinter einer ausladenden Pflanze in Deckung, aber ansonsten erreichte sie ohne Zwischenfälle die Tür hinter der sich der Blasslila Salon befinden sollte. Wie erwartet war sie abgeschlossen und Nyria verbrachte bange Minuten damit, in der Sackgasse im flackernden Kerzenschein mit ihren Dietrichen das Schloss zu knacken. Doch schließlich erklang das erlösende Klicken und Nyria blies ihre Kerze aus und schlüpfte durch die Tür.

Die Dunkelheit verhinderte, dass Nyria herausfand, warum dieser Raum der Blassviolette Salon genannt wurde, aber sie konnte zumindest die Umrisse der Einrichtung erahnen. Regale mit Büchern, deren Titel sie wahrscheinlich eh nicht interessierten, bedeckten eine komplette Wand. Eine elegante Sitzecke, wie geschaffen für höfliche Konversation, nahm einen großen Teil des hinteren Bereichs ein. Ansonsten bot der erste Eindruck nichts Interessantes. Nyria seufzte tief und begann, sich ihrer Kleidung zu entledigen. Falls ausgerechnet jetzt jemand hereinplatzen sollte - eine fremde, unbekleidete junge Frau in einem Salon einer Benimmschule mitten in der Nacht wäre bestimmt einer der Skandale des Jahres schlechthin. Nachdem sie ihre Kleider sorgfältig hinter einer Chaiselongue versteckt hatte, ließ sich die Gefreite auf alle Viere nieder und konzentrierte sich auf den wölfischen Teil ihres Selbst.
Nachdem Raistan zum ersten Mal zugesehen hatte, wie sie ihre Gestalt wechselte, war er etwas blass um die Nase gewesen und auch von anderen hatte sie schon zu hören bekommen, dass der Anblick sich nicht gerade dazu eignete, jemandem einen ruhigen Schlaf zu bescheren. Für Nyria selbst fühlte es sich lediglich wie ein halbminütiges starkes Kribbeln im ganzen Körper an, als Knochen, Muskeln, Organe und Sehnen ihre neue Form und Position einnahmen. Dann war es vorbei. Nyria streckte sich ausgiebig und nahm ihre erste bewusste Nase voll Blassvioletter Salon.
Die verschiedenen Gerüche umströmten sie wie farbige Bänder. Dicht über dem Boden lag eine schwere, ölig braune Note von Bohnerwachs, während die Polster und Kissen der Sitzecke eine Wolke von muffigem, staubigem Grau ausstrahlten. Einzelne dunkellila Fetzen von Mottenkugelaroma bildeten ein Bewegungsmuster von Regal zu Regal auf dem Boden. Wahrscheinlich die Mamsell beim Staub wischen. Süßlicher, rosafarbener Blumenduft kam von den Azaleen auf der Fensterbank. Die Krallen von Nyrias Pfoten verursachten leise Klickgeräusche auf dem Parkettboden als die Werwölfin zur Tür lief und von dort begann, den Raum einer gründlichen olfaktorischen Untersuchung zu unterziehen.
Sie brauchte nicht lange zu suchen bis sie es gefunden hatte. Der unverkennbare Geruch nach moderigen Krypten, einem Hauch Verwesung und halb verdautem Blut, der einen Nichtschwarzbandler verriet, dazu eine leichte Pfefferminznote. Nyria kannte diesen Geruch. Sie hatte ihn auf der Treppe des verdächtigen Hauses im Grüngansweg schon einmal gewittert. Ein kaum hörbares Knurren entschlüpfte ihrer Kehle und sie fletschte die Zähne. Volltreffer! Nun hatte sie den Mistkerl! Die Nase dicht am Boden folgte sie der Spur, die von einer zweiten, menschlichen begleitet wurde. Ein Mann. Rasierwasser. Stärke wie sie zur Versteifung von Hemdkragen verwendet wurde. Eine Prise Kolophonium. Wer auch immer den Vampir begleitet hatte, war eindeutig keine Futterjungfrau gewesen.
Die Spuren endeten abrupt vor der holzgetäfelten Wand zwischen einem Regal mit vermutlich erbaulicher Lektüre und einem Schränkchen. Nyria konnte ein aufgeregtes Schwanzwedeln nicht unterdrücken. Das schrie geradezu nach einer Geheimtür. In Gedanken ging sie Öffnungsmechanismen durch, die ihr aus Geschichten spontan in den Sinn kamen. Das einfachste war natürlich ein Druck- oder Kippschalter hinter einem der Holzpaneele. Doch das Bücherregal gleich nebenan bot noch weitere Möglichkeiten. Vielleicht musste man zum Öffnen der versteckten Tür auch das Buch mit dem langweiligsten Titel nach vorn klappen? Oder es gab insgesamt mehrere Mechanismen die in einer bestimmten Reihenfolge betätigt werden mussten? Aber eins nach dem anderen. Nyria senkte ihre Nase und begann von links nach rechts und von unten nach oben, ein Täfelungspaneel nach dem anderen systematisch abzuschnüffeln.
Sie stand bereits auf ihren Hinterläufen, die Vorderpfoten gegen die Wand gestützt, als der vampirische Mief ihr wieder in die Nase stach. Zur Sicherheit zählte sie noch einmal nach. Achte Reihe von unten, viertes Paneel von links. Das war es. Konnte es wirklich so simpel sein oder verbarg sich dort doch noch eine tödliche Überraschung für alle die nicht exakt wussten, wo sie zur Betätigung des Öffnungsmechanismus anfassen mussten? Vorsichtig näherte Nyria ihre Nase dem Holz, bis sie nur noch wenige Millimeter von der Oberfläche entfernt war, und atmete langsam und tief ein, während sie sich auf all die Gerüche konzentrierte, die sie während ihres Fallentrainings kennen gelernt hatte. Um sicher zu gehen wiederholte sie den Vorgang noch zwei Mal, doch der einzige Geruch, der schwach durch das Holz drang war der von feinem Öl, das zum Schmieren komplizierter Mechaniken genutzt wurde. Nyria stieß sich von der Wand ab, unterzog sicherheitshalber auch das Bücherregal und das Schränkchen noch einer kurzen und ergebnislosen Untersuchung auf Vampirgeruch und lief zurück zur Chaiselongue. In ihrer Wolfsform kam sie hier nicht weiter.
Gerade als sie sich ihren Mantel wieder über die Schultern streifte, fiel ein schwaches, flackerndes Licht durch eines der Fenster zum Hof und hinterließ ein unruhiges Muster auf dem Boden. Nyria reagierte sofort. Sie hechtete unter den flachen Tisch der Sitzgruppe und spähte vorsichtig unter der Tischdecke hervor. Die Gestalt, die dort draußen vor dem Fenster entlang lief und eine Laterne in der Hand trug, war ein wahrer Hüne von Mann. Gewissenhaft leuchtete er in jedes Fenster und verharrte dort einige Sekunden. Nyria zog ihren Kopf zurück und hielt unwillkürlich den Atem an. Unwillkürlich schlossen sich ihre Finger um den Griff des Dolchs in ihrem Stiefel. Sie wettete mit sich selbst, dass der Hausmeister entweder in das Vampirarrangement eingeweiht war oder dafür bezahlt wurde wegzusehen wenn nachts Kutschen auf den Internatshof fuhren. Wenn er bemerkte, dass etwas im Zugangszimmer zur Vampirlauer nicht stimmte, dann war der Kothaufen mächtig am Dampfen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit wandte sich der Mann vom letzten Fenster ab und das Licht entfernte sich. Nyria atmete erleichtert aus, ließ den Dolchgriff los und zählte langsam bis hundert. Dann wagte sie sich aus ihrem Versteck hervor und pirschte erneut zum Öffnungsmechanismus der verborgenen Geheimtür. Nur zu gern hätte sie Licht gemacht um das verdächtige Paneel genauer zu untersuchen, doch solange der Hausmeister dort draußen herumschlich war es eine ausgesprochen dumme Idee. Sie zog ihren Dolch, duckte sich, sodass sich keines ihrer Körperteile direkt vor besagtem Stück Täfelung befand, und begann, mit dem Knauf daran herumzuhebeln.
Drücken brachte kein Ergebnis, ebenso wenig Drehungen und Schieben aus verschiedenen Richtungen. Also gut, kein Schalter. Dann war das Paneel vielleicht lediglich eine Abdeckung? Nyria drehte den Dolch in ihrer Hand und schob die Klinge vorsichtig zwischen die Rückwand und den Rand des Paneels. Zu ihrer Überraschung schwang das Paneel schon beim ersten Versuch ohne eine Falle auszulösen widerstandslos an gut geölten Angeln auf. Nyria richtete sich auf und blickte in einen Hohlraum aus absoluter Schwärze. Wie immer kurz nach einem Gestaltwechsel waren ihre Sinne geschärfter als üblich und der Geruch nach Feinmechaniköl, der ihr bereits bei der ersten Untersuchung aufgefallen war, stach ihr deutlich in die Nase. Aber es half alles nichts. Um herauszufinden, was für ein Öffnungsmechanismus sich hinter dem Paneel befand,, musste sie, draußen herumlaufender Hausmeister hin oder her, ein kurzes Licht riskieren. Und dann schleunigst von hier verduften. Nyria schlich zum Fenster und spähte hinaus. Das Licht der Laterne flackerte gerade am anderen Ende des Grundstücks bei den Stallungen. Das hieß, jetzt oder nie. Die Gefreite eilte zurück zur Geheimtür, zog ein Streichholz aus ihrem Tabaksbeutel und riss es an.
Selbst die kurze Lebensdauer des Zündholzes reicht aus um zu erkennen, dass es sich bei dem Schloss, das sich hinter der Wandtäfelung befand, um Meisterarbeit aus Zwergenhand handelte. Nyria fluchte lautlos als sie die Überreste des Streichholzes mit Spucke löschte und in ihrer Manteltasche verschwinden ließ. Sie war zwar eine halbwegs kompetente Einbrecherin, aber echtes Zwergenhandwerk war weit jenseits ihrer Fähigkeiten. Hier half nur noch rohe Gewalt. Während sie aus dem Salon schlich und das Schloss mit mehr Glück als Verstand im Stockdunklen wieder zufrickelte, dachte sie an Braggasch Goldwart, mit dem sie einen Teil ihrer Grundausbildung gemeinsam absolviert hatte und der es mittlerweile in den Rang des Korporals geschafft hatte, während sie selbst immer noch Gefreite war. Der Zwerg stotterte fast so viel wie Senray Rattenfänger, aber er war ein talentierter leidenschaftlicher Bastler. Nyria erinnerte sich an einen langen Abend im Eimer, als sie den schüchternen Zwerg dazu ermutigt hatten, einige seiner Erfindungen vorzuführen. Besonders stolz war Braggasch auf etwas gewesen, das er Schloss-Schredderer getauft hatte. Während die Werwölfin durch das nächtliche Internat in Richtung Küche schlich, begann der nächste Plan in ihrem Kopf Gestalt anzunehmen. Braggasch war mittlerweile Bregs' stellvertretender Abteilungsleiter. Wie schwer mochte es wohl für den Kommandeur sein, einen der Schloss-Schredderer zu beschaffen, damit sie beim Einsatz mit dem zwergischen Meisterschloss hier einfach kurzen Prozess machen konnte? Wenn sie als wütender Mob auflaufen wollten, war Leisetreten sowieso keine Option, und je schneller sie in die Vampirlauer kamen, desto größer der Überraschungseffekt für die Bewohner. Außerdem machte eine ordentliche Explosion immer Eindruck.

Gerti ließ wie ertappt die Bänder ihrer Schürze, mit denen sie herumgespielt hatte, fallen als Nyria die Küche betrat.
"Das hat aber lange gedauert." sagte sie sichtlich erleichtert.
Nyria schritt eine Grimasse. "Der Hausmeister schlich draußen auf dem Hof rum und hat in alle Fenster geleuchtet. Da musste ich mich verstecken bis die Luft wieder rein war."
"Und? Bist du den Brief los geworden?" erkundigte sich Gerti neugierig.
"Der Brief ist so sicher versenkt wie der Ball bei Professor Macaronas Tor beim vorletzten Spiel." antwortete Nyria mit einem schiefen Grinsen. "Jetzt muss ich hier nur noch heil wieder raus kommen. Was meinst du, wie lange dauert die Runde des Hausmeisters noch?"

Eine halbe Stunde später saß Nyria am Tresen der Geflickten Trommel und gönnte sich, zufrieden mit sich selbst, ein großes Winkels Besonders Altes Bier und diverse Feierabendzigaretten. Wenn sie es ihm jemals erzählen könnte, wäre Cim Bürstenkinn sicherlich stolz auf das, was sie heute Nacht geleistet hatte. Auch wenn Damien G. Bleicht ihr eigentlicher Ausbilder gewesen war, derjenige von dem sie gelernt hatte, was es wirklich bedeutete ein SEALS zu sein, war der grimmige Omnianer gewesen. Karriere im Gegensatz zu ihm zwar nie ihr Ziel gewesen war, Cim und sie verstanden sich, auf einer gewissen unterschwelligen Ebene. Der Oberfeldwebel hatte eine Art an sich, die dafür sorgte, dass sich Nyria in seiner Gegenwart heimisch fühlte. Und tief in ihrem Inneren konnte sie sich vorstellen, dass Cim, wenn er von der ganzen Geschichte um den Rettungszirkel hören würde, es verstehen würde, dass sie handelten wie sie handelten. Dass sie Gerechtigkeit wollten und keinen offiziellen Hickhack, der dank der Anwaltsgilde in irgendwelchen Ordnern versandete.
Und war es nicht eben genau das, was sie davon überzeugt hatte, dass Wächterin doch kein so schlechter Beruf war? Das Wissen, daran zu arbeiten, dass miese Subjekte bekamen, was sie verdienten.
Nyria zündete sich eine weitere Zigarette an. Sie freute sich darauf, dem Rettungszirkel von ihrem Erfolgserlebnis zu berichten. Und ganz besonders freute sie sich darauf, dass diese aufgeblasene Assassinin vielleicht mal merkte, dass auch andere Leute etwas reißen konnten. Sie tastete nach dem Brief in ihrer Manteltasche. Allen Gesetzen der Logik zufolge wäre es am besten, wenn sie ihn in das nächste Kaminfeuer warf um das eventuelle Beweisstück zu vernichten. Nyria zog den Umschlag hervor und betrachtete ihn. Andererseits hatte Chief-Korporal Mina von Nachtschatten so viel dichterische Energie in dieses Meisterwerk des Schmalzes gesteckt, dass es ihr gegenüber einfach nicht fair wäre, ihren selbstlosen Einsatz in Namen des Kitsches spurlos vom Antlitz der Scheibenwelt zu tilgen. Nyria fasste einen Entschluss. Sie würde den Brief behalten und ihrer ganz persönlichen Sammlung von Souvenirs aus der ganzen Scheibenwelt hinzufügen. Und irgendwann würde sicher auch der letzte Hauch Odeur d'Magicien verfliegen.

26.06.2017 0: 03

Senray Rattenfaenger

"Brenne!", flüsterte die junge Frau sanft in das Ohr des Vampirs, ehe sie einen Schritt zurück trat und zusah, wie er Feuer fing. Seine Schmerzensschreie waren Gesang, das Fauchen der Flammen die Melodie.
Refizlak genoss das Bild in vollen Zügen, genoss den Anblick seines Gefäßes wie es die verhasste Kreatur voller Begeisterung beseitigte.
Zu schade, dass es nicht echt war.
Nichts als einer von Senrays Albträumen, in denen er zusah. Ein von ihm ausgelöster, manipulierter Albtraum. Es war so leicht, ihre Ängste aus ihren Gedanken zu filtern und aus ihnen konkrete Bilder zu formen. Ein Kinderspiel für ihn, der ganze Welten in ihrem Geist erschaffen konnte.
Sie ihr zu induzieren war weniger leicht, doch nicht unmöglich. Der Pakt verbot ihm direkten Kontakt mit ihr, so sie ihn nicht wünschte. Doch Eindrücke, Bilder konnte er eigentlich immer schicken. Und während sie schlief war sie am empfänglichsten für diese Art der Einflüsterung. Zumal sie immer noch nur bei Kerzenlicht einschlief, wenn sie es einrichten konnte. Womit sie ihm eine Brücke schuf, ihm fast so etwas wie eine Einladung schickte.
Nicht, das sie das wusste. Aber daran war Refizlak aktuell auch nicht interessiert.
Es war beinahe ironisch. Vor wenigen Tagen hätte er noch viel dafür gegeben, dass sie endlich wieder Kontakt mit ihm aufnehmen würde, dass sie ihm ... näher kommen würde. Wenn sie ihm mehr Freiheiten eingestehen würde – dann wären das nicht reine Traumbilder. Er könnte den elendigen Kaltblüter tatsächlich einfach so verbrennen lassen! Und er würde es tun.
Doch seit sie das letzte Mal Kontakt zu ihm aufgenommen hatte, hatte sie sich immer weiter von ihm entfernt, emotional betrachtet. Womit eine derartige Lockerung seiner Grenzen, eine Erweiterung seiner Macht, in die Ferne gerutscht war.
Seit er ihr offenbart hatte, dass die Reaktion auf die Ziegenberger-Frau nicht einseitig war ... war dieser dreckige Blutsauger in ihr Leben getreten. Hatte sich ihr Vertrauen erschlichen und dafür ihn, Refizlak, diskreditiert. Als wenn er die Zecke wäre, die sich unerlaubt bei Senray eingenistet hatte.
Nur das sie ihn damals willkommen geheißen, den Pakt mit ihm geschlossen hatte. Und anders als die anderen Gefäße ihn nicht gehasst hatte. Allein das machte die Frau wertvoll für ihn. Sobald er sie zurück gewonnen hatte – und das er das würde, daran bestand für ihn kein Zweifel – konnte Refizlak sich darauf vorbereiten, ihren Körper zu übernehmen. Und in ihm noch mehr Macht als erlangen! Alles, was er dafür tun musste, war den Einfluss des Blutsaugers entfernen und selbst wieder Senrays vollstes Vertrauen gewinnen. Dann würde sie sicher, früher oder später, ihm mehr Freiheit übertragen um selbst mehr Macht zu erhalten. Jeder Mensch, der um diese Möglichkeit wusste, fiel darauf herein. Sie alle wollten sich immer selbst bereichern und seine Macht zur ihren machen. Warum sollte sie es also nicht?
Refizlak beobachtete, wie eine zweite Senray, ein Abbild ihres Traumbewusstseins, verzweifelt versuchte die Andere niederzuringen und dem brennenden Vampir zu helfen. Wie sie auf die Knie sank und flehte, während der Blutsauger unter Qualen verging.
Vielleicht lag hier das wirkliche Problem. Er war sich ihrer zu sicher gewesen, war sich zu sicher, dass sie reagieren würde, wie jedes Gefäß davor. Doch sie war wohl in mehr als einer Hinsicht anders als seine bisherigen Gefäße. Statt ihn um seine Macht zu bitten, hatte sie sich in sich selbst zurückgezogen. Und als sie von der Dunkelheit in ihrem Inneren beinahe ertränkt worden wäre ... hatte nicht er sich ihr anbieten können, sondern der Vampir. Verfluchte Beschränkungen!
Verfluchter Blutsauger. Wilhelm Schneider ...
Refizlak spürte neuen Zorn in sich hochkochen, während der Traum im Rauch verging. Senray war aufgewacht, ihr Bewusstsein nicht mehr bildhaft und leicht zu manipulieren sondern voll Gedanken und Emotionen, die sich überlagerten. Er lauschte auf ihre Eindrücke, während er weiter über den Vampir nachdachte.
Diese Albträume dienten immerhin hauptsächlich einem Zweck: Sie sollten Senrays Ängste schüren. Ihren Schlaf stören. Sie müder machen, ängstlicher, fahriger. Er würde sie ihr Nacht für Nacht schicken. Nein, nicht nur Nacht für Nacht. Jedes Mal wenn sie schlief. Egal wann.
Bis ihr endlich Missgeschicke passierten, Unfälle. Irgendetwas, das gravierend genug war, dass es einer echten Strafe für den Blutsauger würdig war.
Sie musste sich ja nicht gleich das Genick bei einem Sturz vom Dach brechen. Das wäre definitiv kontraproduktiv. Er wollte Senray als Gefäß behalten. Wollte sie besitzen. Ganz und gar, nicht nur ihr Herz, auch ihren Körper und ihren Willen.
Aber jetzt, in diesem Moment und in den letzten Tagen, war ein anderer Wunsch in ihm gewachsen und stark geworden. Er wollte, dass Wilhelm Schneider litt.
Der Vampir hatte sich zu viel geleistet, zu viel herausgenommen. Und tat es immer noch!
Doch die Paktgrenzen waren zu präsent, der Energieverlust wäre zu groß. Diese Zecke war trotz allem das noch nicht wert. Zumal es einen einfach Weg gab, ihn zu strafen und in seine Schranken zu weisen.
Über Refizlaks eigenes Gefäß, Senray.
Sicher wäre es ursprünglich zu bevorzugen gewesen, einen anderen Weg zu finden. Allerdings hatte sich Senray dem Kaltblüter bereits zu sehr zugewandt. Auch das musste gestraft werden. Schließlich sollte sie nicht auf die Idee kommen, von jetzt an jeder nächstbesten Zecke hinterherzulaufen, wie ein Hündchen ohne Herrn.
Und mit diesen Albträumen konnte er seinen Zweck gleich doppelt verfolgen. Zum einen würden sie die junge Frau anfälliger für Alltagsunfälle machen, für die er wiederum den Vampir strafen konnte. Ganz nach den Grenzen und Gesetzen des Paktes.
Zum anderen würden eben ihre Ängste wachsen. Wie durch die Bilder der heutigen Nacht. Die, dass sie selbst eine Gefahr war. Mit etwas Glück hielt sie sich dann wieder mehr von dem Blutsauger fern. Refizlak kannte Senray und er wusste, dass sie den Gedanken nicht ertragen würde, durch ihre Nähe jemanden, den sie mochte, zu gefährden. Und sobald sich diese Angst gefestigt hatte und sie wieder auf gebührlichen Abstand ging, würde er andere Bilder schicken, andere Ängste befeuern. Jedes Mal, wenn sie Ruhe suchte und schlief, würde er die Chance nutzen und ihre Träume anpassen und damit ihre Ängste steigern.
Die vor Vampiren allgemein zum Beispiel. Diese wundervoll tief verwurzelte Angst in ihr, die sie sich nicht erklären konnte. Die Refizlak selbst ihr langsam aber sicher tief eingepflanzt hatte. Um ein Szenario wie das Jetzige zu vermeiden. Das sie, sein Gefäß, einen Blutsauger als etwas anderes betrachtete, als eine der Existenz unwürdige Zecke. Oder wenigstens eine wahrhaftige Bedrohung.
Und Refizlak musste nun schnell und hartnäckig handeln, dessen war er sich sicher. Wilhelm Schneider hatte immerhin bereits begonnen, einen Eindruck im Herzen seines Gefäßes zu hinterlassen, der sich nicht einfach durch ein, zwei eingeflüsterte Bilder wieder auslöschen lassen würde. Würde er noch weiter zögern ... es konnte nur schlimmer werden.
Aber noch konnte er alles ändern. Er konnte und würde Senray solange Albträume schicken, bis sie die Zecke mied. Aus Angst, ihn zu verletzen und weil sie selbst vor Angst ob seiner Unnatürlichkeit dessen Nähe nicht mehr ertrug. Sicher würde das wiederum auch nicht lange dauern, sie hatte bereits von sich aus Zweifel in sich, auf die er bauen konnte. Vielleicht, wenn er nicht nur den Vampir in ihren Träumen zum Opfer der Flammen machte, sondern all diese nutzlosen Gestalten, die planten die Ziegenberger-Frau zu retten ... vielleicht verlies Senray dann endlich die Wache?
Die Stadt an sich war ein reizvolles Gebiet für Refizlak. Allerdings hatte sein Gefäß sich seit sie hier war vollkommen anders entwickelt, als er erwartet hatte. Unter anderem hatte sie zuletzt begonnen, Ungeziefer in ihr Herz zu schließen. Oder zumindest eine ganz bestimmte Zecke.
Doch Refizlak würde sich nicht das Herz von Senray Rattenfaenger streitig machen lassen. Sie war sein Gefäß, sein Besitz, sein Eigentum.
Und daran würde dieser Vampir nichts ändern.

Senray saß zitternd an der Kante ihres Bettes und versuchte sich zu sammeln.
Es war nur ein Traum. Nur ein Traum!
Aber ... hatte es nicht eine reale Gefahr gezeigt? Eine tiefere Wahrheit offenbart?
Sie war sich sicher, seit sie den Handabdruck auf Wilhelms Brust gesehen hatte, dass er ihre Form gewählt hatte. Und es war auf grausame Art passend. Immerhin war es sie. Sie war die Gefahr! Ohne sie, ohne ihre selbstsüchtige Entscheidung zu leben, ohne diesen Pakt ... Es gäbe all diese Probleme nicht. Die Gefahr nicht. Wilhelm wäre nicht in einen Pakt gezwungen, würde nicht für Dinge, die ihr passierten ‚bestraft‘ werden. Und mit welcher Willkür eben jene Bestrafung geschah!
Es war einfach nicht richtig. Und der Traum ...
Was, wenn sie doch irgendwann die Kontrolle verlor? Konnte er das wirklich tun? Aber wenn er, nur mit Wilhelms Namen und seiner Zustimmung zu einem Pakt, diesem für quasi nichts solche Wunden zufügen konnte – warum sollte er nicht seinem Element nach handeln können? Warum nicht verbrennen können, was ihm im Weg war? Oder ... wer.
Das durfte nicht passieren! Sie musste die Kontrolle behalten, er durfte unter keinen Umständen endgültig Besitz von ihr ergreifen! Doch wem wollte sie überhaupt etwas vormachen? Sie hatte nie wirklich die Kontrolle besessen. Sie konnte ja nicht mal ihre eigenen Emotionen soweit beherrschen, dass sie ruhig und besonnen an die ganze Angelegenheit herangehen konnte! Sie wusste nicht, in wie weit Refizlak wirklich irgendwelchen Regeln unterlag oder welchen Einfluss sie darauf hatte. Nur, dass er bisher auf ihren Kopf beschränkt war. Nur stimmte ja nicht mal das mehr, seit sich ihre Reaktion auf Ophelia gezeigt hatte. Seit dem reagierten auch Flammen in ihrer Umgebung. Vielleicht war das ein Sonderfall ... aber vielleicht auch nur der Beginn von etwas größerem, schrecklicherem.
Eigentlich, wenn sie vernünftig und fair den anderen gegenüber war, müsste sie sich zurückziehen. Diese Zeit abwarten, bis Wilhelm aus seinem Pakt befreit war, und dann die Stadt verlassen. Doch in die Berge gehen und möglichst jeden meiden, um nicht noch jemanden wie Wilhelm zu gefährden.
Oder ... gleich zu den Zauberern gehen.
Doch das konnte sie nicht. Beides lief auf einen mehr oder minder schnellen Tod hinaus. Ihren Tod.
Es war der einzige Weg, die anderen zu schützen. Vor ihm. Vor ... ihr selbst.
Senray zitterte noch mehr.
Wie sinnlos es doch war! Immerhin existierte der Pakt nur, weil sie hatte leben wollen! Und nun bedrohte sie damit das Leben so vieler anderer! Von Kollegen, Freunden... Personen, die ihr am Herzen lagen.
Die sie aber wiederum nie getroffen hätte, wäre es so gekommen, wie es geplant war. Sie wäre seit Jahren tot, begraben und vergessen.
Senray vergrub ihr Gesicht in ihren Händen, lies die Tränen zu, unterdrückte nur das Schluchzen. Falls noch jemand wach war, wollte sie keine Fragen beantworten müssen, warum sie mitten in der Nacht weinte. Es war sowieso ein Wunder, das Glum sie noch nicht zu einem längeren Gespräch gebeten hatte, bei all dem, was in der letzten Zeit mit ihr und um sie herum gewesen war. Wie oft sie hier fehlte, für die Besprechungen des Rettungstrupps oder die Übungen! Wie oft sie ihre Emotionen gar nicht mehr unter Kontrolle gehabt hatte.
Entweder war er zu tief in seiner ganzen Arbeit verstrickt, um zu bemerken, dass sie nicht nur für ihre Einsätze fehlte oder er entschied sich, es bewusst zu ignorieren. Solange sie den DOG und der Wache nicht schadete.
Da war er wieder, der bittere Beigeschmack. Den anderen Schaden. Eine Gefahr für sie darstellen.
Sie war so unendlich froh, noch eine Wächterin zu sein. Eine DOG. Weiter auf Einsätze zu dürfen, hier weiter arbeiten zu können! Sie war sogar noch ein Teil des Rettungstrupps, sie erhielt weiter die Informationen und konnte versuchen, außerhalb von Ophelias Radius und des finalen Einsatzes zu helfen.
Doch ... welche Hilfe leistete sie schon? Was rechtfertigte diesen Vertrauensvorschuss von Seiten der anderen, von Seiten des Kommandeurs? Im besten Fall war sie ein Klotz am Bein, eine Behinderung. Aber die Wahrheit war nun einmal einfach dunkler, ernster. Bedrohlicher.
Was könnte sie schon tun, was dies ausgleichen würde?
Senray sah auf, erschöpft und resigniert. Die Kerze auf dem Nachttisch flackerte leicht, vom geöffneten Fenster kam ein Luftzug. Doch nach diesem Traum ... diesem Albtraum, wie sollte sie da Schutz in ihrem Licht suchen? In ihrem Feuer.
Kurz schloss sie die Augen und sofort waren die Bilder wieder da – Wilhelms qualvoll verzogenes Gesicht als er brannte. Nein! Nein, sie wollte das nicht!
Die Wächterin riss die Augen wieder auf, sah vor sich den Schreibtisch, schwach beleuchtet. Arbeit.
Sie würde nicht mehr schlafen können. Sie wollte es gar nicht, wollte ihre Augen nicht mehr schließen. Also, warum nicht gleich weiter arbeiten? Es gab noch genug Berichte, die korrigiert werden mussten, Akten, die ergänzt werden mussten... Vielleicht konnte sie so etwas von ihren neuerdings häufigen Fehlzeiten aufholen.
Senray stand auf, nahm die Kerze mit zum Schreibtisch und entzündete dort weitere. Ohne Licht zum Lesen würde es einfach nicht gehen, auch wenn sie das Flackern gerade nervös machte.
Das Feuer sie einmal nervös machen würde ... Aber sicher lag es nur an dem Traum. Wenn die Nacht überwunden war, würde es wieder ganz anders aussehen. Zumindest musste sie das hoffen.
Die DOG sah über die auf ihrem Schreibtisch liegenden Papiere und Akten. Dabei fiel ihr ein Blatt ins Auge, eine Zeichnung, die sie selbst angefertigt hatte. Senray zog sie hervor und betrachtete sie einen Moment genauer.
Es war nichts als eine Idee gewesen. Etwas, was sich vielleicht für einen kleinen Ausflug bei den Alchimisten eignete, um mal wieder mehr Informationen über die aktuellen Forschungsgebiete zu bekommen. Nichts anderes. Aber wenn es funktionieren würde ...
Die junge Frau legte die Skizze vor sich und stützte ihren Kopf auf ihren Händen ab. Sie hatte den Alchimisten sowieso einen Besuch abstatten wollen, irgendwann, mehr oder minder demnächst. Wenn sie das vorziehen würde und etwas Glück hatte ...
Vielleicht könnte sie doch noch etwas mehr für den Rettungstrupp beitragen. Sich wirklich nützlich machen und nicht nur versuchen, Schadensbegrenzung zu betreiben.
Senray erlaubte sich diese schwache Hoffnung und atmete tief durch.
Außerdem war da noch der Auftrag, den sie bei der letzten Besprechung bekommen hatte. Chief-Korporal von Nachtschatten hatte ihr die Aufgabe übertragen, die Mob-Ausrüstung für die anderen zu besorgen. Auch so konnte sie sich nützlich machen. Und sie hatte nicht vor, dieses Vertrauen zu enttäuschen!
Das hieß allerdings, sie musste sich zusammen nehmen. Keine Ausrutscher, egal in welcher Form. Sie hatte in letzter Zeit sowieso viel zu viel Energie ans Weinen verschwendet. Hatte sie nicht genau so nie werden wollen? Endgültig schwach und wehrlos und dabei auch noch klischeehaft weinerlich. Nein!
Sie war sicher nicht stark und entschlossen wie die anderen. Und sie würde wohl nie so selbstbewusst sein. Aber sie war auch kein dummes Liebchen, dessen einzige Waffe ihre Tränen waren! Sie konnte für sich selbst einstehen. Konnte sich zur Not verteidigen. Und immerhin war sie bisher immer klar gekommen. Sowohl vor ihrem Eintritt bei der Wache, als auch seitdem.
Nur aktuell ... Hatte sie sich doch überarbeitet? Senray wusste, dass sie einen schrecklichen Eindruck bei dem Rettungstrupp hinterlassen haben musste. Immer und immer wieder. So konnte es einfach nicht weitergehen. Von jetzt an würde sie ihre Sache besser machen.
Für den Anfang hieß das, dass sie nach Außen hin die Maske wieder aufrechterhalten musste. Funktionieren. Und ... wegen einem Albtraum ... es war wirklich albern. Sie überreagierte einfach viel zu leicht. Nein, daran musste sie dringend arbeiten, um die anderen nicht auch noch mit ihrer ... Instabilität zu belasten. Ihren Befindlichkeiten. Was dachte jemand wie Rach wohl über Albträume? Oder Chief-Korporal von Nachtschatten?
Senray erschauderte leicht und konzentrierte sich wieder. Sie musste planen, wie sie es genau Angehen wollte. Und die Akte der Alchimistengilde noch einmal studieren, sicherheitshalber. Außerdem eine bessere Skizze anfertigen. Sich eine geeignete Rolle aussuchen, die alten Register nochmal durchgehen. Eine gute Begründung Glum gegenüber finden, warum sie einen Einsatz bei den Alchimisten, der Zeit hätte, dem akuten Einsatz wegen der vielleicht unlizensierten Diebe vorzog.
Und nebenbei konnte sie sich auch schon mal Fragen, was man wohl als Mob brauchte. Und, wo sie die entsprechenden Sachen unauffällig beschaffen konnte. Mistgabeln waren doch nicht gerade dezent, da würde also auch noch etwas mehr Arbeit auf sie zukommen. Allerdings freute Senray sich darauf, wenn sie ehrlich war.
Wie gut, dass sie die ganze Nacht noch vor sich hatte, um sich mit diesen Themen zu beschäftigen. An Schlaf war wirklich nicht zu denken.

27.06.2017 7: 41

Magane

Irgendwann würde Igorina der Tee ausgehen. Magane rechnete jetzt schon seit Tagen damit, dass es soweit war und sie hatte die neue Mischung auch schon fertig. Auch wenn Sebastian beinahe alles vermasselt hätte mit seiner ständigen Anwesenheit. Unter Beobachtung hexte es sich einfach nicht so gut. Dabei hatte sie doch um jeden Preis verhindern wollen, dass die neue Mischung eine Andere war. Nicht 42 sondern 42a, die Variante, die hoffentlich die schwerwiegendste Nebenwirkung, die absolute Stille, die Tatsache, dass man durch die Einnahme des Tees die Stimme verlor, nicht mehr verursachte. Die Gefahr an dieser veränderten Mischung war, dass sie geringfügig anders schmeckte. Ein wenig nach Frosch, ein Umstand, der kaum zu erklären war, da in der Mischung keinerlei tierische Bestandteile enthalten waren. Und soweit sie wusste erfreute sich der einzige an den Tests beteiligte Frosch bester Gesundheit, auch wenn er nun in Mags Dachgarten ein etwas einsames Leben führte. Er war mit diesem Ansatz zudem auch nicht in Berührung gekommen. Ophelia würde die Veränderung wahrscheinlich sofrt bemerken und dann wusste nur Om allein wie sie reagierte. Was sie auf keinen Fall durfte war sich weigern den Tee zu sich zu nehmen, denn damit würden alle Erfolge der letzten Tage gefährdet. Aber 42a mit einem weiteren Wirkstoff zu versetzen, der sie optimistischer stimmte oder beruhigte, kam nicht in Frage. Die Mischung war außergewöhnlich empfindlich und veränderte schnell ihre Wirkung. Was aber funktionieren konnte war ein Geschmackszusatz, der direkt mit aufgebrüht wurde. Vielleicht Rosenblätter? Nein, Rosen waren keine gute Idee, zu beliebig. Außerdem funktionierten Früchte wahrscheinlich besser.
Sie schnupperte sich durch die verschiedenen getrockneten Früchte, die ihr zur Verfügung standen. Apfel, Kirsche, Banane... alles hatte seinen eigenen Reiz, aber keine direkte Verbindung zu Ophelia. In der letzten Tüte befanden sich Erdbeeren, aromatisch süße Erdbeeren. Das wars, sie wusste selbst nicht warum, aber mit einem Mal war sie sich sicher: Erdbeeren sollten es sein! Sie gab einen Löffel davon in den Mörser und zerrieb sie zu einem Puder, damit in der fertigen Mischung hinterher keine verräterischen roten Stückchen auffielen. Hoffentlich löste dieser Geschmack, oder vielmehr der Geruch, bei ihr positive Gefühle aus. Am besten verband sie diesen Geruch mit etwas Gutem aus der Vergangenheit, vielleicht sogar mit Rach. Das würde zwar vermutlich schmerzen, aber dann würde sie wissen, dass etwas Positives geschah. Vielleicht sogar dass Rettung nahte, das alles nur noch eine Frage von Tagen war. Hoffnung war möglicherweise genau die Medizin, die sie jetzt noch brauchte und die kam dann auch noch gekoppelt mit der Möglichkeit sich wieder verbal äußern zu können.
Ophelia hatte sich anfangs gesträubt die Mischung als Lösung ihrer Probleme anzusehen, weil sie die Hoffnung es allein zu schaffen noch nicht aufgegeben hatte und zudem genau mit der Sprachlosigkeit nicht leben konnte und wollte. Magane hatte das gut verstehen können... die Anderen eigentlich nicht. Aber vielleicht war das Schlimmste an der Reaktion der Anderen auf den Tee und seine Nebenwirkung gewesen, dass sie ihn einfach als weiteren Fehlschlag abgetan hatten. Keine Kritik, keine Vorwürfe... ein Fehlschlag, morgen ist ein neuer Tag. Dabei war Nummer 42 das Erste was überhaupt annehmbar funktioniert hatte. Val hatte ihr damals zugeraunt, dass er die Mischung gar nicht übel fand. Klar, aus seiner vampirischen Perspektive war es ein Erfolg mit verschmerzbarer Nebenwirkung und das konnte sie sogar in gewisser Weise nachvollziehen, wertete sie selbst 42 doch ebenfalls als Erfolg. Aber sie konnte sich auch in Ophelia einfühlen und verstand wie frustrierend die Sprachlosigkeit für sie sein musste. Das war nur ein weiterer Käfig, eine weitere Form von Freiheitsberaubung. Als wäre es nicht schon schlimm genug gewesen, mit kaum jemandem reden zu dürfen und am Arbeitsplatz eingesperrt zu sein ohne arbeiten zu dürfen, aber plötzlich nurnoch schriftlich kommunizieren zu können, das war unerträglich... Vermutlich dachte sie inzwischen anders darüber.
Sollte es eine freie Zukunft geben, wäre Ophelia dennoch auf den Tee angewiesen, schon um ihr ein gewisses Maß an Privatsphäre wiederzugeben. Und sie sollte auch nicht wählen müssen zwischen der Möglichkeit zu sprechen und der Sicherheit ihre Gedanken für sich behalten zu können. Deswegen hatte Magane auch nach ihrem Verschwinden weiter geforscht. Nur deswegen hatte sie den Frosch von 42 abhängig gemacht und dann so lange experimentiert bis er wieder quakte. Und jetzt lebte der Ärmste allein, weil die Froschdamen ihn nicht mehr verstanden. Die Befürchtung, dass es Ophelia eventuell genauso ergehen könnte, quälte sie eigentlich nicht. Frösche und Menschen waren sowieso kaum vergleichbar. Trotzdem war sie sich fast sicher, dass es funktionieren würde... schon allein, weil sie es heimlich heimlich, mit einer geringeren Dosis, selbst getestet hatte. Die geringere Dosis war dabei ihre einzige Vorsichtsmaßnahme gewesen. Wäre etwas schiefgegangen hätte sie nur hoffen können, dass die Wirkung schnell nachließ. Was sie so natürlich nicht hatte testen können war, ob die neue Mischung Ophelias Gedankenleck genauso effektiv verschloss wie die alte. Aber auch da war sie optimistisch, der Frosch konnte auf Tee nicht geborgt werden und ihre eigenen mentalen Fähigkeiten blockierten die Mischungen ebenfalls beide in gleichem Maße. Beides waren nur Indizien, aber das Problem der Freundin war nunmal so speziell, dass es dafür eifach keine Testpersonen gab.
Sie hörte das Klappern eines Schlüsselbundes, Sebastian konnte das nicht sein, der hatte zu viel Spaß daran sie zu erschrecken, um sich durch Geräusch zu verraten. Aber die Igors klapperten normalerweise, vielleicht um wenigstens etwas Anstand zu wahren. Magane setzte sich aufrecht hin und füllte die fertige Mischung ein die bereitstehende Dose. Sie drehte sich nicht um, von dem Igorpärchen ging keine unmittelbare Gefahr aus, denen konnte man getrost den Rücken zukehren, auch wenn sie das absolut nicht mochte.
"Ich brauche neuen Tee für Ophelia", kam Igorina sofort zur Sache, ohne sich mit langen Vorreden aufzuhalten.
"Bin grade fertig geworden", Mag drehte sich nun doch um und reichte die verschlossene Dose der Igorina.
Diese öffnete die Dose und roch an der Teemischung, daran hatte Magane nicht gedacht... natürlich musste sie so auffliegen. Die Ältere zog die Augenbrauen zusammen und sah die Hexe fragend an.
"Ein anderef Refept?"
"Nur eine kleine Änderung, ich habe eine der Nebenwirkungen behoben, das hätte ich auch schon bei der ersten Mischung gemacht, aber da wollte ich sie nicht verunsichern."
"Und jetft ift der Feitpunkt gekommen, um fie fu verunfichern?"
Mag blieb nichts anderes übrig, sie musste Igorina einweihen und hoffen, dass sie sie vom Nutzen überzeugen konnte.

28.06.2017 0: 01

Ophelia Ziegenberger

Igorina straffte ihre Schultern, ehe sie den Raum betrat, das Teetablett vor sich her tragend.
Ophelia saß bereits auf der Bettkante und schlang mit langsamen Bewegungen ihr Schultertuch um sich. Sie wirkte zerbrechlich und matt. Aber immerhin trank sie inzwischen wieder selber. Und dass sie sich ebenfalls wieder um ein Minimum an Würde sorgte, sprach auch zu ihren Gunsten. Trotz Sebastians Bemühungen schien die Gefangene ganz allmählich zu genesen. Ein wackliger Zustand zwar, der kleinste Zwischenfall könnte die bisherigen Erfolge wieder zunichte machen. Aber immerhin, ein Schritt in die richtige Richtung.
Sie nickte Ophelia ernst zu, was diese leicht erwiderte. Dann trug sie das Tablett zu ihr und stellte es auf dem kleinen Nachttisch ab. Schweigend schenkte sie ihr ein. Noch ehe die Patientin nach der Tasse greifen konnte, wandte sie sich ihren üblichen Aufgaben im Raum zu. Sie schürte das Feuer, legte Holz nach und bereitete die Waschschüssel für Ophelia vor.
Sie stand vor der breiten Ablagefläche linkerhand des Raumes, als ein leises Klirren hinter ihr erklang, ein gleichmäßiges Klingen, wie wenn ein Stiel aus Metall gegen eine Schüssel aus Porzellan geschlagen würde.
Sie verkrampfte sich innerlich und versuchte, das Geräusch geflissentlich zu ignorieren, einfach mit ihrer Tätigkeit fortzufahren und so zu tun, als wenn sie nichts gehört hätte. Vielleicht noch einige Kamilleblüten mehr ins Wasser geben...
Das hell scheppernde Klopfen hinter ihr wiederholte sich.
Sie atmete tief durch und gab sich geschlagen.
Natürlich hat sie es gemerkt. Ich hatte nur so sehr gehofft, sie würde es auf sich beruhen lassen. Einfach ihren Grübeleien nachhängen und im Stillen zweifeln. Aber nein, es soll nicht sein.
Igorina wandte sich mit möglichst neutralem Gesichtsausdruck zu Ophelia um.
"Fehlt dir etwaf? Foll ich mich um etwaf kümmern?"
Für einen Sekundenbruchteil flog ein schmerzlicher Ausdruck über ihre grauen Augen. Dann aber war der Moment vorbei und sie deutete mit Nachdruck auf ihre Tasse.
"Ja? Dein Tee. Um dich geiftig abzusichern. Waf ift damit? Du follst ihn trinken und nicht dagegen klopfen."
Ophelia blickte sie kurz irritiert an. Dann senkte sie mit vorwurfsvollem Blick leicht die Stirn, als wenn sie ihr dabei sagen würde: Du willst mir ausweichen? Du weißt also längst, was ich dir sagen will? Warum lässt du mich dann so hängen? Nein, nicht so! Sprich gefälligst mit mir, das zumindest schuldest du mir, nach all der langen Zeit, in der ich dir keinen Anlass zu Unfreundlichkeiten gegeben habe!
Und wirklich schüttelte sie leicht den Kopf und deutete ihr, herüber zu kommen. Sie klopfte obendrein auf die freie Bettkante neben sich, als wenn es Zeit für ein längeres Gespräch unter vier Augen wäre. Und vielleicht war es das ja wirklich?
Igorina seufzte schwer. Sie tat, wie ihr geheißen und setzte sich neben die ehemalige Wächterin.
Ophelia nickte sacht mit einem kleinen Lächeln. Sie deutete wieder auf die Tasse, mit dem sich warm aufwärts ringelnden Duft, fächelte diese Duftspur demonstrativ in ihrer beider Richtung und führte diese mit flacher Hand symbolisch unter ihre Nase. Sie schloss dabei die Augen und atmete mit wohligem Lächeln tief ein. Anschließend öffnete sie sie schnell wieder und legte ihren Kopf mit großen Augen fragend schief.
"Er riecht heute befonderf gut. Ja, ift mir auch fon aufgefallen. Fagt dir daf nicht zu?"
Ophelia sah sie erst vorwurfsvoll an, dann leicht verletzt. Sie wartete noch immer auf Antworten für die Fragen, die sie so, mit den wenigen ihr verbliebenen Worten, nicht stellen konnte, von denen sie aber wusste, dass sie in der widerborstigen Gestalt ihrer Pflegerin nur auf sie warteten.
Die Hexe hat zumindest darin Recht: Sie braucht ihre Stimme, um sich auszudrücken und besser für sich kämpfen zu können. Und die Teemischung ist auf deren Mist gewachsen, also hat eigentlich die Hexe ihr die Stimme genommen. Dann liegt es auch in deren Verantwortung, sie ihr wiederzugeben. Ich sorge nur für die Wiederherstellung eines größeren Gleichgewichts, wenn ich den beiden ihren Willen lasse. Ich muss zwar vorsichtig sein, Sebastian sollte nichts mitbekommen. Aber sonst...
Ophelia legte ihr deren schmale Hand vorsichtig auf den Oberschenkel und blickte bittend.
"Oh, wirklich! Ophelia, daf geht doch wieder nicht gut. Willft du ef wirklich und wahrhaftig wiffen?"
So etwas wie ein Glühen leuchtete in ihrem Blick auf, ein Funke, und sie nickte nachdrücklich.
"Na gut. Aber du weißt, wie Febaftian darauf reagiert, fallf er etwaf davon mitbekommt. Ich follte dir ganz ficher nichtf davon fagen. Aber wenn du darauf beftehst. Ja, ef ift eine neue Teemischung. Soweit ich weiß, basiert fie auf der vorigen. Fie foll allerdingf... besser fein. Wenn ef geklappt hat, dann follft du nach deren Einnahme trotzdem wieder fprechen können. Zumindeft ift ef fo gedacht."
Sie konnte ihr regelrecht beim Denken zusehen und als die Jüngere erst zum Tee und dann mit fragendem Ausdruck zögerlich auf sie deuten wollte, kam sie ihr zuvor, indem sie sie dabei unterbrach.
"Nein, habe ich nicht. Habe ich nie. Und auch mein Mann nicht. Daf ift eine Kunft, die fich ausserhalb unferef Könnens bewegt, da fie nicht nur Kräuter miteinander vermengt, fondern eben auch Magie hinein tut."
Ophelia konnte nicht verhindern, dass sich ihr Mund zu einem schockierten "Aber dann..." öffnete, selbst wenn diesem kein Ton entwich.
Igorina nickte stumm.
Ophelia bewegte sich nun fast ängstlich, ihre Hand zeigte zitternd über ihrer beider Köpfe. Nach einer langen Sekunde wandte sie sie mit dem typisch fragenden Gesichtsausdruck und unübersehbarer Überwindung abwärts, bis der Zeigefinger bebend auf den Zellenboden zeigte.
Igorina seufzte leise.
"Richtig. Die Hexe ift ebenfallf hier, hier unten, neben deinem Raum." Sie deutete auf die dem Bett gegenüberliegende lange Wand, dort wo auch die Arbeitsfläche stand.
Es war schwierig, ihre Reaktion zu deuten. Lange geschah nichts weiter, als dass sie die betreffende Wand anstarrte. Sie wirkte wie in Stein gegossen. Tränen stiegen in ihren Augen auf und stauten sich an. Irgendwann jedoch, blinzelte sie hektisch und sie fielen.
Genau, was es zu vermeiden galt. Aber die Hexe war sich ja so sicher. Jetzt bleibt es wieder an mir hängen, sie zu beruhigen. Ich bin zwar immer noch der Meinung, dass sie mir kein Wort glauben wird aber um einen Versuch kommen wir jetzt eh nicht mehr herum.
Die Ältere nahm ihren Ärmelaufschlag und tupfte damit übers Gesicht. Sie murmelte leise.
"Nun, nun... fo flimm ift daf wirklich nicht. Fie ift fon eine Weile hier. Wir beide wollten dich nicht beunruhigen, wefwegen wir ef dir bifher nicht gefagt haben. Aber ef geht ihr gut. Fie hat entfieden, daf ef jetzt einfach an der Zeit ift, dich mit diefer leicht abweichenden Teevariation weiter aufzupäppeln. Fie möchte dir damit etwaf Gutef tun und fie lässt dich herzlich grüßen. Auch wenn ich fagen muf, daf fie damit etwaf leichtfinnig ift. Fie wohnt hier zwar zu weitauf befferen Konditionen alf du ef tust. Und fie verfteht fich auch einigermaßen mit Febaftian. Deutlich beffer fogar, alf ich ef erwartet hätte. Aber einer Meinung mit ihr wird er da wohl nicht fein. Wefwegen ef gut wäre, wenn du ihm bitte nichtf von unferer Eigenmächtigkeit erzählen würdeft."
Ophelias Blick festigte sich wieder etwas und sie schüttelte schnell den Kopf. Nein, natürlich würde sie ihrem Peiniger nichts erzählen. Insofern auch die neue Teesorte dafür sorgen konnte, ihren Geist vollständig abzuschirmen, bestand da keine Gefahr. Ein Bedürfnis, mit ihm auf verbalem Wege zu kommunizieren, empfand sie schon lange nicht mehr.
Was die Fähigkeit der Hexe hingegen anging, Sebastians mentalen Invasionen standzuhalten... da war sich Igorina bei weitem nicht so sicher. Sie hatten miteinander debattiert, bis sie an dem Punkt angelangt waren, dass die Hexe ihr versichert hatte, sie könne es. Sie würde ihr vertrauen müssen. Den Aufschwung, den diese heimlich wieder zugestandene Möglichkeit für Ophelias emotionalen Gesamtzustand bedeuten mochte, und dadurch auch den körperlichen, den sei dieses Risiko allemal wert.
Ihr Wort in Oms Gehörgang!
Sie deutete auf die noch immer nicht angerührte Tasse.
"Nimmft du ihre Bemühungen an?"
Ein hektisches kleines Lächeln war Belohnung. Die Gefangene wischte sich schnell die Tränenspuren fort und griff nach dem Porzellan. Sie schloss die Augen und sog den Duft tief ein, wie um ihn voll würdigen zu können. Sie setzte die Tasse mit einem dankbaren Lächeln an ihre Lippen an und trank sie ohne Unterbrechung leer. Sie setzte das Porzellan auf ihrem Schoss ab und sah fast scheu zu ihr. Ihre dünnen, langgliedrigen Finger strichen nervös, wie verspielt um den Tassenrand.
Igorinas Schultern sackten herab.
"Nein, wirklich. Ganf flechte Idee. Glaub mir."
Ophelias Blick huschte zur Wand hinüber, hinter der sie nun die befreundete Mitgefangene wusste. Dann sah sie sie wieder an, herausfordernd, bittend, fast schalkhaft. Und allein dieser Blick brachte die Ältere dazu, sich letztendlich einzugestehen, dass die Hexe wohl oder übel Recht gehabt haben mochte. Da war wieder etwas von ihrem früheren Kampfgeist erwacht, ein Funken der Rebellion, den sie bereits verloren geglaubt hatte. Das entscheidende Quentchen Selbsterhaltungstrieb, den es anzufachen galt. Erst recht jetzt, wo Sebastian sich seinen Wünschen so nahe glaubte und die Gefahr für Ophelia nur größer geworden war.
"Ophelia, du weift ganz genau, daf er daf nicht durchgehen laffen würde."
Die Kranke deutete auf die Wand und zeigte mit Zeige- und Mittelfinger gen Boden gerichtet eine laufende Gestalt an, die zu ihnen herüberkäme. Sie wackelte verschwörerisch mit den Augenbrauen.
"Wie ftellft du dir daf vor? Daf geht niemalf gut!"
Sie zeigte mit den gleichen Fingern Reißzähne an, während sie die Hand vor ihr Gesicht hielt, dann ließ sie ihre Hand schnell gen Himmel flattern. Sie legte sich die flache Hand grinsend vor die Augen und zuckte dann mit einer Schulter.
"Nur, weil er ef nicht fofort fieht, heift daf nicht..."
Ophelia unterbrach sie mit einer Geste, die keinen Zweifel an ihren Wünschen, an ihrer Bitte ließ. Sie legte sich die Hand aufs Herz. So verharrte sie. Und kaute nervös auf der Unterlippe, in Erwartung der Antwort.
Igorina hatte gewusst, worauf das hier hinauslaufen würde. Sie kannte Ophelia inzwischen sehr, sehr gut. Und sie wusste um ihre Aufgabe. Ophelia zu bewahren, bedeutete auch den Meister zu bewahren. Und... irgendwo ganz tief in ihr drinnen, schon allein Sebastian zum Trotz, ihrem eigenen Ehrgeiz zuliebe und nach all den unverändert freundlichen Blicken dieses Geschöpfes in ihrer Obhut... mochte sie sie auch irgendwie.
"Man könnte höchstenf einen günftigen Moment abpaffen und dann... Oh, ich werde daf bereuen..."
Ophelia stürzte sich unerwartet auf sie – und umarmte sie mit übersprudelnder Herzlichkeit.

29.06.2017 6: 00

Mina von Nachtschatten

Herbert Kleinkorn tat einen langen Zug an seiner Zigarette und versuchte, eine etwas bequemere Haltung einzunehmen. Gar nicht so leicht, wenn man mehrere Stunden an einer Mauer lehnte und sich dabei möglichst wenig bewegen wollte. Doch unnötige Bewegung schuf Aufmerksamkeit und Herbert war ein Profi. Er fiel nicht auf. Natürlich hätte nun jemand behaupten können, es sei auch nicht eben unauffällig in einer dunklen Gasse herumzulungern und mit dem roten Glühen des Glimmstängels zuverlässig die eigene Position anzuzeigen. Aber es war das Bild, dass er damit vermittelte. Die Leute tendierten dazu, derartige finstere Gestalten zu übersehen und besonders der normale Passant, dem sein Leben lieb war, blendete ihn in er Regel zuverlässig aus. Das hier war schließlich Ankh-Morpork. Mit dem richtigen Stereotyp war das beste Versteck vor aller Augen. Eine diffuse Anwesenheit im Schatten. Nur Amateure brauchten Deckung.
Herbert ließ gelangweilt den Blick über die Fassade des dreistöckigen Gebäudes gegenüber der Oper schweifen. Eigentlich war der Tschob hier unter seinem Niveau. Und Abwechslung sah auch anders aus. Er war jetzt schon eine gefühlte Ewigkeit an der selben Zielperson dran und aus irgendeinem Grund weigerte diese sich, etwas Bemerkenswertes zu tun. Absolute Zeitverschwendung! Seine Berichte waren alle gleich, in wenigen Sätzen alles geschildert. Nein, wenn man es genau nahm sogar in einem einzigen: Vom Wächter nichts Neues. Aber es schien gerade diese Abwesenheit von Aktion, welche seinen Auftraggeber beruhigte. Trotzdem war in letzter Zeit die Nervosität auf dessen Seite ein klein wenig angestiegen, kaum merklich für einen unbescholtenen Beobachter. Aber wie bereits bemerkt: Er war ein Profi. Das sagte er sich selbst immer wieder gern.
Und doch hatte er von Anfang an, ganz und gar unprofessionell, den Wunsch verspürt, das hier würde bald zu Ende sein. Die Sache hatte von vornherein gestunken: Erst verzockte er sich auf ganzer Linie auf der Rennbahn, dann wurde bei ihm eingebrochen und schließlich hatte er seine Frau während eines Kaffeekränzchens mit seiner Geliebten angetroffen. Die Szene war unangenehm gewesen. Für ihn. Helena hatte ihm im Anschluss ein Ultimatum gestellt. Und wenn er jetzt nicht aufpasste, dann waren sie, die dreijährige Tochter und das Geld ihres Vaters samt der Aussicht auf das Erbe der Flohknecht-Familie auf Nimmerwiedersehen dahin. Er hätte einfach nein sagen sollen, als am Tag darauf der Unbekannte bei ihm vorsprach, ihm dieses Angebot machte und eine saftige Belohnung in Aussicht stellte. Aber hatte er denn überhaupt eine Wahl gehabt? Denn sein anfängliches Zögern hatte den Kerl dazu veranlasst laut darüber nachzudenken, in gewissen Kreisen von ganz bestimmten Aktivitäten zu plaudern, welche so weit in Herberts Vergangenheit lagen, dass er sie sicher verschüttet geglaubt hatte. Woher wusste dieser Typ das nur? Wenn das publik wurde, dann war er nicht nur gründlich erledigt, nein, dann würde er sich gleich den Strick nehmen können!
Herbert zog erneut an seiner Zigarette. Viel war nicht mehr übrig, aber er war sich des beruhigenden Gewichts eines weiteren Päckchens in seiner linken Jackentasche bewusst. Nun stand er also hier herum, am Tag, in der Nacht, folgte der Zielperson wenn sie die Wache verließ oder auf dem Heimweg war. Heute war es besonders spät. Hatten diese Wächter eigentlich kein Privatleben? Er hatte Helena versprochen, heute einmal pünktlich zu Hause zu sein. Nun, dieses Versprechen hatte sich bereits vor einigen Stunden in Luft aufgelöst. Denn die Furcht vor dem, was sein Auftraggeber ihm antun könnte war größer, als die vor einem weiteren heimischen Zwist. Auch wenn sich Herbert zunehmend fragte, ob es da überhaupt jemanden gab, der ihn würde verpfeifen können, wenn er sich ausnahmsweise einmal nicht an die Absprache hielt. Schließlich war er hier immer allein und der regelmäßige Rapport erfolgte an einem festgelegten Treffpunkt in einem anderen Stadtteil. Doch jedes Mal, wenn er an dem Punkt seiner Überlegungen angekommen war, an welchem die reine Logik ihn ruhigen Gewissens hätte nach Hause schicken sollen... da stellten sich seine Nackenhärchen auf und er zögerte so lange, bis es keinen Unterschied mehr machte. Denn wenn sein Auftraggeber so viel über ihn hatte in Erfahrung bringen können, dann war der auch noch zu ganz anderen Sachen fähig. Und bestimmt paranoid genug, diese auch umzusetzen. Am Ende wurde er, Herbert Kleinkorn, selbst noch überwacht - der bespitzelte Spitzel. Inmitten eines gut organisierten Netzes, welches Absicherungen nach allen Seiten bot. Es war nur zu erahnen, mit was dem armen Teufel gedroht worden war, den man auf ihn angesetzt hatte. So dieser jemand existierte. Aber wer konnte das wissen? Herbert grunzte verärgert und schüttelte den Kopf. Offensichtlich war Paranoia ansteckend... Doch für den Fall, das es da jemanden geben sollte... dann war dessen Aufgabe denkbar einfach. Denn er stand meistens ja ohnehin nur hier herum.
Verstohlen ließ der Spitzel seinen Blick über die Dächer der umliegenden Häuser gleiten. Hmm, dieser Wasserspeier da, war der gestern schon dort gewesen? Herbert überlegte, zuckte dann aber nur mit den Schultern und warf den Zigarettenstummel zu Boden. Es war egal. Er würde einfach so weitermachen wie bisher, dann würde es keinen Grund zur Klage geben. Wie auch immer sich die Situation darstellte.
Das leise Klacken von Schuhsohlen auf der Straße drang an seine geschulten Ohren. Jemand näherte sich. Herbert steckte sich den nächsten Glimmstängel zwischen die Lippen und wartete in Ruhe ab, bis eine Gestalt in sein Blickfeld trat. Unauffällig, normale Größe und Statur, entschlossener Schritt. Da wusste jemand, wohin er wollte. Und normalerweise hätte Herbert keinen zweiten Gedanken mehr an die Person verschwendet... aber verdammt! Die Silhouette kam ihm bekannt vor. Das konnte doch nicht... nein, das war unmöglich! Doch seine Befürchtungen bestätigten sich, als die Gestalt das Wachhaus erreichte und das Licht, welches aus der sich öffnenden Eingangstür fiel, ihre Gesichtszüge kurz erhellte. Scheiße! Wie hatte das passieren können? Er hatte doch den ganzen Abend kein Auge abgewandt. Und doch kam seine Zielperson von die Götter wussten wo und spazierte rotzfrech dorthin zurück, wo er sie die ganze Zeit zu wissen geglaubt hatte. Und was vielleicht noch viel schlimmer war: Dies geschah nicht zum ersten Mal. Hektisch warf Herbert einen Blick auf den Wasserspeier, welcher ihm vorhin schon verdächtig erschienen war. Keine Bewegung. Natürlich, was hatte er auch erwartet?! Der Spitzel schluckte. Einmal war ein dummer Zufall, zweimal schon grenzwertig, aber alles darüber hinaus... Jetzt nur nicht in Panik geraten. Er war ein Profi, er war ein Profi, ein verdammter Profi - und selbst solchen konnten Fehler unterlaufen. Er war schließlich nicht Om oder Offler oder ein anderer dieser allwissend-allmächtigen Typen, welche auf Cori Celesti hockten und ihn wahrscheinlich in diesem Moment verspotteten. Oder Wetten auf seine weitere Lebensdauer abschlossen. Während das Schicksal die Würfel in den Becher gab und einmal kräftig durchschüttelte...
"Reiß dich zusammen, Mann!", rief er sich selbst mühsam zur Ordnung. Der Wasserspeier da oben war wahrscheinlich nichts weiter als einer der ungezählten urbanen Trolle der Stadt, deren einziges Interesse den vorbeifliegenden Tauben galt. Und er selbst würde sich hüten, den Vorfall auch nur mit einer Silbe zu erwähnen, er war schließlich nicht lebensmüde. Sein Bericht würde genauso ausfallen, wie an den Tagen zuvor. Nichts war passiert, absolut nichts. Und wahrscheinlich stimmte das sogar auch. Der Wächter war vermutlich nur eben in der Kneipe gewesen oder was diese Individuen sonst so in ihren Pausen trieben. Nun war schon so lange nichts passiert, wie hoch war da die Chance, dass er ausgerechnet heute etwas Entscheidendes unternommen hatte? Überhaupt, was galt denn eigentlich als entscheidend? Ihm sagte ja schließlich niemand etwas! Dann konnte man es ihm auch nicht verübeln, wenn er einen Mondscheinspaziergang als unwichtig abtat.
Herbert rieb sich die Augen. Er war gestresst und übermüdet. Das musste es sein. Sonst hätte er sich nie zu derart lächerlichen Überlegungen hinreißen lassen. Normalerweise bleib sein Verstand stets kühl, arbeitete messerscharf und strikt logisch. Wie sehnte er sich nach diesem Zustand... Hoffentlich war diese Schicht bald vorbei, dann konnte er nach Hause und ein paar Stunden Schlaf nachholen. Mit Helena würde er sich nicht mehr auseinandersetzen müssen, die war garantiert schon im Bett. Und wenn doch nicht, dann würde er den stummen Vorwurf, den sie zu solchen Gelegenheiten in ihren Blick zu legen pflegte, ignorieren. Wie schon so oft in der letzten Zeit. Das war nicht gut... Aber was sollte man machen? Egal, morgen würde die Welt schon wieder ganz anderes aussehen und er würde hierüber lachen. Das waren alles nur Alpdrücke einer überreizten Fantasie. Ganz sicher.
Er war so damit beschäftigt, sich selbst von dieser Gewissheit zu überzeugen, dass er den Neuankömmling erst bemerkte, als der ihm schon fast hätte die Hand auf die Schultern legen können. Herbert warf einen schnellen Blick über selbige und wandte sich dann überrascht um.
"Was machst du denn hie..."
Ein kurzer Schmerz knapp unterhalb des Kiefers. Herbert Kleinkorn blinzelte verständnislos, schnappte nach Luft - und tat dann gar nichts mehr.

Ungerührt beobachtete Alois Flohknecht wie sein Schwager lautlos nach vorn umkippte. Er wartete noch einige Sekunden, dann trat er an den Toten heran und zog den Giftpfeil aus dessen Hals. Schade, dass Herbert ihn bemerkt hatte. Einmal im Leben hatte er diesen Mistkerl überraschen wollen. Aber egal, auf das Ergebnis kam es an, in diesem Fall ganz besonders. Wen kümmerte da ein Abzug in der Stilnote? Der Assassine überprüfte den am Boden Liegenden fachmännisch auf das Vorhandensein eventueller Lebenszeichen, konstatierte zufrieden deren Fehlen und befestigte dann eine Quittung am Revers des Mannes. Auftrag ausgeführt. Helena würde sehr zufrieden sein.
"Tut mir leid, Kumpel. Ist nichts persönliches", meinte er in herablassendem Tonfall. "Aber du bist einfach nicht gut für meine Schwester."

30.06.2017 0: 02

Magane

Wieder so eine Nacht mit wenig Schlaf und zu viel Vampir. Sie verstand nicht, was er daran fand, ihr beim Schlafen zuzusehen. Das konnte doch nicht so spannend sein. Trotzdem war er geblieben, mal wieder, als hätte ihm nicht gereicht, was er bekommen hatte. Vermutlich war genau das der Punkt: Es reichte ihm nicht. Ob Hexenblut süchtig machte? Täglich ein Schuss Hexe, teilweise sogar während sie Magie wirkte... gesund war das sicherlich nicht. Wenigstens nahm er seit seinem Ausraster nicht mehr zu viel auf einmal, auch wenn sie ahnte, dass ihr Körper mit dem Blutverlust auf keinen Fall auf Dauer würde schritthalten können. Irgendwie musste sie seinen Konsum weiter bremsen. Sie konnte nicht ewig von der Energie, die ihn in Schranken wies, leben. Dieses parasitäre Verhalten war ihr sowieso zutiefst zuwider. So musste es sich anfühlen, wenn man ein Vampir war und ein Gewissen hatte. Man lebte vom Leben anderer, genoss den resultierenden Rausch und hatte gleichzeitig Schuldgefühle.
Die brauchte sie in diesem Fall allerdings nicht zu haben. Die beiden Herren waren nicht gerade das, was man als unschuldige Opfer bezeichnen konnte.
Magane schlug die Augen auf und stellte sich der Realität des auf ihren Hals gerichteten Blickes und der auf ihrer Hüfte liegenden Hand. Eine sehr besitzergreifende Haltung und aus seinem Blickwinkel sicherlich vollkommen zu Recht. Schließlich gehörte sie ihm. Aber deswegen musste sie das noch lange nicht mögen. Auch dass er ihre Kehle fixierte war äußerst unangenehm. Was wollte er damit erreichen? Sollte sie sich vielleicht noch mehr als Beute fühlen?
"Guten Morgen, meine Rose!" Selbst jetzt lag in seinen dunkelblauen Augen ein Lauern, als würde er nur darauf warten, dass sie weglief oder sonst etwas Dummes tat, damit er sie jagen konnte.
"Guten Morgen." Sie konnte spüren, wie er nahezu pausenlos ihre mentalen Grenzen abtastete und nach einem Schlupfloch suchte. Aber die gefährlichen Momente, während des Erwachens, waren längst vorbei. Sie hatte schnell gelernt, die Barriere sofort hochzuziehen, sobald sie bemerkte, dass sie wach wurde. Dennoch mochte es winzige Augenblicke geben, in denen ihr Geist offen und verwundbar war... hoffentlich entdeckte er diese nicht.
"Mir ist etwas eingefallen, was dir vielleicht Freude macht. Als besondere Belohnung für all das, was du so tust", ein Zwinkern, ein anzügliches Grinsen. Konnte er sich dafür keine Näherin fangen? Musste er dieses Spielchen unbedingt mit ihr spielen?
Mag verstand allerdings, dass die sexuelle Anspielung fast nur Fassade war und er den tatsächlichen Dienst weder mit Worten noch mit Gedanken erwähnen wollte.
"Was hast du dir einfallen lassen?"
"Oh, das ist eine Ãœberraschung", er grinste und griff hinter sich, "und das Beste an Ãœberraschungen ist die Vorfreude... vertraust du mir?"
"Kein bisschen."
"Warum denn nicht? Ich tue dir doch nichts? Auch egal. Vertraust du mir halt nicht. Aber weil es ja eine Überraschung ist", er zog einen schwarzen Stoffstreifen hervor, "würde ich dir gerne die Augen verbinden."
"Auf keinen Fall!"
"Wieso sträubst du dich so?"
"Du wirst mir unter gar keinen Umständen die Augen verbinden!"
"Aber du sollst doch nicht sofort sehen, was wir hereintragen."
"Ich mache einfach die Augen zu und warte bis ich wieder gucken darf."
"Aber nicht schummeln."
Magane lachte. Er wollte ihr was vom Schummeln erzählen? Das war purer Hohn in Anbetracht dessen, wie er zu seinem Wort stand.
Sie sah ihm zu, wie er aufstand und den Raum verließ, beinahe gemächlich für seine Verhältnisse, dann drehte sie der Tür den Rücken zu und genoss für einen Augenblick den Gedanken mit einem "Nein" Erfolg gehabt zu haben.
Sie drehte sich nicht um, als Sebastian nur Minuten später zurückkehrte. Auch nicht, als sie realisierte, dass er nicht allein war. Igor war bei ihm, wie sie an dem schlurfenden Schritt erkannte, und der Diener bewegte etwas Schweres. Die Beiden sprachen kein Wort, alle Anweisungen waren wohl vorher gegeben worden. Nach etwas Hin- und Herrücken stand das schwere Ding so, wie es sollte und Igor ging wieder. Die Tür fiel zu und wurde abgeschlossen, dann war nichts mehr zu hören, außer dem leisen Rascheln von Stoff, bis ihr die Decke weggezogen wurde. Reflexartig wollte Magane sich rumdrehen, wurde aber festgehalten.
"Nicht schummeln", raunte er ihr ins Ohr. Es vergingen noch wenige Augenblicke, bevor sie endlich erlöst wurde. "So, fertig. Komm zu mir."
Mag stand auf, strich das Nachthemd glatt und sah sich derweil um. Etwas Großes, von der Bettdecke verhüllt, stand nun auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes, etwa an der Stelle, an der sie nach seinem Ausraster aufgewacht war. Die Form sprach für einen Frisiertisch mit ovalem Spiegel. Wenn dem so wäre, erfüllte er ihr doch tatsächlich einen unausgesprochenen Wunsch!
"Ich persönlich halte diese Dinger ja für nutzlos. Aber andererseits ist dieses Kleid", er deutete auf das Stoffbündel auf seinem Arm, "so herrlich, dass ich meine, dass du es auch an dir sehen solltest."
"Jetzt?"
"Ja. Ich schaue auch nicht hin." Er zwinkerte ihr zu und machte damit die Lüge offensichtlich. Inzwischen war das sowieso egal.
Sie nahm ihm das Stoffbündel ab, legte es auf einen der Stühle und zog dann das Nachthemd aus. Das Wechseln der Wäsche konnte warten, bis er endlich weg war, schließlich würde sie auch nicht den ganzen Tag in einem sicherlich sündhaft teuren Abendkleid herumlaufen. Ihrer vorsichtigen Schätzung nach überstieg allein der Stoff ihr jährliches Kleidungsbudget. Magane nahm das Kleid vorsichtig an den Schultern hoch und zögerte nicht lange, es anzuziehen. Je schneller sie das Vorgeplänkel hinter sich brachte, umso eher fand sie heraus, worum es ihm heute ging. Der Schnitt ähnelte dem des Kleides mit der blauweißen Borte, die gleiche Form mit hoher Taille und tiefem Ausschnitt. Allerdings war dieses bodenlang und hatte auch lange Ärmel, bestand aus feinerem Material und der Ausschnitt war weniger eckig. Es hatte auch keine Borte, sondern ein in die nachtblaue Seide eingewebtes Rankenmuster, das rund ums Dekolleté mit dunkelroten Rosenblüten bestickt war. Gehalten und in Form gebracht wurde es ebenfalls durch eine Rückenschnürung, bei der sie sich diesmal aber keinerlei Mühe machte, sie selbst zu schließen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, damit sie nicht auf den Saum trat und ging dann zwei Schritte auf Sebastian zu.
"Wärst du so freundlich? Diese Rückenschnürungen sind so umständlich."
"Selbstverständlich." Flink, als sei Frauenanziehen eine seiner liebsten Freizeitbeschäftigungen, schnürte er es zu und bugsierte sie genau vor den mutmaßlichen Frisiertisch.
"Bereit?"
"Ja", nein sie war nicht bereit für was auch immer er vorhatte. Aber irgendwie würde sie schon damit fertig werden.
Mit großer Geste enthüllte er das neue Möbelstück, warf die Decke beiläufig quer durch den Raum aufs Bett und ließ dabei Mags Gesichtsausdruck im Spiegel keine Sekunde aus den Augen.
Sie beherrschte sich mühsam. Sie konnte zwar nicht sehen, wie er ihre Reaktion beobachtete, es aber sehr wohl fühlen. Das Bild, das sich ihr bot, war erschreckend.
"Und, wie gefällt es dir?"
"Das Kleid ist wundervoll. Auch, wenn ich nicht weiß, wieso du mich in solche Kleider steckst." Bloß nicht über die blasse magere Frau in dem Kleid reden...
Er lachte.
Hatte er den Schrecken in ihren Augen gesehen?
Sebastian fasste ihr Haar zusammen und schob es über die linke Schulter nach vorn. Die Bissmale, die an der so entblößten rechten Halsseite begannen und sich in einem schwungvollen Bogen das Dekolleté herunterzogen, bildeten eine gerötete Spur punktförmiger Narben. Sie merkte kaum, wie er der Spur einen weiteren Biss, diesmal im Nacken, hinzufügte. Dem leichten körperlichen Schmerz gelang es nicht, bis zu ihr durchzudringen, so gebannt war sie von der Veränderung.
Wie lange war sie jetzt hier? Wie lange hatte er gebraucht, um sie in diesen Zustand zu versetzen? Vielleicht konnte sie die Narben zählen. Das wäre wenigstens ein Ansatzpunkt. Täglich mindestens ein Biss. Wie lange konnte sie so weiterleben? Den Blutverlust hatte sie offensichtlich unterschätzt.
Magane lächelte ihrem Spiegelbild aufmunternd zu, musste aber erkennen, dass das nur gruselig wirkte.

01.07.2017 23: 21

Rach Flanellfuß

Rach saß an seinem Schreibtisch, als es unvermittelt an seinem Fenster klopfte. Er wandte den Kopf zur Seite und seufzte ausgiebig, ehe er sich erhob, um seine Schwester reinzulassen.
"Was willst du hier, Esther?"
"Darf ich etwa nicht meinen Bruder besuchen?", fragte sie unschuldig und wedelte mit einem Papier vor seiner Nase. "Wozu hab‘ ich den Wisch vom Kommandeur sonst?"
"So war die Bescheinigung für Zivilisten sicher nicht gedacht und das weißt du genau", entgegnete er genervt. "Sag bloß, dir ist langweilig ohne Jules."
"Es ist über eine Woche seit seiner letzten Nachricht vergangen!", sagte sie aufgebracht und ging im Büro auf und ab. "Ich kann gar nicht so viele Aufträge erledigen, um mich abzulenken, wie mir lieb wäre."
"Du weißt selbst, dass das Klackernetzwerk nicht ausgebaut ist, dort wo er derzeit ist", entgegnete er so gelassen wie möglich. Innerlich war Rach allerdings ähnlich angespannt und nervös wie seine Schwester. Es ging hier nicht nur um seinen besten Freund. Wenn Jules das Gift nicht besorgen konnte, hielten sie schon viel zu lange die Füße still. Und gerade heute hatte er den unbestimmten Drang, aus seinem Alltagstrott auszubrechen. Als wäre etwas nicht in Ordnung oder nicht an seinem Platz. Er beobachtete seine Schwester, die immer noch auf und ab tigerte.
"Esther?", fragte er und sie blieb sofort stehen. "Kannst du mir einen Gefallen tun und nachsehen, ob mein Beobachter noch an Ort und Stelle ist?"
Sie zog die Brauen in die Höhe und verschwand ohne ein weiteres Wort wieder aus dem Fenster, sichtlich froh, etwas zu tun zu haben.
Kaum war seine Schwester aus dem Raum, setzte er sich wieder an seinen Platz und starrte auf die Zielscheibe an der Wand ihm gegenüber.
In den letzten zwei Wochen hatte er diese schon so durchlöchert, dass seine Übungspfeile kaum noch Halt fanden. An seiner Treffsicherheit sollte es am Ende sicherlich nicht scheitern.
Was wirklich noch ein Problem werden könnte, war das Gift selbst. Er hatte sich schon ausgiebig mit Rogi darüber unterhalten. Wenn sie Racul ausschalten - allerdings Ophelia dadurch nicht gefährden - wollten, war die genaue Zusammensetzung entscheidend. Niemand konnte sagen, wie hoch das Risiko sein würde. Er hatte schon die verschiedensten Varianten aus der schwächeren Substanz heraus ausgetestet, die er an Wilhelm Schneider erprobt hatte. Und mit diesen weitere Versuche mit Vampirblut im Susi-Labor durchgeführt. Ein Vorteil seiner Position in der Wache war, dass man ihn, meist aus Angst eines schlechten Berichts an den Patrizier, unbehelligt lies. Zumindest hatte bisher schon die Andeutung eines Interesses seiner Lordschafft immer gereicht, um ungestört an seinem Projekt zu arbeiten. Er wusste nicht, wie lange er diese Scharade noch aufrechterhalten konnte, bevor Lord Vetinari ihn zu sich rufen würde. Doch auf die eine oder andere Standpauke kam es wirklich nicht mehr an. Und zumindest Ophelia konnte seine Lordschaft momentan nicht als Druckmittel missbrauchen – oder konnte er?
Rach schnaufte frustriert. Diese Gedanken brachten ihn nirgendwo hin. Andererseits ging diese Inspektion schon viel zu lange und er fragte sich langsam aber sicher, ob der Patrizier auf etwas Bestimmtes wartete.
"Bruderherz, hast du deinen Spitzel verlegt?" Esther schwang sich elegant durchs Fenster und setzte sich an die Schreibtischkante. "Keine Spur von deinem Beobachter. Auf dem Dach gegenüber sitzt ein Wasserspeier und in der Nähe lungert jemand herum, der, wenn ich mich richtig erinnere, auf den Kommandeur angesetzt ist. Aber dein Kerl ist nicht an seinem Platz."
Rach seufzte und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Er hatte einen Anfängerfehler begangen. Er hatte gelernt, die ständige Bedrohung auszublenden.
"Was hast du jetzt vor?", fragte die Assassinin skeptisch.
Er vergrub die Hände in seinen Haaren und setzte die Ellenbogen auf seinen Schenkeln ab. Er musste nachdenken. Hieß das etwa, dass die Beobachter abgesetzt wurden? Oder war etwas vorgefallen? Und wenn ja, wie lange würde es dauern, bis sein Beobachter oder vielleicht jemand Anderes den Posten wieder aufnehmen würde? Wollte er jetzt wirklich das Risiko eingehen und es darauf ankommen lassen? Vielleicht war es auch eine Falle!
Wie er es auch drehte und wendete, er war weiter dazu verdammt, sich unauffällig zu verhalten.
"Nichts", antworte er schließlich seiner Schwester und sah wieder zu ihr auf. "Ich werde es den anderen mitteilen und das war es. Du hingegen hältst bitte die Augen offen."
"Du willst doch nicht etwa, dass ich dich bespitzel, wie du bespitzelt wirst?"
"Das ist genau das, was ich von dir will, Schwesterchen."
Er grinste sie an und Esther rollte als Erwiderung genervt die Augen.
"Na gut, Bruderherz. Aber nur unter Protest."
"Natürlich", sagte er gekünstelt und stand schließlich auf. "Ich werde Mina besser mal die Neuigkeiten überbringen."
"Du willst mich schon abwimmeln?"
"Was willst du denn noch? Ich kann Jules auch nicht herzaubern und du hast jetzt schließlich was zu tun!"
"Vielen Dank auch!"

02.07.2017 23: 50

Nyria Maior

Wie er auch versuchte zu sitzen, es gab keine bequeme Position. Die eisernen Stangen des Käfigs leisteten diesbezüglich ganze Arbeit. Ein weiterer eisiger, feuchter Luftstoß, der den Geruch von Verwesung mit sich trug, ließ Raistans Zähne vor Kälte klappern und brachte den Käfig an seiner eisernen Kette leicht zum Schwingen. Das grausige Knirschen, mit dem sich die rostigen Kettenglieder aneinander rieben, war beinahe unerträglich und der junge Zauberer ertappte sich bei dem Wunsch, dass der Zahn der Zeit die Kette endlich brechen lassen und seinen Qualen ein Ende bereiten würde. Denn nichts und niemand würde ihn aus diesem Käfig über dem schwarzen Abgrund befreien können. Die einsame flackernde Kerze auf dem so unerreichbaren Sims war seine einzige Gesellschaft bis an sein Lebensende. Er würde sie alle nie wieder sehen. Nyria, die seinem Leben wieder einen Sinn gegeben hatte und mit der ihn etwas verband was so viel tiefer ging als reine Freundschaft. Bregs, der immer ein offenes Ohr für ihn gehabt und ihn schließlich als eine Art Familienmitglied adoptiert hatte. Leonata, eine der wenigen Personen die seine Theorien und Berechnungen nachvollziehen konnten und würdige Klonk-Gegnerin. Mimi, seine Schwester und ihr chronisch erfolgloser, schriftstellerisch überambitionierter Ehemann. Und nicht zu vergessen die Gruppierung so unterschiedlicher Leute die sich zusammengefunden hatte um Ophelia Ziegenberger aus den Klauen eines Uralten Vampirs zu retten.
Aber was auch immer sie unternahmen, für ihn war es zu spät. Er war gefangen genommen worden und würde diesen Käfig über dem Abgrund nie wieder verlassen. Ein weiterer eisiger Hauch stieg aus dem Abgrund auf und Raistan fühlte, wie sich die frostigen Klauen um sein Herz schlossen. Er zitterte am ganzen Körper und das Atmen fiel ihm schwer. Kalte Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, während das Fieber feurig in seinen Adern brannte. Er konnte nichts tun. Seine Zauberei verpuffte wirkungslos. Er war so schwach, dass jede Bewegung war eine unmenschliche Anstrengung darstellte. Und am Rand seines Bewusstseins lauerte Er auf jeden noch so kleinen Fehler, den er ausnutzen konnte um ihn zu quälen.
...warne dich! zischte die widerliche, absolute Dominanz ausstrahlende Stimme in seinem Kopf. Ophelia! Lass das sofort sein, oder ich...

Nein! Fahr.. ins... verdammte... Pandämonium!
Der Schrei blieb in Raistans Kehle stecken als er mit wild klopfendem Herzen und stockendem Atem aus dem Schlaf hochfuhr. Hektisch tastete er unter seinem Kopfkissen nach dem Fläschchen mit der grünen Flüssigkeit, riss den Stöpsel heraus und atmete die starken Dämpfe ein. Während sich seine vernarbten Lungen langsam entkrampften und sein Puls sich wieder beruhigte ließ Raistan seinen Kopf gegen das Kopfende seines Bettes sinken. Das graue Licht des neuen Tages kroch in seine Kammer im Wohntrakt der Unsichtbaren Universität. Alles war gut. Er war in Sicherheit. Es war nur ein weiterer dieser verfluchten Alpträume gewesen die ihn, seit er geistigen Kontakt zu Ophelia Ziegenberger gehabt hatte, beinahe jede Nacht heimsuchten und ihm immer wieder vor Augen führten, wie unvorstellbar sie in ihrer Gefangenschaft litt. Raistan verkorkte sein Riechfläschchen und massierte sich die Schläfen. In seinen Träumen vermischte sich Ophelias Verzweiflung immer mehr mit seinem eigenen Leben und ihre Gefühle wurden immer mehr zu den seinen. Eigentlich hielt sich Raistan für eine mental sehr stabile Person, aber je öfter er sich nachts in diesem Käfig ohne Wiederkehr fand, desto stärker wurde ihm bewusst, dass irgend etwas passieren musste, denn mittlerweile begann er das abendliche Einschlafen zu fürchten. Entweder redete er mit Bregs über diese wiederkehrenden Alpträume und erhoffte sich irgendwelche obskuren püschologischen Lösungen. Oder sie retteten endlich Ophelia Ziegenberger und lösten damit den Auslöser in Luft auf. Je länger er wach war und sich wieder wie er selbst fühlte, desto logischer erschien ihm die zweite Lösung. Alpträume waren Raistan nicht fremd. Nur zu oft hatten die Dinge aus den Kerkerdimensionen und die zerstückelte Leiche seines Zwillingsbruders ihn nachts heimgesucht. Aber im Gegensatz zu Ophelia Ziegenbergers unerträglichem Leiden besaßen diese Träume keine Macht mehr über ihn. Die Zeit hatte ihn diesen Bildern gegenüber abstumpfen lassen. Und genauso würde es auch mit den jetzigen Schreckensbildern geschehen wenn der Grund dafür erst einmal Vergangenheit war.
Aber wie sehr er die Situation auch analysierte und der graue Himmel dort draußen und die Kälte in seiner Kammer ihn verlockten, sich noch einmal umzudrehen, für heute hatte Raistan mehr als genug von Käfigen über eiskalten Abgründen. Mit einem letzten bedauernden Gedanken an sein warmes Bett schlüpfte er in seine Pantoffeln und wickelte sich eng in seinen Morgenmantel. Noch so etwas, was er Nyria verdankte. Als der nun ehemalige Dekan die Unsichtbare Universität verlassen hatte um selbst Erzkanzler der Magierschule in Quirm zu werden, hatte er einige persönliche Gegenstände zurückgelassen, unter anderem einen prächtigen Morgenmantel aus dickem Samt mit dezentem Paisley-Muster in gedecktem Beige und Türkis, sowie Besätzen in der Farbe, die Raistan mittlerweile nur noch FROG-Grün nannte. Nyria hatte sich den Mantel auf einer ihrer Jagden nach brauchbaren herrenlosen Dingen geschnappt, ihn auf seine Maße umarbeiten lassen und ihm das Stück zum nächsten Geburtstag geschenkt. Und so war sein Morgenmantel das edelste Kleidungsstück das Raistan je besessen hatte.
Ein einfacher Feuerzauber entzündete das Holz im Ofen und es dauerte nicht lange bis das erste Teewasser des Tages kochte. Raistan goss Tantra Sandelholz' Lungenmischung Nummer 1 auf, stellte die Kanne auf seinem Schreibtisch ab und setzte sich. Mittlerweile war die Morgendämmerung in einen grauen stetigen Nieselregen übergegangen und obwohl sein Schreibtisch direkt vor dem Fenster stand wurde es einfach nicht richtig hell. Genau das richtige Wetter um wieder einmal trübe Gedanken über Käfige, Abgründe und Hoffnungslosigkeit zu hegen.
Raistan seufzte leise. Er vermisste Nyria. Ihre Schnauze auf seinem Knie, ihre Arme die sich um seine Schultern schlangen und ihr unerschütterlicher Optimismus, dass es für jedes Problem irgendwo eine Lösung gab. Wenn sie auf sein Bett kletterte, einige Male hin- und herlief bis sie die perfekte Schlafposition auf seinen Füßen gefunden hatte, und ihm kurz vor dem Einschlafen noch einmal spielerisch in den großen Zeh kniff blieben die Alpträume fort. Aber Nyria versuchte zur Zeit, ihre reguläre Wachearbeit und die inoffiziellen Ermittlungen im Fall Ophelia irgendwie unter einen Hut zu bekommen, und das ließ ihr nicht viel Zeit für andere Dinge. Der Rettungstrupp baute auf sie und ihre speziellen Fähigkeiten, die in den letzten Tagen einen Haufen Schraubgläser mit Substanzen beinhalteten die Raistan normalerweise nicht einmal freiwillig angefasst hätte.
Der junge Zauberer atmete so tief durch wie seine vernarbten Lungen es ihm erlaubten. Sie alle hatten bei der Rettungsmission ihren Dschob zu erledigen. Und Bregs hatte ihm klar gemacht, dass seiner nun Senray Rattenfänger hieß. Theoretisch klang es so einfach, während des Rettungseinsatzes auf sie aufzupassen, dass sie sich nicht weh tat und ihr Dämon somit keine Rückkoppelung auf Wilhelm Schneider auslösen konnte. Aber praktisch fürchtete sich sie Obergefreite vor ihm, wenn er ihr ängstliches Ausweichen seiner Blicke richtig interpretierte. Und das, wie er insgeheim zugeben musste, irgendwie auch zu Recht. Er war ein studierter Zauberer. Mit den entsprechenden aufwendigen Vorbereitungen war er in der Lage, ihren Dämon auch ohne Kenntnis seines Namens zu bannen und damit auch sie zu töten. Deshalb musste er sie irgendwie davon überzeugen, dass er ihr nichts Böses wollte. In den vergangenen Tagen hatte er das Problem in seinem Kopf hin- und hergewälzt. Er wusste, dass er nicht über Nyrias soziale Talente verfügte. Sein Wölfchen hätte das Problem einfach mit ihrem Grinsen und der richtigen Kumpelhaftigkeit zur richtigen Zeit aus der Scheibenwelt geschafft. Aber wenn er Senray Rattenfänger persönlich gegenübertreten würde um ihr zu erklären was er meinte - ihr schüchternes Stottern und ihre Angst vor ihm sowie seine Art, wenn er unsicher war einfach Fakten auf den Tisch zu legen waren keine gute Kombination. Und er musste sie irgendwie dazu bekommen, dass sie ihm vertraute. Rein nüchtern betrachtet allein schon um die Rettungsmission nicht zu gefährden. Und auch, wie er sich eingestehen musste, weil ihn Senrays Schicksal schon lange nicht mehr kalt ließ.
Raistan schenkte sich den ersten Tee des Tages ein. Wenn er schon in einem persönlichen Gespräch nicht die richtigen Worte fand, dann vielleicht in einem Brief. Ja, das klang nach einer guten Lösung. Wenn er es schaffte, den Text so zu formulieren, dass Missverständnisse ausgeschlossen waren...

Sehr geehrte Obergefreite Rattenfänger,
Verehrte Obergefreite Rattenfänger,
Sehr geehrte Obergefreite Senray Rattenfänger,
Ich möchte Dir mitteilen, dass...

Raistan verfolgte mit seinem Blick, wie der nächste verworfene Entwurf in Form eines zusammengeknüllten Stück Papiers von seinem Kleiderschrank abprallte und irgendwo unter seinem Bett verschwand. Ein ausgiebiges heißes Bad in den Baderäumen der UU und eine Käsestulle und diverse Gemüsestreifen als Frühstück hatten auch nicht die erhoffte Inspiration gebracht, wie er schriftlich Senray Rattenfängers Vertrauen gewinnen konnte.
Raistan fuhr sich frustriert mit den Fingern durch das vom Baden immer noch feuchte Haar. Eigentlich kannte er Senray Rattenfänger, ihre wahre Persönlichkeit, überhaupt nicht. Wenn sie bei den Rettungstruppsitzungen etwas sagte, endete es in einer Orgie des Stotterns und Nyria hatte irgendwie recht, dass es nicht einfach war, einen klaren Satz aus ihr herauszubekommen. Das einzige was er wirklich über sie wusste war, dass sie schüchtern war und irgendwann in ihrem Leben verzweifelt genug gewesen war, einen Pakt mit einem Feuerdämon zu schließen.
Raistan betrachtete den Bleistift, der auf dem nächsten leeren Blatt Papier lag. Wenn der Brief der Senray am Ende erreichte sie wirklich beruhigen sollte, brauchte er kompetente Beratung von jemandem, der die Obergefreite besser kannte als er. Und ihm fiel derzeit nur eine einzige Person ein, die ihm da weiterhelfen konnte. Um ihn zu erreichen zahlte es sich wirklich aus, als offizielle Wachequelle UU1 bestimmte Kommunikationskanäle mit Priorität offen zu haben. Raistan schnitt einen schmalen Streifen Papier ab und schrieb eine Nachricht. Dann machte er sich auf den Weg zum Universitätstaubenschlag.

"Nächste Probe."
Es war später Vormittag und sie saßen auf dem Fußboden von Nyrias Dachkammer, umgeben von Schraubgläsern. Die Werwölfin hatte sich mit ihrem Halstuch die Augen verbunden und tupfte sich mit einem Taschentuch die Nasenlöcher ab. Gehorsam griff Raistan nach dem nächsten Glas, schraubte es auf und hielt es unter Nyrias Nase.
"Bäh." war der Kommentar. "So eklig ist nur Betäubungsgift Alchimistencode DS9GRK."
"Richtig." Der junge Zauberer versah das entsprechende Feld auf der heutigen Prüfungsliste mit einem Haken. "Bereit für die nächste Substanz?"
"Wenn du mir vorher sagst was dein Problem ist." Nyria schob die Augenbinde auf die Stirn. "Hast du heute Nacht wieder vom Käfig geträumt?"
Raistan nickte nur. Nyria kannte ihn zu gut als dass er ihr etwas vormachen konnte.
"Scheiße." sagte sie, rückte zu ihm herüber und legte den Arm um seine Schulter. "Es wird wirklich Zeit, dass wir den Laden hochnehmen. Uns allen geht die Sache langsam aber sicher an die Nieren. Ich weiß nicht ob Vampire träumen, aber Chief-Korporal von Nachtschatten verbringt wahrscheinlich auch gerade keine angenehmen Nächte. Ganz zu schweigen von Inspektor Flanellfuß. Sein Zahnfleisch ist mittlerweile abgelaufener als der Breite Weg."
Trotz seiner allgemeinen Grundstimmung musste Raistan lächeln. Irgendwie schaffte sie es einfach immer allein schon durch ihre Gegenwart, dass es ihm besser ging.
"Es geht nicht nur um meine schlechten Träume." sagte er. "Bregs hat mich ja damit beauftragt, auf Senray Rattenfänger aufzupassen. Aber sie hat Angst vor mir, was bei der ganzen Aufpassungsgeschichte sehr kontraproduktiv ist. Deshalb will ich ihr jetzt einen Brief schreiben in dem ich ihr erklären will, dass ich ihr gegenüber keine bösen oder vernichtungswilligen Absichten hege. Aber alles was ich bisher zusammengekritzelt habe, könnte sie in den falschen Hals bekommen. Deshalb habe ich jetzt die einzige Person zum Korrekturlesen angefragt, die Senray gut zu kennen scheint. Wilhelm Schneider. Und er hat mir sogar per Informanten-Expresstaubenpost geantwortet, dass er sich mit mir heute am späten Nachmittag mit mir treffen will. Aber bis dahin brauche ich einen vernünftigen Briefentwurf, der die Obergefreite Rattenfänger möglichst nicht auf den nächsten Baum jagt."
Nyria klopfte ihm auf die Schulter.
"Dann schreib einfach was du ihr wirklich sagen willst." schlug sie vor. "Pfeif auf irgendwelche Briefkonventionen die du irgendwann mal gelernt hast. Sei ehrlich." Sie grinste. "Und Wilhelm zu fragen ob er noch mal drüber liest klingt nach einer guten Idee."
Raistan nickte.
"Ich hoffe es..." murmelte er.
"Warum?" Nyria sah ihn mit leicht gerunzelter Stirn an.
Raistan zog seine Beine an den Körper und schlang seine Arme um die Knie. Nyria hielt nicht sonderlich viel von großzügigem Heizen und nach dem langen Sitzen auf dem Boden war ihm kalt.
"Ich werde aus Wilhelm Schneider einfach nicht richtig schlau." vertraute er sich ihr an. "Einerseits will er unbedingt helfen wo er nur kann, andererseits lässt er manchmal den nötigen Ernst vermissen. Es war absolut keine Kleinigkeit, dass der Dämon ihm wegen eines kleinen Papierschnitts gleich die gesamten Hände aufgeschlitzt hat, und schon gar nichts was man lächelnd herunterspielt. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass er mich beobachtet. Nicht auffällig, aber immer aus dem Augenwinkel heraus."
"Du siehst halt aus Vampirsicht betrachtet auch ziemlich lecker aus." Nyria wirkte amüsiert. "Zart, blass, schlanker Hals, nicht gerade hässlich und Jungfrau oder zumindest die männliche Version davon - fehlt nur noch das durchsichtige Nachthemd."
Raistan hielt einen Moment inne. So hatte er die Sache noch nie betrachtet und es ließ den Preis, den der Rekrut Schneider für das Untersuchen seines Kopfes verlangt hatte, in einem neuen Licht erscheinen. Wollte Wilhelm etwa nicht bloß ausprobieren, ob Zaubererblut anders schmeckte, sondern fand ihn insgesamt appetitanregend? Irgendwie hinterließ der Gedanke bei ihm ein unbehagliches Gefühl.
"Es lohnt sich nicht, mich auszusaugen." erklärte er knapp. "Ich bin nicht sonderlich nahrhaft. Wenn Wilhelm seine versprochene Portion bekommt wird er vermutlich enttäuscht sein."
Das Lächeln, das um die Lippen seiner Freundin spielte, war geheimnisvoll.
"Was ist daran so lustig?" hakte Raistan nach. "Weißt du etwas über ihm, was ich nicht weiß?"
"Woher?" Nyria zuckte mit den Schultern. "Ich kenne ihn doch auch erst so lange wie du und hatte im Gegensatz zu dir noch nicht mal eine Gelegenheit, mit ihm in Ruhe unter vier Augen zu reden. Neulich roch er etwas angebrannt, das war wahrscheinlich der Dämon, aber ansonsten riecht er wie ein typischer Blutsauger und etwas nach dem Zeug, das er zwischen seine Klamotten steckt um Motten zu verjagen. Er ist eindeutig manchmal neugieriger als gut für ihn ist, aber insgesamt scheint er kein schlechter Kerl zu sein." Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu. "Glaub mir, ich erkenne ein Schlitzohr, wenn ich eins sehe, und der werte Herr Schneider gehört eindeutig zu der Kategorie die von eng gesteckten Regeln nicht viel halten. Ich denke, dass ich mich gut mit ihm verstehen würde, wenn er nicht ständig wie ein Saugnapf an der Obergefreiten Rattenfänger kleben würde."
"Stört dich das etwa?"
Nyria nahm ein verschlossenes Glas mit einem gräulichen Pulver darin auf und spielte damit herum.
"Nicht direkt." sagte sie schließlich. "Und ich weiß auch, dass die Dämonengeschichte mit dran schuld ist. Aber sie kriegt nicht mal einen gerade Satz heraus, tut sich ständig selbst leid und riecht eigentlich immer nach Angst! Sie ist einfach so ein... Schaf! Was ist an ihr dran, dass Wilhelm sich so sehr um sie sorgt, dass er Bregs anbettelt, sie nicht aus der Wache zu werfen, und auch sonst die große Glucke spielt?" Sie verdrehte die Augen. "Viel Glück jedenfalls dabei, dafür zu sorgen, dass sie keine Angst mehr vor dir hat. Auch wenn du dir Beratung von Senray-Experten holst, das wird ein schwieriges Unterfangen. Wahrscheinlich hat sie sogar Angst vor ihrem eigenen Schatten."
Mit einem Ruck stellte Nyria das Glas vor sich ab und zog sich ihr Halstuch wieder über die Augen.
"Also weiter mit dem fiesen Zeug, wenn wir hier heute noch mal fertig werden wollen. Mal sehen, wie viele ich schaffe bis mir die Nase abfällt."

Der Nachmittag verging quälend langsam und immer wieder warf Raistan sehnsuchtsvolle Blicke in Richtung seines Betts. Nur zu gern hätte er sich für eine Stunde hingelegt, aber ein weiteren Alptraum von Käfigen und unendlicher Einsamkeit war für sein Vorhaben hochgradig kontraproduktiv. Er wollte jemandem Zuversicht geben und Angst nehmen, und das funktionierte noch schlechter als sowieso schon, wenn er selbst von finsteren Gedanken gejagt wurde. Nyrias Nichtbegeisterung von Senray Rattenfänger war auch nicht sonderlich hilfreich gewesen und er konnte sich vorstellen, dass sie sich insgeheim fragte, weshalb er so viel Zeit und Energie investierte um dafür zu sorgen, damit eine verängstigte Obergefreite sich besser fühlte. Aber Nyria war ein Werwolf und sah die Welt etwas anders als Menschen. Sie hatte Senray ein Schaf genannt, und Schafe waren im Weltbild eines Raubtiers letztendlich Beute, auf der Welt um gefressen zu werden.
Und da war da auch noch die andere Sache, die Nyria erwähnt hatte und die Raistan seitdem keine Ruhe mehr ließ. Er legte den Bleistift beiseite, stand auf und trat vor den kleinen Spiegel, der über seinem Waschtisch hing. Nein, appetitlich sah der blasse, magere Zauberer, dessen Augenringe ein deutliches Zeichen für zu viele Alpträume in den letzten Nächten waren, nicht gerade aus. Eher wie etwas, das man lieber nicht austrank, weil man sich vielleicht eine Krankheit holen konnte. Wenn er sich ein paar falsche Eckzähne in den Mund klebte, konnte er auf den ersten Blick vermutlich selbst als Vampir durchgehen. Raistan schob sein Haar zurück und zupfte den kleinen Stehkragen des Hemds, das er unter seiner Robe trug, zurecht. Eines stimmte allerdings. Er hatte tatsächlich einen schlanken Hals und es ließ sich leicht erahnen, wo die Hauptschlagader entlang führte. Ob das schon ausreichte um bei Wilhelm Schneider Hungergefühle auszulösen? Raistan nahm seinen Universitätsschal an sich und schlang ihn sich um den Hals. Es war vielleicht keine gute Idee, dem Rekruten weiterhin mit entblößter Kehle gegenüberzutreten. Zwar war sich der junge Zauberer sicher, dass Wilhelm nichts versuchen würde, aber sie hatten zwei Wächterinnen zu befreien und jede Ablenkung war kontraproduktiv. Außerdem sollte Wilhelm seine ersehnte Kostprobe wie abgemacht ja bekommen. Nur nicht direkt aus dem Hals gesaugt und erst nachdem Ophelia Ziegenberger und Magane Schneyderin befreit waren.
Zufrieden damit, zumindest für eines seiner Probleme eine zeitweilige Lösung gefunden zu haben, kehrte Raistan an seinen Schreibtisch zurück und widmete sich erneut dem Brief, der ihn schon so viel Hirnschmalz gekostet hatte. Verflucht, er konnte aus dem Stehgreif einen dreifachen Bannkreis zeichnen und die B-Raum-Theorie erklären - warum fiel es ihm so schwer, ein paar beruhigende Worte für eine nervöse Obergefreite zu finden? Was würde Nyria ihr schreiben wenn sie in seiner Position wäre und Senray Rattenfänger ihr nicht so auf die Nerven fallen würde? Raistan versuchte, sich in ihre Gedankenwelt hineinzuversetzen. Nyria würde einfach auf Senray zugehen, sich neben sie setzen und sie anlächeln. Und dann, wie immer, einfach ungefiltert das sagen, was sie sagen wollte.
Raistan klopfte sich mit dem Ende des Bleistifts gegen das Kinn. Er wollte, dass die Obergefreite ihr Leben nicht durch ihn bedroht fühlte. Für einen Augenblick fühlte er sich wie ein Assassine, der mit gezücktem Dolch großzügig das Leben seines Opfers verschonte. Nein, dieses Bild von sich wollte er ihr nicht vermitteln. Er hatte die Aufgabe, auf sie aufzupassen, und musste deshalb irgendwie ihr Vertrauen erlangen. Nyria hatte ihm einmal erzählt, dass Informanten sich gleich wohler fühlten, wenn man sie auf eine vertrauliche Weise ansprach. Vielleicht sollte er es einfach einmal so versuchen. Zumal ihm nicht mehr viel Zeit blieb bis er zu seinem Treffen mit Wilhelm musste.
Mit einem leisen Seufzer setzte Raistan die Bleistiftspitze auf das Papier und begann zu schreiben.

Mit der Auswahl eines unauffälligen Treffpunkts der möglichst weit von sowohl den Wachhäusern als auch der Gegend um den Grüngansweg entfernt lag, hatte Wilhelm Schneider es wirklich ernst gemeint. Die von ihm gewählte Wirtschaft 'Zur Krähe' lag in einer kleinen Sackgasse, die in der Nähe der Stadtmauer vom Geldfallenweg abzweigte. Nachdem er wegen Nyrias Schnüffeltraining schon einmal durch die halbe Stadt und zurück gelaufen war und die immer wiederkehrenden Alpträume ihn von seinem Nachmittagsschläfchen abgehalten hatten, spürte Raistan eine tiefe Erschöpfung, als er vor dem schlichten Eingang der Taverne seine Taschenuhr hervorzog und befriedigt feststellte, dass er exakt pünktlich war. Der junge Zauberer richtete sich zu seiner vollen Größe auf und zupfte seinen Schal so zurecht, dass die warme Wolle ihm bis unter das Kinn reichte. Auch wenn er am liebsten auf der Stelle im Stehen eingenickt wäre - Vor jemandem, der ihn möglicherweise als Mahlzeit betrachtete, kam es nicht in Frage, Schwäche zu zeigen.
Das zweckmäßige, saubere Innere der Schenke verriet die freundliche Nachbarschaftskneipe einfacher, aber nicht armer Leute. Raistan ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen und entdeckte Wilhelm Schneider schließlich an einem kleinen, abgelegenen Tisch in einer Ecke. Der Rekrut trug unauffällige Zivilkleidung und ein Kaffeegeschirr stand vor ihm. Als er Raistans Anwesenheit bemerkte, winkte er.
Der junge Zauberer nickte als Zeichen des Erkennens und durchquerte den Schankraum.
"Danke, dass du so kurzfristig Zeit hattest." sagte er zur Begrüßung während er seinen Zauberstab an die Wand lehnte, die Fibel löste, die seinen Umhang zusammenhielt, und das Kleidungsstück über den Knauf seines Stabs hängte.
"Keine Ursache." antwortete Wilhelm mit einem freundlichen Lächeln. "Senrays Wohlergehen ist eine Angelegenheit die mir äußerst wichtig ist."
Raistan verzichtete auf jegliche Kommentare bezüglich des Dämonenpakts und bestellte einen Kräutertee bei dem herbeieilenden Wirt.
"Du weißt ja, dass ich die Aufgabe bekommen habe, während des Einsatzes auf die Obergefreite Rattenfänger aufzupassen." begann er sein Anliegen vorzutragen, als sie wieder allein waren. "Aber machen wir uns nicht vor. Ich bin in der Lage, ihren Dämon zu bannen, was ihren Tod zur Folge haben könnte, und das weiß sie."
Die Augen des Vampirs weiteten sich und Raistan ahnte, dass er wieder einmal den falschen Gesprächsansatz gewählt hatte.
"Ich habe nicht im geringsten vor, sie zu töten!" beeilte er sich, hinzuzufügen. "Darum geht es doch gerade. Sie weiß, was ich kann, und hat deshalb Angst vor mir. Deshalb versuche ich gerade, sie davon überzeugen, dass ich ihr wirklich nichts Böses will. Daran, dass sie diesen Pakt geschlossen hat, kann niemand mehr etwas ändern und ich wünsche ihr von ganzem Herzen, dass sie noch ein langes und glückliches Leben führen kann."
Der Rekrut starrte ihn immer noch wortlos an.
Raistan seufzte innerlich. Warum musste diese ganze Sache bloß so fürchterlich kompliziert sein? Wieder musste er an Nyria denken. Sie hätte die Situation sicher von Beginn an voll im Griff gehabt und einfach ihr Herz, das sie so oft auf der Zunge trug, sprechen lassen.
"Wilhelm." versuchte er es erneut. "Ich brauche deine Hilfe um der Obergefreiten Rattenfänger klar zu machen, dass ich nicht vorhabe, etwas gegen ihren Dämon zu unternehmen und sie damit zu töten. Dass sie deshalb keine Angst vor mir zu haben braucht."
Der Vampir räusperte sich umständlich und gewann langsam seine Fassung zurück. Schweigend saßen sie sich gegenüber, als Raistans Tee serviert wurde.
"Danke." sagte Wilhelm schließlich mit einem schwachen Lächeln.
"Wofür?"
"Dass du dir Gedanken darum machst, wie es ihr geht." Der Rekrut blickte ihn direkt an.
Raistan wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Seine Vermutung, dass die Dämonengeschichte Wilhelm Schneider und Senray Rattenfänger einander sehr nahe gebracht hatte, wurde hiermit bestätigt. Vermutlich war es keine gute Idee, dem Rekruten zu sagen, dass er mit seinen Bemühungen in erster Linie den Erfolg der Rettungsmission im Sinn gehabt hatte. Um das Schweigen zu überbrücken führte er seine Teetasse zum Mund und trank einen Schluck. Der bestellte Kräutertee entpuppte sich als eine einfache Pfefferminz-Kamillen-Mischung, wie in den meisten Kneipen in denen er kein Stammgast war. Jeder andere wäre wahrscheinlich bei der Bestellung eines Kräutertees lauthals ausgelacht worden, aber der Anblick des Zauberstabs und der langen Gewänder ließ die Anwesenden ihren Mund halten. Es hatte durchaus seine Vorteile, offensichtlich ein Zauberer zu sein. Die Furcht, aufgrund eines dummen Kommentars die nächsten Tage als Frosch zu verbringen saß zu tief.
Raistan setzte seine Tasse ab. Wenn er sein Anliegen unmissverständlich herüberbringen wollte, folgte er am besten weiter Nyrias Beispiel und sprach das aus, was ihm auf der Zunge lag. Auch wenn es für ihn peinlich werden konnte.
"Wie du vielleicht bemerkt hast, sind die richtigen Worte zur richtigen Zeit nicht gerade meine Stärke. Deshalb habe ich der Obergefreiten einen Brief geschrieben. Du kennst Senray Rattenfänger von uns allen am besten. Deshalb bitte ich dich, einmal drüber zu lesen und mir Verbesserungsvorschläge zu geben wenn du etwas siehst, was ich vielleicht freundlicher oder für sie angenehmer formulieren kann."
Wilhelm nickte.
"Eine gute Idee, ihr zu schreiben. Selbstverständlich schaue ich es mir an." sagte er und streckte seine Hand aus. "Hast du den Brief dabei?"
Raistan zog den Entwurf aus einer der Taschen seiner Robe und reichte ihn über den Tisch. Leichte Nervosität überkam ihn als der Rekrut das eng beschriebene Blatt auseinanderfaltete und zu lesen begann. Er war den Text auf dem Weg zum Treffpunkt im Geiste immer wieder durchgegangen und hoffte, dass er genügte.

Liebe Senray,

Ich hoffe, es erschreckt Dich nicht, dass ich Dir schreibe, aber ich möchte gern einigen Missverständnissen vorbeugen. Auch wenn ich weiß, dass du einen Pakt mit einem Dämon geschlossen hast und ich theoretisch in der Lage wäre, diesen Dämon zu bannen, ich werde es nicht tun. Dein Leben ist an diesen Dämon gekoppelt und ich wäre ein schlechter Mensch, wenn ich es auch nur in Betracht ziehen würde, Dich deshalb töten zu wollen. Im Gegenteil, alles was ich mir für Dich wünsche ist, dass du ein langes und glückliches Leben hast. Deshalb - Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Weder heute, noch morgen, noch irgendwann in der Zukunft. Und falls du Fragen hast oder Hilfe brauchst, kannst du mich gern jederzeit kontaktieren und ich werde versuchen, Dir zu helfen.

Mit freundlichen Grüßen,
Raistan Quetschkorn


Nach einer quälend langen Zeit ließ Wilhelm das Blatt sinken.
"Lass den Teilsatz weg, in dem du sagst 'dich deshalb töten zu wollen'." schlug er mit ernster Miene vor. "Die Aussage funktioniert auch ohne diesen brutalen Hinweis. Sie denkt ohnehin viel zu viel über die Gefahren nach, die sie für andere birgt. Oder die Konsequenzen, die sie für sich daraus ziehen... jedenfalls... lass das Töten weg. Sie wird trotzdem verstehen, was du ihr damit sagen möchtest. Ansonsten... diese Zeilen sind dir gut gelungen. Ich würde an deiner Stelle, außer dem eben genannten Zusatz, nichts daran ändern."
Raistan nickte erleichtert. Sein Entwurf hatte funktioniert.
"Danke." sagte er und holte aus seiner Umhängetasche Schreibzeug und eine Mappe mit Papier heraus um den Brief ins reine zu schreiben. Nun gab es nur noch eine Sache zu klären.
"Falls du die Obergefreite heute noch siehst - Wärst du so freundlich, ihr die Nachricht direkt zu geben? Dann müsste ich nicht erst den Umweg über das Wachhaus gehen und es besteht keine Gefahr, dass jemand neugierig werden könnte."
"Natürlich. Das ist kein Problem." Wilhelm beugte sich leicht vor. "Deine Worte an sie... die lassen ein persönliches Interesse an ihr vermuten. Womit ich keine romantischen Gefühle meine! Aber vielleicht so etwas wie... Mitgefühl?"
Raistan hielt im Entkorken des Tintenfässchens inne.
"Da hast du recht. Das Wissen mit sich herumschleppen zu müssen, dass es dort etwas zutiefst Verdorbenes in ihr gibt, über das sie um jeden Preis die Kontrolle behalten muss. Dazu die Gewissheit, dass ihre Seele nach ihrem Tod in die Hölle fährt. Senray Rattenfänger trägt eine unglaublich schwere Last mit sich herum. Deshalb tut sie mir wirklich leid."
An Wilhelms Miene konnte er deutlich ablesen, dass seine Worte auf den Rekruten nicht die erhoffte Wirkung hatten. Raistan flüchtete sich darin, einen weiteren Schluck Tee zu trinken. Er tat gerade das, was bei Nyria so gut funktionierte: Einfach sagen, was er dachte und er selbst sein. Aber anscheinend war das nun auch wieder verkehrt.
"Und es gibt wirklich nichts, was helfen könnte, ihre Seele zu retten, außer..." Den Rest des Satzes ließ Wilhelm vielsagend in der Luft hängen.
Raistan fluchte innerlich. Warum machte der Rekrut es ihm bloß so kompliziert? Aber nun gut. Wenn Wilhelm mit ihm nicht klar kam, dann konnte er auch nichts daran ändern. So war er nun einmal. Raistan Adelmus Quetschkorn, der ewige zwischenmenschliche Versager. Außerdem war Wilhelm selbst schuld, wenn er nun Dinge zu hören bekam, die er lieber nicht hören wollte. Er hatte das Gespräch doch unbedingt in diese Richtung lenken wollen.
"Ich wünsche mir, dass es anders wäre, aber nein." sagte Raistan ernst. "Der Dämon hat sie vom Tod gerettet und somit ist ihr Leben nun durch den Pakt an ihn gebunden. Wenn er gehen muss, muss sie es auch. Und dass ein solches Vorgehen absolut nicht in Frage kommt, darin sind wir uns doch alle einig."
Zumindest, solange sie die Kontrolle behält, fügte er stumm hinzu. Was passieren würde, wenn der Fall eintrat, dass der Dämon Senray Rattenfängers Körper endgültig übernahm, war vermutlich erst recht nichts, was Wilhelm Schneider hören wollen würde. Auch wenn es traurig war, Raistan - oder ein anderer Zauberer - würden gezwungen sein, dem Spuk ein endgültiges Ende zu bereiten.
In Wilhelm schien es zu arbeiten.
"Ist es dir wirklich ernst damit, wenn du schreibst, dass du sie auch in Zukunft nicht... bedrohen wirst?" brachte er hervor.
An diesem Punkt konnte Raistan nicht mehr anders, als die Augen zu verdrehen. Hatte er seinen Standpunkt nicht schon deutlich genug klargestellt?
"Wilhelm." sagte er leise aber eindringlich und sah dem Rekruten geradewegs in die Augen. "Ich habe nicht vor, etwas zu unternehmen, was Senray Rattenfängers Leben gefährden könnte. Weder heute, noch morgen, noch irgendwann. Sonst säßen wir beide jetzt nicht hier. In Ordnung?"
Für einen kurzen Moment starrten sie einander wortlos an. Dann nickte der Vampir langsam.
"In Ordnung." murmelte er.
Raistan überließ Wilhelm seinem stummen Brüten und machte sich daran, den Brief ins reine zu schreiben. Viel verkrampfter konnte die Situation kaum noch werden. Je schneller er hier fertig wurde, desto besser. Er strich nach kurzer Überlegung den angemerkten Halbsatz und setzte schließlich mit einem eleganten Schwung im Federstrich seine Unterschrift unter den Text. Anschließend überflog er sein Werk noch einmal und musste unwillkürlich an den schmalztriefenden Liebesbrief denken, den er einige Tage zuvor zu Papier gebracht hatte. Hoffentlich erfüllte diese Botschaft ebenso erfolgreich ihren Zweck.
Wilhelm schwieg immer noch als Raistan das beschriebene Blatt zusammenfaltete, es an die Obergefreite Rattenfänger adressierte und versiegelte, und dem jungen Zauberer war das nur recht. Er war heute schon in mehr als genug verbale Fettnäpfchen getreten. Während das Siegelwachs trocknete, trank Raistan seinen Tee aus. Dann schob er den fertigen Brief über den Tisch, bis dieser direkt vor Wilhelm zu liegen kam.
"Danke noch mal für deine Hilfe." sagte er. Und während er zusah wie der Rekrut das Schriftstück in der Innentasche seines Jacketts verstaute, kam ihm ein plötzlicher Gedanke. Es gab ein deutliches Anzeichen dafür, wie sehr Wilhelm Schneider die Obergefreite Rattenfänger am Herzen lag. Für diesen Gefallen hatte er keinen Preis verlangt.
"Da wäre noch etwas, was ich dich fragen wollte." sagte Wilhelm plötzlich.
Raistan sah vom Zusammenpacken seiner Schreibutensilien auf. Hoffentlich war es keine weitere dieser Fragen, auf die er nur Antworten hatte die Wilhelm nicht gefielen.
"Ich höre zu." sagte er. Was hätte er auch anderes antworten sollen.
Der Rekrut schien für einen Augenblick mit sich zu ringen, bevor er sprach.
"Es geht um Senray. Du hast deutlich gezeigt, dass sie dir nicht egal ist. Und der Einsatz, auf den wir uns bald begeben werden, ist hochgefährlich." Er schluckte. "Es ist im Bereich des Möglichen, dass ich nicht zurück kommen werde. Falls das Schlimmste geschieht..."
Der Blick aus seinen braunen Augen war beinahe flehend.
"Würdest du dich dann um Senray kümmern? Für sie da sein und ihr zuhören, wenn sie jemanden braucht, der ihr Sicherheit und Halt gibt? Du hast ein Bewusstsein dafür, was sie durchmacht, und ich möchte sie nie wieder einsam und schutzlos wissen, selbst wenn ich nicht mehr da bin. Bitte. Es bedeutet mir wirklich viel."
Raistan hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit. Warum kam Wilhelm mit seinem Quasi-Testament ausgerechnet zu ihm? Jeder Püschologe wäre für eine solche Aufgabe geeigneter als er. Er wusste doch noch nicht einmal, ob der gerade geschriebene Brief dafür sorgen konnte, dass die Obergefreite zumindest keine Angst mehr vor ihm hatte.
Raistan biss sich auf die Lippen als sich die Frage, ob Nyria insgeheim auch für den schlimmsten Fall Vorsorge getroffen hatte, in seine Gedanken stahl. Falls sie es tat, wen würde sie wohl bitten, sich um ihn zu kümmern? Raistan war sich bewusst, dass Nyrias Tod ihn völlig aus der Bahn werfen würde. Aber selbst dann gab es immer noch Menschen, denen er etwas bedeutete. Bregs und seine Familie. Seine Schwester. Soweit er wusste, hatte Senray Rattenfänger außer Wilhelm niemanden, der ihr nahe stand.
Der Rekrut sah ihn weiter erwartungsvoll mit seinen großen, dunklen Augen an.
Raistan fasste einen Entschluss. Damals, als er nach dem Tod seines Bruders emotional am Boden lag, hatte sich Bregs um ihn gekümmert. Vielleicht war es an der Zeit, etwas davon weiterzugeben.
"Ich kann nicht versprechen, dass ich besonders gut darin bin, aber ich werde es versuchen." erklärte er.
Und vielleicht, fügte er in Gedanken hinzu, kommt es ja auch gar nicht zum Schlimmsten.

03.07.2017 11: 36

Magane

Igorinas überraschendes Auftauchen zu einem Zeitpunkt den Magane als mitten in der Nacht empfand, hatte sie sofort in Alarmbereitschaft versetzt. War etwas mit Ophelia? War etwas schief gegangen? Hatte die neue Mischung neue Probleme gebracht? Sie stellte all diese Fragen nicht, sondern sah Igorina nur fragend an, während diese leise zu ihr ans Bett kam.
"Fie befteht darauf dich fu fehen. Ich halte daf für eine ganf flechte Idee aber fie läft ef fich nicht aufreden."
Mag schloss für einen Moment die Augen, ihre Gedanken rasten. Sie würde sie zu Ophelia bringen. Igorina musste sich sehr sicher fühlen, dass sie in dieser Nacht unbehelligt bleiben würden. War das vielleicht die Gelegenheit zur Flucht? Ophelia war sicherlich noch nicht wieder fit genug. War sie selbst stark genug um sie zu tragen? Hatte sie überhaupt eine Chance gegen Igorina? Sie hatte keine Chance, war vielleicht nicht stark genug und das war keine echte Gelegenheit zur Flucht. Sie schlug die Augen wieder auf und sah die andere fest an.
"Kann ich mir eben etwas überziehen?"
"Natürlich. Auferdem muft du mir fwören, daf du den Herren gegenüber diefef Treffen nicht erwähnft."
Die Hexe griff nach dem Kleid, welches sie auf dem Stuhl am Bett abgelegt hatte und zog es schnell über. Das Nachthemd verschwand vollkommen unter dem Kleid, das Mag, dank ihrer spärlichen auf dem Almanach basierenden Allgemeinbildung, der traditionellen überwaldischen Gebirgskleidung zuordnete. Das war wenigstens etwas handfestes, kein sündhaft teures Abendkleid, auch wenn ihr der Stil nicht gefiel und sie die Schürze gleich in der Truhe gelassen hatte.
"Die Herren dürfen nichts wissen, kein Problem", sie zupfte noch einige Augenblicke am Miederoberteil herum und beschloss dann, dass das reichen musste.
"Bift du dir im Klaren darüber, daf auch Gedanken nicht ficher find vor ihnen?"
"Ja, ich weiß meine Gedanken zu schützen."
Magane hätte es vorgezogen etwas zu haben, um Hals und Dekolleté zu bedecken, damit sie nicht auf den ersten Blick angebissen wie eine weggeworfene Apfelkitsche aussah. Aber damit konnte die Kleidertruhe nicht dienen. Keine Halstücher oder Schals, nichts Hochgeschlossenes, nur weit ausgeschnittene Kleider und Nachthemden. Wieso sollte eine menschliche Gefangene in einem Vampirhaushalt auch ihre Reize verstecken? Aber das war nun einmal nicht zu ändern. Sie konnte weder die Bissmale, noch die Augenringe oder die unnatürliche Blässe verbergen. Und sie konnte auch kaum darauf hoffen, dass diese körperlichen Anzeichen der Freundin entgehen würden. Dazu war diese immer eine viel zu gute Beobachterin gewesen. Trotzdem war sie sich der Tatsache bewusst, dass sie viel schlimmer aussähe, wenn sie sich nicht an der Energie ihrer Peiniger bedienen würde. Sie atmetete tief durch, während Igorina die Tür aufschloss. Nicht weinen, unbeschwert wirken... Hoffnung geben, wenn eben möglich. Zu mehr Plan reichte es nicht. Dieses Treffen war so überraschend arrangiert, dass Mag kaum zwei klare Gedanken fassen konnte.
Igorina ließ sie vorgehen und trat dann hinter ihr ebenfalls ein. Sie würde die beiden Gefangenen nicht allein lassen, das hatten sie beide vorher gewusst. Trotzdem war es in gewisser Weise demütigend, wenn der Feind einem so wenig Freiraum ließ. Sie würden auf jedes Wort achten müssen.
Ophelia war extra aufgestanden, als sie den Schlüssel im Schloss hörte und hatte sogar einen Schritt auf sie zu gemacht. Aber es war offensichtlich, dass das schon das höchste an Mobilität für den Moment war. Immerhin, sie stand wieder, schwankte leicht aber stand auf ihren eigenen Beinen und sah ihr mit klaren Augen entgegen.
Mag überbrückte die wenigen Meter mit großen Schritten und wurde, noch bevor sie entschieden hatte, ob sie die Freundin stützen oder umarmen sollte, herzlichst von ihr umarmt. Sie standen ein paar Minuten einfach nur so da, die verstreichende knappe Zeit ignorierend, bevor Magane die spindeldürre und von der Krankheit gezeichnete Freundin sanft auf die Bettkante schob und sich dann neben sie setzte.
"Oh Maggie, es tut mir so leid, dass ich dich da auch noch mit reingezogen habe!"
Sie gab sich doch tatsächlich die Schuld dafür. Das war zwar absehbar gewesen, erschien Mag aber dennoch total unlogisch.
"Du hast mich da nicht reingezogen. Ich bin in der Sache von Anfang an mit drin gewesen und es war immer meine Entscheidung." Das stimmte so nicht. Sie war weder von Anfang an dabei gewesen, noch hatte sie immer eine Wahl gehabt. Aber vielleicht war das eher eine Frage der Definition. Womit hatte Ophelias Problem begonnen? Natürlich mit der mentalen Gewalt, die sie bei jenem Einsatz erfahren hatte. Aber zu Tage getreten war das erst durch Rogis Tod, den Mag entschieden hatte, nicht zu akzeptieren, sondern zu bekämpfen. Und ähnlich verhielt es sich mit dem Rettungszirkel. Sowohl dem ursprünglichen, als auch dem jetzigen. Sie hätte einfach ihre eigenen Kopfschmerzen mit mentalen Blockaden und Schmerzmitteln ausschalten können, hatte sich aber für den Kampf um Ophelia entschieden. Weil Hexen nicht einfach vorübergehen. Weil es nichts gab, was eine Hexe nichts anging. Und vor allem, weil sie es wert war, gerettet zu werden.
Magane lachte leise. Dieser Gedanke, genau so hatte sie auch über Rogi gedacht.
Die beiden sahen sich gegenseitig an, jede mit der geballten Kraft der geschulten Beobachtungsgabe. Während Magane mit wachsender Erleichterung zur Kenntnis nahm, dass Ophelias Gesundheitszustand sich schon jetzt bemerkenswert gebessert hatte, war sie sich des Blickes, der auf den Bissmalen verweilte, nur zu bewusst. Der traurige, verstehende Blick, mit dem Ophelia ihr danach in die Augen sah, war kaum auszuhalten. Deswegen hätte sie so gerne ein Tuch oder einen Schal gehabt. Jetzt würde Ophelia sich dafür auch noch die Schuld geben.
"Igorina hatte mir versichert, dass es dir gut ginge. Das hat sie dabei wohlweislich nicht erwähnt."
"Es geht mir gut, das ist... ein Preis, den ich zahle. Nicht zu viel und keine bleibenden Schäden, nur ein paar Narben."
"Sebastian?"
"Wer sonst?"
"Du hast eine... Vereinbarung mit ihm?"
"Ja, aber wir halten uns beide nicht so wirklich dran."
Sie lachten beide. Es war ein leises Lachen, das unter anderen Umständen kaum bemerkt worden wäre. Aber in der Stille des Kellers wirkte es wie ausgelassenes Gelächter.
"Dass er sich an kein Versprechen gebunden fühlt, ist nicht überraschend. Aber du?" Mit einem Augenzwinkern ergänzte sie: "Was für einen Dämon hat er da geweckt?"
"Bisher hat er sich, soweit ich das beurteilen kann, zumindest im Kern und wenn es ihm passte, dran gehalten", Mag grinste schief, "Was mich angeht... ich habe nicht vor, ein Versprechen zu brechen. Aber biegen kann ich es."
Ophelia wurde schlagartig wieder ernst.
"Hast... du hast dich nicht freiwillig hier runter begeben, richtig?"
"Die Herrn sind nicht auf die Idee gekommen, nett zu fragen."
Statt einer Antwort schluckte Ophelia nur schwer, sie fühlte sich offensichtlich immer noch schuldig. Dabei war sie doch wirklich unschuldig, sowohl an der Gesamtsituation, als auch an Mags Gefangenschaft im Speziellen.
"Aber so bin ich genau da, wo ich am nützlichsten bin: an deiner Seite!" Sie lächelte voller Überzeugung. Was hätte sie von außen schon bewirken können? Da waren die Anderen qualifizierter. Aber hier drin wären nur wenige in der Lage wirklich etwas zum Besseren zu verändern.
Ophelia nahm ihre Hand.
"Danke! Ich wüsste nicht, wie ich das hier ohne deinen Tee... ohne deine Magie schaffen sollte. Die Gedankenmauer... ich kann sie zwar inzwischen selber erbauen in meinem Kopf und mich damit zeitweise vor ihnen schützen. Aber das geht nicht immer. Manchmal war ich dafür zu schwach."
"Ja, ich weiß wie anstrengend das ist. Aber du musst dabei riesige Fortschritte gemacht haben. Trotzdem hat es zu sehr an dir gezehrt", über ein Jahr, rief sich Magane in Erinnerung. In Anbetracht der langen Zeit war es ein Wunder, dass sie überhaupt so lange durchgehalten hatte. Ihre Kraft war bemerkenswert.
"Ich weiß nicht, ob man sie riesig nennen dürfte. Aber auf jeden Fall sind es Fortschritte. Etwas, das ich vorher nicht konnte", Ophelia verstärkte den Druck ihrer Hand, "Dein Tee, der geht immer... und die neue Variante ist großartig. Wieder sprechen zu können, ohne auf den Schutz des Tees verzichten zu müssen, ist sehr befreiend. Danke!"
"Das war das Stückchen Freiheit, dass in meiner Verantwortung lag. Ich hab dir die Stimme genommen, also musste ich sie dir irgendwie auch wieder geben. Hab Monate gebraucht um den Fehler zu finden... Ich bin so glücklich, dass es funktioniert hat, die Abschirmung ist die selbe, du spürst keinen Unterschied?"
"Bisher ist mir nichts aufgefallen, was anders wäre. Es ist so eine Erleichterung, ihn nicht immerzu in meinen Gedanken zu wissen. Und auch Sebastian... seit der Tee wirkt, kann ich wieder schlafen. Ohne, dass er mich bis in die Träume jagt. Es ist so, so gut, wieder schlafen zu können."
"Und schlafen ist so wichtig", eine Bemerkung, die mehr ihr selbst, als der ehemaligen Kollegin galt. Sebastian hatte Ophelia bis in ihre Träume gejagt? Ein abscheulicher Verdacht stieg in Magane auf. Was bedeutete das für sie? Inwiefern konnte er in ihre Träume eindringen? Sie träumte ungewöhnlich häufig das selbe in den letzten Tagen, vielleicht war das ja schon ein Zeichen dafür, dass sie in ihren Träumen nicht allein war.
Ophelia schien ihre plötzliche Unruhe nicht bemerkt zu haben, sie hing anscheinend einem anderen Gedankengang nach.
"Wobei man ja meinen sollte, dass ich in letzter Zeit genug Schlaf hatte", merkte sie mit einem schiefen Grinsen an. Ihren Humor hatte sie jedenfalls nicht verloren.
"Bewusstlosigkeit und Schlaf sind nicht das Selbe."
Ophelia sah zu Boden und wich so Maganes Blick aus
"Ich war schon mal hier bei dir, kurz nach meiner Ankunft. Ich weiß, wie es da um dich stand."
"Zum Glück...", sie hielt den Blick gesenkt, als sei auf einmal die Staubflocke am Fußboden von größter Wichtigkeit und müsste genauer untersucht werden, "geht es mir ja nun schon wieder etwas besser."
Das war maßlos untertrieben. Auch, wenn sie immer noch nur aus Haut und Knochen bestand, mühevoll atmete und offenbar einiges an Muskulatur eingebüßt hatte, war sie dennoch in einem Zustand, der bei der Ankunft der Hexe auch einem hoffnungslosen Optimisten nicht in den Sinn gekommen wäre. Körperlich bestand inzwischen wieder die Chance auf eine vollständige Genesung. Was ihren seelischen Zustand anging, wagte Magane keine Prognosen. Dazu kannte sie sich zu schlecht mit solcherlei Dingen aus. Aber der ungebrochene Kampfgeist in Ophelias Augen, ließ sie auch da hoffen.
Sie sah zur Igorina, die in einem der Sessel dabei saß und natürlich jedes gesprochene Wort belauschte. Die Dienerin würde nicht zögern, Informationen, die sie für gefährlich hielt, weiter zu geben. Auch nicht, wenn sie dadurch gezwungen sein würde, ihre Eigenmächtigkeit zu beichten. Daher war es vollkommen undenkbar, in ihrer Gegenwart über den - sicherlich inzwischen bereitstehenden - Rettungstrupp zu reden. Auch Namen durfte sie auf keinen Fall nennen, in der vagen Hoffnung, dass sie noch nicht alle unter Beobachtung standen. Es war nahezu unmöglich, eine Botschaft an ihr vorbeizuschmuggeln.
"Hat... hat Rogi mit euch geredet?"
"Rogi?" War Rogi etwa hier gewesen? Wie hatte sie das verheimlichen können? Sie hatte also gewusst wo Ophelia gefangengehalten wurde... wenn sie hier jemals wieder herauskam, würde Rogi ein oder zwei Dinge erklären müssen.
"Oh! Dann wohl nicht"
"Zumindest nicht, solange ich dabei war." Hoffentlich hatte sich Rogi inzwischen entschieden mit den Anderen zu kooperieren. Nur zusammen waren sie stark genug. "Aber sie hat sich sehr seltsam verhalten, als ich zuletzt mit ihr sprach."
"Sie durfte einmal zu mir. So, wie du jetzt. Aber sie war zum Schweigen verpflichtet. Und danach durfte sie es wohl nicht noch einmal."
Zum Schweigen verpflichtet... und natürlich hatte sie versucht, nach den Regeln zu spielen, zu gehorchen, der Familie und den Herrn verpflichtet. Mag warf der alten Igorina einen grimmigen Blick zu. Egal, wie lange sie jetzt schon mit Igors zu tun hatte, dieser Gehorsam war und blieb ihr einfach fremd.
"Sie ist jedenfalls nicht wieder gekommen. Obwohl sie es vorhatte." Bei diesen Worten sah Ophelia ebenfalls zu Igorina, fragend. Aber sie sprach die Frage nicht aus. Vermutlich war sie ausweichende Antworten gewöhnt und verzichtete deswegen von vornherein auf die Frage. Stattdessen sagte sie: "Ist alles nicht so einfach hier... Die Situation muss sie auch sehr belasten. Das tut mir so leid für sie."
Mitleid. Sie hatte grade erfahren, dass von Rogi nicht die erhoffte Rettung ausgehen würde und hatte trotzdem nur Mitleid mit ihr!
"Nein, einfach ist es nicht. Die beiden Herren sind etwas eigenwillige Gastgeber."
"Sie hat gesagt, dass sie fast ein Jahr nach mir gesucht hatte." Ophelias Gedanken kreisten weiter um Rogi. Aber das Jahr war für sie alle lang gewesen.
"Ja, wir alle."
"Vermutlich war es nicht gut für sie, dass sie mich letztlich gefunden hat", sie sah Maggie an, "So, wie es auch für dich nicht gut ist, hier mit mir gelandet zu sein."
"Na, jedenfalls hab ich dich gefunden." Magane grinste schief und drückte Ophelias Hand.
"Da bin ich schon fort... und bedeute immer noch Kummer für euch."
"Nein, so darfst du nicht denken!" Diese Gedanken konnten nur in den Abgrund führen. Wo kamen die nur her, wie konnte sie sowas nur glauben?
"Ich hatte so gehofft... und auch Racul und Sebastian waren da einer Meinung und haben es immer wieder betont... dass mein Verschwinden wenigstens diesen Druck von euch nehmen würde."
Also daher wehte der Wind. Die Herren hatten ihr eingegeben, die Welt sei ohne sie besser dran. Zorn kochte in Magane hoch. Diese verdammten Blutsauger waren doch wirklich zu allem fähig.
"Die beiden haben ja sowas von keine Ahnung, was echte menschliche Gefühle angeht... Du machst uns keinen Kummer. Wir sorgen uns. Dein Verschwinden war eine Katastrophe. Aber daran trägst du keine Schuld! Du bist überhaupt nicht Schuld..."
Wieso hatten sie ihr überhaupt eingeredet, dass sie Schuld war? Was hätte sie denn daran ändern können? Ophelia hatte mit Sicherheit nicht darum gebeten, dass ihre natürliche Barriere durch den Gewaltakt, dem sie zum Opfer gefallen war, dermaßen zerbröselt worden war.
"Wenn ich es nur früher geschafft hätte, diese Gedankenmauer zu errichten... und euch alle damit zu schützen... aber ehrlicherweise muss man leider dazu eingestehen, dass ich nicht gewusst hätte, wie. Allein die Bücher konnten es nicht verdeutlichen. Dazu brauchte es... ihn in meinem Kopf. Lehrstunden."
"Ich glaube nicht, dass man es anders lernen kann." Mag dachte an die zahllosen Stunden in ihrer Jugend, in denen sie gelernt hatte, ihren Geist zu verschießen, spielerisch, mit einem freundlichen Lehrmeister. Aber auch der war die meiste Zeit über in ihrem Kopf gewesen, um ihr von Innen zu zeigen, wie man den Feind draußen hielt. "Obwohl es sanftere Wege gibt."
"Ich habe mir seitdem vorgestellt, wie es wäre, zurück zu kommen. Nicht oft, nur selten. Ich weiß ja, dass das nicht passieren wird."
Sie war sich dessen so sicher! Mag lächelte sie an, ganz harmlos, jetzt wusste sie, wie sie eine Botschaft an Igorina vorbeischleusen konnte.
"Es wäre nur so schön, alles wieder irgendwie gut zu machen." Ophelia lächelte ebenso harmlos zurück, etwas sehnsüchtig, wehmütig. "Und dabei zu wissen, diesmal niemanden zu gefährden. Es im Griff zu haben. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Tage und Nächte ich damit zugebracht habe, in meinem Inneren Entschuldigungsbriefe an jeden erdenklichen Kollegen zu schreiben!"
"Entschuldigungsbriefe... ich glaube nicht, dass das nötig wäre. Aber es wäre schön, wenn du die Gelegenheit bekämst. Denn das hieße, es gäbe eine normale Zukunft... ein ganz normales Leben, mit dem richtigen Mann an deiner Seite, ohne den Falschen in deinen Gedanken..."
Damit hatte sie genau wie erwartet den Nerv getroffen. Ophelia zuckte heftig zusammen, als sei sie geschlagen worden, und ging sichtlich in einen absoluten Verteidigungsmodus über, bei dem sie keinerlei Gefühle mehr an die Oberfläche lassen würde.
Mag nahm sie tröstend in den Arm. Ihr war bewusst, dass sie selbst diese flüchtige Erwähnung Rachs und eines gemeinsamen Lebens mit ihm verletzt hatte. Aber das war vielleicht die einzige Chance. Nur so war sie unverdächtig in der Lage, in das Ohr auf der der Igorina abgewandten Seite zu flüstern.
"Ist ja schon gut..." Sie senkte ihre Stimme noch weiter, so dass diese kaum mehr als ein Hauchen war, "Sie werden kommen!", bevor sie wieder etwas lauter ergänzte: "Tut mir leid, das war unbedacht. Ich wollte dich nicht verletzen."
Magane konnte nur hoffen, dass sie die Freundin mit dem kleinen Hauch echter Hoffnung erreicht hatte, denn eine Antwort war selbstverständlich unmöglich. Dennoch, sie war gleichzeitig unglaublich dankbar dafür, dass Ophelias emotionale Abschottung - die verdächtig nach einem Schutzmechanismus gegen Sebastian aussah - jedes körperliche Anzeichen innerlicher Bewegung unterdrückte. Ophelia war inzwischen sehr gut darin, sich nicht zu verraten.
Igorina kannte diese Reaktion von ihrer Patientin offensichtlich schon. Sie zeigte kein Anzeichen von Misstrauen.
Dennoch fühlte es sich falsch an, die Freundin so zu manipulieren. Damit war sie kaum besser als ihre Gastgeber, selbst wenn die Botschaft, die sie hatte platzieren wollen, seit Igorina sie abgeholt hatte, eine positive war.
Igorina nutzte die entstehende Stille um anzumerken, dass Ophelia wieder Ruhe bräuchte, was ihr einen ärgerlichen Blick von der Hexe einbrachte. Dennoch löste Magane sich von der Freundin und stand langsam auf.
"Ja, wir wollen unser Glück ja auch nicht überstrapazieren", kurz dachte sie mit Schaudern daran, was geschehen würde, wenn Sebastian in der Zwischenzeit zurückgekehrt wäre und sie nun nebenan erwartete. Aber dann fasste sie sich wieder und lächelte Igorina zu. "Vielen Dank! Ich weiß zu schätzen, dass du so viel für uns riskierst."
Ophelia ergriff noch einmal ihre Hand und sagte: "Es tut mir leid! Ich wollte nicht überreagieren. Deine Sorge, deine Worte... sind bei mir angekommen. Danke! Bitte pass auf dich auf."
"Ich hätte meine Worte überdenken müssen, mir tut es Leid."
"Und... wegen Sebastian... lass ihn nicht an deine Gefühle! Womit auch immer er dich lockt... lass ihn nicht an deine Gefühle! Was auch immer er dem Körper antun mag... es ist nichts im Vergleich zu dem, was er... seine Schritte in den Gedanken, seine Spuren auf den Erinnerungen... Insofern du es irgendwie verhindern kannst... lass es nicht zu. Vertrau mir!"
"Er kommt nicht an meine Gedanken und Erinnerungen, dagegen weiß ich mich zu wehren. Mach dir keine Sorgen um mich." Sie schenkte der Freundin ein strahlendes Lächeln, von dem sie absolut sicher war, dass es kein bisschen gruselig wirkte und ließ sich dann widerstandslos zurück in ihr Zimmer führen. Wo Igorina vage in Aussicht stellte, dass sich vielleicht wieder eine solche Gelegenheit ergeben könnte.

04.07.2017 0: 00

Senray Rattenfaenger

Senray erwachte in vollkommener Dunkelheit und spürte ihr Herz rasen. Sie zitterte, war eiskalt geschwitzt, fror unter der Decke. Die junge Frau wand sich zur Seite, setzte sich auf. Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung. Es war das Einzige, was sie wenigstens unter Kontrolle bringen konnte.
Nach einer Weile wurde es besser.
Schon wieder ein Albtraum. Oder eher – schon wieder der Albtraum.
Es war, als wolle ihr Verstand sie quälen. Mittlerweile schaffte sie es nicht mehr, aufzuwachen wenn Wilhelm ... wenn er den Flammen zum Opfer fiel. Nein, sie musste mit ansehen, wie sie selbst ein Mitglied des Rettungstrupps nach dem anderen verbrannte. Heute war es Rach gewesen, bei dem sie endlich hatte aufwachen können. Rach ... und im Hintergrund hatte Ophelia geschrien. Oder vielleicht hatte sie sich das auch nur eingebildet?
Es war vollkommen egal. Die Bilder wurden immer schlimmer und mit jeder Wiederholung machten sie Senray mehr Angst, dass sie real werden könnten. Außerdem hatte sie mittlerweile fast Angst davor, schlafen zu gehen. Dabei war sie so müde. Die junge Frau hatte nun seit vier Nächten nicht nur nicht mehr durchgeschlafen, sondern immer nur wenige Stunden geschlafen. Nur vier Nächte... doch die Intensität der Albträume, die echte Angst die sie auslösten waren so stark! Tagsüber gewann sie die Kraft für ihre Aufgaben fast nur noch aus den Aufgaben selbst. Sie wollte einfach weitermachen, wollte durchhalten. Also hielt sie noch durch. Noch ging das auch ganz gut.
Nur merkte Senray gerade in ruhigeren Phasen, wie sehr es ihr trotzdem zu schaffen machte. Ihre Gedanken drifteten dann ab, hin zu den Schreckensbildern. Oder ihre Augen fielen einfach zu, ihr Körper wollte sich nehmen was sie ihm vorenthielt. Sie hatte wahrscheinlich noch nie so oft denselben Absatz für einen Bericht schreiben müssen, um ihn ansatzweise richtig aufs Papier zu bringen. Aber irgendwann schwand ihre Konzentration einfach. Wenn die Müdigkeit sie so übermannte ... gestern hatte sie es versucht und sich tagsüber hingelegt. Allerdings war die DOG nur mit demselben Albtraum dafür gestraft worden.
Vielleicht sollte man sich nach genügend Wiederholungen daran gewöhnen und einfach durchschlafen können. Doch Senray war sich sicher, dass sie diesen Punkt nie erreichen würde. Sie konnte sich nicht an diese Bilder, die Vorstellung gewöhnen. Konnte und wollte sie nicht akzeptieren.
Und selbst wenn sie irgendwann doch abstumpfen sollte ... Wann sollte das sein? Wie lange würde sie jetzt noch Nacht für Nacht diesen verdammten Traum haben? Als ob sie sich im wachen Zustand nicht genug Sorgen machte! Vorher schon gemacht hatte.
Einen kurzen Moment wanderten ihre Gedanken zu dem Brief, den Wilhelm ihr am Abend gebracht hatte. Allerdings waren Raistans Worte nicht direkt ein Problem oder eine Sorge mehr, viel eher bargen sie die Lösung. Nur war es eben keine leichte Lösung, keine, die es für sie selbst wirklich lösen würde. Sie hatte, während Wilhelm dabei war, nicht zu sehr darüber nachdenken wollen, musste ihn fast abweisend behandelt haben. Und auch jetzt ...
Vorsichtig kroch die junge Frau aus dem Bett und tastete nach Streichhölzern. Die Kerze, die sie vorm zu Bett gehen entzündet hatte, war heruntergebrannt.
Als sie wieder etwas sah, seufzte sie. Senray hatte das dringende Bedürfnis, hinaus zu gehen. Aktiv etwas zu machen, bloß nicht hier zu bleiben und nur Berichte zu lesen und zu verfassen. Oder noch schlimmer – nur dasitzen und in ihren Gedanken versinken. Das wäre nur bedrückend oder sie wäre nur gleich wieder schläfrig geworden. Sie war bei weitem nicht erholt durch die wenigen Stunden Schlaf, die ihr vergönnt gewesen waren. Aber sich wieder hinlegen kam nicht in Frage.
Also zog sie sich an, machte sich fertig, um der Gilde der Alchimisten einen nächtlichen Besuch abzustatten.

Wilhelm hatte am Vortag seine eigentliche Schicht gegen die Nachtschichte getauscht, um das kurzfristige Treffen mit Raistan zu ermöglichen. Danach war er noch kurz bei Senray gewesen, um ihr den Brief zu übergeben. Allerdings war weder ihm noch ihr wirklich nach Reden zumute nach dem sie den Brief gelesen hatte und viel zu früh hatte er sie allein mit ihren Gedanken lassen müssen, um zu eben jener Nachtschicht zu kommen. Und natürlich lies es ihn nicht los, nichts davon. Also hatte sich Wilhelm danach entschlossen, einen Umweg über die Außendienststelle der DOG zu machen. Bis er da war, war Senray mit Sicherheit über der Arbeit. Da sie nichts von einem morgendlichen Einsatz gesagt hatte, würde sie in ihrem Büro sein.
Der Vampir blieb auf der dem Boucherie gegenüberliegenden Straßenseite stehen. Er war sich noch nicht ganz im Klaren darüber, wie er sein Anliegen am Besten vortragen sollte.
Senray war die letzten Tage ... nun, sie war vollkommen sie selbst gewesen. Allerdings war von Tag zu Tag der Schatten unter ihren Augen dunkler geworden und sie hatte erschöpfter gewirkt als davor. Dies konnte einfach an einer erhöhten Arbeitsbelastung liegen – was an sich schon kritisch genug wäre, wenn es sie so aufzehren würde!
Doch Wilhelm hatte den unangenehmen Verdacht, dass es eher damit zusammenhing, dass die junge Frau nicht mehr in ihre Wohnung ging um zu Schlafen. Sicher arbeitete sie noch länger als sonst, einfach weil sie sowieso noch im Büro war. Und auch wenn das Bett seiner eigenen Erfahrung nach nicht direkt unbequem war – ein Büro, noch dazu in einem Etablissement wie dem Boucherie Rouge, war sicher nicht der Ort, an dem man jede Nacht schlafen wollte und konnte.
Sollte er damit Recht haben, so ging Senrays aktuelle Verfassung darauf zurück, dass sie ihm zuliebe ihre eigenen vier Wände mied. Tatsächlich wollte er nicht herausfinden, wie sich ein blutiger Kratzer bei ihr, dank dem Dämon, auf ihn auswirken würde.
Es war allerdings auch nicht richtig, dass die Kollegin deswegen nun keine erholsame Nacht mehr hatte. Zumal auch das auf Dauer zu einer Gefahr für ihr Wohlbefinden und damit auch ihn selbst werden konnte.
Der Vampir hatte also beschlossen, ihr sein Angebot noch einmal zu unterbreiten und zu betonen, dass er es ernst gemeint hatte: Sie konnte, wenn sie wollte, bei ihm schlafen. Für ihn war es kein Problem, das Sofa zum Ausruhen zu nutzen oder selbst die Nacht durch zu arbeiten. Anders als bei ihr beeinflusste das bei ihm nicht sofort den kompletten Organismus in so negativer Form.
Sie davon allerdings zu überzeugen, ohne zu aufdringlich zu sein und entgegen ihrer Angst vor Seinesgleichen... Keine leichte Aufgabe.
Da war es leichter gewesen, seiner Angestellten Hannah das Ganze zu erklären. Und er hatte ihr tatsächlich fast alles gesagt, in dem Wissen, so ihr Verständnis zu gewinnen. Begeistert war sie dennoch nicht über die Aussicht, dass er eventuell über Nacht bleibenden Damenbesuch bekommen würde. Seiner Versicherung, es wäre nicht dieserart zum Trotz. Sie hatte das Ganze mit der Frage zu tarnen versucht, ob er es wirklich klug fand, den Dämon, der ihm das angetan hatte, auch noch in seine Wohnung zu lassen. Womit sie natürlich Recht hatte. Aber gleichzeitig traf es auch den Kern des Problems: Das bösartige Wesen und Senray waren eben nicht dieselbe Person. Und er würde die junge Frau nicht noch zusätzlich leiden lassen, nur weil sie eben an dieses Geschöpft gebunden war. Das hatte er zwar nicht extra betont, durchaus aber, dass sein eigenes Wohlergehen aktuell an das ihre geknüpft war und davon abhing.
Wilhelm ließ seinen Blick über die wenigen frühmorgendlichen Passanten schweifen.
Er machte sich etwas vor, wenn er dachte, es ginge nur darum, seine eigene Haut zu retten. Natürlich ging es auch darum und sicher nicht zu unwesentlichem Teil! Aber wenn er sich Senrays Gesicht ins Gedächtnis rief ... es gefiel ihm nicht, dass sie immer erschöpfter aussah und dabei immer mehr Besorgnis in ihrem Blick lag. Gerade gestern war es ihm gewesen, als wäre sie seinem Blick absichtlich ausgewichen. Und wenn sie ihn doch angesehen hatte, war etwas reserviertes, bedrücktes an ihr gewesen. Natürlich konnte das auch gut an dem Brief gelegen haben, den er ihr überbracht hatte! Sicher. Wäre sie ihm nicht bereits ausgewichen, bevor er ihr Raistans Nachricht übermittelte.
Bedachte man aber ihre Angst vor Vampiren... Vielleicht war es nur natürlich. Doch sie hatte sich davor eben nicht so verhalten und er musste wissen, was sich geändert hatte. Es war ihm tatsächlich unangenehm, wenn sie ihm so auswich.
Der Blick des Wächters blieb an einer Gestalt in einem dunklen Kapuzenmantel hängen, die zielstrebig auf die Dienststelle der DOGs zulief. Frühe Kundschaft für die Damen im Erdgeschoß?
Aber irgendetwas machte Wilhelm stutzig.
Sie war klein, lief wie jemand, der sich darauf konzentrieren musste, gerade zu laufen und der Puls...
Der Vampir runzelte die Stirn. Unmöglich!
Kurz schüttelte er ob der Abstrusität seines ersten Gedanken den Kopf. Dann schlenderte er gelassen auf die andere Straßenseite, so dass er den Weg der Kapuzengestalt kreuzen würde. Überrascht hielt er inne, als er einen Blick unter eben jene Kopfbedeckung ins Gesicht der Person werfen konnte.
"Senray?!"
Die Gestalt erstarrte den Bruchteil einer Sekunde, ehe sie sich scheinbar verwirrt hinter sich umsah, leicht mit den Schultern zuckte und einfach weiterging. Aber ihr Herz verriet sie endgültig. Es hatte erst einen erschreckten kleinen Schlag außer Reihe gemacht, um jetzt wesentlich schneller als davor zu schlagen.
Wilhelms Stirn legte sich immer mehr in Falten und er blieb stehen, mitten in ihrem Weg. Sie umrundete ihn, wie es wohl jeder unbeteiligte Passant getan hätte.
Doch während sie das tat hörte er ihre Stimme leise sagen: "Gleich, in meinem Büro."
Einen Moment betrachtete er sie verwirrt und war wirklich geneigt, sie einfach aufzuhalten und zu fragen, was das Ganze sollte. Dann realisierte Wilhelm die ungewohnte Schminke im Gesicht der Kollegin sowie die haselnussbraune Strähne, die ihr vor die Augen gerutscht war. Eine Perücke. Verdammt, sie war im Einsatz!
Den Vampir überfielen gleich mehrere Gefühle auf einmal. Zum einen ärgerte er sich über sich selbst – er wusste immerhin, was die Spezialisierung der DOG war. Ihren Namen auf offener Straße laut zu sagen während sie in Rolle war, war dabei wahrscheinlich mit das Dümmste, was er hatte tun können. Andererseits war sie kurz vor dem Boucherie, es würde also hoffentlich keinen Schaden angerichtet haben. Sein Blick suchte hinter ihr die wenigen Leute ab, die schon unterwegs waren. Niemand schien ihr oder auch ihm sonderliche Aufmerksamkeit zu widmen. Immerhin etwas.
Allerdings war er auch ... enttäuscht. Er hatte gedacht, Senray wäre aufrichtig mit ihm gewesen. Und gestern noch hatte sie gesagt, es stünde kein Einsatz für den heutigen Morgen an. Sollte es also nicht etwas sehr dringendes und spontanes gewesen sein, hatte sie ihn bewusst belogen.
Wilhelm blieb noch einen Moment stehen, ehe er sich umdrehte und die Dienstelle für Gildenangelegenheiten betrat. Es würde wohl mehr als ein unangenehmes Thema gleich zur Sprache kommen.

Senray war an dem Boucherie vorbeigegangen und erst ein gutes Stück weiter gelaufen, ehe sie in ein Seitengässchen abbog und sich in den Schatten der Häuser hinstellte. Dort zog sie den beinahe auffällig unauffälligen Umhang aus, nahm die Perücke ab und schüttelte ihr Haar aus. Nicht schön, nicht ordentlich, aber es würde so gehen. Sie rollte die falsche Haarpracht in den Umhang ein, nahm einen Strick aus ihrer Tasche und verschnürte das Ganze so, als wäre es ein normales in Tuch geschlagenes Päckchen.
Die Verdeckte Ermittlerin war sich sicher, dass niemand in der Gilde der Alchimisten Verdacht schöpfte und ihr erst Recht niemand gefolgt war. Weswegen sie eigentlich gerade direkt in ihr Büro hatte gehen wollen, nachdem sie schon genug Umwege in der Stadt geschlendert war und die Müdigkeit ihr immer mehr zusetzte. Die Nacht war produktiv gewesen, aber eben auch ziemlich anstrengend.
Doch nachdem Wilhelm ihren Namen gesagt hatte... Nun, sicher war sicher. Außerdem hatte Senray sich so auch etwas Zeit erkauft, um wieder ruhiger zu werden. Sie wollte dem Kollegen nicht so aufgeschreckt entgegentreten.
Entgegentreten! Verdammt, das klang schon so nach Kampf und allem Möglichen! Dabei... mochte sie Wilhelm.
Die junge Frau seufzte kurz, ehe sie mit aufgesetztem, leichtem Lächeln aus der Gasse kam und zurück zum Boucherie ging, das eingeschnürte Päckchen locker unterm Arm.
Mochte. Er war ihr sympathisch, das stimmte. Und er brachte sie zum Lachen. Dauernd, irgendwie. Und ... Senray seufzte nochmal. Was sollte das Ganze? Natürlich mochte sie Wilhelm! Obwohl er ein Vampir war.
Nur, aktuell ... Wenn sie ihn ansah kamen ihr sofort die Bilder aus ihren Albträumen in den Sinn. Sie konnte es einfach nicht ausblenden. Und die wiederum machten ihr entsetzliche Angst. Insgeheim fragte sich die junge Frau, wie der Kollege ihre Gesellschaft überhaupt ertragen konnte, wo er doch jetzt schon unter ihrem Dämon litt!
Aber er hatte ja keine echte Wahl. Sicher würde das Ganze anders aussehen, sobald der Einsatz vorbei war. Senray hatte Wilhelm gefragt, ob es Bedingungen gab, die er erfüllen musste, um seinen Pakt aufzulösen oder ob es dauerhaft war. Er hatte gezögert und schließlich gesagt, das mit Ophelias Rettung, wenn diese und Senray selbst in Sicherheit wären ... vielleicht wäre die Kopplung dann gebrochen. So hoffte er zumindest.
Also war er bis zu eben jenem Einsatz an sie gebunden. Danach...
Senray war etwas überrascht von sich selbst, wie unangenehm ihr der Gedanke an das "danach" plötzlich war. Wilhelms Gesellschaft war ihr teuer geworden und sie spürte den egoistischen Wunsch in sich, auch weiterhin mit dem Kollegen zu tun zu haben. Aber sicher würde er das nicht wollen. Und es wäre auch klüger so – ihr schlechtes Gewissen und ein Nachklang der nächtlichen Bilder kamen sofort zu Vorschein, während sie das Boucherie Rouge betrat.
Sie war darauf eingestellt gewesen, vielleicht eine der Damen des Erdgeschoßes hier zu treffen und hatte entsprechend einen morgendlichen Gruß schon fast auf den Lippen. Stattdessen stand Wilhelm an die Wand neben der Treppe gelehnt und beobachtete sie.
Sie hielt kurz inne, schloss dann die Eingangstür hinter sich und drehte sich wieder zu dem Vampir um.
"Nicht ganz mein Büro."
Seine Miene blieb ruhig und ernst, er betrachtete sie wieder.
"Von wo kommst du?"
Senray seufzte leise. "Nicht hier unten."
Die verdeckte Ermittlerin wartete nicht weiter ab, sondern ging an ihm vorbei die Treppe hinauf. Sie hörte seine Schritte nicht, doch als sie sich oben am Gang kurz umdrehte, sah sie, dass er ihr mit etwas Abstand folgte. Während sie ihr Büro aufschloss begann Senray, unbewusst an ihrer Unterlippe zu kauen. Irgendwie war es ihr extrem unangenehm, wenn er so... abweisend war.
Die Tür war kaum hinter ihnen ins Schloss gefallen, da wiederholte Wilhelm seine Frage noch einmal.
"Von wo kamst du gerade, Senray?"
Sie sah zu ihm auf. Sie standen immer noch beide direkt an der Tür und wenn sie ihren Arm ausgetreckt hätte, hätte sie ihn locker berühren können.
"Ich ... ich war in einem Einsatz. Bei den Alchimisten."
Wilhelm schloss kurz die Augen, seine Miene schien etwas härter zu werden. "Du hattest gesagt, du hättest heute Morgen nichts dergleichen anstehen."
Senray seufzte. "Hatte ich auch nicht. Ich ..." Sie fuhr sich mit der Hand erschöpft durchs Gesicht. Dabei erinnerte sie sich wieder an das MakeUp und hielt inne, ehe sie es noch verwischte. Besser, sie wusch es gleich ab, bevor sie es vergaß.
Als sie die Hand von den Augen nahm und Wilhelm wieder ansah, hatte dieser sich sichtlich entspannt. Da sie immer noch nicht weitersprach, hakte er nach, sanfter jedoch diesmal.
"Warum warst du dann schon so früh unterwegs? Es konnte doch nichts so dringendes sein, oder?"
Verlegen lies die DOG ihren Blick im Raum umherwandern. Sie hatte ihm bisher nichts von den Albträumen erzählt. Es war zu albern, immerhin waren es nur Träume! Doch die denen zugrunde liegenden Ängste waren real und allein der Gedanke daran, dass sie wahr werden könnten jagte der jungen Frau Schauer über den Rücken. Und wenn jemand sie verstehen würde... dann war es der Vampir vor ihr. Der Teile dieser Albträume bereits in ihrem Geist wirklich erlebt hatte, als er ihrem Dämon begegnet war.
"Schhh, nicht an der Lippe kauen! Bitte." Wilhelms Stimme riss sie aus ihren Gedanken und sie sah ihn überrascht an. Senray hatte nicht einmal realisiert, dass sie wieder dabei war, auf ihrer Unterlippe herumzubeißen. Sofort hörte sie damit auf und errötete leicht.
"Tut mir Leid, ich... es... Ich muss dir etwas erzählen. Aber, ich, wenn es für dich in Ordnung ist, würde ich mich erst schnell... naja, abschminken und umziehen."
Sie deutete an sich hinab – immerhin trug sie auch immer noch die Sachen aus ihrem Einsatz.
Wilhelms Blick folgte ihren Händen und er verzog schmunzelnd den Mund.
Er musste nicht mal etwas sagen. Allein sein Blick und dieses Grinsen genügten und sofort schoss Senray das Blut in die Wangen und ihr Herz legte einen Zahn zu.
"Oh, du -!"
"Ja?" Er dehnte das Wort extra lang und hob die Augenbrauen, während das Grinsen unverändert blieb.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn grimmig und mit leuchtenden Wangen an. Was es wohl nur schlimmer machte. Er grinste sogar noch breiter!
Senrays Lippen zuckten und schließlich gab sie auf und lies das Lächeln zu. Wie macht er das nur?
Egal wie und warum, sie wollte es genießen solange es noch ging.
Die junge Frau entspannte ihre Haltung und schüttelte leicht lachend den Kopf. "Also schön. Nein, komm nicht auf dumme Gedanken! So war das nicht gemeint!"
Wilhelm lachte leise in sich hinein während Senray das Gefühl hatte, sogar noch röter geworden zu sein.
Sie setzte neu an. "Warte einfach dort." Sie zeigte auf einen Stelle, an der der Baldachin des Bettes alles dahinter verdecken würde – und damit sie.
Wilhelm riss sich sichtlich zusammen, auch wenn das nicht das Grinsen aus seinem Gesicht oder den in seine Augen zurückgekehrten Schalk verschwinden ließ.
"Jawohl, Mäm!", sagte er und – salutierte vor ihr.
Senray starrte ihn kurz an, dann musste sie lachen. Aber er trollte sich brav an den ihm gewiesenen Platz. Die Verdeckte Ermittlerin ging immer noch lachend hinters Bett, um sich umzuziehen und abzuschminken. Während sie ihre eigentliche Kleidung bereit legte, konnte Senray es sich nicht verkneifen, über einen Gedanken zu kichern. Sie hörte Wilhelms leises und durchaus neugieriges "Hm?" von der anderen Seite des Bettes.
"Oh, nichts.", sagte sie, nun selbst grinsend. "Nur... Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, dass du vollkommen unmöglich bist, Rekrut Schneider?"

Wilhelm musste wieder lachen.
"Tatsächlich", sagte er grinsend, "hast du mich erst kürzlich unmöglich genannt, wenn mich nicht alles täuscht. Vor der versammelten Mannschaft unseres netten..."
"Ja, ja, schon gut!"
Er hörte an ihrem Ton, dass es sie tatsächlich immer noch verlegen machte, wie sie sich an jenem Abend verhalten hatte. So ein kurzer Akt im Affekt, so köstlich in seiner Wirkung auf sie.
Seine Finger streiften den Stoff des Baldachins, hinter dem sich Senray gerade umzog.
Sie schwieg und er tat es ihr gleich. Es war angenehm, einfach auf ihren sich langsam normalisierenden Herzschlag zu lauschen. Das Rascheln von Stoff, das leise plätschern von Wasser, als sie wohl einen Lappen in eine Schüssel getan hatte, um ihr Gesicht zu reinigen. Als sie scharf die Luft einsog fragte er kurz nach, aber sie winkte sprachlich ab. Es war einfach nur unerwartet kalt.
Schließlich kam sie um das Bett gelaufen. Jetzt, wo die Schminke fehlte, waren die Schatten unter ihren Augen wieder nicht zu übersehen. Ihre Haut war noch gerötet vom kalten Wasser, ihr Haar zerzaust und zu dem ihr üblichen, pragmatischen aber unschönen Zopf weggebunden. Senray sah wieder aus wie sie selbst.
Wilhelm lächelte leicht, auch wenn er sofort wieder die vorige Besorgnis in sich aufkommen spürte. Sie sah so müde aus. Es musste schon ein guter Grund sein, dass sie so früh heute auf Einsatz war!
Die Wächterin sah sich etwas entschuldigend um. "Ich ... habe immer noch nicht mehr Sitzgelegenheiten. Wir können..."
"Oh, mich stört das Bett nicht." Er versuchte nicht einmal, das Grinsen zu unterdrücken. Warum sollte er auch? Ihre Reaktion allein war es mehr als wert!
Und tatsächlich färbten sich ihre Wangen gleich wieder zart rot. Sie nickte allerdings und ging wieder ums Bett und setze sich auf den Rand, einen der Bettpfosten im Rücken. Er tat es ihr auf der anderen Seite gleich, so dass er sich anlehnen und sie im Auge behalten konnte.
"Also, warum musstest du ausgerechnet heute Morgen schon zu den Alchimisten?"
Sie sah verlegen auf ihre Hände, ehe ihr Blick seinen suchte.
"Ich ... müssen ... ist relativ. Tatsächlich hätte der Ausflug heute Nacht wahrscheinlich nicht sein müssen. Und ... es tut mir Leid, das ich dich nicht vorwarnen konnte. Ich hatte nur so gehofft, ich könnte heute Nacht einfach ... schlafen."
Er sah Senray mit gerunzelter Stirn an. "Dann solltest du aber vielleicht im Bett bleiben, anstatt einen Ausflug in eine der Gilden zu machen."
"Du ... verstehst nicht. Es geht nicht ums ... nicht schlafen können. Nicht in dem Sinne. Ich... Oh Wilhelm, es ist so albern! Aber ich habe Albträume. Und ich ... ehrlich gesagt, traue ich mich kaum noch, mich hinzulegen, aus Angst vor den Bildern, die dann kommen."
Wilhelm sah, dass es ihr ernst war, er sah ihre Verzweiflung. Und ein Teil von ihm wollte nichts sehnlicher, als ihr sanft über den Kopf zu streicheln und sie zu trösten. Aber natürlich kam das nicht in Frage.
"Von was träumst du?" Er fragte es ruhig, Neugier und die Hoffnung, dass wenn sie es aussprach, es leichter für sie werden würde, hielten sich die Waage.
"Ich ...", sie schluckte schwer und sah ihn an, schwieg.
Einen Moment lang runzelte Wilhelm die Stirn, dann schien der Groschen zu fallen.
"Oh. Von mir, nicht wahr? Deine Albträume handeln von mir." Er versuchte, seine Stimme ruhig und jedwede Emotion heraus zu halten. Es war doch nur logisch – mit ihrer starken Vampir-Angst musste es entsetzlich für sie sein, quasi jeden Tag mit ihm zu tun zu haben. Natürlich würde ihr Unterbewusstsein das Ganze dann Nachts aufarbeiten und ihre Angst darstellen.
Senray sah unglücklich auf ihre Hände. "Ich ... ich habe solche Angst, das sie wahr werden könnten, verstehst du? Die Träume selbst sind schon schrecklich genug, aber ... aber es könnte..."
"Nein, Senray! Bitte glaub mir, ich werde dir niemals etwas zu Leide tun! Auch wenn es sicher wenig hilft, wenn ich das sage, aber du kannst mir vertrauen. Ich könnte dir nie Schaden und würde es auch nicht wollen!"
Sie sah ihn überrascht und verständnislos an. "Du ... mir?"
Dann sah Wilhelm, wie die junge Frau seine Worte begriff und sie in den richtigen Zusammenhang brachte. "Was? Aber das ... du hast mich missverstanden, Wilhelm! Ich ... ich träume nicht, dass du mir ... also, so ist es nicht."
"Ich verstehe nicht, Senray, warum..." Der Vampir sah sie verwirrt an. Was für Albträume sollte er den sonst bei ihr ausgelöst haben?
"Du ... du bist nicht die Gefahr in meinen Träumen. Ich ... er ..." Sie schloss kurz die Augen und schien mit sich selbst und den richtigen Worten zu kämpfen. Wilhelm hatte sofort einen entsetzlichen Verdacht, er unterbrach sie jedoch nicht.
"Er ... benutzt mein Äußeres in den Albträumen um ... um dich zu ..." Sie schluckte und sah blinzelnd weg. Einen Moment schien sie mit den Tränen zu kämpfen, ehe sie etwas auf dem Schreibtisch fixierte und entschlossener wurde. Ihr Blick suchte wieder seinen und er wicht ihr nicht aus.
"Ich ... er verbrennt dich, Wilhelm. Immer und immer wieder. Und ... mittlerweile auch die anderen."
Wilhelm brauchte einige Augenblicke, ehe er seine Sprache wieder fand. Er hatte mit vielen gerechnet, aber nicht hiermit. Er räusperte sich leicht, suchte die richtigen Worte, die sie trösten und die Frage, die ihn sofort beschäftigte, etwas abmildern würden.
Doch Senray kam ihm nochmal zuvor. Ihr Blick war während der Sprechpause wieder auf ihre Hände geglitten, die sich jetzt umeinander schlossen, als müsse sie sich selbst festhalten.
"Ich habe solche Angst, dass es wahr werden könnte. Dass ich die Kontrolle verliere. Deswegen ... deswegen bin ich irgendwie froh über Raistans Brief, weißt du?" Sie wurde leiser, schien wieder beinahe mehr mit sich selbst zu reden. "Er beweist mir, das er es könnte. Ich ... werde ihm antworten und ihn bitten..."
In Wilhelm zog sich alles zusammen und er hatte das Gefühl, ein Teil von ihm wäre in Eiswasser geworfen worden, während der Rest noch auf derselben Stelle saß wie davor und dem Geschehen hinterherhinkte.
"Nein." Seine Stimme klang für ihn selbst ungewohnt, fremd.

Senray sah sofort wieder auf, aufgeschreckt von diesem einem Wort. Wilhelm starrte sie an und eine Mischung aus Entsetzen und Entschlossenheit schien sich auf seinem Gesicht zu spiegeln.
Doch alles was er sagte war abermals "Nein.".
Sein Blick und sein Gebaren verunsicherten sie und die junge Frau beeilte sich, sich zu erklären. "Nein, ich will ja nicht sofort... Ich könnte es gar nicht. Nur... nur zur Sicherheit. Sollte ich die Kontrolle verlieren. Bevor sowas wie in den Albträumen..."
"Nein!"
Sie starrte ihn an. Wilhelm hatte sich nicht bewegt und doch schien alles an ihm irgendwie in Bewegung zu sein. Wäre Senray nicht so übermüdet gewesen, so dass sie sich sicher war, es sich einzubilden... sie hätte wohl darauf gewettet, das Schatten begannen, über Wilhelms Haut zu tanzen, ihn einzuhüllen. Nur sein Gesicht, seine Augen, blieben klar und auf sie fixiert. Und es war so viel Schmerz in diesem Blick, mehr als die junge Frau je vermutet hätte.
"Wilhelm... was..." Ohne es selbst wirklich zu realisieren kroch sie vor, näher zu ihm. Er beobachtete sie weiter, ohne sich zu rühren, seine Züge sonderbar leblos. Entmenschlicht.
Nun bekam Senray wirklich Angst. Doch war ihre Reaktion auf die vampirische Erscheinung des Kollegen nichts im Vergleich zu ihrer Sorge um ihn selbst. Wie nur konnte es sein, das ihre Wort das bei ihm ausgelöst hatten?
"Wilhelm, bitte, hör mir zu!" Ohne groß darüber nachzudenken umfasste sie seine in seinem Schoß liegenden Hände mit ihren. Einen Moment schienen sie mehr Rauch denn feste Form zu sein und die Kälte war wie ein elektrischer Schlag für die junge Frau, der ihre Angst neu befeuerte.
Zu jedem Zeitpunkt davor hätte sie spätestens jetzt losgelassen, wäre vor dieser Gestalt aus dunklem Nebel weggeschreckt und geflohen. Diesem wahr gewordenen Schrecken, der sie schon immer jagte. Einem ihrer alten Albträume.
Doch es hatte sich alles verändert. Senray wäre bei jedem anderen Vampir nicht einmal auf die Idee gekommen, so nah an ihn heran zu gehen. Doch wie sollte sie Wilhelm mit diesem Schmerz allein lassen? Noch dazu, wenn sie ihn ausgelöst hatte?
Das war unmöglich.
Also widerstand sie dem Bedürfnis, ihre Hände zurückzuziehen und hielt seine stattdessen fest und suchte wieder seinen Blick.
Etwas an diesem begann sich zu verändern und Senray stellte erleichtert fest, dass er begann, weniger wie ein Schatten mit Augen zu wirken. Sie atmete einmal tief durch, sammelte sich, machte sich Mut.
"Ich habe nicht vor, Raistans Hilfe in dieser Art in Anspruch zu nehmen. Aber ich werde ihn darum bitten, sollte ich..."
"Nein." Wilhelms Blick verdunkelte sich wieder. Doch er schüttelte nicht einmal den Kopf, er starrte sie nur direkt an. Fast als hätte er vergessen, wie er sich bewegen konnte.
Senray umfasste seine Hände fester, die von ihnen ausgehende Kälte ignorierend. Sie drückte sie kurz, ehe sie wieder etwas lockerer lies.
"Es kann aber sein, Wilhelm. Aber bitte, bitte glaub mir – ich habe nicht vor, es so weit kommen zu lassen! Ich werde mit Maggie üben, ihm zu widerstehen und selbst die Kontrolle zu behalten. Und mit Leutnant Mambosamba und jedem anderen, der mir helfen kann und will! Und irgendwie wird das funktionieren, es muss einfach!"
Und während sie es aussprach, merkte Senray, dass sie das nicht nur für Wilhelm sagte, sondern auch für sich selbst. Für jeden Teil von ihr, der durch die Albträume und ihre Zweifel immer und immer wieder darüber nachdachte, eben doch aufzugeben, wegzugehen oder es zu beenden. Und sie merkte, wie ehrlich sie es meinte.
Sie würde nicht aufgeben. Und sie würde von jetzt an jede Hilfe annehmen, die sie bekommen konnte, so es nur wirklich half, dass niemand mehr durch sie gefährdet wurde oder leiden musste. Sie hatte zu lange versucht, etwas allein zu schultern, das schlicht zu viel für sie war. Auch wenn sie die Last nicht teilen konnte oder überhaupt wollte – sie konnte lernen, damit umzugehen. Sie würde dafür sorgen, dass die Konsequenzen ihrer Entscheidung auch nur noch sie betrafen und nicht mehr so viele andere bedroht waren. Irgendwie würde sie das schaffen. Und auch wenn sie nicht stark war – sie konnte lernen, es zu werden.
Wilhelm schien das auch zu spüren, schien zu hören, dass es ihr ernst war. Langsam zogen sich die Schatten von seiner Haut zurück in ihn und auch wenn seine Hände unter ihren immer noch kalt waren, war es nicht mehr schmerzhaft.
Senray atmete erleichtert auf. Auch der Blick ihres Gegenübers wurde weniger schmerzerfüllt und er schien mehr zu sich zu kommen. Sie wartete noch einen Moment schweigend, ehe sie ihre Hände vorsichtig zurückziehen wollte. Doch Wilhelm hielt sie sanft auf, seine Hände hielten die ihren vorsichtig fest.
Überrascht sah die junge Frau erst auf ihre Hände und dann wieder in das Gesicht des Vampirs – der zum Glück wieder viel menschlicher wirkte. Er lächelte sie beinahe entschuldigend und unsicher an.
"Nur ... einen kurzen Moment noch, ja?" Seine Stimme klang noch belegt.
Senray nickte und lies ihre Hände seine wieder wie zuvor umfassen. Ein unsicheres Lächeln huschte auf ihre Lippen. Wenn die Umstände nicht wären... Ehrlicherweise genoss sie die Berührung und die Nähe zu ihm. Zu beinahe gleichen Teilen machte ihr eben dies Angst – so nah bei einem Vampir, sogar in Körperkontakt mit ihm! Und bis eben noch so offensichtlich ein Vampir, wie aus den Gruselgeschichten.
Und doch eben genau das auch nicht. Vielleicht machte sie sich selbst etwas vor. Aber Wilhelm war aus Senrays Sicht einfach anders. Daran würde so etwas wie gerade nichts ändern, erst Recht nicht, wo ihr doch nichts passiert war! Im Gegenteil hatte es nur wieder gezeigt, das Wilhelm nicht egal war, was mit ihr war oder sein konnte.
So viel Schmerz in seinem Blick... Ihre Finger strichen unbewusst über seinen Handrücken, wie um ihm Trost zu spenden. Die junge Frau würde alles in ihrer Macht stehende daran setzen, zu verhindern, dass er nochmal solchen Schmerz erleben musste. Nicht durch sie, den Dämon oder sonst wen.
Sie lächelte ihn immer noch unsicher an. "Nimm dir alle Zeit."

Langsam, mit den verstreichenden Minuten, entspannten beide mehr. Wilhelm wurde sichtlich ruhiger, während Senray erst langsam realisierte, wie angespannt sie davor gewesen war. Ihr Puls, der davor panisch in ihrer Brust gehämmert hatte, war fast wieder normal. Auch die restliche Anspannung aus ihren Muskeln, die Bereitschaft, aufzuspringen und zu fliehen, waren verschwunden. Allerdings fühlte sie sich jetzt langsam so ... müde und schwer. Als wäre sie eine Ewigkeit geklettert und gelaufen und nicht nur zu dem Kollegen gekrochen und hätte seine Hände gehalten.
Und ihre Müdigkeit von davor machte sich wieder bemerkbar, stärker noch als zuvor. Senray dämmerte, das es nicht mehr lange dauern würde, bis sie ihre Augen kaum noch offen halten können würde. Albträume hin oder her, Wilhelm hin oder her.
Das war... nicht gut. Aber immerhin, er sah schon besser aus.
"Wilhelm?" Sie suchte wieder seinen Blick und er sah ihr sofort in die Augen.
Die junge Frau erlaubte sich ein müdes Lächeln. "Es ... es tut mir leid. Ich wollte dich nicht ... so erschrecken und auf keinen Fall so verletzen!"
Er schüttelte leicht den Kopf. "Eigentlich ... müsste wohl ich mich entschuldigen."
Jetzt war es Senray die ihrerseits gestisch verneinte. Ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein, begann sie, mit den Fingern Muster auf Wilhelms Hände zu malen.
"Nein, es ... ja, ich meine... es war nicht ... aber egal. Ich ... ich bin nur so..."
Senray merkte, wie ihre Augen immer mehr zuzufallen drohten und wie es ihr immer schwerer fiel, einen Gedanken festzuhalten. Sie kannte den Effekt, wenn sie stark unter Stress gestanden hatte und es sich wieder auflöste, diese tiefe Erschöpfung danach. Durch ihre Übermüdung wohl nur potenziert und noch schwerer zu entgehen. Zumal sie auf ihrem Bett saß und es schien so verführerisch, sich einfach zur Seite fallen lassen zu können.
Wäre da nicht die Angst, dann den Kollegen, den sie jetzt vor sich hatte, leidend und brennend zu sehen, sobald sie die Augen schloss und einschlief.
"Senray? Ist alles in Ordnung?"
Sie hörte die Besorgnis in seiner Stimme und spürte, dass er seine Hände aus ihren lösen wollte, wohl um nach ihr zu greifen. Schwankte sie? Nur nach links kippen, dort würde es ... weich sein....
"Hm.", machte sie, ehe ihre Augen das erste Mal zufielen und die junge Frau zu kippen drohte – natürlich nicht auf das Bett, sondern der Kante entgegen. Wilhelm hatte seine Hände sofort an ihrer Schulter und stabilisierte sie.
"Senray?" Seine Stimme wurde nun drängender und die Wächterin riss erschrocken die Augen auf.
"Wilhelm!" Sie suchte sein Gesicht ab, seinen Körper. Keine Flammen. Alles war gut. Er war echt und alles war gut, kein Feuer.
"Ist alles in Ordnung mit dir?"
"Nur ... nur müde." Sie blinzelte und bereute es sofort. "So unglaublich ... müde."
Senray hörte, wie Wilhelm leise lachte. Sie kämpfte ihre Augen wieder auf, sah ihn verwirrt an.
"Es ist nur ironisch. Bei deinen nächtlichen Aktivitäten allerdings nicht verwunderlich."
"Uhm, tut mir Leid, ich wollte dir ... noch ..." Sie musste gähnen und hielt sich schnell die Hände vor den Mund.
Wilhelm wartete nicht, bis sie ihren Satz danach zu Ende brachte. "Das reicht, du gehörst eindeutig ins Bett." Er hielt inne, sah demonstrativ auf das Laken unter und neben ihnen. "Oh was für ein Zufall! Schon da. Also, leg dich hin und schlaf dich aus, Senray. Wenn du willst werde ich danach noch da sein oder auf eine Nachricht von dir wieder kommen. Reden können wir dann immer noch."
Sie nickte leicht und sobald seine Hände von ihren Schultern und er vom Bett aufgestanden waren rollte sich die junge Frau auch schon eben dort zusammen. Eigentlich etwas, was so nicht in Frage kam... Aber sie war so müde.
Doch sobald sie die Augen schloss, erinnerte sie sich bildhaft an das, was sie gleich erwarten würde. Also riss sie sie wieder auf und sah Wilhelm groß an. "Nein! Ich will nicht schlafen, Wilhelm. Ich ... ich will nicht träumen..."
Der Vampir zögerte kurz sichtlich, dann nickte er. "Darf ich dir ein Geschenk machen, Senray?"
Wieder blinzelte sie. "Was?"
Er lächelte sie zurückhaltend an. "Traumlosen Schlaf. Vertraust du mir?"
Senray nickte müde. Ihr Verstand versuchte das Ganze zu hinterfragen, doch ihre Gedanken zerfaserten zu sehr. Und sie konnte Wilhelm doch vertrauen, er war ein Kollege, ein ... Freund.
Wilhelm kam etwas näher und suchte ihren Blick. Das Braun seiner Augen ...
Das, und die Stimme des Vampirs waren das Letzte, was Senray wahrnahm, ehe sie in einen erholsam traumlosen Schlaf sank.

05.07.2017 10: 36

Magane

So gut hatte Magane ewig nicht geschlafen. Zumindest nicht, seit sie hier war. Mitten am Tag - so fühlte es sich jedenfalls an - allein und unbeobachtet. Sie hatte es sogar gewagt, ihre mentalen Barrieren auf ein Mindestmaß zu senken, weil sie den Eindruck hatte, dass Sebastian nicht da war. Nicht nur nicht im Raum, sondern richtig unterwegs. Er hatte sich zwar die Zeit genommen sie zu besuchen aber er war merkwürdig abgelenkt und richtete nicht sein volles Interesse darauf, sie zu quälen. Nur beim täglichen Biss war er bei der Sache gewesen, hatte sorgfältig die Stelle ausgesucht - und hatte mehr getrunken, als gut für sie sein konnte.
Inzwischen hatte sie den Mut zusammengenommen um ihre Narben zu zählen. Es waren über zwanzig. Aber das half ihr nicht wirklich weiter bei der Frage, wie lange sie schon hier war, denn sie war sich weder der Länge eines Tages hier unten sicher, noch dessen, dass er sie jeden Tag nur einmal gebissen hatte. Trotzdem hatte die Zahl sie erschreckt. Mit dem einen Bissmal, das seit Rogis Rettung ihren Hals verunzierte, hatte sie gut leben können. Eins war unauffällig und mit den Jahren wäre es beinahe unsichtbar geworden. Aber diese Masse, nicht nur auf ihren Hals beschränkt, sondern sich als Ranke das Dekolleté herunter schlängelnd... unauffällig waren die sicherlich nicht. Hier unten war das egal. Hier kam einfach täglich ein weiterer Biss hinzu, bis ihre Haut irgendwann nur noch aus Narben bestehen würde. Aber wie würde sie damit umgehen, wenn es tatsächlich eine Rettung gab? So unwahrscheinlich der Gedanke an Rettung auch scheinen mochte, wenn Sebastian ihr grade seine volle Aufmerksamkeit zukommen ließ, im Moment glaubte sie wirklich daran. Die Anderen würden kommen. Bald. Und dann galt es, eine Entscheidung zu treffen. Immer vorausgesetzt, sie überlebte ihre Rettung. Und Sebastian nicht.
Es gab zwei Wege mit so etwas umzugehen. Den leichten und den schweren. Leicht wäre es, die Garderobe so umzustellen, dass man immer etwas Hochgeschlossenes trug, um die Narben vor aller Augen zu verstecken. Schwer wäre es, sie offen sichtbar zu tragen, sich eben nicht zu verstecken. Wann und warum hatte sie aufgehört, ihre Hände zu verstecken? Das hatte nur praktische Gründe gehabt, da war sie sich sicher, keine bewusste Entscheidung gegen das Verbergen der Narben, sondern eine bewusste Entscheidung gegen das umständliche Handschuhewechseln. Die Kombination aus den Keinesorgehandschuhen für die Arbeit bei SuSi, dem dauernden Händewaschen und der Säuglingspflege, hatte die Stoffhandschuhe verdrängt.
Darauf brauchte sie in diesem Fall nicht zu warten. Es gab nichts, was hochgeschlossene Kleidung verdrängen konnte. Nur, wollte sie das wirklich?
Ophelia hatte versucht gehabt, die Narbe an ihrem Hals unter der Kleidung zu verbergen. Dabei war doch bei ihr die unschöne Narbe auf Nacken und Schulter gerade einmal die Spitze dessen, was man ihr angetan hatte. Und bei Weitem nicht das Schlimmste.
Senray versuchte das Gleiche mit ihrem Halstuch. Was auch immer ihre Verletzungen verursacht hatte, sie war noch lange nicht damit fertig geworden, sie zu verarbeiten. Vielleicht war das Halstuch nur ein Ausdruck ihrer fehlenden Vergangenheitsbewältigung?
Mag wollte das nicht. Sie würde nichts verstecken!

06.07.2017 23: 39

Wilhelm Schneider

Hätte er sich den traditionellen Werten verbunden gefühlt, sich hinter deren Ausflüchten versteckt, so wäre sie ein gefundenes Fressen für ihn gewesen. Quasi wortwörtlich. So jedoch...
Wilhelm lächelte stillvergnügt vor sich hin. Stunde um Stunde war bereits verstrichen und Senray noch immer nicht wieder zu sich gekommen. Stattdessen holte sich ihr Körper ganz offensichtlich einen Teil dessen zurück, worauf er seit Tagen verzichtet haben musste. Sie schlief, tief und traumlos, gelöst. Sie lag nur eine Armeslänge vor ihm, völlig wehrlos! Er hatte es sich neben ihr bequem gemacht, leicht zum Rand hin versetzt, die bestrumpften Füße auf dem Bettzeug, den Rücken an einen der Eckpfosten des wuchtigen Schlafmöbels gelehnt.
Wilhelm hatte an diesem Tag bereits viel Zeit an ihrer Seite zugebracht. Sie im Auge behalten. Und er kam nicht umhin, ihre körperlichen Reize zu registrieren. Das war kaum anders möglich! Sie hatte nun mal einen Körper und dessen Konturen zeichneten sich in der Schlafposition noch deutlicher ab, als sonst.
Aber es waren nicht die zu erahnenden Maße, die seinen Blick fesselten. Es war vielmehr ihr Gesicht, das ihn faszinierte.
Die Hypnose hatte diesem den besorgten Zug genommen. Ihre Stirn war geglättet, ihre Mundwinkel wirkten deutlich entspannter. Die Augenpartie hatte plötzlich etwas Weiches an sich – erst recht, seitdem sich ihr Haarband gelöst hatte. Die wilde Pracht schmiegte sich wellig zerzaust um ihr Gesicht und vermittelte den Eindruck braunrotem Federflaums. Das Bild eines Jungvogels drängte sich ihm regelrecht auf. Und tatsächlich wirkte sie plötzlich unsagbar... jung auf ihn. Kaum der menschlichen Kindheitsphase entwachsen, zwar Frau... aber dabei so unschuldig!
Wie ihre Kindheit wohl verlaufen sein mochte? Hatte sie liebende Eltern? Geschwister? War sie, wie er selber, in der Stadt aufgewachsen oder kam sie von außerhalb?
Man sagte ja leichthin solche Dinge wie, 'Gleich und Gleich gesellt sich gern', womit meistens auch ein ähnlicher Erfahrungsschatz einherging. Oder 'Gegensätze ziehen sich an', was sich dann eher auf Charaktereigenschaften bezog. Er hätte es interessant gefunden, diese Theorien anhand des eigenen Beispiels zu überprüfen, rein aus Neugier.
Denn inzwischen fühlte er sich sogar sehr zu ihr hingezogen. Sie war... eine Bereicherung seines Tagesablaufs.
Wenn er diesen Gedanken jedoch weiterverfolgte, so musste er auf einen Fehler in der Behauptung hoffen. Was die unterschiedlichen Charaktereigenschaften und ein gegenseitiges Sich-Ergänzen anging, da mochte es ja noch angehen. Wo sie schüchtern war, da war er draufgängerisch. Wo sie zu viel grübelte, da hielt es ihn keinen Gedanken lang. Wo sie Vorsicht walten ließe, warf er Hemmnisse schlichtweg über Bord.
Aber wenn er an seine Vergangenheit dachte, an seine Jugend... seine Eltern...
Das Lächeln auf seinen Lippen schwand.
Sie waren ihm gewaltsam genommen worden, als er noch relativ jung war. In Vampirmaßstäben. Ein Umstand, dem er, unter anderem, seinen aktuellen Lebensstandard verdankte, denn das angetretene Erbe war solide und seine Ausbildung hervorragend gewesen. Einen Teil des Geldes in die Geschäftsgründung zu investieren war ein guter Entschluss gewesen. Trotzdem... er war ohne familiäre Bindungen zurückgeblieben, auf sich allein gestellt. Eine harte Erfahrung. Etwas, das er ihr gewiss nicht wünschte.
Sein Blick wanderte zurück zu ihrem hübschen Gesicht. Und auf sein eigenes stahl sich wieder das Lächeln.
Zu schade, dass sie vorhin so müde gewesen war, dass die süße Ironie der Situation so vollständig an ihr vorübergegangen war. Vielleicht würde sie diese mit Verzögerung bemerken, wenn sie wieder erwachte? Da hatte sie solche Angst vor den Angehörigen seiner Spezies. Seine eigene reflexhafte Reaktion hatte obendrein dazu geführt, dass sie ihn in wirklich unangebrachtem Zustand erleben musste. Und ihr Körper hatte die Situation in höchster Alarmbereitschaft gerade erst überstanden gehabt – da begab sie sich freiwillig in seine absolute Gewalt? Gewissermaßen hatte ihr Körper ihr trotz extremem Schlafmangel alle Mittel an die Hand gegeben gehabt, um sich für den Kampf oder die Flucht zu entscheiden – und gegen ihn, den gefährlichen Vampir. Und was tat sie? Sie legte sich zu seinen Füßen nieder und entblößte, nicht nur im übertragenen Sinne, Nacken und Kehle!
Absolut bezaubernd!
Am liebsten hätte er sich, einem Drachen gleich, um sie gewunden, wie um einen Goldhort zu verteidigen. Aber ihm war bewusst, dass es ihm nicht zustand, ihre persönlichen Grenzen zu ignorieren. Ein gewisser Anstandsabstand musste gewahrt bleiben, erst recht bei so viel Vertrauen. Auch wenn er ihr nur zu gerne über das zerzauste Haar gestrichen hätte.
Er seufzte glücklich.
Ja, dieses Vertrauen! Unerklärlich. Unerwartet. Unbezahlbar!
Sie hatte sich in all den Stunden kaum bewegt, ihr Herzschlag ging ungewohnt langsam und gleichmäßig, hatte etwas Beruhigendes an sich, auch wenn er am Anfang seiner Wache einen Moment gebraucht hatte, um sich an diese gänzlich neue Erfahrung zu gewöhnen. Er mochte es so unsagbar gerne, wenn sie explizit auf seine Gegenwart reagierte und ihr kleines Herz schlichtweg vor Aufregung schneller wurde, ohne dass dafür irgendeine Art von Angst mit hinein spielte. Und wenn sie dann noch parallel dazu errötete...
Der Vampir grinste selig.
Das war ein Effekt, von dem er gar nicht genug bekommen konnte. Hoffentlich setzte niemals eine Gewöhnung ein, die dazu führen würde, dass sich das legte.
Senray rührte sich träge und atmete tief ein.
Wilhelm beugte sich auf seine Unterarme vor und wartete gespannt darauf, dass sie wieder zu sich kam.
Endlich blinzelte sie müde. Ihr Blick richtete sich dabei auf nichts Bestimmtes, dämmerte nur allmählich dem Wachzustand entgegen, als wenn sie von weit, weit her käme.
Da er sie die vergangenen Stunden über im Blick hatte haben wollen, saß er nun umgekehrt genau so, dass sie ihn als erstes sehen musste, sobald sie wirklich wieder realisieren würde, was sie sah. Und wirklich blieb ihre Aufmerksamkeit plötzlich an ihm hängen.
Er lächelte zaghaft.
"Und? War der Schlaf erholsam?"
Die junge Frau blinzelte sacht. Sie atmete noch tiefer durch und streckte sich erst mal ausgiebig und gähnte, ehe sie sich wieder genau so zusammenrollte, wie sie zuvor geschlafen hatte. Dann begann sie zu überlegen. Erstaunt antwortete sie:
"Ich... ich habe tatsächlich gut geschlafen." Sie blickte ihn mit großen Augen staunend an. "Keine Träume! Wie... wie hast du das...?"
Der Vampir hätte vor Freude aufspringen und ein Tänzchen wagen wollen. Er hatte ihr tatsächlich helfen können!
"Vampirhypnose! Ein besonderes Talent meinerseits... unsererseits. Das kann vermutlich nicht jeder Vampir. Aber die meisten dürften es hinbekommen. Mal mehr, mal weniger gut. Sie wirkt über den Blickkontakt und erreicht sehr schnell tiefe Ebenen. Aber sie dringt nicht in dem Sinne ein. Hmmm... wie erkläre ich das am besten? Vielleicht mit Spiegeln? Mein Wille hat einen Befehl in deinen Geist entsandt, eine Botschaft. Nämlich die, dass du schlafen und dabei vor schlimmen Bildern bewahrt bleiben solltest. Natürlich wissen wir beide sehr gut, dass ich nicht in deinen Geist abtauchen darf. Viel zu gefährlich. Die Hypnose ist nun ein wenig so, als wenn du die Sonne über Eck im Spiegel betrachten würdest. Sie wirkt sich auf dich aus, spendet dir Licht, berührt dein Inneres. Aber das heißt nicht, dass du ihr Wesen in dir drinnen trägst. So in etwa kannst du dir das vielleicht vorstellen?"
Sie dachte einen Moment darüber nach, während sie noch immer halb dösig auf der Seite lag. Dann nickte sie zögerlich. Ihr Blick klärte sich und musterte ihn prüfend.
"Wie geht es denn dir?"
"Gut. Mir geht es wirklich, wirklich gut."
Er war froh, dass er das reinen Gewissens behaupten konnte. Zwar hätte er sie nicht belogen, wenn es anders gewesen wäre. Aber vielleicht hätte er ihr dann nicht alles eingestehen können, eben um sie zu schützen. So war es deutlich angenehmer.
Sie schien nicht gänzlich überzeugt und hakte nach.
"Wirklich? Auch... also ist auch das Brandmal wieder verheilt?"
Die eigentliche Frage dahinter lautete anders. Doch auch da konnte er sie beruhigen. Sie war viel zu sehr daran gewöhnt, sich um andere zu sorgen.
"Es verheilt anscheinend nicht vollständig. Aber ich säubere und pflege die Wunden und trage brav einen Verband unter dem Hemd, so wie du ihn mir gebunden hattest. Und, nein, es ist nicht wieder schlimmer geworden. Ich bin wohl langweilig geworden."
Die Gelegenheit war einfach zu günstig und so zwinkerte er ihr zu.
Sie wirkte augenblicklich erleichtert, lockerte ihre Haltung im Reflex, indem sie sich auf den Rücken drehte und ausatmete. Was ihr einen Moment darauf offenbar deutlich machte, dass sie im Bett lag, mit ihm an ihrer Seite sitzend. Ihr Blick schnellte zu ihm zurück und sie errötete.
"Warst du... also... die ganze Zeit, ich meine... hast du mich... uhm, etwa beobachtet?"
Er grinste.
"Irgendjemand muss ja schließlich auch die unangenehmen Aufgaben übernehmen, nicht wahr?"
Und endlich kurbelte ihr Herzschlag zusätzlich den Organismus an. Der zarte Farbhauch auf ihren Wangen vertiefte sich und sie musste lachen. Sie streckte fast übermütig den Arm aus und schubste seine Beine von der Bettkante, wobei sie murmelte: "Unmöglicher Kerl! Wenn es so unangenehm war, warum bist du dann nicht schon vor Stunden gegangen, hm?"
Wilhelm konnte nur noch mit Mühe das Lachen unterdrücken. Kurzentschlossen stand er auf und ging stattdessen an der Bettkante in die Hocke, dass er seine Arme auf dem Bett verschränken, sein Kinn auf ihnen abstützen und der noch immer Liegenden dadurch auf Augenhöhe entgegenblicken konnte.
"Senray, ein Vorschlag. Du wirkst deutlich erholt und du scheinst auch keinen Widerwillen gegen meine Hilfe zu empfinden, selbst wenn diese nicht der Norm entsprochen haben mag. Sehe ich das richtig?"
Sie hielt inne und wirkte ernüchtert, nickte jedoch auf seine Frage hin.
"Es gibt für mich so wenige Möglichkeiten, dir zu helfen. Und wenn diese eine realistische Chance dafür birgt... bitte, darf ich dir weiterhin helfen? Ich würde dir gerne für die nächsten Nächte ebenfalls diesen traumlosen Schlaf anbieten."
Sie sah ihn an, atmete tief durch... und nickte abermals.
"Es... es wäre eine Erleichterung, ehrlich gesagt."
Es war ihm nicht möglich, die Freude, die diese Antwort bei ihm auslöste, zu verhehlen. Endlich konnte er etwas tun, konnte er sich wahrlich nützlich machen!
"Ich denke... ich hoffe, wenn der Einsatz vorbei ist, dass dann... na ja, dass ich dann wieder normal schlafen kann. Sicher ist es jetzt nur, weil..." Sie rang um die richtigen Worte, brach ab und setzte wieder neu an. "Verstehe mich bitte nicht falsch! Ich bin dir sehr dankbar für gerade eben und für das Angebot und... und überhaupt. Aber ich kann schlecht jeden Abend so deine Zeit und Energie und Hilfe in Anspruch nehmen."
Er strahlte sie regelrecht an und widersprach von Herzen.
"Du kannst sogar noch viel mehr! Wenn du mir diese süße Aufgabe nämlich etwas erleichtern wollen würdest – schon allein vom zeitlichen Aspekt her – dann würdest du endlich mein anderes Angebot ebenfalls annehmen."
Senray setzte sich mit einem Ruck auf und er folgte ihrer Bewegung ansatzweise, indem er seinen Oberkörper aufrichtete, sich weiter mit den Händen auf der Bettdecke abstützte und sein Gewicht ansonsten in der Hocke verlagerte. Dadurch musste er leicht zu ihr aufsehen, was ihm aber nicht unangenehm war.
"Wilhelm, ich kann das einfach nicht annehmen. Ich meine, du hast da deine Dame und das wäre einfach falsch und auch wenn es nicht, ich meine... selbst, wenn das nicht wäre. Ich kann doch nicht deine Wohnung belagern! Und auch wenn du keinen Schlaf brauchst, du musst dich doch auch ausruhen, oder nicht? Und gerade jetzt, wo der Einsatz hoffentlich bald ist!"
Wilhelm wippte fast vergnügt auf den Schuhspitzen.
"Meine Angestellte ist bereits vorgewarnt, dass ich Willens bin, dich aus Sorge um deine Gesundheit nochmals nachdrücklich zu mir einzuladen. Hannah ist nicht ganz glücklich darüber, das ist richtig. Aber zum Einen habe ich ihr alle relevanten Informationen gegeben und erklärt, damit sie versteht, wie wichtig du mir bist. Und zum Anderen... wie ich bereits einmal betonte: Ich möchte sie nicht verletzt sehen. Aber sie hat kein Mitspracherecht in meinen Angelegenheiten!"
Sie wand sich schüchtern und suchte ganz offensichtlich nach weiteren Gegenargumenten.
"Und... was ist mir dir? Du musst dich doch auch ausruhen können?"
"Ich weiß, du vergisst das immer wieder... aber ich bin kein Mensch, weißt du?"
Er grinste sie mit funkelndem Schalk in den Augen an.
Sie starrte ihn innerlich hin und her gerissen an, ehe sie trocken erwiderte:
"Tatsächlich nicht?"
Die Versuchung war groß, ihr einen zumindest visuellen Beweis zu liefern. Aber so gelöst die Stimmung auch gerade wirken mochte, es ging ihm um eine wichtige Angelegenheit und er konnte spüren, dass ihr Widerstand bröckelte. Er durfte jetzt nicht nachlassen, nicht abschweifen. So lächelte er nur unverbindlich und kam wieder zum Thema zurück.
"So schnell wirst du mich und mein Anliegen nicht loswerden, kleines Vogelherz! Es ist aus meiner Sicht ausgeschlossen, dass du einerseits dazu gezwungen bist, meinetwegen auf den Heimweg zu verzichten. Und andererseits deswegen rund um die Uhr an deinem Arbeitsplatz verharrst! Das ist fatal! Nein, das geht nicht, sei vernünftig!"
Sie blickte ihn irritiert an.
"Kleines... Vogelherz?"
"Nicht ablenken!" Er war einen kurzen Moment lang froh, dass es ihm als Kaltblüter nicht wirklich gegeben war, zu erröten, denn sonst hätte er ihr jetzt vermutlich Konkurrenz gemacht in dieser Kategorie. Wie hatte ihm das herausrutschen können? Und dann auch noch mit dieser Selbstverständlichkeit! Er hatte sie inzwischen hunderte Male so genannt, das war richtig. Aber stets nur gedanklich!
Sie wirkte gänzlich verunsichert.
"Aber..."
"Nichts aber! Senray, ich möchte dich in Sicherheit wissen. Und ich möchte dir helfen. Eigentlich musst du dir nur einen Ruck geben und dir helfen lassen. Ist das so schwer? Es sei denn, du möchtest meine Nähe meiden?"
Sie blickte fast erschrocken zu ihm.
"Was? Nein, darum... darum geht es doch gar nicht, Wilhelm!"
Der Gedanke ließ ihm keine Ruhe, so dass er ihn aussprechen musste:
"Wenn ich aufdringlich wirken sollte, täte mir das sehr leid. Das ist nicht beabsichtigt."
Sie schüttelte hastig den Kopf.
"Nein, es... du... hast ja Recht. Es ist nur, ich bin nur..."
Er sah sie fast verschwörerisch an und flüsterte:
"Komm schon! Gib dir einen Ruck!"
Senray schloss ihre Augen, dann nickte sie ergeben.
"Eine weise Entscheidung! Das bedeutet traumlose Nächte und Frühstück ans Bett!"
Schnell schlug sie ihre Augen wieder auf und starrte ihn mit flammenden Wangen an.
"Wa-... Wilhelm, es ging darum, dass du weniger Arbeit mit mir hast! Und, und...!"
Er grinste sie offen an.
"Also aus meiner Perspektive betrachtet, ist das ein hervorragendes Tauschgeschäft! Ich kann meine Lebensmittelvorräte schneller aufbrauchen, indem ich sie an dich verfüttere, damit nichts schlecht wird. Und du musst dafür nur ein bisschen meine Gesellschaft ertragen." Er zwinkerte ihr zu, worauf sie nur noch mit absoluter Fassungslosigkeit reagieren konnte. "Das wird unterhaltsam werden!" Er federte aus der Hocke in die Höhe und rieb sich in sichtlicher Vorfreude die Hände. "Fein, fein! Dann wäre es gut, wenn du bis heute Abend, wenn ich dich abholen komme, einige Dinge gepackt hättest. Damit du beispielsweise nicht unbekleidet in meiner Wohnung hausierst. Es sei denn, das wäre dir natürlich ein Bedürfnis, dann würde ich es dir nicht verwehren wollen." Und während sie noch mit hochrotem Kopf entrüstet nach Luft schnappte, fügte er fast beiläufig hinzu: "Ach, und übrigens war heute Vormittag, als du dich erholen und dringend ausschlafen musstest, dein Vorgesetzter hier. Ich habe ihn darauf hingewiesen, dass es dir in letzter Zeit nicht so gut gegangen ist und ich mir Sorgen um dich gemacht habe. Mehr wollte ich nicht vorwegnehmen. Aber vielleicht wäre es gut, wenn du ihm gleich mal sagst, dass du vorerst nicht mehr daueranwesend sein wirst, sondern die Möglichkeit eines Feierabends zu nutzen gedenkst. Du musst ihm ja nicht unbedingt unter die Nase reiben, wo genau du dies zu tun gedenkst..."
Mit erstaunlich entschlossenem Gesichtsausdruck, sowie passabler Geschwindigkeit - für einen Menschen - sprang Senray von ihrem Bett auf und auf ihn zu, in ihren Händen fand sich aus heiterem Himmel ein Kissen - welches sie ihm schwungvoll über den Kopf schlug.
Wilhelm prustete los und flüchtete mit schallendem Lachen vor ihr aus dem Raum.

08.07.2017 3: 04

Mina von Nachtschatten

Es gab diese Tage, da war Konzentration ein Ding der Unmöglichkeit. Und heute war es wieder einmal soweit. Auch wenn sich Mina das erst aufgrund der Feststellung eingestand, zum späten Vormittag in etwa genauso weit mit ihren täglichen Aufgaben vorangekommen zu sein, wie es noch zu Dienstbeginn der Fall gewesen war. Nachdem sie zum zweiten Mal die Objekte auf ihrem Schreibtisch vollkommen neu sortiert, dabei beinahe etliche laufenden Ermittlungen in die Ablage verfügt und im Anschluss eine geschlagenen Stunde gedankenversunken vor sich hingestarrt hatte, ohne auch nur einen Finger zu rühren. Es war nun schon 11 Tage her, dass Jules nach Klatsch aufgebrochen war. Gefühlt kam einem das zwar eher wie eine halbe Ewigkeit vor, aber gleichzeitig handelte es sich um eine noch viel zu kurze Zeitspanne, als dass man ihn schon hätte zurück erwarten können. Denn der Mann konnte schließlich nicht zaubern und Urabewe war nicht gerade nebenan. Aber es wäre doch eine Erleichterung gewesen, ihn wenigstens schon auf dem Rückweg zu wissen - mit den benötigten Zutaten im Gepäck. Hoffentlich war alle gut gegangen. Allerdings war das bisherige Ausbleiben schlechter Neuigkeiten wohl ein Anlass zu vorsichtigem Optimismus, was das betraf.
Mina ertappte sich selbst dabei, wie sie begonnen hatte Kringel auf ein leeres Formular zu zeichnen und ließ mit einem entnervten Seufzen den Stift fallen. Entnervt von sich selbst. Wahrscheinlich wäre es das Beste, wenn sie sich heute auf reine Anwesenheit im Büro beschränkte. Dabei war es bei Weitem nicht so, dass es nichts zu tun gab. Fälle, mit denen man sich hätte beschäftigen können, waren genug eingegangen, darunter auch ein paar recht interessante Sachen. Beispielsweise der Raub einer Sammlung ephebischer Gemmen und Kameen aus Privatbesitz während einer öffentlichen Präsentation. Konkrete Gruppe Verdächtiger, hoher Wiedererkennungswert der Stücke, ergo begrenzter Käuferkreis. Das schrie geradezu danach, ander kaffer untersucht zu werden. Aber da die entsprechenden Kollegen momentan ausgelastet waren hatte sie die Akte kurzerhand Kolumbini auf den Tisch gelegt, zur Untersuchung auf dem offiziellen Weg. Denn sie selbst... nein, nicht jetzt, nicht jetzt. Egal, wie gern die Vampirin wieder einmal in den Außeneinsatz gegangen wäre und wie die damit verbundene Ablenkung geholfen hätte, die Zeit schneller vergehen zu lassen - im ungünstigsten Falle wäre sie dann nicht verfügbar, wenn es an anderer Stelle losging. Die damit unweigerlich einhergehende Entscheidung wollte Mina nicht treffen. Worauf die Wahl fallen würde lag zwar auf der Hand, aber trotzdem, diese Konstellation wäre... nicht optimal. Also hing sie hier fest, kümmerte sich um Belange des Tagesgeschäfts der Abteilung und hatte damit genug Zeit für Vorbereitungen in der Sache, welche aktuell den Großteil ihrer Aufmerksamkeit und Überlegungen forderte. Wobei, wenn man es genau betrachtete: Der Trupp traf sich regelmäßig, ja. Sie sprachen Dinge durch. Schmiedeten Pläne. Trainierten die ein oder andere Vorgehensweise bei Nacht und Nebel. Aber sonst? Nyria zum Beispiel schnupperte sich durch potenziell interessante Substanzen, Raistan bereitete irgendetwas Magisches vor, jeder schien mit etwas beschäftigt, was den finalen Einsatz vorantrieb oder zumindest ihre Chancen verbesserte... und sie selbst? Sie wartete. Ganz toll. Wahrscheinlich auch ein Grund für ihre momentane Zerstreutheit. Denn der Umstand, einfach nur herumzusitzen und nichts zu tun begann Mina zunehmend nervös zu machen. Nein, nicht nervös - es machte sie verrückt. Zeit verstrich und sie nutzte sie nicht, so viel Zeit, in der man sich hätte nützlich machen können. Da musste es doch noch etwas geben, was man tun konnte, etwas, was eine Hilfe darstellte und wäre sie noch so klein. Vor allem etwas, was sie nicht mit dem Gefühl zurückließ, außerhalb der Treffen vollkommen nutzlos zu sein!
Doch wenn man nicht gänzlich sicher war, was einen erwartete... nun, dann gestaltete es sich als schwierig, konkrete Maßnahmen auszutüfteln, die mehr boten, als eine Reaktion auf die allgemein bekannten Rahmenbedingungen. Mina hatte dieses Spiel schon oft gespielt: Im Geiste Szenarien und mögliche Problemsituationen entworfen, welche ihnen begegnen konnten. Diese auf denkbare Lösungen abgeklopft. Auf gangbare Strategien, für den Fall, dass irgendetwas furchtbar aus dem Ruder lief. Aber wie man es auch drehte und wendete - am Ende blieb nichts, als rein situatives Handeln, sobald sich das Problem an sich auftat. Denn eine Wagenladung Ausrüstung für jede Eventualität mitzuschleppen, das war sowohl absurd als auch jenseits jeder Möglichkeit.
Hier fand sich also keine zielführende Herangehensweise. Mina lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und rieb sich die Schläfen. Welche Einzelkomponenten standen denn dann zur Verfügung? Nun, immer noch die gleichen, wie beim letzten Mal. Aber da sie ohnehin keine Chance sah, den Kopf für anderes frei zu bekommen - was konnte es schaden, eben diese noch einmal durchzugehen?
Eine Zugangsmöglichkeit. Die hatten sie mittlerweile. Sowie ein Vorgehen, wie sie das Anwesen zu betreten gedachten. Das benötigte Material würde Senray besorgen. Da blieb also nichts mehr zu tun.
Das Labyrinth. Improvisation. Denn es war ja nicht so, dass die Baupläne für derartige Anlagen irgendwo öffentlich einsehbar gelagert wurden. Dass zum Beispiel die Architektengilde über Pläne des Instituts und der umliegenden Gebäude, vielleicht sogar des ein oder anderen Kellergeschosses verfügte, war zwar nicht unwahrscheinlich. Aber zum einen nutzte ihnen das für ihre konkret zu erwartende Umgebung nichts und zum anderen würde bestimmt irgendwo jemand sitzen, der die Information, jemand habe eben jene Pläne angefordert, an die falschen Leute weitergab. Ein Risikofaktor also und ein unnötiger noch dazu. Der Gedanke konnte also getrost verworfen werden. Sie würden einfach wachsam sein müssen, die Augen offen und sämtliche Sinne geschärft.
Widerstand. Auf solchen würden sie mit einiger Sicherheit stoßen. Die Igors würden kein Problem darstellen, wenn alles lief, wie geplant. Blieben also noch zwei Vampire - und eine weitere unbekannte Variable. Gut möglich, dass sich noch Andere in den Gängen herumtrieben. Denn wie groß Raculs "Haustand" tatsächlich war wussten sie schlicht und ergreifend nicht. Mina rechnete nicht damit, auf Horden von Jungvampiren zu treffen, würde das doch dem üblichen Kontrollwahn der Alten widersprechen. Aber die Möglichkeit von vielleicht ein oder zwei älteren Gegner sollten sie schon in Betracht ziehen. Adäquate Bewaffnung war also durchaus angebracht... Wie von selbst wanderte ihr Blick zu dem großen Standregal an der rechten Wand des Raumes, oberstes Fach, rechte äußerste Ecke. Dieser dicke verstaubte Ordner mit den uralten Spesenabrechnungen, den ohnehin niemand freiwillig in die Hand nehmen würde. Ein gutes Versteck für ein schlankes, nur in einen Lappen eingewickeltes Objekt, an Ort und Stelle gehalten von den stabilen Seiten des Ordners sowie den bündig daran anschließenden Seiten des Inhalts auf der einen und der Rückwand des Regals auf der anderen Seite. Sie hatte Ophelias Pflock seit dem... Vorfall nicht mehr angefasst. Wenn Mina ehrlich war, dann konnte sie selbst nicht sagen, warum sie das Ding dort deponiert und nicht, zum Beispiel, zu Ophelias anderen Besitztümern gelegt hatte. Zunächst vielleicht aus dem Gedanken heraus, das damit verbundene Thema so nicht unnötig zu provozieren - aus den Augen aus dem Sinn sozusagen. Und später hatte sie die Angelegenheit auch für sich selbst schlicht ausgeblendet. Was für einen Unterschied hätte es auch gemacht? Aber jetzt... vielleicht konnte sie ihn Rach überlassen, für den finalen Einsatz? Mina verzog das Gesicht, kaum dass sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte. Nein, das wäre in der Tat eine übertrieben dramatische Geste. Zumal es keinen Vorteil brachte, wenn ein Stück spitzes Holz eine Vorgeschichte hatte.
Die Vampirin schüttelte den Kopf. Irrelevanter Punkt. Weiter im Text. Wo war sie stehen geblieben? Ach ja, mögliche Gegner. In diesem Fall brachte dieser Themenkreis sowohl eine starke physische, wie auch eine geistige Komponente mit sich. Das körperliche Training absolvierten sie gemeinsam, so gut es eben ging. Und es hatte einiges an Nachholbedarf in so mancher Hinsicht offenbart. Mina war vor einigen Tagen kurz der Gedanke gekommen, Kanndra als wahrscheinlich souveränste Wächterin der Truppe auf diesem Gebiet darum zu bitten, ihr noch den ein oder anderen Tipp in punkto Nahkampf zu geben. Das war wohl eine der sinnvolleren Techniken für beengte labyrinthartige Umständen - ein paar Abläufe zu kennen und sie in der eigenen Geschwindigkeit umzusetzen. Doch hatte sie den Einfall ziemlich schnell wieder verworfen: Die Zeit reichte einfach nicht mehr - oder besser, hoffentlich nicht mehr - um derartiges sicher zu verinnerlichen und im Ernstfall konnten sie es sich nicht leisten, darüber erst nachdenken zu müssen. Da verließ sie sich doch lieber auf Intuition und Reaktionsgeschwindigkeit.
Was die psychische Komponente betraf - da war sie keine Hilfe. Punktum. Trotzdem... dieser Umstand stieß Mina stets erneut bitter auf. Wozu war man denn Vampir, verflucht? Elendige, erbärmliche Unzulänglichkeiten! Sie konnte niemanden auf diese Weise unterstützen, nichts damit erreichen, nichts damit anfangen... Klar, sie besaß eine Menge Material aus der Zeit, als sie mit Ophelia an deren geistiger Kontrolle gearbeitet hatte, aber in dieser Hinsicht war sie ja glorreich gescheitert. Manchmal fragte sich Mina sogar, ob sie es nicht vielleicht sogar nur noch schlimmer gemacht hatte... Aber einmal abgesehen davon, dem Kaliber eines Racul hätten sie mit diesen mentalen Taschenspielertricks ohnehin nichts entgegenzusetzen. Vielleicht würde es ihr möglich sein, Ophelia emotional wahrzunehmen, sobald sie nahe genug dran waren. Etwas zu navigieren, im Sinne einer Annäherung oder Entfernung vom Ziel. Aber das war weder etwas, zu dem nur sie im Stande war, noch dass man es vorbereiten musste. Also auch hier: Sackgasse.
Überhaupt: Racul. Die graue, bösartige Eminenz. Der Schurke im Stück sozusagen. Diese Konfrontation würde ihnen alles abverlangen. Solche Situationen waren normalerweise nicht darauf ausgelegt, das Ziel "nur" festzusetzen... Der alte Vampir würde keinen Argumenten zugänglich sein und, sobald er sich direkt bedroht fühlte, wohl sofort angreifen. Am besten wäre es natürlich, sie würden ihm gar nicht über den Weg laufen, aber das war in etwa so illusorisch wie die Möglichkeit, die Igors würden ihnen Ophelia an der Haustür einfach in die Hand drücken. So gut der Trupp den Rest geplant haben mochten - im Grunde war es dieser alles entscheidende Moment, zu dem es an Optionen fehlte. Sie würden das Gift haben, voraussichtlich. Aber abgesehen davon, dass Mina im Hinblick auf Ophelia selbst bei dem Gedanken an eine Anwendung dessen nicht ganz wohl war - was war denn, wenn der gegenteilige Fall eintreten sollte? Wenn das Mittel keinerlei Wirkung auf Racul zeigte? Dann würden sie vor einem zornigen Alten stehen. Ohne Ass im Ärmel. Einem Alten, den sie nicht töten durften, der aber seinerseits keinerlei Skrupel kannte, das gleiche mit ihnen zu tun, einen nach dem anderen. Dann würden ihnen auch alle Mistgabeln und Netze, Assassinenfertigkeiten oder taktische Spielchen der Scheibe nicht mehr viel helfen. Mina biss sich auf die Unterlippe. So wenig ihr das gefiel und so riskant es vielleicht war - das Zeug musste funktionieren! Außer ihnen fiel kurzfristig eine geniale Alternative ein, mochte diese auf den ersten Blick auch noch so schwammig sein, ganz egal. Jeder war mit irgendetwas zu packen und jedes Monster hatte seinen wunden Punkt, da gab es keine Ausnahme. Aber es war wie jedes Mal, wenn Mina an diesem Punkt ihrer Überlegungen angekommen war: Eine Lösung schien gerade außerhalb ihrer Reichweite zu liegen, es war wie in Nebel zu greifen. Die Schwaden zerfaserten zwischen den suchenden Fingern, bevor sie sich wieder zu Formen zusammenballten, die, vage vertraut, doch bei näherer Betrachtung ebenso irreführend wie nichtsagend waren. Was einen trotzdem weitermachen ließ, das war die Hoffnung, vielleicht doch noch etwas zu greifen zu bekommen, etwas übersehen zu haben, ein Detail. Doch Zuversicht und Vertrauen - keine eben schlagkräftigen Verbündeten. Sich daran festzuhalten... sie waren Narren, allesamt! Aber hatte nicht irgendwann einmal jemand behauptet, der Narr habe Glück in Masse? Solches konnten sie in der Tat gut gebrauchen. Oder noch besser: Ein Wunder. Wäre sie kein Vampir und obendrein noch irgendwie religiös gewesen, es wäre wohl ein guter Zeitpunkt gewesen, um mit dem beten anzufangen.
Wir werden nicht scheitern!
Immer noch echote Mina dieser Satz Rachs durch den Sinn, seit er am Tag des Gesprächs mit Dschosefien Kasta ausgesprochen worden war. Was war jeder Einzelne bereit zu tun, um eben das zu verhindern? Und was, wenn das nicht ausreichte?
Nachdenklich klopfte Mina mit dem Zeigefinger auf den Deckel der mit Abstand dicksten Akte auf ihrem Schreibtisch. Nahm man einmal den schlimmsten Fall an und keiner von ihnen kehrte zurück - ein deprimierendes, wenngleich nicht unwahrscheinliches Szenario - wie wahrscheinlich war es dann, dass jemand anderes einen neuen Versuch starten würde? Natürlich, die zurückbleibenden Mitglieder des Rettungszirkels würden die Angelegenheit bestimmt nicht auf sich beruhen lassen. Doch handelte es sich dabei um einen recht kleinen Kreis. Würde es ihnen gelingen, andere Kollegen zu motivieren? Die den Spuren erneut nachgehen und neue Wege suchen würden? Auch wenn der erfolglose erste Versuch gezeigt hatte, dass eine Beschäftigung mit dem Thema, nun ja... der eigenen Lebenserwartung nicht eben zuträglich war? Eine schwierig zu beantwortende Frage und Mina war sich nicht einmal sicher, ob es zu befürworten wäre, wenn vorher nicht involvierte Wächter in einer weiteren tollkühnen Aktion ihr Leben aufs Spiel setzten, vielleicht sogar vollkommen sinnlos. Aber sei es wie es sei - es sprach nichts dagegen, es jenen, die dann nicht gewillt waren aufzugeben oder gerade denen, die sich nicht von einer Beteiligung abhalten ließen, eine Hilfe an die Hand zu geben. Und da gab es sie, die eine Sache, welche sich vorbereiten ließ, für genau diesen Fall. Sie hatte das ohnehin vorgehabt. Die Vampirin zog die Ophelia-Akte nun gänzlich zu sich heran und schlug die umfangreiche Materialsammlung auf. In den letzten Tagen hatte sie neue Erkenntnisse und Informationen einfach nur noch in Form einzelner Notizzettel hinzugefügt, ohne Verweise oder einen deutlichen Hinweis auf potenzielle Zusammenhänge. Einzelheiten, die einen zufälligen Leser unfreiwillig in die Schusslinie bringen konnten hatte sie zum Teil sogar ganz ausgespart. Jeder von ihnen wusste ebenso gut über den Stand der Dinge Bescheid wie der andere, da war das schriftliche Festhalten nicht zwingend nötig gewesen. Für jemanden, der frisch in die Materie einsteigen wollte war es hingegen unerlässlich, auf vollständige Informationen zugreifen zu können. Die Vampirin atmete bewusst einmal tief ein und aus. Also dann, ein letztes Mal. Die Akte in ihrer Gesamtheit auf den aktuellen Stand bringen. Es fühlte sich seltsam an. Und machte deutlicher als so manch anderes, das hier etwas mit großen Schritten seinem Ende zuging.

08.07.2017 13: 31

Senray Rattenfaenger

"Und wissen Sie, es ist ja schon bald soweit, die Hochzeit! Mutter macht alle verrückt, das können Sie sich gar nicht vorstellen! Sie scheucht alle herum und hat sich selbst quasi in der Küche verbarrikadiert, niemand traut sich da aktuell rein! Allein die Götter wissen, wie viele Sorten Pasteten sie jetzt schon versucht hat zu machen! Aber duften tut es immer sehr gut. Und..."
So ging das jetzt schon seit einer gefühlten Ewigkeit. Karl Gutmann rühmte sich normalerweise für seine Geduld mit Kunden, war doch mancher Kohlbauer, der am Rande der Stadt bei ihm Werkzeug und Verbrauchsgut holte, nicht immer schnell von Begriff. Und er hatte wirklich nichts gegen einen kleinen Plausch – ging es auch zumeist um Kohl oder die lieben Mühen mit den Tieren - doch das war einfach zu viel! Die junge Frau vor ihm schien nicht einmal zum Luftholen zu pausieren! Dabei ging es nicht mal um ihre eigene Hochzeit, sondern nur um die ihres Bruders. Des Älteren. Soweit war er schon.
Als sie wieder einmal auf die zu reinigende und dekorierende Scheune umschwenkte, die wohl als Tanzhalle für die Feierlichkeiten dienen sollte, setzte er also schnell an. "Genau, die Beleuchtung, Fräulein! Sehen Sie, ich habe Ihnen hier das gewünschte Dutzend Fackeln verschnürt. Sie nehmen die beiden Mistgabeln," Herr Gutmann holte nur kurz Luft, allerdings schien sie das als eine Aufforderung zu sehen, also presste er schnell hervor: "neinSiemüssenmirnichtnocheinmalsagenwasIhreBrüdermitdenanderenbeidenangestellthaben!"
Sie blinzelte ihn an, das schien das erste Mal zu sein, dass die junge Frau tatsächlich sprachlos war. Oder vielleicht versuchte Sie nur noch, seine Worte zu entschlüsseln. Egal! Bloß nicht sie ermutigen, noch etwas zu erzählen!
"Das müsste dann ja alles gewesen sein, nicht wahr? Lassen Sie mich nur kurz durchrechnen, was das macht..."
"Oh, aber halt! Ich bräuchte tatsächlich noch etwas!"
Er sah sie schicksalsergeben an, fühlte sich plötzlich müde und alt.
"Seil wäre noch gut, wir müssen doch den Weg abstecken. Sonst trampeln die ganzen Gäste sicher übers Feld, ich sehe es schon kommen! Nicht, dass es wirklich etwas ändern würde, wenn wir den Weg abstecken, wie Mutter es will. Sie hat gesagt, Zaunpfähle wären zu teuer, also soll ich Pflöcke holen. Die könnten wir dann wenigstens im Sommer auch weiterverwenden für..."
Karl Gutmann hörte die Tür und nahm das als willkommenen Anlass, nicht der Höflichkeit halber auf eine Pause zu warten sondern sie direkt zu unterbrechen. "Seil also? Und Pflöcke? Wie viele?"
Sie nickte, offensichtlich etwas eingeschnappt darüber, nicht zu Ende reden zu können. "Zehn Pflöcke sollten genügen, denke ich. Der Weg ist ja nicht ..."
Diesmal hatte sein Blick gereicht und sie hatte abgebrochen. Pfuh.
Allerdings wusste Herr Gutmann, dass es gerade bei den gerne tratschenden Kohlbäuerinnen eine schlechte Idee war, sich wegen sowas einen schlechten Ruf einzufangen. Das würde ihn am Ende noch teure Kunden kosten! Also wieder nett lächeln.
"Wundervoll! Sehen Sie, ich habe alle Kosten hier aufgelistet und weil Sie so viel nehmen, gewähre ich Ihnen sogar einen Rabatt von..."
"Ah! Aber ich habe ja gar keinen Sack dabei! Dabei sollten doch die Fackeln nicht nass werden und das Wetter ist so unbeständig. Ich freue mich ja schon darauf, wenn der Frühling wirklich da ist, endlich wieder..."
"Ein Sack also noch? Geschenkt. Ich verpacke es Ihnen sogar eigenhändig!" Nur gehen Sie endlich!
Letzteres schaffte Karl nur gerade so, nicht laut auszusprechen. Stattdessen beeilte er sich damit, Fackeln, Holzpflöcke und Seil in den Sack zu stopfen und diesen zu verschnüren.
Die junge Frau studierte währenddessen mit angestrengtem Gesicht den Zettel, auf dem er alles aufgelistet hatte und begann schließlich damit, das Geld abzuzählen. Richtig so, bloß nicht offen zugeben, dass sie wahrscheinlich nicht mal halb so gut lesen konnte wie sie tat. Fürs Zählen hatte es aber immerhin gereicht, er strich die Summe ein und begleitete sie mit dem gut gewichtigen Sack zur Tür, während sie versuchte, die beiden Mistgabeln zu balancieren. Aber das war jetzt wirklich ihre Sorge.
Außen hielt der Ladenbesitzer kurz inne. Da war ein Ziegenkarren an seinem Geschäft angebunden. Und natürlich ging dieses Plappermaul von Frau auf die wild und bösartig aussehende Kreatur von einer Ziege zu und begrüßte sie, wie das niedlichste Haustier! Wahrscheinlich würde er, wenn er nicht aufpasste, gleich die Lebensgeschichte der Ziege hören.
Sie legte die Mistgabeln auf dem Karren ab, schlug deren Zinken in eine dafür bereitliegende Decke ein und wartete, bis er den Sack auf dem kleinen Karren platziert hatte, ehe sie alles sicherte.
Karl Gutmann grüßte noch einmal so höflich er konnte, und eilte in seinen Laden zurück. Nicht jedoch, ohne ein Stück Stoff an die nach ihm schnappende Ziege zu verlieren. Natürlich. Warum sollte das Tier auch anders sein als seine Besitzerin?
Hoffentlich war der nächste Kunde anders. Stumm vielleicht. Das würde es erträglicher machen.

Senray lächelte zufrieden, während sie die Ziege immer wieder mit Apfelvierteln bestach, damit sie sich weiter bewegte. Sie hatte heute, über den Vormittag verteilt, bereits an zwei verschiedenen Orten in der Stadt jeweils zwei Mistgabeln besorgt. Mit dem jetzigen Einkauf fehlten also eigentlich nur noch zwei der bäuerlichen Gerätschaften und noch mehr Knoblauch.
Der Knoblauch war auf Rogis Geheiß dazu gekommen, genauso wie der Auftrag für die Holzpflöcke ihr noch nachträglich von Chief-Korporal von Nachtschatten gegeben worden war. Dass ausgerechnet eine Vampirin ihr sagen würde, sie solle Pflöcke besorgen... Aber natürlich ging es auch gegen Vampire und Mina von Nachtschatten war vor allem vernünftig und professionell. Es wäre also wohl eher verwunderlich gewesen, wenn sie diese als Waffe abgelehnt hätte.
Sobald sie die letzten fehlenden Teile besorgt hätte, würde sie ihr und Leutnant Mambosamba eine Nachricht zukommen lassen, dass alles bereit lag.
Jetzt galt es allerdings erst einmal, die eben erworbenen Sachen zu verstauen. Wie schon zuvor steuerte sie über Umwege Minas "Haus mit Garten" an, eben jenes kleine Anwesen, in dem Senray die Ziege schon einmal für einige Tage untergebracht hatte. Zugegeben, es würde noch dauern, bis in dem Garten irgendetwas wuchs. Auch wenn kein Schnee lag, das Wetter war die meiste Zeit über scheußlich. Doch Chief-Korporal von Nachtschatten hatte Senray auch ohne zu fressendes Unkraut erlaubt, die Ziege zum Schein in dem kleinen Gartenschuppen unterzubringen, so sie diesen selbst zum ‚Stall‘ umfunktionierte und das benötigte Futter heranschaffte. Tatsächlich würde Senray das Tier zwar heute Abend im Schutz der Dunkelheit wieder mitnehmen und in dem Stall des Wachhauses in der Kröselstraße unterbringen, aber das war nicht der entscheidende Teil.
Wichtig war, dass es so aussah, als würde sie alles für einen Aufenthalt der Ziege bereit machen.
Was Senray getan hatte. Und das Gute daran war, dass die zwei Säcke Futter, die sie zuvor mit der Ziege durch die Stadt gekarrt hatte, kaum anders aussahen, als dieser Sack mit Ausrüstung. Selbst wenn also jemand ihr Ankommen bei dem Haus beobachtete – es sah wirklich nur danach aus, als würde sie es für die Ziege wohnlich einrichten. Und da es nicht das erste Mal war, dass dies vorkam, hatte Chief-Korporal von Nachtschatten zurecht argumentiert, es wäre weitaus unauffälliger, als die für den Einsatz benötigten Materialien in eines der Wachhäuser zu bringen.
Senray war das selbst bewusst gewesen, deswegen und um auf Nummer sicher zu gehen, hatte sie Leutnant Mambosamba gefragt, wohin. Und diese hatte schließlich Mina von Nachtschatten hinzugezogen. Und so hatte sich der Kreis geschlossen.

Während Senray wenig später alles in dem kleinen Schuppen verstaute und den Sack mit Ausrüstungssachen sicherheitshalber sogar hinter den Futtersäcken platzierte, dachte sie wieder darüber nach, was noch alles zu tun war. Einmal noch bei wieder einem anderen Händler zwei Mistgabeln erwerben. Oder brauchte es überhaupt noch zwei? Nun, sicher war sicher. Knoblauch würde sich leicht auftreiben lassen, da machte sie sich keine Sorgen. Den sollte sie allerdings vielleicht nicht hier im Schuppen lagern. Nicht, dass er noch feucht wurde und verdarb! Andererseits könnte sie den in die Einmachgläser tun, die ihr ebenfalls als Besorgung von Oberfeldwebel Feinstich angeraten worden waren. Zur sicheren ‚Notfallverwahrung‘. Sie wollte nicht zu sehr darüber nachdenken und betrachtete das Problem damit auch als abgehakt, beides musste nur besorgt, kombiniert und hier gelagert werden.
Die junge Frau seufzte. Es sah beinahe so aus, als würde ihr die Arbeit zu schnell ausgehen. So etwas Albernes! Die ganze Zeit über hatte sie viel zu viel Arbeit gehabt. Aber auch wenn sie Wilhelm am liebsten kurzfristig in die Wüste gejagt hätte am Vortag – sie hatte, wie er es ihr geraten hatte, ein Gespräch mit Glum gesucht. Und einiges mehr erklärt, als sie geplant hatte. Nicht alles, nichts von dem anstehenden Rettungseinsatz der Anderen zum Beispiel. Doch sehr wohl etwas darüber, dass sie nebenbei etwas Anderes verfolgte, was sie nicht los ließ. Und dass die Feuersache eben auch andere, wie Wilhelm, betraf. Wobei sie genau hier fast nichts hatte sagen können – sie hatte sofort gemerkt, wie sich ihr die inneren Ketten schwer umlegten und sie an jedem falschen Wort hinderten.
Der Zwerg hatte zugehört und sie gemustert – und ihr für die nächsten zwei, drei Tage frei gegeben. Senray war aus allen Wolken gefallen. Allerdings hatte Glum darauf hingewiesen, dass es ihm wenig brachte, wenn sie auf dem Zahnfleisch ging oder im Einsatz vor Erschöpfung einschlief. Und sie hatte, trotz der durch Wilhelm geschenkten Stunden Schlafes, sichtbar erschöpft ausgesehen.
Senray war gleichzeitig erleichtert und dankbar für die freie Zeit – und fühlte sich doch auch einer wesentlichen Struktur ihres Alltags beraubt. Es war schon so lange her, dass sie sich einen wirklich freien Tag genommen hatte. Sie wusste kaum, was sie mit der Zeit anfangen sollte.
Nun, das stimmte so natürlich nicht ganz. Wenn sie die letzten Mistgabeln und den Knoblauch hier verstaut hatte, würde sie den Karren zurück zu Bo bringen. Und dort standen ein spätes Mittagessen und ein wohl sehr lang werdendes Gespräch mit ihm und Rosmalia an. Beide hatten es natürlich nicht akzeptiert, dass die Wächterin einfach vormittags aufgetaucht war, die Ziege mitgenommen und um den Karren gebeten hatte, und wieder verschwinden wollte.
Senray hatte es bewusst vermieden, in ihre Wohnung zu gehen und hatte einen Einsatz vorgeschoben, der die ganzen Umstände aktuell nötig machte. Was hätte sie auch sonst sagen sollen?
Sie konnte und wollte weder über Ophelia und den alten Vampir, noch über Refizlak in ihr und seinen Übergriff auf Wilhelm reden. Und alles andere hing irgendwie damit zusammen. Angefangen damit, dass sie, um mit Mistvieh Ophelia zu suchen, immer öfter abends und nachts im Boucherie geblieben war, bis zu dem Punkt jetzt, an dem sie, um Miezies Krallen zu meiden, nicht mehr in ihre Wohnung konnte. Stattdessen...
Senray merkte, wie ihr Herz beschleunigte und sie war froh, dass nur die Ziege bei ihr war.
Wilhelm hatte sie tatsächlich am Vorabend abgeholt und mit zu sich genommen. Ein Teil von ihr hatte das angekündigte Vorhaben, allem zum Trotz, als Scherz von ihm abgetan gehabt. Natürlich war sie vorbereitet gewesen. Und sie hatte sich einmal mehr gewünscht, sie könnte in ihre Wohnung. Einfach komplett frische Sachen holen, was Frau eben so brauchte. Stattdessen musste sie die Sachen mitnehmen, die sie im Boucherie hatte.
Senray wurde nur noch röter bei der Erinnerung an den Vorabend. Sie fragte sich selbst, ob sie aufgrund dieser Erfahrung zu hoffen wagen durfte. Zu hoffen, dass Wilhelm nicht sofort jeden Kontakt zu ihr abbrechen würde, wenn der Pakt gebrochen wäre. Es... war doch wirklich nicht so, als würde er sich nur des Paktes wegen mit ihr abgeben, nicht wahr?
Die junge Frau merkte gar nicht, dass sie bei den Erinnerungen begonnen hatte, in sich hinein zu lächeln und die Ziege abwesend hinter den Ohren zu kraulen.
Wilhelm hatte es tatsächlich geschafft, ihr auch die verstrichene Nacht über traumlosen Schlaf zu bescheren. Soweit sie wusste, musste er, kurz nachdem er sie hypnotisiert hatte, aufgebrochen sein zur nächsten Nachtschicht. Morgens jedoch, als sie aufwachte, war er wieder da gewesen – wie angekündigt mit Frühstück für sie am Bett. Unverschämt grinsend.
Niemals würde sie ihm gegenüber zugeben können, wie sehr sie diese köstlich gestohlene Stunde und das von ihm angerichtete Frühstück tatsächlich genossen hatte. Stattdessen hatte sie versucht, ihm zu erklären, dass er sich weder den Stress noch diesen zusätzlichen Aufwand wegen ihr zu machen brauchte.
Wilhelm hatte gegrinst und ihr eines der fertigen, kleinen Marmeladenbrotstücke quasi vor der Nase weg geklaut und selbst gegessen. Und angedroht, dass er sich für jeden weiteren Widerspruch ein zusätzliches schnappen würde. Frei nach dem Motto ‚Wenn du das nicht essen willst...‘.
Also hatte Senray aufgegeben und all das stattdessen einfach genossen. [18]
Nur traute sich die junge Frau nicht, davon auszugehen, dass dieses Glück Bestand haben könnte. Es waren gestohlene Stunden, nichts was ihr wirklich zustand. Wilhelm gehörte zu einer Anderen und sie selbst... sie... war einfach niemand, dem sowas passierte. Der einfach so... glücklich war. Sein konnte, sein durfte.
Senrays Lächeln schwand und mit einem leisen Seufzen kontrollierte sie noch einmal alles, ehe sie den Gartenschuppen verlies.
Wilhelm hatte ihr sogar angeboten, ihr hierbei zu helfen. Durch die Nachtschichten hatte er tagsüber frei und wenn sie nur wollte, würde er sich ihr zur Verfügung stellen. Er hätte sich sogar von ihr herrichten und tarnen lassen!
Im ersten Moment hatte Senray zustimmen wollen – und wenn es nur dafür gewesen wäre, um Wilhelm mit einem falschen Bart auszustatten. Sie war sich sicher, dass der Anblick köstlich gewesen wäre.
Allerdings wurde das ausgerechnet dadurch, dass sie von Glum frei bekommen hatte, verhindert. Sie konnte schlecht, während sie sich ausruhen sollte, ins Boucherie gehen und verschiedene für eine Verkleidung benötigte Dinge mitnehmen oder sich und den Vampir dort in ihrem Büro herrichten.
Also war sie allein gegangen – für ihre eigene geplante ‚Rolle‘ hatte ein gutbäuerlich erscheinendes Kleid gereicht. Und selbst das wäre vielleicht nicht einmal nötig gewesen. Bei dem Wetter behielt jeder seinen Mantel an, einschließlich ihrer selbst.
Außerdem hatte sie geahnt, dass Bo und Rosmalia nachhaken würden. Weswegen sie Wilhelm auch nicht direkt dabei haben wollte. Sie würde ihn allerdings, sobald alles sicher verstaut war und es nur noch galt, die Ziege in die Kröselstraße zu bringen, abholen. Das hatte sie ihm versprechen müssen – und natürlich, dass sie auf sich aufpasste.
Sie lächelte wieder. Wenn es dunkel war, würde sie Wilhelm auch vorführen können, was sie aus der Alchimistengilde mitgebracht hatte. Darauf freute sie sich, seit er heute morgen ihren Verband am Arm gesehen und sie dazu ausgefragt hatte.
Das Ganze basierte auf der einfachen Reaktion von zwei Stoffen und wurde in seiner jetzigen Form verstärkt durch ein Höhlenmoos und das Sekret irgendeines armen Frosches. Trug man diese Paste auf eine Oberfläche auf, wie zum Beispiel der Wand eines unterirdischen Tunnelsystems, so begann sie von sich aus, grünlich zu leuchten. Es reichte nicht unbedingt, um einen Weg wirklich zu erleuchten und es ersetzte keine Fackeln. Allerdings hatte Oberfeldwebel Feinstich davon gesprochen, dass die Gänge durchaus labyrinthartig sein konnten. Und Senray, die sich nur zu gern verirrte, hatte sich gedacht, dass es entsprechend vielleicht eine gute Idee wäre, wenn die Anderen den von ihnen zurückgelegten Weg zumindest an Abzweigungen markieren könnten.
Es war leichter gewesen, zwei Gefäße davon aus der Gilde mitzunehmen, als Senray erwartet hätte. Allerdings waren ‚Heimstudien‘ nun einmal nichts Ungewöhnliches unter Alchimisten, auch bei den Schülern. Das ihr bei dieser letzten nächtlichen Aktion in der Gilde allerdings einige Spritzer auf den linken Unterarm gekommen waren, war weniger schön. Das Mittel war zwar, zum Glück, solange man es nicht aß, vollkommen ungefährlich. Allerdings leuchtete es auch auf Haut. Und es schien dort sogar noch beständiger, als auf Stein. Zumindest kam es Senray so vor. Um dieses auffällige, grünliche Schimmern abzutarnen, hatte sie sich kurzentschlossen einen Verband angelegt.
Welchen Wilhelm heute morgen wiederum entdeckt hatte. Zu Senrays Erleichterung war die Reaktion jedoch endlich soweit zurückgegangen, dass man sie bei Tageslicht nicht mehr sehen konnte. Die Neugier des Kollegen war aber natürlich geweckt. Und da die junge DOG doch ein wenig Stolz auf diesen Einfall und ihren kleinen Beitrag für den Rettungstrupp war, freute sie sich sehr darauf, dem Vampir die Leuchtfarbe zu zeigen.
Außerdem hatte dieses Hilfsmittel, oder eher die Vorführung dessen, das Potential, wieder ein wenig gestohlene Zeit abzuzweigen, gestohlenes Glück zu ihr zu bringen.
Senray richtete sich wieder voll auf und sah die Ziege an.
"Na dann, lass uns mal wieder aufbrechen, hm?" Sie kraulte das Tier nochmal, das ihr liebevoll über die Hand leckte. Senray lachte. "Ja, ja... Nachher gibt es mehr Äpfel. Wir haben noch viel vor, bis du heute Abend in Ruhe in den Stall kannst."
Und damit begann Senray, die Ziege wieder aus dem Garten heraus zu locken.
Einen Schritt nach dem anderen – genauso würde sie auch den Tag hinter sich bringen, bis sie sich abends mit Wilhelm traf.

09.07.2017 8: 37

Araghast Breguyar

Eigentlich war es ein Abend wie immer wenn Araghast Breguyar und Romulus von Grauhaar sich nach Dienstschluss im Büro des Kommandeurs trafen - Das gemütliche Herumlungern auf der Püschologenkautsch, die Flasche Goldwinnie 14 Jahre auf dem Tisch und die brennende Pfeife des Oberfeldwebels den Araghast zu seinen engsten Freunden in der Wache zählte. Egal was passiert war, Romulus hatte ihn noch nie im Stich gelassen und vertraute ihm genug, um im Zweifelsfall auf unangenehme Fragen zu verzichten.
Nachdenklich betrachtete der Kommandeur die goldgelbe Flüssigkeit, die er langsam in seinem Nosingglas kreisen ließ. Es war eine schwere Entscheidung gewesen, seinen Freund in diese größtenteils illegale Geschichte hineinzuziehen. Aber wenn er Racul wirklich so gründlich vernichten wollte wie nur möglich, hatte er keine andere Wahl.
"Was ist los, Bregs?" riss ihn Romulus aus seinen Gedanken.
Araghast zwang sich, das Glas ruhig zu halten.
"Wie kommst du darauf, dass etwas los ist?"
Der Oberfeldwebel nahm einen kräftigen Zug aus seiner Pfeife und blies einen Rauchring in die Luft.
"Ich mag zwar immer noch kein fertig ausgebildeter Püschologe sein, aber ich merke, wenn etwas im Busch ist. Erst bist du wochenlang kaum aufzutreiben und nun starrst du schon den ganzen Abend in dein Glas und hast noch kein einziges Mal über den Inspektor geschimpft."
Araghast seufzte. Sein Freund kannte ihn einfach viel zu gut als dass er noch viel vor ihm verbergen konnte. Vielleicht konnte er dessen Beobachtung als Eröffnung nehmen um sein Anliegen zur Sprache zu bringen. Der Kommandeur stellte sein Glas ab und stemmte sich in eine halbwegs aufrecht sitzende Position.
"Romulus, es gibt da etwas wobei ich deine Hilfe brauche." kam er zur Sache. "Und dein Vertrauen."
Der Werwolf lächelte amüsiert.
"Du weißt doch, dass ich schweigen kann wie ein Grab. Also wo liegt die Leiche und wo verbuddeln wir sie?" fragte er trocken.
"Noch gibt es keine Leiche. Und falls es eine geben wird bezweifle ich, dass jemand sie zu Gesicht bekommen wird." sagte Araghast mit gesenkter Stimme. Er vertraute auf den Rettungstrupp, die Überreste des Assistenten im Fall der Fälle diskret verschwinden zu lassen.
"Oho." Romulus setzte sich ebenfalls auf und wurde ernst. "Wo steckst du dieses Mal drin, Bregs?"
Araghast genehmigte sich einen Schluck Whisky, während er fieberhaft überlegte, wo er anfangen sollte.
"Es ist verdammt kompliziert." kapitulierte er schließlich vor dem Unterfangen, die ganze Situation in möglichst unverfängliche Worte zu kleiden.
"Dann fang mit der einfachsten Stelle an." schlug Romulus vor. "Wie zum Beispiel, was ich für dich tun kann. Ich bin wirklich neugierig, auf was ich mich da einlasse."
Araghast räusperte sich.
"Irgendwann in den nächsten Tagen wird um den späten Mittag herum ein anonymer Hinweis auf einen wütenden Mob in der Nähe des Nilpferds eingehen, der dort ein Haus gestürmt hat." begann er. "Ich möchte, dass du daraufhin sofort einem doppelt besetzten, aus erfahrenen Wächtern bestehenden Tatorttrupp zusammenstellst, in den Grüngansweg fährst und dort das Haus mit der Nummer X von der höchsten Dachkammer bis zum tiefsten Kellergewölbe auf den Kopf stellst. Stellt alles sicher was ihr dort an Papierkram und sonstigem Beweismaterial findet. Und ich verspreche dir, ihr werdet auf ein Rattennest stoßen."
Romulus nickte langsam.
"Verrat mir nur eins, Bregs." sagte er und sah Araghast direkt ins Auge. "Ist die Person, der das Haus gehört, tatsächlich ein Verbrecher oder wurde ihm etwas untergeschoben?"
"Du hast mein Ehrenwort, dass der Kerl ein Schurke der allerübelsten Sorte ist." sagte Araghast feierlich. "Und ich will ihn mit allem Mitteln die mir zur Verfügung stehen dran kriegen. Deshalb würde ich dir auch raten, einen Rechtsexperten mitzunehmen."
Ein leichtes Lächeln spielte um die Lippen des Werwolfs.
"Sieh die Sache als erledigt an." erklärte er. "Aber ich frage mich - wenn die betreffende Person so viel Dreck am Stecken hat, warum gibt es keine offizielle Ermittlung? Oder gibt es schon eine und ich bin bloß nicht informiert?"
Araghast rang sich ein schiefes Grinsen ab.
"Wie ich sagte - die Sache ist äußerst kompliziert und es steckt auch etwas Politik drin. Offiziell weiß ich nicht einmal von der ganzen Angelegenheit und ich muss auch zusehen, dass das für die Allgemeinheit und Intörnal Affärs so bleibt. Betrachte es als eine Art... Privatunternehmen."
"Also eine persönliche Sache bei der die offiziellen Wege leider nicht effektiv genug sind." stellte Romulus äußerst scharfsinnig fest.
"Du hast es erfasst." Araghast bediente sich an seinem Glas. "Für einen Teil der Beteiligten sogar äußerst persönlich."
Der Werwolf seufzte.
"Persönlich sagst du. Ich will keine Namen nennen, aber ich glaube, ich habe da einen gewissen Verdacht, um was es gehen könnte und ich wünschte, ich könnte mehr erfahren. Aber du wirst es mir nicht sagen, oder?"
Araghast schüttelte den Kopf. Nur zu gern hätte er seinen Freund ins Vertrauen gezogen. Insgeheim sehnte er sich schon lange danach, sich die ganze Angelegenheit bei jemandem von der Seele zu reden, der nicht direkt mit eingebunden war.
"Glaub mir, ich würde nichts lieber tun als das. Aber es ist besser für alle, für die ganze Operation, wenn der Kreis der Mitwissenden so klein wie möglich bleibt. Je weniger Leute über Details Bescheid wissen, desto geringer ist die Gefahr, dass alles auffliegt. Und wenn es auffliegen sollte, dann wird es höchstwahrscheinlich Tote geben. Leute, die wir kennen und schätzen. Deshalb muss ich leider den Mund halten."
Eine düstere Stille füllte das Kommandeursbüro, nur unterbrochen durch das gluckernde Geräusch als Araghast Whisky nachschenkte.
"Das hört sich wirklich verflucht ernst an." brach Romulus schließlich das Schweigen.
"Du hast keine Ahnung." murmelte der Kommandeur und ihm kam eine Idee.
"Weißt du, durch eine Wette ist mir kürzlich eine Flasche fünfzehnjähriger McMäck in die Hände gefallen. Da derjenige, der sie gewonnen hat, keinen Alkohol trinkt, wird sie bei mir bleiben. Was hältst du davon, dass wir beide uns, wenn alles gelaufen ist, diese Flasche vornehmen und ich erzähle dir die ganze Geschichte?"
Der Werwolf lächelte. "Das Angebot nehme ich nur zu gern an." Er hob sein Glas und prostete Araghast feierlich zu. "Dann auf eine erfolgreiche, nun ja, Geheimoperation."
"Danke." Der Kommandeur hob ebenfalls sein Glas. "Wir können wirklich jedes Fitzelchen Glück gebrauchen."

10.07.2017 11: 51

Magane

Ophelias Warnung geisterte in ihrem Kopf herum. Lass ihn nicht an deine Gefühle! Zuerst hatte sie gedacht, ihre Gefühle seien sicher hinter der Gedankenbarriere verborgen und die Warnung beträfe sie nicht weiter. Aber inzwischen war sie sich da nicht mehr so sicher. Ihre Abschottungsbemühungen waren nicht fehlerlos und sie ahnte schon seit dem Vorfall mit der Wüstenlandschaft, dass er zumindest Teile ihrer Träume kannte. In Träumen waren Gefühle viel deutlicher zu erkennen, als in bewussten Gedanken. Krampfhaft versuchte sie sich zu erinnern wovon sie in der letzten Zeit geträumt hatte. Von wem hatte sie geträumt? War David in Gefahr? Hielt sich Sebastian an sein Versprechen, ihre Kinder in Ruhe zu lassen? Natürlich galten ihre ersten Gedanken ihrer Familie. Aber dann kam ihr etwas viel Beunruhigenderes in den Sinn. Was war, wenn sie vom Rettungstrupp geträumt hatte? Eine hoffnungsgeladene Erinnerung an das erste Treffen in neuer Besetzung, das könnte alles - alles - gefährden. War Sebastian in den letzten Tagen deswegen so häufig abwesend gewesen? Machte er Jagd auf ihre Freunde? Hatte sie sie alle verraten? Eigentlich hatte sie versucht, die Anderen aus ihren Gedanken herauszuhalten aber ob ihr das lückenlos gelungen war, konnte sie nicht sagen. Sie versuchte ihren Empfindungsradius so weit wie möglich auszudehnen, in der verzweifelten Hoffnung, irgendwo in der Umgebung auf vertraute Schwingungen zu treffen. Es gelang ihr nicht. Sie konnte das emotionale Geschnatter der Internatsschülerinnen nicht durchdringen. In ihrer Nähe spürte sie nur das Igorpärchen. Ophelia war durch den Tee so gut abgeschirmt, dass sie nicht zu spüren war. Und die Vampire waren beide zu starke Telepaten - sie wagte es nicht sich auf sie zu konzentrieren, das hätte nur Aufmerksamkeit auf sie gelenkt.

Etwas zupfte am Rande seiner Wahrnehmung. Viel zu zart, als dass es vom Herrn hätte stammen können. Dennoch ein Zupfen auf mentaler Ebene. Er schloss die Augen und konzentrierte sich darauf. Was auch immer es war, von draußen kam es nicht... und hier unten kamen nur wenige in Frage.
Sebastian sandte seinen mentalen Tastsinn in die wahrscheinlichste Richtung und fand die Spur. Keine Gedanken, nur Emotionen, eine Mischung aus panischer Angst und Frustration. Was stellte das Hexchen den nun schon wieder an? Sie konnte doch nicht ernsthaft geglaubt haben, mit solch schwachen Versuchen die Außenwelt erreichen zu können. Aber für diesen Versuch hatte sie vielleicht die Barriere senken müssen. Er wand gedankliche Tentakel um ihre Präsenz ein Stockwerk tiefer und tastete. Nein, sie befand sich wie immer im Innern einer marmornen Statue. Er müsste nur fest genug zupacken und der Marmor würde zerbrechen. Aber er wusste genau, dass er damit ihrem Geist dauerhaften Schaden zufügen würde. Hinterher wäre sie nur noch ein gebrochenes Häufchen Elend und das Schlimmste war, dass ihre magischen Fähigkeiten damit wohl ebenfalls verschwunden sein würden. Trotzdem, irgendetwas hatte sie geängstigt, so sehr, dass sie nach einem emotionalen Kontakt draußen gesucht hatte. Ein vielversprechender Auftakt für die heraufziehende Nacht. Er würde zur Stelle sein, wenn sie stolperte. Und sollte sie nicht stolpern, konnte er immer noch nachhelfen.

Sie war nicht vorsichtig genug gewesen. Selbst das sanfte Streifen des emotionalen schwarzen Flecks über ihr, hatte Aufmerksamkeit geweckt. Er hatte die Spur verfolgt. Ein Gefühl, wie das Kribbeln im Nacken, wenn man beobachtet wurde. Gerade noch rechtzeitig hatte sie die mentale Barriere wieder hochziehen können - und auch sofort den Druck eines Angriffs gespürt. Er war noch hier... lauerte und umkreiste die Grenzen ihres Bewusstseins. Und er würde auch so schnell nicht aufgeben. Das konnte eine lange Nacht werden. Andererseits hatte sie schließlich genau unter solchen Bedingungen gelernt, wie man sie draußen hielt... also wieso sollte sie jetzt davor zurückschrecken anzuwenden, was sie gelernt hatte? Immerhin war sie sich der Bedrohung durch den Feind absolut bewusst, viel bewusster als jemals zuvor. In diesem Lichte musste sie vielleicht die Sicherheitsvorkehrungen verschärfen, nicht nur jetzt sondern in jeder nun folgenden Nacht, solange sie hier war, auch wenn das lebenslänglich bedeuten konnte.
Magane nahm eins der weniger rüschigen Nachthemden aus der Kleidertruhe und zog es an. Meditieren ging am besten in der immer gleichen Position. Aber wenn man aus der Trance nahtlos einschlafen wollte, sollte man tunlichst eine zum Schlafen geeignete Haltung einnehmen. Auf dem Bett liegend verbannte sie alle Gedanken an Freunde und Familie und leerte ihren Geist. Es gelang ihr nicht, den Raum in strahlendes weiß zu tauchen, Schatten huschten umher und alles in allem wirkte er gräulich. Aber das reine weiß hätte sie auch nur beim Einschlafen gestört. Selbst wenn im Schlaf die Barriere in sich zusammenbrechen würde, hätte sie nun alles getan, um ihre Geheimnisse zu schützen. Sie konnte seine Gegenwart noch immer spüren, er suchte nach Schlupflöchern, umkreiste ihren Geist wie die Geier ein verendendes Tier. Magane dachte kurz darüber nach, dass sie sich für einen traditionellen Vampir grade appetitlich angerichtet hatte. Dann verbannte sie auch diesen Gedanken, zusammen mit den kreisenden Geiern, aus dem gräulichen Raum in ihrem Bewusstsein.

Sebastian war versucht, zu ihr hinunter zu gehen um herauszufinden, was sie im Moment anstellte. Sie war körperlich inzwischen so ruhig wie im Schlaf. Doch die marmorne Grenze hatte Bestand, also schlief sie noch nicht.
Er reduzierte den Druck etwas und widerstand dem Impuls, seinen Schreibtisch zu verlassen. Ginge er jetzt zu ihr runter, würde sie sich nicht entspannen, sondern sich vielmehr weiter gegen den Schlaf wehren.
Nach einer gefühlten Ewigkeit - vermutlich nicht mehr als ein paar Minuten - wurde die Abschirmung, mit der sie sich umgab, langsam durchsichtig, bevor sie ganz verschwand.
Endlich! Endlich schlief sie. Ihr Geist glich einer offenen Wunde, es war nur ein kleiner Schritt in ihr Inneres. Sebastian trat ein und sah sich um. Der weiße Raum war leer, kein bewusstes Ich anwesend. Das Hexchen hatte sich abgeschaltet. Wer beobachtete die Hexe, wenn sie es nicht tun konnte? Na, er tat das! Und zwar mit wachsender Begeisterung. Leider waren auch in diesem Zustand nicht alle Verteidigungsmaßnahmen abgeschaltet. Er konnte noch immer nicht auf ihre Erinnerungen zugreifen und musste abwarten, bis sie in die Traumphase eintrat. Also machte er es sich bequem, indem er sich einen der Sessel aus dem Herrenzimmer vorstellte.
Der Vampir brauchte nicht lange zu warten bis sich der weiße Raum in den Ballsaal zu verwandeln begann. Erst erschien der Raum, dann die Musik mit den dazugehörigen Musikern und schließlich sie und ihr Partner. Er grinste, schickte den Sessel weg und schlüpfte in ihren Partner, bei dem es sich, wie er inzwischen vermutete, nur um ihren abwesenden Ehemann handeln konnte. Genau dieser war heute sein Ziel. Ganz allmählich glättete er dessen Haar und änderte die Augenfarbe, zog die Fältchen glatt und hellte die Haut etwas auf. An der Statur war kaum etwas zu ändern, er war genauso groß wie der Andere und ebenso schlank. Die Stimme war schon kniffliger, unter anderem, weil die einzigen gesprochenen Worte in der für ihn unverständlichen Sprache, die wohl omnianisch sein musste, gesprochen wurden.

Glaubte er wirklich, dass ihr das entging? War er so dumm? Oder einfach nur zu arrogant? Oder hatte er etwas viel Weitreichenderes vor? Sie musste ihn glauben lassen, dass er sich tatsächlich in einem Traum befand, alles musste genauso laufen wie sonst. Wenigstens solange, bis er zeigte, was er wirklich vorhatte, musste sie mitspielen.
Er hatte schon beinahe alles verändert, Davids Abbild komplett durch seins ersetzt. Was würde er aus den omnianischen Worten machen? Was auch immer, sie musste rot werden und lachen und eine passende Antwort geben. Aber damit hatte sie noch mindestens so lange Zeit, bis er die Haarnadeln aus ihrer Frisur geklaubt hatte. Diese alberne Frisur, mit den lächerlichen falschen Locken. David hatte sie gemocht, warum auch immer. Jedenfalls würde sie nicht freiwillig nochmal stundenlang mit Lockenwicklern rumsitzen, egal warum und für wen. Als die letzte Haarnadel raus war, schüttelte sie mit einem leichten Schwung ihr Haar aus. Jetzt durfte sie dann wohl gespannt sein, was er sich ausgedacht hatte. Sebastian spielte mit einer Strähne, die sich um seinen Finger kringelte.
"Mit diesen Locken siehst du richtig verwegen aus, nicht so brav wie sonst." Oh bitte, sollte das etwa ein Kompliment sein? Sie errötete trotzdem. Die Kontrolle zu haben hatte gewisse Vorteile. Nur durfte er es nicht merken, unter keinen Umständen. Die Stimme hatte er beim ersten Anlauf nicht perfekt hinbekommen aber er rechnete wohl mit einer späteren Gelegenheit. Wie weit er wohl gehen würde? Vielleicht sollte sie es etwas beschleunigen um herauszufinden, was er tun wollte, wie weit er ging und wie weit sie zu gehen bereit war.
"Lass uns raufgehen und schauen wie brav ich wirklich bin", sie lachte warm und ließ sich dann bereitwillig von ihm zur Treppe ziehen.

Sie reagierte genau wie bei ihm, nur mit anderen Worten. Oder waren es die gleichen Worte, nur eine andere Sprache? Vollkommen egal. Er genoss diese wilde Seite an ihr und konnte auf einmal kaum noch erwarten herauszufinden, wie gut seine Tarnung war. Er zog sie die Treppe hinauf und den Gang entlang, nahm sie an der richtigen Tür angekommen auf die Arme und trug sie über die Schwelle, genau so, wie er es schon so oft in diesem Traum gesehen hatte. Er hielt sich genau an den vorgegebenen Ablauf und innerhalb kurzer Zeit waren sie im Schlafzimmer angekommen. Das machte, als er selbst, viel mehr Spaß! Und das Köstlichste war, dass sie so bereitwillig mitmachte und anscheinend keine Ahnung hatte. Sie war amüsanter, wenn sie nicht gezwungen werden musste. Weniger sprühende Macht für ihn, nicht der übliche Spaß. Aber für eine Nacht mal ganz nett. Und mit etwas Glück blieb sogar ein bisschen was bei ihr hängen. Ob er mit einem kleinen Probebiss alles kaputt machte? Spätestens dann würde sie wohl bemerken, was los war und dann wäre der Spaß vorbei... aber sie sah so lecker aus...

Er hatte noch immer keinen Verdacht geschöpft und dabei waren sie schon im Bett, nah an den Waffen im Nachttisch. Mag sah in seinem Blick, dass er sie beißen wollte. Ob in ihren Augen auch so deutlich zu lesen war, was sie vorhatte? Das wäre eine Katastrophe, sie musste schnell machen. War ein Pflock in der Schublade? Nein, da war kein Pflock. Aber das hier war ihr Bewusstsein, ihre Erinnerung, also auch ihr Nachttischschubladeninhalt. Sie musste sich nur darauf konzentrieren. Sie ließ in scheinbarer Ekstase den Arm über die Bettkante hängen und tastete nach der untersten Schublade. Es fehlten ein paar Zentimeter. Mist, so konnte das nichts werden. Hochrobben funktionierte auch nicht, dazu war er zu schwer. Aber auch das war nur ihre Fantasie, das alles war nur ein Teil ihrer Fantasie.
Sie steckte die rechte Hand unter das Kopfkissen und ertastete etwas Hartes, Hölzernes.
Gute Fantasie! Waffen gehörten einfach unter Kopfkissen.
Er küsste ihren Hals und sie meinte seine Zähne zu spüren. Eine bessere Ablenkung konnte es nicht geben. Sie holte aus, zielte sorgfältig und versuchte mit aller Kraft den Pflock von hinten in sein Herz zu rammen.

Etwas stimmte nicht. Er drehte sich blitzschnell um und schlug in der Drehung ihren Arm zur Seite. Ein Pflock fiel klappernd zu Boden und verschwand.
Dieses impertinente aufmüpfige Weib wagte es doch tatsächlich ihn anzugreifen, ihn sogar viel mehr noch in einen Hinterhalt zu locken!
Ohne bewusste Entscheidung aber mit einem wütenden Fauchen, packte er sie an der Kehle.
Das würde sie bereuen! Jetzt war endgültig die Zeit der Spielchen vorbei. Er hatte viel zu lange schon Rücksicht auf ihre geistige und körperliche Unversehrtheit genommen. Die marmorne Barriere war unten und sie würde sich auch nicht darauf konzentrieren können, sie wieder aufzurichten. Nicht, solange er sie würgte.
Sebastian erhöhte den Druck auf ihr Bewusstsein und genoss es, dabei in die weit aufgerissenen Augen ihres mentalen Abbildes zu sehen. Sie hatte längst die Kontrolle über die von ihr geschaffene Illusion verloren. Die Umgebung verblasste langsam und wich dem weißen Raum. Schade, im Bett erwürgt zu werden, hatte etwas Dramatisches.
Es zeigten sich erste Risse in der "Wand" des weißen Raumes. Endlich würde er sehen was dahinter war. Was wohl geschah, wenn sie hier, gefangen in ihrem Innern, starb? Vielleicht würde es sie auch ganz real töten... andererseits, so schnell starb man nicht. Und die Hexe war zäh. Sein Blick wanderte kurz von ihren vor Schmerz und Todesangst geweiteten Augen auf seinen Arm, den eine oberflächliche Risswunde zierte. Ein Kratzer. Sie hatte zumindest sein Abbild verletzen können. Sie war drauf und dran gewesen, ihn zu pfählen. Einfach so, aus heiterem Himmel, vollkommen unprovoziert.
Er drückte fester zu, sowohl mit seinen geistigen Händen um ihren Hals, als auch gegen die Risse in der Wand. Die ersten Brocken vielen herunter aber noch war kein Loch entstanden. Ganz deutlich konnte er ihre Angst zu ersticken spüren, gleichzeitig versuchte sie allerdings mit dem letzten Rest der Kraft, über die sie noch frei verfügen konnte, die Gedankenbarriere wiederzuerrichten und ihn somit auszusperren. Sie konnte einfach nicht aufgeben und sie wurde auch nicht ohnmächtig! Das hätte sie allerdings längst sein müssen. Zumindest, wenn das seine realen Hände um ihren realen Hals wären. Aber das waren sie nicht. Er konnte sie also würgen und ihre Angst und ihre Schmerzen genießen, bis die Mauer eingerissen war. Niemand konnte ihn davon abhalten. Erst recht nicht seine kleine Hexe.
Mit einem Mal verschob sich etwas in ihrem Blick. Zwar war der Schmerz noch immer vorherrschend. Aber aus der Angst wurde Wut und die Wut verlieh ihr neue Kraft. Das war ein vorher nicht kalkulierbarer Nebeneffekt, der dazu führen konnte, dass es ihr doch noch gelang, die Oberhand wiederzugewinnen. Nein, das würde er nicht zulassen, nicht jetzt, wo er so weit gekommen war. Schluss mit den Spielchen, auch mit diesem! Sie hatte lange genug im Weg gestanden.
Sebastian versetzte ihr einen letzten geistigen Schlag und schaltete damit gleichzeitig ihr Bewusstsein aus und riss ein Loch in die Wand. Ihr Abbild verschwand und er war allein im weißen Raum.
Rein theoretisch hätte das auch wieder ein Trick sein können. Aber nach diesem Schlag war sie mit Sicherheit ohnmächtig.
Er kletterte durch das Loch und stand in einem dunklen Gang mit unzähligen unterschiedlichen Türen.

11.07.2017 15: 53

Ophelia Ziegenberger

Irgendetwas war anders. Und es war nicht gut anders!
Ophelia konzentrierte sich auf das unbestimmbare Empfinden und versuchte, mit Hilfe ihrer Sinne, direkt im Anschluss an ihr Erwachen, das Umfeld zu erforschen. Ohne die Augen zu öffnen. Dieses Verhalten war ihr während des Aufenthalts im Käfig in Fleisch und Blut übergegangen, einfach aus dem Umstand heraus, dass es dort selten etwas geändert hatte, die Augen zu öffnen. Genauer gesagt, war es manchmal sogar das Ungünstigste gewesen, was sie hatte machen können. Das wenige Licht, das Sebastian ihr dort ab und an überlassen hatte, war eher Ursache von Verwirrung gewesen, wenn er es darauf anlegte. Die Augen waren so viel leichter zu täuschen, als alles andere! Auf ihren Raumsinn beispielsweise, konnte sie sich seither sogar noch in schwärzester Finsternis verlassen. Auch wenn Sebastian ihr das Feuer vorenthalten hatte... wenn sich ihr die Stille ins Gehör bohrte und sich ihr das Nackenhaar langsam aufrichtete, dann war er fast immer auch in der Nähe gewesen.
Was genau war es also gewesen, das sie aus dem leichten Schlummer aufgeschreckt hatte? Ein Geräusch?
Es war schon vorgekommen, dass Mäuse es bis zu ihr in den Raum geschafft hatten. Allerdings mochten weder Igor, noch Igorina das. Die Tiere waren umgehend entfernt und deren Schlupflöcher gestopft worden.
Sie lag auf der Seite, atmete so flach wie möglich und lauschte angestrengt in den Raum, in dem sie untergebracht war.
Nein, außer dem Knistern des Kaminfeuers war da nichts.
Ophelia wartete noch etwas, doch es wollte sich über die spärlichen Informationen, die ihre Sinne ihr lieferten, keine hilfreiche Erkenntnis einstellen. Also schlug sie letztlich doch die Augen auf. Und erstarrte regelrecht.
Langsam richtete sie sich im Bett auf.
Ein unterschwelliges Grauen stieg in ihr auf und kratzte an ihrer Seele.
Sie dachte an die unzähligen Schlösser der Tür zu ihrer Unterbringung. Dieses ständig wiederkehrende Ritual des Aufschließens, mit dem kaum enden wollenden Klappern und Rasseln der Schlösser und Vorlegeketten. Und daran, wie sehr diese Geräuschkulisse ihr stets zusetzte. Das grausame Wissen darum, dass er ihr mit jedem fallenden Riegel näher kam.
Doch sie hatte sich zu sehr daran gewöhnt. Daran, zu wissen, dass sie vorgewarnt wurde, wenn jemand den Raum betrat. Was nicht mehr der Fall zu sein schien.
Nicht mehr der Fall sein konnte!
Ophelia stützte sich schwer auf ihre zittrigen Arme auf und versuchte, ihren Atem zu beruhigen.
Sebastian! Jemand anderer kam für diesen morbiden... "Scherz" nicht infrage. Irgend etwas war außerhalb ihres Raumes geschehen, was ihn verärgert hatte, da war sie sich sofort absolut sicher. So lange hatte er sie links liegen gelassen. Und plötzlich war es anscheinend wieder interessant genug, sie zu bedrängen. Jemand hatte ihn verärgert und er hatte in ihr, wie vor so langer Zeit bereits einmal zur Neige ausgekostet, wieder das willkommene Ventil für seine Launen entdeckt.
Ein Gedanke rann wie Eiswasser durch ihre Adern: Nur in ihr? Denn noch schien sie selber unter Raculs Schutz zu stehen... aber wie mochte es da mit ihrer Freundin aussehen? Hatte er Magane ebenfalls heimgesucht? Und falls ja... dann ebenfalls... so?
Ausgehend von ihrem Bett waren rings umher, Reihe um Reihe, im gesamten Raum Messer ausgelegt worden. Kleine, große, rostige, scharfe, edle, billige, schimmernde und glänzende, ebenso wie matte und stumpfe. Schlachtermesser, Dolche, Taschenmesser, Buttermesser, Schälmesser... Fein säuberlich nebeneinander lagen sie, ein drappierter Ring nach dem anderen. Es wäre ihr unmöglich, die Liegestatt zu verlassen und sich dabei nicht zu verletzen. Wenn sie denn hätte aufstehen wollen. Doch was dem Anblick die gruselige Krone aufsetzte, das war das Gesamtbild. Jede einzelne dieser Klingen war mit dem Griff von ihr fort ausgerichtet worden. Sie alle, ausnahmslos, zielten mit den Klingen auf sie. Auf ihr Herz!
Die Gefangene konnte nicht verhindern, dass der Anblick seine beabsichtigte Wirkung auf sie entfaltete. Es fiel ihr schwer, zu schlucken, zu atmen. Und sie spürte ihren Puls rasen.
Wie albern! Es ist nur ein Bild! Ein Bild! Es tut dir nichts! Atme tief durch, lass dir nichts anmerken! Du kannst das einfach ignorieren. Tue ihm nicht den Gefallen, jetzt kleinbei zu geben, wo du schon so lange durchgehalten hast. Keine Gefühle! Atme!
Sie holte möglichst langsam Luft durch den leicht geöffneten Mund und griff auf die bewährten Übungen zurück, die ihr auch in den vergangenen Monaten geholfen hatten. Zählen. Langsamer aus- als einatmen. Pausen zwischen den Luftströmungswechseln einlegen und bewusst die gefühlte Atemlosigkeit ertragen. Den Puls spüren – und ihn runterregulieren. Die Welt verlangsamen...
Wie lange hat er dafür gebraucht? Die ganze Zeit... ich habe nichts bemerkt! Wie kann ich das nicht bemerkt haben? Was wenn...
Sie stoppte sich.
Nein! Nicht die Genugtuung gewähren! Verschließe dich ihm wieder. Nichts nach außen lassen. Gelassenheit. Ruhe. Frieden...
Sie blickte über dieses glimmende und schimmernde Meer zu ihren Füßen. Wenn sie die Augen leicht schloss und den inneren Frieden Einkehr halten ließ...
Ihr Blickfeld verengte sich und ihr Fokus verschwamm. Aus den Klingen wurde eine leicht reflektierende Fläche, das Kaminfeuer schickte Wellen aus Licht und Schatten über den dieserart stark strukturierten Boden.
Ein Meer... ich kann das Bild wandeln... für mich nutzbar machen... Konzentration!
Eine weitere Atemlücke, ein Innehalten. Die Welt verlangsamte sich nochmals. Und die durch ihre Wimpern nur zu erahnende Fläche vor dem Bett schimmerte flammenerhellt in sachten Wellenbewegungen.
Er kann die Klingen nicht gegen mich erheben... vielleicht lediglich 'noch' nicht. Aber... im Moment sind sie für ihn zu nichts anderem zu gebrauchen, als dazu, mich symbolisch anzugreifen... das ist... gut. Ich brauche mich nicht darauf einzulassen. Ich kann das Bild ummünzen. Dahingegen steht mir sehr wohl jede einzelne Klinge zur Verfügung. Mich hindert immerhin kein Gedankenbefehl daran, sie auch zu nutzen, um ihn anzugreifen! Ich werde das nicht versuchen... das wäre dummer Leichtsinn... er wartet garantiert nur darauf... das würde ihm neue Möglichkeiten eröffnen... und sei es nur die, mich in die eigene Klinge stolpern zu lassen. Oder Ähnliches. Nein, ich werde mich weder auf seine mentalen Spielchen einlassen, noch auch nur einen einzigen Dolch anrühren. Ich wäre weder schnell, noch stark genug dafür... und das weiß er genau...
Sie sank auf ihr Kissen zurück und ließ das verschwommene Schimmern des Messerklingen-Meeres auf sich wirken.
Sie alle... auch wenn er sie in den Händen gehalten und ausgelegt hat... sie sind nicht für ihn bestimmt, ihm nicht von Nutzen. Für mich schon. Jede einzelne Messerschneide dort... für mich... sie sind auf meiner Seite... ein ganzer Raum geschärfter Vorsätze... gegen ihn... und für mich! In einem winzig kleinen Winkel ihres Bewusstseins tauchte der gefährlich hoffnungsvolle Gedanke auf: Er gibt mir schon Waffen an die Hand! Dabei müsste er längst verstanden haben, dass er mit solch einer Inszenierung über den ersten Schreckmoment hinweg nicht viel bei mir erreichen kann... und... dass ich diese unzähligen Verlockungen niemals gegen mich selbst anwenden werde. Er wird überheblich, leichtsinnig. Vielleicht... vielleicht ist das alles wirklich bald vorbei?
Ophelia lachte leise, verunsichert, als sich Resignation und Unglauben in ihr miteinander vermengten.
Kann es wirklich sein, dass ich mir wieder Hoffnung zugestehe? Nach dermaßen langer Zeit? Wo ich mir doch so sicher gewesen bin, dass weniger Angriffsfläche die Voraussetzung sein muss, um seine Nähe auf Dauer überstehen zu können... Oh, Maggie! Was hast du getan?!
Sie blickte über die große Fläche der ausgelegten Klingen, sah den Widerschein des Feuers auf ihnen spielen.
Könnten die... Anderen... könnten sie dieses lange Warten auf Erlösung... könnten sie es... tatsächlich... beenden?

12.07.2017 8: 23

Magane

Manchmal, wenn man sich ein Gehirn und die daran entstandenen Verletzungen ansah, fragte man sich, ob einen sowas schnell genug umbrachte, um die damit verbundenen Schmerzen nicht zu spüren. Und manchmal, wenn die Kopfschmerzen schlimm genug waren, fragte man sich, ob der pure Schmerz sichtbare Spuren am Hirn hinterlassen konnte. Sollte das der Fall sein, musste ihr Gehirn aussehen wie rohes Blutwurstbrät... aber sie zweifelte an den sichtbaren Spuren. Vor allem, weil es ja auch keine Würgemale an ihrem Hals gab. Der tat ebenfalls höllisch weh. Sie hatte noch nicht ausprobiert, ob sie sprechen konnte und wenn irgend möglich würde sie das auch noch aufschieben. Das Schwierigste, was sie bisher an diesem Morgen gemeistert hatte, war aufzustehen und Teewasser aufzusetzen gewesen. Hoffentlich ließ sich der Schmerz mit ihrem Schmerztee dämpfen. War er überhaupt real? Vielleicht war er auch nur eingepflanzt, platziert. Schließlich war sie nicht körperlich gewürgt worden... soweit sie wusste. Natürlich konnte sie nicht wissen was gesehen war, nachdem sie ohnmächtig geworden war.
Ohnmacht... war das überhaupt die richtige Bezeichnung? Vielleicht war abgeschaltet worden war treffender?
Magane goss sich den Tee auf und versuchte, nicht weiter über das, was er getan hatte, nachzudenken.
Wenn sie Glück hatte, hatten ihn die Türen aufgehalten. Aber das würde sie später herausfinden, wenn denken nicht mehr weh tat.
Sie trank die Tasse, trotz der hohen Temperatur, zügig leer und setzte sich dann wieder aufs Bett.
Anscheinend war dem Tee die Quelle des Schmerzes egal. Er ließ ihn zwar nicht verschwinden aber reduzierte ihn auf ein erträgliches Maß.
Zeit, die Schäden zu inspizieren! Hoffentlich ließ Sebastian sich noch Zeit mit seiner täglichen Heimsuchung.
Die Hexe schloss die Augen und konzentrierte sich auf den weißen Raum. Wieder nicht so weiß wie er sein sollte, sogar eher noch eine Spur dunkler als gestern, regengrau mit wabernden Schatten. Auf den ersten Blick war alles wie immer, bis auf die Farbveränderung, die Magane unterschwellig beunruhigte. Als sie sich herum drehte wurde ihr allerdings bewusst, dass es hier nie wieder sein würde, wie es immer gewesen war.
Dieser Raum war als makellose Projektionsfläche geschaffen worden. Es hatte hier nie einen dauerhaften Durchgang in andere Bewusstseinsebenen gegeben. Bis jetzt.
Dank Sebastians brutalem Vorgehen gab es jetzt einen Durchbruch, grob in die Wand geschlagen. Wie eine klaffende Wunde starrte er ihr entgegen und es wirkte, als sickere Dunkelheit, wie Blut, aus ihm heraus.
Sie ging hindurch. Auch wenn sie es nicht wollte, müsste sie doch herausfinden, zu welchen Erinnerungen er sich Zugang verschafft hatte und welche nach wie vor fest verschlossen geblieben waren. Auch wenn sie, im Gegensatz zu ihm, wusste, welche Erinnerungen sich hinter den einzelnen Türen verbargen, würde das wohl den größten Teil des Tages in Anspruch nehmen. Vielleicht sollte sie sich zunächst auf die Dinge konzentrieren, die unter allen Umständen vor ihm geheim bleiben mussten.

13.07.2017 16: 29

Mina von Nachtschatten

Es war erstaunlich einfach gewesen, den Rettungszirkel trotz aller Kurzfristigkeit an einen Tisch zu bekommen. Oder besser in einen Raum. Was einmal mehr zeigte, wie sie eigentlich alle in den Startlöchern standen, gespannt auf Habacht, bereit loszulegen, nur noch darauf wartend, dass sich die allerletzten Teile fügten. Nun, eines der größeren Teile würden sie heute liefern können. Lediglich Esther hatte ein wenig gemeckert, sie ließe sich nicht "wie ein Schosshündchen nach Belieben von A nach B pfeifen". Aber da die Angelegenheit ihren Freund betraf, welchen sie zudem in direktem Zusammenhang damit längere Zeit hatte entbehren müssen, tat Rach dies ruhigen Gewissens als eine der schon gewohnheitsmäßigen, nicht ernst zu nehmenden Kritteleien seiner Schwester ab. Was sich als die richtige Einschätzung erweisen sollte. Es war noch keine vier Stunden her, seit sein Freund und Mitbewohner nebst der ersehnten Lieferung in Ankh-Morpork eingetroffen war - und schon hatte man sich vollzählig in seinem geräumigem Büro im dritten Stock des Wachhauses eingefunden und der Inspektor selbst sah sich erwartungsvollen bis fragenden Mienen gegenüber. Dieser erste Teil der Besprechung lag in seinen und Jules Händen, das war keine Frage, die sich stellte. Und es war irgendwie angenehm, dass zumindest diese organisatorischen Belange mittlerweile nichts als stillschweigendes Einvernehmen bedurften. Große Diskussionen hatten sie schließlich zu Genüge an andere Stelle. Er warf seinem Freund einen schnellen Seitenblick zu, den Jules mit einem Grinsen erwiderte. Zufrieden klopfte der Quirmianer auf das kleine hölzerne Kästchen auf seinem Schoss. Trotz seiner zweiwöchigen Abwesenheit und der Strapazen, die die Reise auf einen anderen Kontinent mit sich gebracht haben musste, machte Jules einen durchweg entspannten Eindruck. Vielmehr, als sei er im Urlaub gewesen, anstatt auf einer wichtigen Mission in einem eng gesetzten zeitlichen Rahmen. Rach beneidete ihn beinahe um diese Gelassenheit, welche ihm selbst verwehrt war. Es war einfach zu persönlich... Auch, wenn er sich an die Nervosität als steten Begleiter beinahe schon gewöhnt hatte - die Tatsache, dass die selbstauferlegte Frist nunmehr vorbei war, machte es eigentlich eher schlimmer, als besser. Mit dem Ziel derart zum Greifen nah würde er sich nun bestimmt auch vollständig von jedem Nachtschlaf verabschieden können... Ungünstig natürlich, ganz besonders zu diesem speziellen Zeitpunkt. Nun ja, im Zweifelsfall gab es schließlich Mittel dagegen. Er würde es keinesfalls riskieren, unausgeschlafen in den finalen Einsatz zu gehen.
Rach schob derart überflüssige Gedanken beiseite. Sich mit Dingen zu beschäftigen, welche sich ohnehin nicht ändern ließen, war Zeitverschwendung. Er hatte weitaus Wichtigeres zu tun.
Der Inspektor räusperte sich und trat eine Schritt nach vorn. Die leisen Gespräche im Raum verstummten.
"Danke für euer kurzfristiges Kommen", eröffnete er die Besprechung. "Und danke für euer Vertrauen in uns. Für die Akzeptanz der Wartezeit, welche uns allen bestimmt um einiges länger vorgekommen ist, als es der Fall war. Mir ganz besonders", fügte er beinahe unhörbar dazu. Doch an Minas mitfühlender Miene und Wilhelms leichtem Nicken war ablesbar, dass die Worte zumindest von den vampirischen Ohren im Raum aufgenommen worden waren.
Rach räusperte sich erneut und fuhr dann in normaler Lautstärke fort.
"Aber so konnten wir diese Möglichkeit wahrnehmen und alles in die Wege leiten. Mit Erfolg." Er nickte seinem Mitbewohner zu. "Heute Vormittag ist Jules aus Klatsch zurückgekehrt. Er hat die benötigten Zutaten dabei."
Es war, als hätten diese Worte eine Art Ventil geöffnet, durch welches ein guter Teil der Anspannung im Raum entweichen konnte. Anerkennendes Gemurmel erklang und hier und da lehnte sich einer der Kollegen mit einem erleichterten Aufatmen zurück.
"Na, dann hat sich das Ganze ja gelohnt!", warf Nyria zufrieden ein.
"Wie lange werdet ihr brauchen, um daf Gift herfuftellen?", erkundigte sich Rogi.
"Och, das geht vergleichsweise schnell", antwortete Jules. Er stand auf, öffnete dabei das Kästchen und hielt es so, dass jeder der Anwesenden einen Blick hinein werfen konnte. Gut gegen äußere Einflüsse abgepolstert präsentierten sich einige Phiolen und kleine Schachteln dem Betrachter wie wertvolle Kleinodien in einer Vitrine. Dass diese wenigen Objekte ein kleines Vermögen gekostet hatten, war so schon etwas besser vorstellbar.
"Mithilfe dieser Schätzchen wird es uns möglich sein, ein garstiges kleines Mittel anzurühren, mit dem man einen Vampir ordentlich ärgern kann", meinte er vergnügt. "Aber ihr macht euch keine Vorstellung davon, wie schwierig es sein kann, einen Mann davon zu überzeugen, sich von einem Fläschchen Sekret der Roten Wüstenschnecke zu trennen. Wollte mir doch tatsächlich das der Gelben andrehen. Gut, dass ich ich bin." Er grinste. "Aber ich nehme an, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für abenteuerliche Geschichten darüber, wie ich mein Leben bei halsbrecherischen Verfolgungsjagden auf Kamelen auf's Spiel gesetzt habe?"
In Nyrias Augen flammte das Interesse auf, doch ein leichter Rippenstoß Raistans hielt sie davon ab, genauer nachzuhaken. Im Hintergrund stöhnte Esther derweil entnervt auf.
"Nicht zu vergessen den Besuch bei sämtlichen Großtanten und Anverwandten, welche entlang der Reiseroute aufzutreiben waren! Ich denke, wir haben es eilig." Offensichtlich war ihr ein großer Teil der Erzählungen schon sattsam bekannt.
"Gut, dann ein andermal. Wenn alles vorbei ist." Jules klappte den Deckel wieder zu. "Außerdem, vielleicht möchten dann noch die zwei Personen zuhören, welche sich alsbald wieder in unserer Mitte befinden werden." Er klopfte Rach ermutigend auf die Schulter und setzte sich wieder.
"Wenn es dazu keine Fragen mehr gibt...", der Inspektor sah in die Runde, doch niemand meldete sich zu Wort. Gut, also auch keine Widerworte. Das machte es leichter. Er wusste nur zu genau, inwiefern sich die Geister zum Einsatz der Substanz schieden und auch wenn er nach wie vor gewillt war, das damit verbundene Risiko einzugehen - ein Rest an Sorge blieb. Denn sie hatten keine Möglichkeit, das fertige Gift vorab zu testen, mussten sich einzig und allein auf Können und Erfahrung mit ähnlichen Stoffen verlassen. Diese Bedenken konnten durch erneutes Aufrollen der Thematik nicht noch mehr Nahrung gebrauchen.
"Nun, dann gebt uns noch etwa 24 Stunden", schloss er. "Dann sind wir bereit. Zumindest, was die Vorbereitungen betrifft."

24 Stunden. Das war doch mal ein Wort. Nyria spürte, wie sie ein leichtes Prickeln überlief, gespeist aus Erwartung und, ja, vielleicht so etwas wie Vorfreude, dass es nun so bald losgehen konnte. Das hatte ja nichts mit dem Ernst ihrer Mission zu tun. Und der Nervenkitzel sorgte zudem dafür, dass sie wacher und aufmerksamer an die vor ihnen liegenden Dinge heranging, sich ihrer Rolle dabei nur allzu bewusst. Genauso wie der Tatsache, dass es wohl trotz allem nicht ganz bei diesem einen Tag bleiben würde: Neben ihr wurde Raistan zunehmend nervös. Der Zauberer hatte ja auch noch eine Kleinigkeit in der Hinterhand und Nyria wusste, wie wenig er es schätze, derartige Dinge plötzlich über's Knie brechen zu müssen. Selbst wenn es sich bei der Sache mit der Kristallkugel um eine eher harmlose Form der Magieanwendung handelte. Aber da sie nun gerade bei konkreten zeitlichen Planungen angelangt zu sein schienen war es wohl ein passender Zeitpunkt, die eigenen Ergebnisse einzubringen.
"Apropos Erfolg", zog sie die Aufmerksamkeit auf sich. "Der Brief ist sozusagen ausgeliefert worden und hat seinen Zweck somit vorbildlich erfüllt." Sie verschwieg wohlweislich die Tatsache, Gertie in den Inhalt eingeweiht zu haben - weder war es relevant, noch sicher, wie der Rest der Truppe darauf reagieren würde. "Dieses Institut ist vielleicht sauber, beinahe umheimlich. Naja, unser Mob wird da schon Abhilfe schaffen." Auch wenn sie das Dienstmädchen nicht beneidete, welches danach den Putzdienst würde übernehmen müssen. "Jedenfalls, ich konnte mir Zutritt zu besagtem Salon verschaffen. Habe dort etwas herumgeschnüffelt. Und..." Sie machte eine dramatische Pause.
"Ja, und?", ließ sich Rach zu einer ungeduldigen Reaktion verleiten. Er war schon wieder dabei, an seinen Ärmelaufschlägen herumzunesteln. Wenn er so weiter machte, dann hatte er bestimmt bald keine Garderobe mehr, die seinen tadellosen Ansprüchen genügte.
"Uuund..." Sie warf einen triumphierenden Blick in die Runde. "Ich hab den Kerl in die Nase bekommen! Der Zugang befindet sich hinter einem Wandpaneel, ziemlich gut gesichert. Das Schloss ist Zwergenhandwerk, nicht ohne Weiteres zu knacken. Aber damit würde ich mich auch nicht aufhalten."
"Du hast schon eine Idee, stimmt's?", meinte Kanndra.
"Jepp. Da der Transport des traditionellen Mob-Rammbocks vielleicht etwas zu viel Aufsehen erregen könnte und wir die Küchentür ja wahrscheinlich auch in einem Stück lassen wollen: Im Wachearsenal befindet sich eine... ", sie grinste Jules breit an, "garstige kleine Apparatur, welche das Problem mit einem lauten Knall aus der Welt schaffen wird."
"Tja, das Gebäude in die Luft zu jagen ist natürlich auch eine Lösung", schaltete sich Esther mit schneidender Stimme ein. "Warum sind wir noch nicht früher auf diese Lösung gekommen? Etwas radikal vielleicht, aber wohl effektiv."
"Ziege", dachte Nyria. Laut sagte sie:
"Natürlich beschränkt sich die Sprengung auf die Tür. Ich dachte, wenn schon Mob, dann richtig. Auf Heimlichkeit wollten wir ja ohnehin verzichten. So fallen vielleicht ein paar Damen der Fächelschule aus ihren Betten - aber wir haben den ganz großen Auftritt."
"Und du bist dir sicher, dass das... sicher ist?", wollte Wilhelm gedehnt wissen. Ihn schien die Aussicht auf den Einsatz von unbekannten Explosivstoffen nicht unbedingt fröhlich zu stimmen.
"Da das entsprechende Gerät vom Kollegen Goldwart entwickelt wurde... doch einigermaßen."
Wilhelm legte den Kopf schief, doch da um ihn herum einhellig genickt wurde, sparte er sich weitere Einwände.
"Ef läfft zumindeft keine Zweifel daran, daff wir ef ernft meinen." Oberfeldwebel Feinstich schien die Idee zu gefallen. "Daf wiegt die jeweilige geringe Gröfe der Mobgruppen gut auf."
Nyria lehnte sich mit stolzer Miene zurück. Sie hatte ihren Teil mehr als erfüllt. Mit sorgsamer Vorarbeit und in tadelloser Ausführung. Gute, altmodische Wächterarbeit, ganz ohne irgendwelche magischen oder geistigen Kinkerlitzchen. Sie war der Ansicht, zu recht stolz auf ihre Leistung sein zu können.
"Dann haben wir einen zweiten Zugang", nahm Mina von Nachtschatten den Faden auf. "Sehr gut. Brauchst du noch irgendetwas dafür?"
"Nö, das Ding ist soweit einsatzbereit und der Kommandeur hat mir den Einsatz auch schon genehmigt. Ich muss es nur noch einpacken."
Die Vampirin nickte.
"In Ordnung. Damit haben wir auch diesen Teil abgedeckt. Es stellt sich nun die Frage, welche Art der Vorbereitungen noch von Nöten sind. Oder noch im Werden begriffen."
Wie erwartet hob Raistan die Hand.
"Mein Angebot des Versuches, einen direkten Blick auf Ophelia und deren direkte Unterbringung erhaschen zu können, steht nach wie vor", merkte er an.
"Ich werde heute im Laufe des Tages noch einmal unseren Angriffsplan taktisch durchgehen und die Eckpunkte prüfen", meldete sich Kanndra ebenfalls zu Wort. "Ich möchte am Ende nichts übersehen haben."
Nyria kam ein Gedanke.
"Ich könnte kurz vorher noch einmal einen Kontrollgang unternehmen. Das Gebiet auf unvorhergesehene Hindernisse oder Veränderungen sondieren. Aber das ist ja zeitlich unabhängig."
"Ich habe mir fudem erlaubt, der Obergefreiten Rattenfaenger fufätflich zu ihren fonftigen Erledigungen den Auftrag fu erteilen, fo viel Knoblauch wie fie bekommen kann fu beschaffen. Ein Vampir, deffen Gegenüber eine ordentliche Portion Knoblauchbrühe intuf hat, dürfte weniger geneigt fein, fufubeifen."
Das Entsetzen, welches sich im Anschluss an diese Worte auf einigen Gesichtern abzuzeichnen begann, spiegelte so ziemlich genau wieder, wie sich Nyria nach dieser Ankündigung fühlte. Schon allein die Vorstellung, dem Gestank um sich herum mit einer Werwolfnase ausgesetzt zu sein... Die Gefreite schauderte.
"Du... du hast allen Ernstes vor, uns mit Knoblauchbrühe abzufüllen?" Esther sprach das Wort aus, als habe sie Unrat oder gesagt.
"Nicht einfach nur mit Knoblauchbrühe." Rogi hob bedeutungsvoll den Zeigefinger. "Mit Piepenstengelscher Knoblauchbrühe."
Kollektives Aufstöhnen.
"Na klasse."
"Das macht es auch gleich viiiel besser."
"Dann kann ich meinen Geruchssinn für die nächsten Wochen vergessen."
"Ist das noch diskutabel?"
Rogi sah verständnislos in die Runde. "Waf denn? Ef handelt fich dabei um eine klaffische Vorfichtfmaßnahme. Und felbftredend ift ef nicht verpflichtend für diejenigen, welche fpeziefbedingt damit ein Problem haben."
"Also Mä'äm, verzeih, wenn ich schon wieder den Skeptiker der Runde geben muss", begann Wilhelm in bedächtigem Tonfall. "Aber selbst, wenn ein Teil von uns das Zeug nicht schluckt bedeutet das nicht, dass es keine Auswirkungen auf diese Personen hat."
"Es könnte uns schon in gewisser Weise einschränken.", nickte Mina, "Zumal es auch keine Option ist, die ganze Zeit die Luft anzuhalten. Ich hätte da unten gern meine Sinne beisammen."
"Ich auch!" Nyria verschränkte die Arme vor der Brust. "Das ist ein schrecklicher Plan, Mä'äm."
"Es ist eklig." Esther reckte das Kinn. "Ich werde das nicht trinken."
"Jetzt stell dich nicht so an, Schwesterherz, es ist doch nur Gemüse."
Sie warf Rach einen giftigen Blick zu.
"Ich werde dich daran erinnern, wenn du dann grün um die Nase bist, da du der Miefwolke nicht entgehen kannst!"
"Leute!" Kanndra hob besänftigend die Hände. "Es mag nicht optimal sein, ist aber gleichzeitig eine Chance. Und wir hatten uns doch geeinigt, nichts unversucht zu lassen, oder?"
"Aber... wiegt der Nutzen hier wirklich die damit verbundenen Scherereien auf?" Die Werwölfin rümpfte die Nase. "Der Chief-Korporal hat vollkommen Recht, wenn sie sagt, dass es gerade uns einschränkt. Und zwar in Fähigkeiten, die wir meines Erachtens gut gebrauchen können." "Und wozu habe ich dann eigentlich das ganze Schnüffeltraining durchgezogen, wenn es eh für nichts rauskommt?", fügte sie im Stillen hinzu.
Einen Moment blieb es still.
"Ich weiß nicht, vielleicht... wenn wir uns vorher eine Weile daran gewöhnen?", meinte die RUM-Vampirin schließlich, auch wenn sie sich nicht anhörte, als würde sie tatsächlich daran glauben. "Im Anschluss müssen wir ohnehin noch die Ausrüstung holen, die Senray bei mir eingelagert hat."
"Richtig, die Mob-Ausstattung." Rach wandte sich an die kleine DOG, welche sich bislang noch überhaupt nicht in die Besprechung eingebracht hatte. "Hast du alles bekommen?"
"Könnten wir vielleicht zunächst das Knoblauchproblem klären, bevor wir uns mit diesen... Spielsachen beschäftigen?" Esther tat es Nyria gleich und verschränkte die Arme. "Nur, damit ich mich seelisch und moralisch darauf einstellen kann, dass es wahrscheinlich noch schlimmer wird."
"Ich habe ehrlich gefagt nicht mit derartigem Widerftand gerechnet", bemerkte Rogi gereizt. "Aber Kanndras Einftellung halte ich für vernünftig."
"Wie wäre es mit einer Abstimmung in dieser Frage?" Raistan legte nachdenklich die Fingerspitzen aneinander. "Ich denke nicht, dass ein Kompromiss zwischen Anwenden und Nicht-Anwenden möglich ist. Also warum weiter diskutieren?"
"Der Mann hat Recht!" Jules klatschte in die Hände. "Lasst uns abstimmen. Also: Wer dafür ist, sich vor diesem halsbrecherischen Einsatz mit einem Spezialgebräu aus der Küche unserer Igorina zu wappnen, der hebe jetzt die Hand."
Vier Hände streckten sich in die Höhe.
"Und wer ist dagegen?"
Erneut vier Hände.
"Hmm... also der Plan war ja an und für sich gut." Jules kratzte sich am Kinn. "Aber was jetzt, Herr Zauberer?"
Raistan schien die anwachsende Aufmerksamkeit, welche ihm zuteil wurde, nun doch etwas unangenehm zu werden. Nervös strich er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
"Äh... dann vielleicht eine Entscheidung des gesamten Zirkels?", erwiderte er. "Ich meine: Wir werden euch zwar nicht begleiten, gehören aber schon zum Team. Irgendwie."
"Finde ich vernünftig." Mina nickte.
"Ja, anders werden wir wohl zu keiner Entscheidung kommen." Kanndra lehnte sich nach vorn. "Also, was denkt ihr?"
Raistan brauchte nicht lange, um sich festzulegen.
"Ich bin dafür. Zumindest für die menschlichen Beteiligten. Der Einsatz von Knoblauch ist meiner Meinung nach ein logischer Schritt in der Vorbereitung einer derartigen Mission."
Obwohl ihr bereits einen Augenblick später klar war, wie unfair diese Regung Raistan gegenüber war, fühlte sich Nyria in diesem Moment beinahe verraten.
"Klar, du musst das Zeug ja auch weder schlucken noch riechen", murrte sie.
"Ich denke an die Mission als Ganzes, das ist alles." Er zuckte unbehaglich mit den Schultern. "Das ist nichts... Persönliches."
Kanndra nickte. "Und du, Senray?"
"Ich, also... naja..." Die Angesprochene biss sich auf die Unterlippe und ihr Blick irrte durch den Raum, bis er bei Wilhelm verharrte. Dann senkte sie rasch den Kopf.
"Ich bin auch dagegen", murmelte sie hastig. "Weil... naja... wie Nyria gesagt hat. Ein Vorteil für die einen, also, der sollte... sollte nicht andere behindern. Nicht in der Art. Tut... tut mir Leid."
"Warum tut dir die Äußerung einer eigenen Meinung leid?" Esther schnaubte und Senrays Wangen färbten sich rot.
"Ich... also..."
Rach legte seiner Schwester die Hand auf die Schulter und schüttelte den Kopf, was sie mit einem Augenrollen quittierte. Aber zumindest enthielt sie sich so eines weiteren Kommentars.
Mina warf ihm einen dankbaren Blick zu.
"Gut", meinte sie dann und rieb nachdenklich die Handflächen aneinander. "Oder eben auch nicht gut, denn jetzt haben wir ein kleines Problem. Die Angelegenheit steht noch immer unentschieden."
"Wir könnten es auch auslosen", schlug Jules vor.
"Ja, oder einfach die Tür aufmachen und den erftbeften Kollegen, der vorbeikommt bitten, spontan einmal ja oder nein fu fagen", erwiderte Rogi spöttisch. "Ich denke, der Fufall ift hier fehl am Platfe."
"Wenigstens mache ich Vorschläge", konterte der Assassine ungerührt.
"Jepp, der Dämon liegt im Detail", dachte Nyria. Auch wenn sie froh war, dass das Thema noch offen blieb und somit die Chance bestand, doch frei von Geruchsbelästigung in den Einsatz gehen zu können: Wenn sie jetzt schon anfingen, sich über derartige Kleinigkeiten zu streiten - wie sollte das dann erst werden, wenn es ernst wurde und sie für derlei Dispute keine Zeit hatten? Aber ein Machtwort konnten sie schlecht erwarten, wenn sich die beiden inoffiziellen Leiter des Rettungszirkels ebenfalls uneins waren.
Den entsprechenden Wächterinnen schien gerade etwas Ähnliches durch den Kopf zu gehen und nach einem kurzen nonverbalen Austausch mit Blicken und Gesten ergriff schließlich die Vampirin erneut das Wort, bevor sich Rogi und Jules noch ernsthaft in die Haare geraten konnten.
"Dann bleibt uns eigentlich nur der offizielle Weg", sagte sie.
Rach runzelte die Stirn.
"Du willst es auf Breguyar abwälzen?"
"Hast du eine bessere Idee? Wenigstens ist er eingeweiht, kennt die Rahmenbedingungen und weiß, was auf dem Spiel steht."
Der Inspektor nickte langsam.
"So gesehen..."
"Meinetwegen." Oberfeldwebel Feinstich zuckte mit den Schultern. "Fenden wir ihm eine Rohrpoft oder geht jemand an der Bürotür klopfen?"
Damit war die Karte aus dem Kartenhaus gezogen und Nyrias Hoffnungen stürzten in sich zusammen. Sie wusste genau, wie ihr Vetter entscheiden würde. Und erneut schien dieser Gedanke zur gleichen Zeit auf wundersame Weise auch in den Köpfen einiger anderer Anwesender aufzutauchen. Denn nach einem kurzen Schweigen meinte Kanndra:
"Er wird dafür sein, oder?"
"Wahrscheinlich."
"Wird er."
"Schätze schon."
Der Impuls zu widersprechen war zwar stark, aber im Zweifelsfall unnütz und so beteiligte sich Nyria mit einem missmutigen "Hmmm..." am allgemeinen Meinungsbild. Zumal auch an den betreffenden Gesichtern abzulesen war, dass man sich nunmehr in sein Schicksal fügte. Ohne große Begeisterung, verstand sich.
"Na dann..." Wilhelm seufzte frustriert. "Nächster Punkt?"

Nächster Punkt. Senray wusste, dieser würde sie betreffen. Zumal das Thema vorhin schon einmal angeschnitten worden war. Sie mahnte sich selbst zur Ruhe. Kein Stottern diesmal. Sie hatte sich heute schließlich schon genug blamiert. Und wenn es schaffte, die Anwesenheit der Assassinin auszublenden, dann konnte dieses Vorhaben auch gelingen. Deren Bemerkung vorhin hatte ihr einen ärgeren Dämpfer verpasst, als sie das zunächst angenommen hatte. Aber... eine andere Entscheidung war ihr gar nicht möglich gewesen. Wilhelm zu Liebe. Oder... war sie einfach zu voreingenommen gewesen? Entsprach ihre Stimme gegen den Einsatz der Brühe wirklich der eigenen Überzeugung oder dem Wunsch, dass dem neuen, auf so seltsame Weise gewonnenen Vertrauten nicht noch eine zusätzliche Belastung auferlegt wurde, wo sie ihm doch schon so viele andere Probleme bereitete? Senray konnte es nicht sagen und glücklicherweise war diese Frage in eben jenem Moment irrelevant geworden, in dem die Entscheidung der Gruppe fiel. Sonst hätte sie sich gewiss nur wieder im Labyrinth ihrer eigenen Bedenken und Selbstzweifel verstrickt.
Wenigstens bestand bei dem, was nun folgen würde, keinerlei Grund zur Nervosität ihrerseits. Senray atmete einmal tief durch und merkte, wie ihre zuvor noch flatternden Nerven zur Ruhe kamen. Eigentlich war das hier nichts anderes als eine Nach-Einsatz-Besprechung vor den anderen DOGs, um jene auf den neuesten Stand hinsichtlich bestimmter Gildenbelange zu bringen. Sie wusste wie das ging, sie war schließlich nicht erst seit gestern in der Abteilung. Beim Thema bleiben, nur an die Aufgabe denken. Und in diesem Fall war ja sogar alles gut gegangen! Keine Probleme, keine schlechten Nachrichten. Da hatte sie wirklich schon ganz andere Sachen berichten müssen. Senray setzte sich etwas aufrechter. Jedoch... es war vielleicht trotz allem keine schlechte Idee, jene Besprechungsmitglieder mit Blicken zu meiden, welche die Tendenz hatten, sie nervlich aus dem Konzept zu bringen...
In diesem Moment hörte die Obergefreite ihren Namen. Jetzt war sie an der Reihe. Sie hob den Kopf - und starrte Chief-Korporal von Nachtschatten direkt ins Gesicht.
"Ich..." Na, das funktionierte ja ganz wunderbar. Die DOG senkte erneut den Blick, rief sich innerlich zur Ordnung, zählte im Geist bis zehn. Dann versicherte sie sich der beruhigenden Gegenwart des Vampirs neben ihr und begann von vorn.
"Ich konnte alle Objekte besorgen, welche auf meiner Liste standen. Damit es nicht auffällt, habe ich auch unterschiedliche Geschäfte aufgesucht und war stets in einer entsprechenden Rolle dort. Es sollte also eigentlich nicht möglich sein, die Einkäufe ohne Weiteres bis zu uns zurückzuverfolgen."
Uns. Ein Teil des Ganzen sein. Des wichtigen Ganzen... Der Gedanke gab ihr neuen Mut und sie schaffte es sogar, den Blick vom Deckenbalken gegenüber zu lösen.
"Anschließend habe ich die Sachen eingelagert." Sie entschied, die Details mit der Ziege auszulassen und sich auf's Wesentliche zu beschränken. "Bei Chief-Korporal von Nachtschatten, im Gartenschuppen. Das war unauffälliger, als mehrfach mit einer... für gewisse Leute vielleicht verdächtigen Lieferung das Wachhaus anzusteuern. Ich meine, die ganzen Mistgabeln, Fackeln, Pflöcke sind ja nicht gerade alltäglich."
Einvernehmliches Nicken um sie herum.
"Eine gute Idee", meine Raistan sogar. "Auch das mit den Pflöcken."
Senray spürte, wie ihre Wangen warm wurden.
"Also eigentlich...", sagte sie und warf einen unsicheren Blick in Richtung der RUM-Vampirin. Doch Mina von Nachtschatten schüttelte nur leicht den Kopf und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Es war egal, wessen Idee was nun genau gewesen war.
"Eigentlich habe ich sogar noch etwas mehr mitgebracht als nur die besprochene Ausrüstung", gab die Gefreite dem bereits begonnenen Satz eine neue Richtung. Sie holte einen der zwei kleinen Tiegel mit der Leuchtpaste aus der Tasche und reichte ihn an Wilhelm, der diesen in der Reihe weitergab.
"Ich habe zwei davon. Damit jede Gruppe es nutzen kann", sagte sie, bevor sie die gleiche Erläuterung gab, welche bereits der vampirische Kollege erhalten hatte.
"Es lässt sich auch nicht einfach so abwischen", schloss sie. "Also sollten die Markierungen, selbst wenn sie jemand entdeckt, an Ort und Stelle bleiben."
"Intereffantef Feug", sagte Oberfeldwebel Feinstich. Sie schnupperte vorsichtig am Tiegel. "Vielleicht wäre ef eine gute Idee, eine Probe hiervon unferen Laboranten fukommen fu laffen. Sie könnten die Fufammenfetfung ermitteln und ef für zukünftige Einfätze herstellen."
"Dann haben wir also unsere Ausrüstung beisammen", nickte Kanndra zufrieden. "Sehr gute Arbeit, Senray."
"Bleibt nun also noch die Sache mit der Kristallkugel", rief Nyria der Gruppe den Einwurf Raistans vom Beginn der Besprechung in Erinnerung. "Und ansonsten?"
Raistan... Der Brief... Gern hätte Senray ihn unter vier Augen einmal darauf angesprochen, aber vor der Zusammenkunft hatte sich einfach keine Gelegenheit ergeben. Vielleicht danach...
Bevor das Wort jetzt allerdings an den Zauberer gehen konnte hob erneut Mina von Nachtschatten die Hand.
"Einen weiteren Punkt würde ich gern noch ansprechen", meinte sie bedächtig. Auf ihren fragenden Blick hin ließ ihr der Zauberer mit einer Handbewegung den Vortritt. Der Blick der Vampirin richtete sich eindringlich auf einen nach dem anderen.
"Ich weiß, das ist ein Thema, über das hier keiner gern nachdenkt, aber ich finde, wir sollten uns darüber einig sein was geschieht, wenn die Sache schief läuft. Wie weit werden wir gehen - und gibt es einen Punkt zum Abbruch?" Sie gebot mit einer Geste den aufkommenden Meinungsäußerungen Einhalt. "Wir müssen das gar nicht unbedingt jetzt und hier entscheiden. Mir ist nur wichtig, dass sich das jeder einmal durch den Kopf gehen lässt, damit wir kurz vor Beginn noch einmal darauf zurückkommen könnten. Denn unsere beiden Gruppen werden keine Möglichkeit der Kommunikation untereinander haben. Ich möchte in dieser Hinsicht schlicht Unklarheiten und Unsicherheiten vermeiden."
Für einen Moment herrschte betretenes Schweigen. Dann stieß Wilhelm ein kleines freudloses Lachen aus.
"Was mich betrifft, ist die Sache einfach", sagte er. "Schon bedingt durch die speziellen Umstände - ich habe gar keine Wahl. Ein Erfolg ist unabdingbar für meine Person. Daher kalkuliere ich die realistische Möglichkeit des schlimmstmöglichen Falls mit ein. Ungern, zugegeben." Er zuckte mit den Schultern. "Aber ein Weg zurück steht mir nicht offen."
Senray hatte das Gefühl, als würde sich eine eiskalte Klaue um ihre Eingeweide krampfen und einmal kräftig zudrücken. "Und es ist alles meine Schuld!" Aber Wilhelms Feststellung war zutreffend. Er hatte keinen Alternativen. Egal, wie furchtbar sich das für die DOG anhörte und wie tief es sie traf.
"Allerspätestens, wenn wir Gewissheit haben, dass Ophelia und Magane nicht mehr am Leben sind", sagte Kanndra mit fester Stimme. "Dann ist es ja auch mit Racul vorbei und so macht es keinen Sinn, sich dort unten den Tod zu holen." Sie machte ein nachdenkliches Gesicht. "So wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wieder zueinander gefunden haben wäre es natürlich hilfreich, eine Gruppe könnte der anderen dies mitteilen..."
Rach war sehr, sehr blass um die Nase geworden.
"Ich werde unter keinen Umständen zulassen, dass irgendetwas...", fuhr er auf, kam aber nicht dazu, den Satz zu beenden.
"Ich werde ihn schon davon abhalten, etwas vollkommen Dämliches zu tun", fuhr ihm seine Schwester über den Mund.
Er bedachte sie mit einem wütenden Blick.
"Solange noch ein Funken Hoffnung existiert, werde ich nicht aufgeben!", stellte er klar.
"Waf mich betrifft, fo gibt ef auch kein Furück", sagte die Igorina. "Allerdingf werde ich im Fweifelffall die Wahl treffen, mit der die geringften Verlufte einhergehen. Gut möglich, daff wir nicht beide retten können. Nein, Rach, dief ift keine fehlende Motivation, sondern eine realiftische Möglichkeit, die wir in Betracht ziehen follten", kam sie einem Protest seitens des Inspektors zuvor.
"Ich habe auch nicht vor, ohne die beiden wieder zu verschwinden", nickte Mina. "Aber sollte eintreten, wovon Kanndra sprach, ist keinem geholfen, wenn wir die Möglichkeit eines Rückzuges einem sinnlos gewordenen Unterfangen opfern."
Nyria schwieg und starrte auf ihre Schuhspitzen.
"Dann also bis zum bitteren Ende", fasste Jules die Angelegenheit mit ruhiger Stimme zusammen. "Oder so gut wie. Aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass Pläne bisweilen die Eigenschaft besitzen, sich in der Sekunde ihrer Umsetzung komplett zu zerschlagen. Also sollten wir uns wohl darauf konzentrieren, das Beste aus allem zu machen."

Auch wenn es ihn nicht direkt betraf, so hätte sich Raistan, wäre er gefragt worden, wohl ganz ähnlich geäußert, wie die meisten der anwesenden Wächter. Wenn sich die Sache lohnte und nicht vollkommen hoffnungslos war - dann kam aufgeben nicht in Frage. Bis zum Schluss. Wie gut er das nachvollziehen konnte. Auch wenn ihm natürlich daran gelegen war, Nyria sicher und wenn möglich an einem Stück wieder zurück zu bekommen. Aber es war ein Wagnis, welches sie alle eingingen und es schadete nichts, sich dies einmal mehr ins Gedächtnis zu rufen, gerade jetzt. Und so deprimierend das Thema auch sein mochte - solche Dinge mussten angesprochen werden. Blinder Optimismus konnte sich sonst ziemlich fatal auswirken.
Da sich anscheinend niemand mehr zu dem Thema äußern wollte, hielt er den Augenblick nun für günstig, endlich auf sein eigenes Hilfsangebot zurückzukommen. Nicht, dass er sich aufdrängen wollte. Aber das Interesse an diesem Thema hatte sich ja schon in der vorangegangenen Besprechung gezeigt und daran würde sich wohl kaum etwas geändert haben. Besonders Rach war verständlicherweise begierig darauf gewesen, die Möglichkeit zu erhalten, einen Blick auf eine ganz bestimmte Person zu werfen. Hoffentlich würde es keine Enttäuschung werden. Zaubern konnte er ja nun... also, konnte er schon, aber nicht insofern, als dass er das gewünschte Bild garantieren konnte. Das sollte aber eigentlich allen Beteiligten klar sein.
"Dann lasst mich euch zum Abschluss noch einmal an die persönlichen Gegenstände erinnern, welche ich für meinen Versuch benötige", sprach er in die Stille. "Wer so etwas hat, der möge es mitbringen." Das war es eigentlich auch schon. Drei Anläufe für gerade einmal zwei Sätze.
"Wann kannst du das machen? Ich meine, wie lange benötigst du noch für die Vorbereitung?", wollte Rach wissen. Er hatte sich wieder gefangen und der Ärger in seinem Gesicht war der neuerlichen Hoffnung gewichen.
"Ich denke...", der Zauberer überschlug rasch im Kopf, was es alles zu beachten gab und rechnete einen zeitlichen Puffer für unvorhergesehene Entwicklungen dazu. "Morgen Abend. Das sollte funktionieren."
"Und das ist dann der letzte große Eckpunkt?" Wilhelm wiegte den Kopf von einer Seite auf die andere.
"Es wäre zumindest günstig, den Einblick kurz vor dem Einsatz zu haben. Dann haben die Dinge weniger Zeit, sich noch einmal zu ändern", bestätige Mina von Nachtschatten.
"Dann legen wir uns damit fest?" Kanndra sah in die Runde. "Der Einblick, der Kontrollgang, die Brühe. Möglichst eng aufeinanderfolgend." Sie machte eine kurze Pause und wäre die Angelegenheit nicht so ernst gewesen, dann hätte man von einer beinahe feierlichen Stimmung sprechen können. "Demnach: In zwei Tagen?"
Da war es also: Das konkrete Datum. Das, worauf sie alle in den letzten Wochen hingearbeitet hatten. Greifbar. Real. Unabwendbar. Und einstimmig angenommen.
"In zwei Tagen."

17.07.2017 22: 47

Senray Rattenfaenger

Senray saß auf dem Dach, ließ den Blick über die Straßen und Häuser vor sich gleiten und versuchte, nicht zu denken.
Etwas, was ihr entsetzlich misslang.
"In zwei Tagen."
Das hatten sie am vorigen Abend einstimmig gesagt.
Das Wetter schien Senrays Stimmung heute perfekt zu spiegeln. Es war grau und unbestimmt, nicht entschlossen, ob es regnen sollte oder nicht. Im Gegenteil kam immer mal wieder ein Hauch von Sonne durch die Wolken – nicht selten dicht gefolgt von einem eisigen Wind, der sie frösteln lies.
Und doch war die junge Frau bei der ersten Gelegenheit hier hoch geflohen.
Vielleicht war es der offene Himmel über ihr? Eine Illusion von Freiheit, die Erinnerung an sternenklare Nächte und einen längst vergessenen Ort der Sicherheit. Vielleicht war es auch nur die durch die Abwesenheit Anderer erzwungene Ruhe – wenn Senray für sich sein und in Ruhe nachdenken wollte, zog es sie immer auf die Dächer.
Und doch... wollte sie gerade jetzt eigentlich nicht denken.
Wie lange hatte sie, hatte der Rettungszirkel, jetzt auf den morgigen Tag hingearbeitet? Und doch machte es ihr Angst, dass es morgen soweit war.
Senray seufzte, schloss die Augen vor der Stadt und horchte in sich. Sie fürchtete sich davor, dass die anderen zu spät kamen. Oder dass es schief ging und dieser Racul, wenn er Ophelia doch aus Selbstschutz nichts tat, Maggie etwas tun würde, um seine Position klar zu machen. Sie fürchtete, was den anderen passieren konnte. Was Wilhelm passieren konnte.
"Ein Weg zurück steht mir nicht offen."
Das hatte er gesagt. Sollten sie scheitern, sollte Ophelia nicht rettbar sein... dann wäre Wilhelm ewig an sie selbst gebunden. Und ewig hieße maximal solange, wie sie eben lebte. Gar nicht zu reden von den willkürlichen Bestrafungen, die Refizlak Wilhelm vermutlich zu Teil werden ließe.
Die Wächterin merkte, wie sich erneut alles in ihr zusammen zog, sich schmerzhaft verkrampfte, als wolle ihr Körper ihr einen Vorgeschmack auf den aus dem Verlust resultierenden Schmerz geben.
Und doch zwang sie ihre Gedanken weiter.
Die anderen mussten es einfach schaffen, Ophelia und Maggie zu retten. Sie mussten!
Doch es gab keine Sicherheit.
Sie wussten nicht mal, ob die beiden wirklich noch am Leben waren.
Senrays Arme umkrallten ihren eigenen Körper, als müsse sie sich selbst zusammen halten und der kalte Wind tat sein Übriges. Sie zitterte, vor Kälte und vor Angst.
Wie viel hätte sie doch dafür gegeben, Gewissheit zu haben! Wie gerne wäre sie nochmal in den Radius gegangen, um zu wissen, dass wenigstens Ophelia noch da war. Doch das war ausgeschlossen, in mehrererlei Hinsicht viel zu gefährlich.
Tief durchatmen.
Heute Abend würde Raistan versuchen, ihnen ein Bild von den beiden Entführten zu liefern. Sollte dies gelingen, so gäbe es zumindest momentane Gewissheit. Das, wonach sich Senray so sehr sehnte.
Und vielleicht hatten sie Glück und die Umgebung der beiden verriet den anderen etwas mehr, sodass sie morgen schneller voran kamen? Allerdings schaffte es Senray nicht so recht, sich an dieser schwachen Hoffnung aufzubauen.
Es war leichter bei dem zu bleiben, wo sie sicher sein konnte.
Unten in ihrem Büro hatte sie eine Tasche gepackt – mit den Briefen, die Ophelia und sie ausgetauscht hatten, als die andere im Wachhausarrest war. Und mit der Teekanne und dem Tee von Maggie, die für ihr gemeinsames Feuertraining bei ihr im Büro gewesen waren. Es war nicht viel aber Raistan hatte gesagt, man solle Gegenstände mitbringen, die mit den beiden in Zusammenhang standen und vielleicht half es ja.
Und sollte alles scheitern... Sollten die anderen Ophelia nicht retten können oder aber sie eben doch retten, Refizlak aber sein Wort gegenüber Wilhelm nicht halten, weil dieser ihn nicht ebenfalls mit seinem Namen gebunden hatte...
Sie wusste, dass sie es nicht sofort tun könnte. Sie hatte zu viel Angst. Aber sollte der Dämon in ihr Wilhelm weiter quälen, würde sie zu Raistan gehen. Die junge Frau war sich, auch ohne den Zauberer vorher konsultiert zu haben, relativ sicher, dass wenn ihr Pakt gebrochen und damit Refizlak gebannt wurde, auch Wilhelms Pakt zu diesem gebrochen würde.
Im besten Fall war es nicht nötig. Im schlimmsten ebenfalls nicht, weil Wilhelm dann eben nicht zurück käme. Und alles was dazwischen war, alles, wo es nötig werden könnte...
Senray sah wieder auf, betrachtete den grauen Himmel.
Wie die Wolken. Verborgen, verschleiert, unklar.
Und doch – ein einzelner Flecken Licht. Ein ausgebrochener Strahl Hoffnung.
Traute sie sich zu hoffen? Konnte sie das wagen? Auf ein danach hoffen?
Nach den letzten Tagen, den teilweise intensiven Gesprächen mit Wilhelm, fiel es ihr immer schwerer sich vorzustellen, wie ein Übermorgen ohne den Freund aussehen sollte.
Den Freund.
Wann war das passiert? Wann war überhaupt alles in dieser Beziehung passiert?
Die junge Frau spürte ihr Herz leicht beschleunigen bei den aufkommenden Erinnerungen an Gespräche, gemeinsame Essen, an Lachen. Das von Wilhelm sanft arrangierte Treffen und die ‚Aussprache‘ mit Hannah, damit sie selbst aufhörte, sich auch noch deswegen zu sorgen. Ihre dadurch vollkommen durcheinander geratenen Gefühle. Vorher genauso unklar wie jetzt - und doch nie klarer als zuvor!
Senray lächelte leicht und ließ die Eindrücke der letzten Tage ihre Gedanken übernehmen. Das war besser, als ungeklärten Ängsten nachzuhängen. An der großen Gesamtsituation konnte sie jetzt im Augenblick nichts ändern!
Und auch wenn Hoffnung wahrscheinlich eines der gefährlichsten Gefühle war, die man sich erlauben konnte... Irgendwo über den Wolken war die Sonne und schien immer. Es gab sie. Warum also nicht auf sie hoffen?

18.07.2017 20: 49

Mina von Nachtschatten

Mit festen Schritten eilte Jargon auf die Gangbiegung zu. Einer der Vorteile eines Werwolfdaseins bestand darin, dass man mit ziemlicher Sicherheit sagen konnte, wer sich zeitgleich auf demselben Flur befand - oder besser, welcher Spezies derjenige angehörte. Dann war es je nachdem sehr einfach oder aber schwieriger, auf die genaue Person zu schließen. Sofern es sich um einen Wächterkollegen handelte, natürlich. Aber in diesem speziellen Fall traf ersteres in besonderer Weise zu, denn es roch nicht nur nach Vampir - es roch nach nervösem Vampir. Und als der Rechtsexperte vor wenigen Augenblicken die Treppe hinauf gekommen und ihm eben jener Geruch in die Nase gestiegen war, da hatte er sich entschlossen. Etwas in die Tat umzusetzen und nicht länger nur hypothetisch die Möglichkeit an sich in Betracht zu ziehen; etwas, was ihn schon eine ganze Weile beschäftigte. Selbstverständlich waren ihm bestimmte Vorgänge im Wachhaus nicht entgangen - ihm und dem ganzen Rest der Belegschaft. Es gab eine Menge Gerüchte und wilde Spekulationen. Doch auch wenn das zunächst ein Grund war, skeptisch jede vermeintliche Information abzuwägen, um potenziell Glaubhaftes von den Ausschmückungen einer blühenden Fantasie zu trennen - am Kern, am eigentlichen Kern der ganzen Angelegenheit musste wohl etwas dran sein. Was Jargon trotz allem nicht ganz verstand war die Geheimniskrämerei, die man darum veranstaltete. Denn angenommen, es wären tatsächlich Fortschritte in dieser speziellen Ermittlung erzielt worden - jeder sich bietender, konkreter Chance wäre man doch bestimmt mit einem Großaufgebot an Wächtern begegnet. Oder etwa nicht? Also einmal anders gefragt: Was konnte es sein, dass nicht an zu viele Ohren gelangen sollte? Und warum?
Schon damals, vor über einem Jahr, als Ophelia Ziegenberger aufgrund gewisser Vorkommnisse im Wachhaus unter Arrest gestanden hatte, war die Angelegenheit nicht ganz spurlos an ihm vorbeigegangen. Das ein oder andere Mal hatte er die Auswirkungen des "Ziegenbergerproblems" am eigenen Leib zu spüren bekommen und auch, wenn er nicht zum inneren Kreis des sogenannten "Rettungszirkels" gehörte - eine Bezeichnung, die Jargon stets als etwas abschätzig empfunden hatte, implizierte sie doch eher Treffen zum Zweck der Freizeitgestaltung als ernsthafte Arbeit - so hatte er stets Anteil genommen. Er hatte Ophelia mit ihrer freundlichen Art immer gemocht und das Schicksal der Kollegin als ungerecht hart empfunden. Seine Versuche, ihr beizustehen, mochten im Vergleich mit den anderen Anstrengungen, welche unternommen worden waren, klein erscheinen, das stimmte wohl. Aber er hatte sich nicht über Gebühr einmischen wollen. Und als sie dann verschwunden war...
Jargon schluckte. Egal, wie unwahrscheinlich es mit der Zeit geworden sein mochte, der Rechtsexperte hatte immer gehofft, dass Ophelia noch am Leben war und es ihr, den Umständen entsprechend, gut ging. Oft hatte er sich die Frage gestellt, ob er im Vorfeld noch etwas hätte tun können oder dann später, ob er dem Zirkel irgendwie nützlich sein konnte. Besonders ab dem Zeitpunkt, als offensichtlich neuer Schwung in die Ermittlung gekommen war. Diese Betriebsamkeit schien nun seit ein paar Tagen erneut eine neue Qualität angenommen zu haben und wenn er sich das nicht nur einbildete, dann war parallel dazu die Anspannung unter ein paar Kollegen merklich angestiegen. Etwas lag in der Luft. Und es gemahnte ihn eindringlich, dass er, wenn er jetzt nicht handelte, vielleicht gar keine Gelegenheit mehr dazu erhalten würde.
Jargon bog schwungvoll um die Ecke... und wäre um ein Haar mit Mina von Nachtschatten zusammengestoßen, welche in der Gegenrichtung unterwegs war.
"Oh, tut mir leid..."
"Entschuldige ich..."
"... war mit meinen Gedanken gerade ganz woanders."
"Macht ja nichts." Der Korporal räusperte sich. Jetzt oder nie. "Ich möchte helfen", erklärte er.
Einen Moment sah sie ihn verständnislos an.
"In Ordnung...?"
"Bei der, nun ja, großen Angelegenheit."
Jähes Begreifen malte sich auf das Gesicht der Vampirin.
"Oh. Ja, natürlich..." Sie nickte langsam. "Es ist nur... weißt du Jargon, das ist ein wenig kompliziert..."
"Dann habt ihr also eine Spur? Habt ihr sie gefunden? Wo ist sie?", platze es aus ihm heraus, noch bevor Mina ihren Satz ganz zu Ende gebracht hatte. Es waren die Fragen, die ihm schon seit einer gefühlten Ewigkeit auf der Zunge lagen, obgleich er sich nie ganz sicher gewesen war, ob er darauf auch wirklich eine Antwort haben wollte. Denn Unwissenheit brachte den Vorteil, dass man sich noch alle erdenklichen Lösungen ausmalen konnte.
Mina hob beide Hände, als wolle sie seinem Enthusiasmus auf diese Weise ein wenig Einhalt gebieten.
"Jargon, dein Angebot in allen Ehren, aber das kommt jetzt tatsächlich zu einem Zeitpunkt... lass mich sagen, es ist etwas kurzfristig."
"Nun... ich hätte vielleicht eher etwas sagen sollen." Er zuckte verlegen mit den Schultern. "Aber ich möchte trotzdem fragen, ob ich mich noch irgendwie einbringen kann. Denn... es ist mir nicht egal, nach wie vor nicht."
"Ja, ich weiß."
Mina betrachtete ihn eine Weile nachdenklich, so lange, dass Jargon schon überzeugt war, er würde eine glatte Abfuhr erhalten. Warum um alles auf der Scheibe hatte er nicht eher den Mund aufgemacht?
Doch dann nickte die Vampirin.
"Komm mal mit", sagte sie.
Auf dem Weg in den zweiten Stock begann der Chief-Korporal mit leiser Stimme zu erklären:
"Die Sache liegt so: Du hast ganz Recht, wenn du vermutest, dass wir an etwas in dieser Richtung arbeiten. Und im Grunde ist uns jedes Hilfsangebot willkommen. Allerdings sind wir mittlerweile an einem Punkt angelangt, an dem wir... lass es mich anders formulieren: Wir haben nicht die Zeit, dich mit der ganzen Angelegenheit hinreichend vertraut zu machen. Das wäre allerdings unumgänglich. Es gibt da einige, nun ja, sehr eigene Besonderheiten." Mina seufzte. "Wie auch immer, ich fürchte, direkt helfen kannst du uns im Moment eher weniger." Sie sperrte ihre Bürotür auf und hieß ihn einzutreten. "Aber vielleicht indirekt."
Während die Vampirin zu ihrem Schreibtisch hinüberging, ließ Jargon kurz den Blick schweifen. Minas Büro war tadellos aufgeräumt, wie fast immer, wenn er dienstlich hier vorbeischaute. Aber heute... irgendetwas irritierte ihn. Er kam nicht gleich drauf, was es war... Der Korporal schaut genauer hin und langsam dämmerte ihm, was sich hier falsch anfühlte: Es war ein wenig zu ordentlich. Alles befand sich an seinem Platz, es lagen keine aufgeschlagenen Fallakten herum, keine Dokumente, an denen gerade gearbeitet wurde. Sogar die Materialien im Eingangs- und Ausgangskorb waren säuberlich gestapelt, die Tischplatte dabei faktisch leer. Im Büro einer stellvertretenden Abteilungsleiterin fanden sich normalerweise mehr Hinweise auf aktuelle Wacheaktivitäten, aber so erschien der Raum auf eigentümliche Art... verlassen. Als sei die hier arbeitende Kollegin länger abwesend und habe alles vorbereitet, damit sich auch andere zurechtfanden...
Mina griff unterdessen nach einer Akte beachtlichen Umfangs. Dann wandte sich wieder an Jargon, sodass dieser keine Gelegenheit hatte, diese Gedanken weiter zu verfolgen.
"Diese Sache, an der wir dran sind", sagte sie, "es ist noch vollkommen ungewiss, wie sie ausgeht. In mehr als einer Hinsicht." Die Vampirin zögerte kurz. "Und für den Fall, dass etwas passiert... nun ja, wenn du helfen willst, dann solltest du damit vertraut sein."
Sie reichte ihm die Akte.
Jargon starrte die Kollegin einen Moment lang an. "Dass etwas passiert?", dachte er bestürzt. "Was zum Henker treiben die da?" Dann senkte er seinen Blick auf die Mappe in seinen Händen. Er las den Titel. Seine Fingerspitzen begannen zu kribbeln. Auf einmal war alles wieder da: Alle Erinnerungen, auch die, welche er versucht hatte, beiseite zu schieben. An die Sorge, an den inneren und den tatsächlichen Aufruhr...
Minas Stimme klang derweil wie durch Nebel an seine Ohren.
"Du wirst beim Lesen feststellen, dass einige Einzelheiten nicht ganz unproblematisch sind und der Grund, warum wir damit nicht unbedingt hausieren gehen. Im Grunde ist der ganze Fall eine einzige Skorpiongrube mit hohen persönlichen Risiken. Das muss jedem bewusst sein, der sich damit zu befassen gedenkt. Wenn du feststellst, dass dir der Preis zu hoch ist, dann wird dir das keiner übel nehmen. Sollte es dich nicht abhalten..." Sie fuhr sich in einer erschöpft wirkenden Geste mit der Hand über's Gesicht. "Du wirst den Moment gar nicht verpassen können, ab dem du dich hilfreich einbringen kannst. Das wird ziemlich eindeutig sein." Sie räusperte sich. "Nun, sobald du mit der Akte fertig bist und falls du sie dann nicht mehr benötigen solltest, gib sie doch bitte in die Obhut der Obergefreiten Senray Rattenfaenger von DOG. Persönlich."
Hatten die Worte der Vampirin ein paar Fragen beantwortet, so warfen sie zugleich einige neue auf, doch Jargon verkniff es sich, genauer nachzuhaken. Wenn sie sich nicht deutlicher ausdrückte, dann hatte sie gewiss einen Grund dafür. So beschränkte er sich auf ein Nicken und griff die Akte fester. Er war sich der Verantwortung bewusst. Oder viel mehr - des Vertrauensbeweises. Soweit er wusste, hatte sich das Material seit Ophelias Verschwinden in der Hand der RUMlerin befunden.
"Und selbst, wenn alles so funktionieren sollte, wie wir es geplant haben", Mina versuchte sich an einem optimistischen Lächeln. Es war nur fast überzeugend. "Gut möglich, dass deine Expertise im Nachhinein benötigt werden könnte. So oder so, es ist nicht das Schlechteste, wenn du die Einzelheiten kennst."
"Dann... wünsche ich euch viel Glück?", meinte Jargon.
"Das können wir in der Tat gut gebrauchen."
Der Rechtsexperte wandte sich zum Gehen. Auf einmal hatte er es eilig, in sein Büro zurückzukommen, um seine dienstlichen Aufgaben zu erledigen und heute rechtzeitig den Feierabend antreten zu können.
"Danke dafür", meinte er noch an der Tür und hob die dicke Mappe in seinen Händen leicht an. "Auch, wenn ich nachdem zu urteilen, was du gerade erzählt hast hoffe, dass meine Hilfe nicht wirklich von Nöten sein wird."
Sie lächelte erneut und diesmal sah es traurig aus.
"Es hilft bereits in gewisser Weise, die Akte und die darin enthaltenen Informationen in guten Händen zu wissen."
Mit einem Nicken verabschiedete sich Jargon und eilte kurz darauf wieder durch die Flures des Wachhauses. Das kurze Gespräch hatte ihm Einiges zum Nachdenken gegeben. Risiken... Ungewissheiten... eine einzige Skorpiongrube... Dem Korporal war schon klar gewesen, dass es sich keinesfalls um eine normale Ermittlung handeln konnte. Aber wie ernst es wirklich war... nein, jetzt keine Mutmaßungen mehr. Das ganze Ausmaß würde er erahnen können, sobald er die genauen Details kannte. Fest stand für ihn bislang nur eines: Er würde sich so gut es ging vorbereiten - um dem, was auch immer auf ihn zukommen mochte, gewappnet begegnen zu können.

20.07.2017 23: 24

Magane

"Hallo Röschen!" Er holte aus und klatschte sie an die Wand. Keine Vorwarnung, kein Geplänkel, keine Zeit für sie, ihre Schutzmaßnahmen hochzuziehen. Inzwischen wusste er sehr genau, wie viel Kraft nötig war, dass sie zu Boden ging. Und wie viel sie aushalten konnte.
Sie roch nach Kräutern und Blut, frischem Blut... Menschen gingen einfach zu leicht kaputt.
Er hockte sich neben sie und sah sich die Verletzung an. Platzwunde, kein dauerhafter Schaden. Weiter im Text.
Er hob sie auf und trug sie zum Bett. Nicht, dass es ihn gekümmert hätte, ob sie es bequem hatte. Aber das konnte heute Abend doch etwas länger dauern und er hatte keine Lust darauf, auf dem Boden zu hocken. Außerdem war es im Bett einfach netter... nett war zwar nicht mehr wichtig. Aber eben nett. Die Blutung zu stillen wäre auch nett aber so nett war er dann doch wieder nicht. Andererseits war das Verschwendung und er würde mit der Zeit von dem Geruch Hunger bekommen. Sowas konnte ihn aus dem Konzept bringen.
Er stillte die Blutung. Die Verletzung blieb gut sichtbar, versaute aber jetzt nicht mehr das Bett. Danach legte er die Hexe so hin, dass es aussah, als würde sie schlafen. Auch das war nicht wichtig. Niemand würde ihm in die Quere kommen. Er würde sie auch heute nicht töten. Dann wäre es vielleicht von Bedeutung gewesen, wie er die Leiche drapierte. Planmäßig sollte sie von dieser Nacht nur Kopfschmerzen zurückbehalten... körperlich.
Als sie schließlich richtig lag, setzte sich Sebastian zu ihr auf die Bettkante.
Endlich mal keine Widerworte.
Sanft tastete er nach ihrem Geist. Die marmorne Barriere war unten. Wie schon vermutet, war diese von ihrem Bewusstsein abhängig. Ohne jede Gegenwehr drang er in ihren Geist ein und landete wieder im weißen Raum, der heute eher grau war als weiß. Ein Umstand, dem der Vampir keinerlei Beachtung schenkte. Er hielt sich auch nicht lange mit dieser Ebene auf, sondern ging sofort weiter. Schon bei seinem letzten Besuch hatte er, auf dem Rückweg, aus dem Loch einen richtigen Durchgang geformt, durch den er jetzt in die Dunkelheit trat. Der lange dunkle Gang, mit den unendlich vielen größtenteils verschlossenen Türen, lag unverändert da. Zielstrebig ging er auf die Tür zu, die aussah wie die des Wachhauses am Pseudopolisplatz. Sie war eine der wenigen gewesen, die sich hatten öffnen lassen. Die Wache war nicht unbedingt sein bevorzugtes Ziel gewesen für das was er vorhatte. Aber sie bot einen großen Vorrat an Personen. Und diese Tür hatte sie vergessen zu sichern. Oder vielleicht hatte sie es auch nur nicht mehr geschafft.
Hinter der Eingangstür fand sich allerdings ein beinahe identischer Gang, wiederum mit Türen an beiden Seiten. Nur sahen diesmal die Türen alle weitgehend gleich aus. Sie waren beschriftet mit Nummern, die vollkommen wirr in chaotischer Reihenfolge nebeneinander lagen. Namensschilder wären wohl zu viel verlangt gewesen. Zimmernummern die in jedem realen Gebäude auf unterschiedlichen Stockwerken zu finden gewesen wären, folgten hier direkt aufeinander. Es gab zwar Treppen aber anscheinend hatten weder die Treppen noch die Zimmer etwas mit ihrer realen räumlichen Lage zu tun.

Gleich die erste Tür hatte noch nicht einmal eine Nummer! Er stieß sie auf und fand sich in einem Sektionssaal wieder. Die Tische waren alle leer, in einer Ecke saß etwas, das aussah wie ein Haufen besonders hässlicher Lumpen, sich aber als besonders hässlicher schlafender Geier herausstellte. Ein leerer Sektionssaal, wie langweilig. Er war drauf und dran den Raum wieder zu verlassen, als sein Blick auf ein Kästchen unter dem mittleren der Tische fiel. Ein Diktierdämonenkästchen, wie er feststellte, als er es aufhob und leicht schüttelte. Der schimpfende Dämon war fit und meckerte pausenlos über Leute die ihn fallen ließen, schüttelten und nie fütterten. Sebastian klopfte auf das Kästchen und fragte seinen Bewohner, was er denn normalerweise so aufzeichnete. Die Antwort lautete schlicht "Obduktionsberichte". Ein breites Grinsen stahl sich auf das Gesicht des Vampirs.
"Dann erzähl mir mal von all den Toden, die du aufgezeichnet hast."
Der Dämon plapperte mit Maganes Stimme los und gab einen Bericht wieder, der vermutlich einfach der letzte war, den sie diktiert hatte. Nicht besonders spannend, eine Messerattacke bei einer Barschlägerei, wie unkreativ.
"Maggie, bist du das?"
Anscheinend war er hier doch nicht allein. Ein Zwerg schaute aus dem Büro der Pathologen, langsam wurde es interessanter.
"Ja, wer sonst? Pis hat frei und sonst kommt kaum wer hier runter, wie du weißt."
Ah, da war auch sein Hexchen. Aus dem Nichts erschienen, ging sie nun auf das Büro zu.
Sebastian huschte an ihr vorbei und kam ihr zuvor. Der Zwerg hatte wohl die Ruhe genutzt, um seine Axt zu polieren. Die Axt glänzte verführerisch.
"Was machst du hier, du hast doch gar keinen Dienst?"
"Kennst mich doch, immer ein bisschen mehr Arbeit, als Vergnügen." Magane lächelte den Kollegen an, setzte sich an einen der Schreibtische und nahm eine Akte zur Hand. Langweilig. Der Zwerg nickte und begann wieder damit, die Axt zu polieren.
Er gab dem Zwerg einen kleinen Schubs in die gewalttätige Richtung...
...und sah dann dabei zu, wie dieser die Axt schwang - gegen das einzig Lebendige in diesem Büro, gegen Magane.
Sebastian ließ ihn zuerst auf Arme und Beine einhacken und genoss das spritzende Blut und die vollkommen sinnlose Gewalt. Der Ausdruck auf dem Gesicht seiner Hexe wechselte von arglos, zu ungläubig, zu panisch, bevor er bei schmerzverzerrtem Flehen stockte, die schönen veilchenblauen Augen unnatürlich geweitet und blicklos. Er prägte sich den Anblick ihres abgetrennten Kopfes ein und verließ diesen Raum.
Mal sehen was ihn hinter der nächsten Tür erwartete!

Die nächste Tür trug die Nummer 210, was sie unter normalen Umständen als eine Tür des zweiten Stockwerks ausgezeichnet hätte. Demnach hatte sie neben der Gerichtsmedizin wohl nichts zu suchen.
Sebastian betrat eine Gesprächsszene: Magane unterhielt sich mit einem übermüdet aussehenden Vorgesetzten.
"Romulus, bitte lass mich die Sache weiter untersuchen."
"Du bist nicht objektiv. Außerdem ist der Fall abgeschlossen und nur weil du sagst, dass das nicht stimmen kann, werden wir keinen Selbstmord zu Mord erklären."
"Das ist lächerlich, er hätte niemals Selbstmord begangen, du kanntest ihn doch...", sie fing an zu weinen, still, nicht so, als wolle sie etwas erreichen, nur so, als könne sie es nicht zurückhalten. Anscheinend war er hier in eine sowieso schon qualvolle Erinnerung gestolpert. Wer wohl gestorben war?
"Ich kannte ihn bei weitem nicht gut genug für ein solches Urteil. Was ich aber weiß ist, dass er für dich alles getan hätte, vielleicht ist er sogar für dich in den Tod gegangen. Vielleicht habt ihr euch auch gestritten, oder getrennt, das kann ich nicht wissen", der Vorgesetzte sah sie bestimmt an und fügte dann noch hinzu: "Solange du keine Beweise vorlegen kannst, die etwas anderes vermuten lassen, bleibt die Akte zu."
"Aber, der Brief...", Verzweiflung stahl sich in ihre Stimme.
"Ein angebliches Geständnis, in einer Sprache, die außer dir hier niemand gut genug beherrscht... Das könnte alles sein."
So spannend dieser Dialog auch war, etwas Anderes fesselte Sebastians Aufmerksamkeit. In Maganes Schoß lag ein verzierter Dolch. Eine schöne Waffe. Aber wieso hatte sie die zu einem solchen Gespräch dabei? Wieso suchte man seinen Vorgesetzten bewaffnet auf? Sie hatte den Dolch doch nicht etwa als Argumentationshilfe dabei? Doch, genau das war er. Sie stürzte sich plötzlich mit der Waffe in der Hand auf ihren Vorgesetzten. Dieser wich sehr geschickt aus...
...nur um dann selbst zum Angriff überzugehen.
Das war zwar nicht seine natürliche Reaktion gewesen aber als Sebastian klar wurde, dass ihr Gegenüber ein Werwolf war, den sie mit einem versilberten Dolch angriff, änderte er sein Verhalten entsprechend. Die Waffe lag schnell nutzlos und unerreichbar am Boden. Der inzwischen in Wolfsgestalt kämpfende Werwolf hatte ihr zudem den rechten Arm gebrochen, so dass es ihr auch kaum möglich gewesen wäre, den Dolch aufzuheben. Zumindest nicht rechtzeitig vor dem tödlichen Kehlbiss.
Ein beeindruckendes Schauspiel, leider etwas kurz.
Sebastian ging weiter.

Vor der nächsten Tür traf er direkt auf seine kleine Hexe, die energisch klopfte. Er warf einen Blick auf das Türschild und bemerkte, dass sie wieder in einer anderen Etage waren - Nummer 110.
"Silly, mach auf! Ich will diese Diskussion nicht alle paar Tage führen müssen und erst recht nicht durch die Tür!"
"Moment noch!"
Ein leises Plätschern war zu hören, ein gemurmeltes "Heureka", dann das Rascheln von Frottier. Kurz darauf wurde die Tür aufgeschlossen und geöffnet. Magane ging nicht auf die vollkommen unpassende Dienstkleidung ein, sondern kam gleich zum Kern ihres Anliegens.
"Wie oft habe ich dir jetzt schon gesagt, dass du keine Badewanne in einem geteilten Büro haben kannst?"
"Ich kann offenkundig sehr wohl, dies ist mein Büro und dort steht meine Wanne."
"Aber es ist nicht nur dein Büro."
"Charlie stört das nicht."
"Oh, bitte! Silly, es gibt Regeln. Solange du die Abteilung geleitet hast, hat vielleicht keiner was gesagt. Aber jetzt führe ich die Abteilung und ich sage etwas dazu", sie holte tief Luft und fuhr dann fort: "Wenn du schon dauernd im Dienst baden musst, dann benutz die Waschräume im Keller."
An diesem Punkt wäre das Gespräch eigentlich beendet gewesen und Magane hatte sich angeschickt, zu gehen. Aber das durfte sie nicht. Denn dann würde sie davon kommen.
Mit einem kleinen Eingriff stupste der Vampir sie an dem rundlichen Alten im Badetuch vorbei in das Büro und bewegte den Handtuchträger dazu, die Tür zu- und seine Vorgesetzte niederzuschlagen.
"Oh Maggie. Vielleicht sollte ich die Abteilung einfach wieder übernehmen? In deinem Büro badete es sich sowieso viel besser."
Er schleifte sie zur Wanne, hiefte sie unter großer Kraftanstrengung hinein - und ertränkte sie darin. Unblutig, aber trotzdem hübsch. Malerisch. Soviel Kampf und Wut... so viel spritzendes Wasser.
Ein Schwall inzwischen kalten Badewassers durchnässte Sebastians Hose und irgend etwas traf ihn am Knie, als sich die Hexe mit einem letzten Aufbäumen gegen das Ertrinken wehrte. Wäre das ein echter Anzug, hätte ihn die ruinierte Hose sicherlich zornig gemacht. Aber so bückte er sich nur nach dem Gegenstand, der ihn getroffen hatte. Ein Gummientchen. Er ging zu der Wanne und setzte das Entchen auf die, sich langsam beruhigende, Wasseroberfläche. Er prägte sich das, von schwerelos im Wasser schwebendem Haar umrahmte, Gesicht, mit den lustigen kleinen Bläschen, die noch von Mund und Nase aufstiegen, ein.

Als er die Tür zum nächsten Raum, mit der Nummer 202, öffnete, fand er sich nicht in einem Wachhausbüro wieder, sondern auf einem Dach, ziemlich weit oben... zudem hatte es geregnet und das Dach war rutschig.
Ihm fiel es nicht sonderlich schwer die Balance zu halten.
Aber genau darum schien es hier zu gehen, denn er konnte schemenhaft erkennen, dass zwei Frauen an der Kante Gleichgewichtsübungen machten.
Das war zu einfach. Es bräuchte nur einen heftigen Windstoß, um sie beide in den Abgrund zu stürzen. Dafür wäre es egal, wer die Andere war.
Genau das wollte er nicht. Magane sollte von der Hand ihrer Kollegen sterben.
Sebastian ging näher heran und versuchte, Details zu erkennen.
In der Dunkelheit wirkten die beiden Frauen sehr ähnlich. Groß, schlank, das dunkle Haar streng zusammen gebunden. Außerdem trugen sie die gleiche Kleidung. Erst als er ihnen sehr nah war, wurden die Unterschiede deutlich. Die beiden etwa gleich alten Frauen unterschieden sich optisch vor allem in Hautfarbe, Gesichtsschnitt und Haarstruktur. Davon abgesehen gaben sie beide eine äußerst interessante Beute ab. Zu gerne würde er die Andere seiner Sammlung hinzufügen. Vielleicht böte sie eine nette Abwechslung? Sebastian entschied sich für den Windstoß, sehr gezielt auf Magane gerichtet, die sich grade eine Lektion in Sachen Sicherheit beim Klettern abholte und dabei ganz offensichtlich nicht bei der Sache war. Sie strauchelte und verlor wie in Zeitlupe das Gleichgewicht. Die Andere reagierte blitzschnell und hielt sie fest, sodass beide nun noch viel näher an der Kante standen. Die exotische Schönheit hielt die Balance und lehnte sich langsam etwas zurück, um die Situation weiter abzusichern. Ja, normalerweise würde sie die Lage sicherlich auf diese Weise retten können. Aber nicht, wenn er die Kontrolle hatte.
Der Vampir schnipste theatralisch mit den Fingern und die Andere ließ Magane erst los und gab ihr dann auch noch einen Schubs.
Das Hexchen schrie auf dem Weg nach unten markerschütternd. Beinahe war er froh, dass dieser Schrei nach wenigen Augenblicken durch ihren Aufschlag beendet wurde.
Er drehte sich zu der Anderen um und prägte sich ihr Gesicht ein. Vielleicht fand sich ja in den kommenden Tagen eine Gelegenheit zur Jagd.

Hinter der nächsten Tür - K07 - wartete wieder kein Wächterbüro, sondern diesmal ein nebelfeuchter Park im Morgengrauen. Eine abermals sehr junge Magane kniete im Gras neben einem Mann mit einer Schussverletzung, die sich in der Brust, dramatisch nah am Herzen, befand. Sie weinte und versuchte beruhigend auf den Schwerverletzten einzureden. Anscheinend hatte sie zu dieser Zeit nur geringe Kenntnisse im Behandeln von Wunden gehabt und die Schmerzen konnte sie ihm wohl auch nicht nehmen. Den Schmerz sah man ihm deutlich an. Gerade, als Sebastian zu überlegen begann, wie er diese Situation zu seinen Gunsten ändern konnte, tauchten zwei weitere Personen auf. Ein junger Mann mit einem Streifschuss am Oberarm, dessen austretendes Blut den Ärmel des dunkelgrünen Hemdes schwarz verfärbte... und das Flickenpüppchen! Rogi Feinstich, gekommen um Leben zu retten...
Schau mal an! Endlich ein bekanntes Gesicht!
Er sah zu, wie sie den Schwerverletzten operierte und den Leichtverletzten verband, bevor sie sich der noch immer weinenden Magane zuwandte.
"Ich will nicht wiffen, waf hier gefehen ift. Aber ef ift beffer, ihr beide meldet euch für heute krank."
Sebastian schnipste mit den Fingern und Rogi hob das Skalpell vom Boden auf.
"Weift du, wenn ich ef mir recht überlege, melde ich dich doch lieber alf verftorben."
Die Igorina tötete ihre Kollegin mit einem schnellen Schnitt und begann dann fachmännisch, die Frischverstorbene auseinander zu nehmen.

Sebastian öffnete die nächste Tür, beschriftet mit 214.
Diesen Raum kannte er nur zu gut aus Ophelias Erinnerungen! Für einen Moment war er versucht, hier genauso vorzugehen wie bei den Anderen, abzuwarten, welche Erinnerung aufkam und diese dann entsprechend zu verändern. Aber dann entschied er sich anders. Das war eine einmalige Gelegenheit, mit beiden Spielzeugen gleichzeitig zu spielen und beide vollkommen folgenlos kaputt zu machen. Also schuf er hier etwas Neues.
Er ließ sein Hexchen in absoluter Finsternis durch Gänge irren. Er schlich dabei um sie herum, etwas lauter als lautlos, damit sie sich auch ja schön verfolgt fühlte, gejagd fühlte, bereit, etwas wirklich Verzweifeltes zu tun.
Der Vampir bewaffnete sie mit einem Pflock, spitz und lang und überhaupt nicht als Spielzeug misszuverstehen.
"Erwischst mich ja doch nicht."
Sie stach zu - und traf nur Luft. Panisch rannte sie weiter.
Dann war er plötzlich vor ihr und reizte sie: "Bin dir immer voraus...", flüchtig berührte er sie im Vorübergehen, nur um ihr dann von hinten "...oder direkt hinter dir..." zuzuflüstern.
Sie wirbelte herum und stach erneut nach ihm. Natürlich traf sie wieder nicht.
"Weißt du, Röschen, es macht wirklich viel mehr Spaß, wenn du wegrennst. Vielleicht sollte ich dich mal raus lassen, auf einen kleinen Jagdausflug mitnehmen?"
Er lachte und reizte sie weiter. Er war ihr immer nah, auch nah genug, dass sie ihn mit dem Pflock hätte erwischen können. Aber sie war kein Jäger. Sie hatte nicht gelernt, wie man einen Vampir dazu brachte, in ein spitzes Holzstück zu rennen. Trotzdem schlug sie sich wacker. Beim nächsten Stoß ging der Stich nicht ins Leere.
"Uuuuh! Getroffen! Du bekommst langsam Übung, hm? Hast das Herz verfehlt. Das gibt Abzüge in der B-Note. Mehr Glück beim nächsten Mal... aber das tut schon ziemlich weh..."
Sebastian ließ die Fackeln an den Wänden auflodern. Sie sollte sehen, was sie angerichtet hatte.
Sie stand Ophelia gegenüber, die mit auf dem Rücken gefesselten Händen und geknebelt, nur durch den eisernen Griff des Vampirs aufrecht gehalten wurde. Sie hatte als menschlicher Schutzschild den Stich abbekommen und würde sterben, wenn ihr nicht sofort geholfen wurde.
"Du könntest ihr inzwischen helfen, nicht wahr? Hast viel gelernt beim Leichenaufschneiden. Aber ich lasse dich nicht. Sie stirbt und du kannst nichts dagegen tun!"
Er konnte von ihren Augen ablesen, wie sehr sie dieser Gedanke quälte. Von einem Dritten am Handeln gehindert zu werden, war für sie schlimmer, als aus Unfähigkeit nicht handeln zu können. Und dieses Gefühl wurde potenziert durch das Wissen, dass sie Ophelias Tod verursacht haben würde.
Ihm fiel nur eine Kleinigkeit ein, die diesen Moment der perfekten Qual noch krönen konnte: teuer erkaufte Hoffnung!
"Wenn ich es mir recht überlege, könnte ich dich ihr vielleicht doch helfen lassen." Ein Hoffnungsschimmer ließ das Blau ihrer Augen für einen Moment heller erstrahlen. "Aber dafür müsstest du mir deinen Arm zum Trinken überlassen."
Kein Zögern, sie hielt ihm sofort ihren linken Arm hin, auch wenn sie tief in ihrem Innern längst wissen musste, dass ein Rettungsversuch sinnlos war. Ohne jede medizinische Ausrüstung. Einhändig. Trotzdem musste sie so wenigstens nicht tatenlos zusehen.
Hier gab es keine Zurückhaltung. Er öffnete zielsicher die Arterie, endlich konnte er seinem Durst freien Lauf lassen, das süße pulsierende Blut genießen. Auch, wenn das nicht real war, fühlte es sich doch so herrlich echt an. Nur am Rande nahm er ihre Rettungsbemühungen wahr, bemerkte, wie sie den Pflock herauszog und sich ein Schwall von Ophelias Blut auf den Boden ergoss. Magane konnte die Blutung natürlich nicht stillen, sie hatte keinerlei Verbandsmaterial zur Verfügung und konnte mit nur einer Hand auch nicht ihr Nachthemd zerreißen. Somit blieb nur Abdrücken und Zusehen, wie das Leben der Freundin ihr durch die Finger ran. Während sie selbst ebenfalls immer schwächer wurde. Mit der freien Hand strich er beinahe zärtlich über ihre Wange und hob dann ihr Kinn soweit an, dass er Magane in die Augen sehen konnte. Er wollte sehen, wie die Hoffnung in ihren wunderschönen Augen verlosch. Er passte den Moment ab, unmittelbar, bevor sie in Ohnmacht fiel, um sie mit den blutigen Lippen zu küssen.

Mit dem Durchschreiten der nächsten Tür - 104 - hatte er anscheinend das Gebäude gewechselt. Hier trugen die Räume keine Nummern, sondern Namen mit sehr freier Orthographie. Die einzige Tür, die sich hier ohne großen Widerstand öffnen ließ, war die des 'kahrmesinrothen Ritherzimmers'. Interessant. Also gab es noch andere Gebäude, in denen Teile der Wache untergebracht waren.
Sebastian öffnete die Tür und trat ein.
Der Anblick, der sich ihm bot, war seltsam vertraut.
Die Hexe und eine jüngere Frau saßen sich im Schneidersitz gegenüber, scheinbar in einer Meditation versunken. Auf dem Boden, genau zwischen den beiden, stand eine kleine Feuerschale in der eine niedrige Flamme das Lampenöl darin verzehrte.
"Bist du bereit?"
"Nei... ja. Ja, ich bin bereit!"
"Dann lass uns anfangen."
Magane ergriff die linke Hand der Jüngeren, wärend diese ihre rechte Hand in die Flammen legte.
Für Sebastian sah es im ersten Moment aus, als geschehe nichts. Die Jüngere schien die Flammen nicht zu spüren. Das sah er noch, bevor sich die Umgebung änderte und der Raum sich in eine verbrannte Ebene verwandelte.
"Er will dich nicht hier haben."
"Dann soll er mir das selber sagen."
Die Haare der jüngeren Frau wechselten die Farbe von rötlichem Braun zu flammendem Rot.
"Ich sagte, ich will dich nicht hier haben!"
Magane schlug die Augen auf und sah sich rotglühenden Augen gegenüber. Sie ließ augenblicklich die Hand ihres Gegenübers los.
"Endlich...", die jüngere Frau stand auf und streckte sich, "Endlich gehört ihr Körper mir!" Mit einem leichten Schaudern ging sie in Flammen auf, ihre Kleidung verbrannte und wurde durch ein Kleid aus Flammen ersetzt.
Magane war inzwischen ebenfalls aufgestanden und einige Schritte zurückgewichen. Dabei stieß sie gegen einen Bettpfosten.
Das Wesen, welches sich des Körpers der jungen Frau bemächtigt hatte, kam gnadenlos auf sie zu.
Konnte es sein, dass er hier überhaupt nicht eingreifen müsste?
Die Flammenfrau fasste Magane an den Schultern und blickte ihr tief in die Augen.
"Brenne!"
Die Hexe ging in Flammen auf und verbrannte qualvoll.
Ihre Schreie klangen auch noch auf dem Rückweg in den Ohren des Vampirs nach.

Der nächste Raum - 211 - war wieder ein normales Büro, zweckmäßig eingerichtet ohne auffällige Besonderheiten, hinter dem Schreibtisch saß eine ernst ihre Akten studierende Vampirin. Es klopfte und Magane trat ein, ohne ein Hereingebetenwerden abzuwarten. Sie sprudelte sofort los: "Hallo Mina, schön, dass du so spät noch hier bist. Ich brauche dringend deine Hilfe."
"Komm rein, setz dich! Möchtest du einen Tee?"
"Nein, kein Tee... ich brauche einen schnellen Auffrischungskurs in verdeckter Ermittlung."
"Seit wann interessierst du dich denn fürs verdeckte Ermitteln? Hast du nicht gesagt, dass du dafür komplett ungeeignet bist?"
"Bin ich auch. Aber ich hab keine Wahl."
"Du hast Glück, ich habe Zeit... was musst du wissen?"
"Hauptsächlich geht es mir darum, wie ich es schaffe, die Informationen zusammen zu bekommen, wenn ich nicht offiziell befragen darf."
Das drohte langweilig zu werden. Außerdem waren keine Waffen in Reichweite.
Er ließ die Beiden eine Weile über die Arbeit reden und durchsuchte derweil den Raum. Wo würde er eine Waffe verstecken? Im Opfer... der Gedanke brachte ihn nicht weiter. Vielleicht zwischen langweiligen Dingen? Er dachte kurz an seine Haushaltsbücher. Was entsprach hier dem Langeweilefaktor von Haushaltsbüchern? Sein Blick wanderte zu den Aktenordnern im Regal. Die sahen vielversprechend aus. Er nahm gleich eine ganze Reihe von Ordnern heraus und stellte sie auf den Boden. Dahinter hatte sich tatsächlich eine Waffe verborgen.
Fasziniert starrte Sebastian einen Moment lang den Pflock an. Was für ein Vampir bewahrte einen Pflock in seinem Büro auf?
Wie dem auch sei, spitze hölzerne Gegenstände im Herzen waren auch für Menschen tödlich. Auch, wenn es bei Menschen immer unschöne Leichen danach zu entsorgen gab... zumindest in der realen Welt. Hier konnte er sich frei entfalten, ohne hinterher Aufräumen zu müssen.
Liebend gerne hätte er den Pflock persönlich in Maganes Herz versenkt, von hinten, so wie sie es bei ihm geplant hatte. Aber er besann sich auf seinen Plan und legte ihn der Vampirin griffbereit auf den Schreibtisch.
Diese war offensichtlich inzwischen bei einer Körpersprache-Lektion angekommen und zeigte Magane, wie diese unauffälliger wirken könne. Zwecklos, seiner Meinung nach. Die Persönlichkeit der Hexe hätte so etwas nie zugelassen.
Wegen des schönen Effektes, den freilich nur er bemerken konnte, schnipste er mit den Fingern...
...und Mina griff nach hinten auf ihren Schreibtisch und hob den Pflock hoch.
"Jedenfalls ist das Wichtigste an verdeckten Ermittelungen, dass man immer in der Rolle bleibt. Egal was man wirklich fühlt oder denkt. Wenn man zum Beispiel den netten Kollegen spielt und einen ein Kollege ganz furchtbar nervt und von der Arbeit abhält, dann darf man nie zeigen, dass man den Anderen am liebsten umbrächte", mit einer übernatürlich schnellen Bewegung rammte diese Mina den Pflock in Maganes Herz, "und vor allem darf man einem solchen Impuls niemals nachgeben."
Sie stieg über die Leiche hinweg, setzte sich wieder an ihren Schreibtisch und widmete sich dort ihren Akten.

Die nächste Tür hatte keine Nummer, dafür aber eine ordentliche Beschriftung - Kommandeursbüro. Sie klemmte, daher brauchte Sebastian etwas mehr Kraft um in dieses Büro zu gelangen aber das wollte er sich auf keinen Fall entgehen lassen. Welche Erinnerung sie wohl mit ihm verband?
Die erste Überraschung an diesem Büro war, dass alles doppelt war, so als wären hier in ein und dem selben Raum zwei Sätze Möbel, die irgendwie, zumindest teilweise, die selben waren, untergebracht. Beide Schreibtische waren besetzt mit jeweils einem Mann, der, zumindest den Rangabzeichen nach zu urteilen, Kommandeur der Wache war. Das Büro gehörte zum Rang, nicht zur Person, deswegen mussten sich die Kommandeure wohl einen Raum in ihrem Unterbewusstsein teilen. Einen Raum mit klemmender Tür. Wahrscheinlich ein Zeichen dafür, dass sie nicht gern hier war. Dabei war sie gar nicht anwesend... noch nicht. Er sah sich die beiden Kommandeure genauer an.
Es zog Vampire auf allen Ebenen zur Macht, das war nicht neu, aber, dass die Wache kontinuierlich in vampirischer Hand war, überraschte ihn dann doch schon.
Seine Beobachtung wurde durch ein zaghaftes Klopfen unterbrochen, beide Kommandeure antworteten unisono mit "Herein!"
Eine unsicher wirkende Magane trat mit gesenktem Blick ein. Sie erweckte den untrüglichen Eindruck eines schlechten Gewissens. Vielleicht war sie herbestellt worden, ohne zu ahnen wieso.
"Ah, Feldwebel Schneyderin", beinahe konnte sie bei dieser Anrede ein Zucken verhindern, aber nur beinahe, "komm rein, setz dich... möchtest du etwas trinken?"
Mag hielt den Blick starr auf einen der tiefroten Kringel auf dem Schreibtisch gerichtet, als sie sich auf den Besucherstuhl setzte.
"Danke, aber nein, danke, ich möchte nichts trinken." Während der einäugige Kommandeur sie mit Blicken weiter verunsicherte, goss sich der andere eine Tasse tiefroten Getränkes ein.
"Kannst du dir vorstellen, wozu du hier bist?" Sie schüttelte energisch den Kopf.
"Du bist hier, weil du dich als Abteilungsleiterin beworben hast", begann der Einäugige.
"Und wir sind unschlüssig, ob das ein Scherz war oder ob du dir tatsächlich Chancen ausrechnest", ergänzte der Andere.
"Ich... ich kann mich gar nicht erinnern, mich beworben zu haben..."
Sebastian war sich inzwischen sehr sicher, dass es sich hierbei keinesfalls um eine Erinnerung handelte, sondern vielmehr um eine irrationale Verknüpfung der unterschiedlichsten Gefühle, die beiden Kommandeure betreffend. Nicht uninteressant. Aber auch nicht so spannend, wie es hätte werden können. Er beschloss, den Vorgang etwas zu beschleunigen.
"Was soll das nur für eine Antwort sein? Wie dem auch sei. Ras hat gewettet, dass du jede Abteilung innerhalb kürzester Zeit in den Abgrund führst... aber ich habe nicht vor das abzuwarten", der Einäugige hatte plötzlich ein Entermesser in der Hand und schwang es fachmännisch gegen Magane.
Die Spitze der sorgfältig geschärften Klinge erwischte sie am Hals. Sie begann augenblicklich zu bluten.
"Ein Jammer, wir hätten noch so viel Spaß mit dir haben können", der andere Kommandeur reichte ihr einen Eimer, "hier, versuch da rein zu bluten, vielleicht taugst du wenigstens als Mahlzeit."
Es dauerte einige Minuten, bis sich eine schöpfbare Menge ihres Blutes in dem Eimer gesammelt hatte. Während die beiden Kommandeure warteten, ließen sie ihre Lieblingssituationen mit der langsam ausblutenden Wächterin Revue passieren. Erinnerten sich gegenseitig an interne Ermittlungen und verbockte Einsätze, an gewalttätige Aussetzer und an all ihre anderen Fehler.
Schließlich schöpften sie sich jeder eine Kaffeetasse voll, prosteten sich gegenseitig zu und tranken.
"Wollten wir nicht eigentlich einen Abteilungsleiterposten besetzen?"
"Jetzt haben wir das Mittagessen besetzt. Lassen wir doch den Philosophen noch mal eine Runde den Haufen leiten. Der ist wenigstens effektiv, auch wenn er dauernd badet."
"Da hast du recht...", der Einäugige schöpfte seine Tasse erneut voll.
"Nicht schlecht der Feldwebel. Bisschen zu alt vielleicht. Wir hätten sie schon vor Jahren umbringen sollen, hätte unsere Nerven geschont."
Der Andere grinste und ließ dabei seine Reißzähne blitzen.
"Was machen wir eigentlich hinterher mit der Leiche?"
"Das sehen wir dann."
Magane wurde ohnmächtig und kippte vom Stuhl. Einer der Vampire rettete schnell den Eimer vor dem Umgestoßenwerden. Die beiden Kommandeure ließen sie liegen und leerten einträchtig gemeinsam den Eimer.

23.07.2017 11: 13

Nyria Maior

Trotz ihrer Dienstmarke war es nicht ganz einfach gewesen, die Familie Wechter davon zu überzeugen, dass sie den Jungen so spät am Abend für wichtige Ermittlungen im Fall der Entführung seiner Mutter brauchte, aber seltsamerweise hatte ausgerechnet das Argument, dass es sich um ein magisches Verfahren handelte, die resolute alte Dame schließlich dazu gebracht, einzulenken. Unter der Bedingung, dass Nyria anschließend ihren Urenkel persönlich wieder bei ihr ablieferte. Und so trabte der zwölfjährige Junge in der verwaschenen FROG-Uniformjacke aufgeregt neben ihr her, während sie in Richtung des Wachhauses in der Kröselstraße marschierten.
"Du hast ja neulich auch mit trainiert. Bist du eigentlich auch bei FROG?" erkundigte er sich.
"Nein, ich bin bei SEALS." Nyria schenkte ihm ihr bestes Grinsen. "Die beste Abteilung der Wache. Wir kümmern um alles womit die anderen Abteilungen nicht fertig werden."
"Und deshalb trainiert ihr mit den FROGs? Damit ihr auch so gut werdet wie sie?"
"Nun ja, das ist etwas komplizierter." Nyria war sich nicht sicher, wie viel sie Tom wirklich anvertrauen sollte. Aber eigentlich hatte er es verdient, zumindest grob zu erfahren worum es ging. Der Junge war wirklich gut gewesen, was die Verfolgung des Rettungstrupps betraf. Nyria erinnerte sich nur zu gut an sich selbst in diesem Alter. Wenn ein Erwachsener sie mit kindergerechten Platitüden abgespeist hatte, hatte er ihre volle Verachtung zu spüren bekommen. Tom sollte wissen, worum es ging. Wer in dem Alter schon abgebrüht genug war, so lange nachzuforschen bis er eine vermeintlich passende Spur gefunden hatte, würde auch in der Lage sein, die Klappe zu halten.
"Wir haben für einen abteilungsübergreifenden Einsatz geübt. Wir wissen mittlerweile, wer deine Mutter entführt hat und wollen sie befreien und die Verantwortlichen hochnehmen."
"Und ich kann dabei helfen? Darüber hast du doch mit Oma geredet, oder?"
"Genau." Nyria legte eine Hand auf die Schulter des aufgeregten Jungen. "Aber in der Sache ist von höchster Stelle Geheimhaltung angesagt. Ein mächtiger Vampir will die Hexenfähigkeiten deiner Mutter für seine Zwecke nutzen, und wenn Vampire in Spiel sind, kommt der Wache gerne die Politik in Form von diplomatischen Problemen mit Überwald und so weiter in die Quere. Deshalb existiert diese ganze Ermittlung offiziell nicht. So können wir mit ein paar Tricks den Vampir hochnehmen und deine Mutter befreien, der Patrizier freut sich, dass er ohne diplomatische Probleme einen mächtigen Vampir in der Stadt los wird und alle sind glücklich. Aber erstmal müssen wir wissen, wo genau sich deine Mutter befindet. Und da kommst du ins Spiel. Ein Zauberer aus der Unsichtbaren Universität kann sie finden, aber dazu braucht er jemanden, der eine möglichst starke Bindung zu ihr hat. Du bist ihr ältestes Kind und kennst sie am besten und längsten."
Tom brauchte eine Weile um all die Informationen zu verdauen und Nyria konnte es ihm nicht verübeln.
"Ich werde alles tun damit sie wieder zurück kommt." verkündete er tapfer, nur um anschließend tief zu seufzen.
Nyria warf ihm ein aufmunterndes Lächeln zu.
"Auch wenn wir nicht alle FROGs sind, wir holen sie schon da raus." versprach sie und ging in Gedanken noch einmal alle Vorbereitungen des Rettungstrupps durch. Seltsamerweise hatte sie tatsächlich nicht das Gefühl, den Jungen anzulügen.
Tom wirkte plötzlich betreten.
"Na ja..." druckste er herum.
"Was ist los?" erkundigte sich Nyria. "Spuck's aus, ich verrate es auch niemandem. Versprochen."
Der Junge räusperte sich.
"Meine Mutter und ich haben uns oft gestritten und ich habe mir so gewünscht, endlich erwachsen zu sein und selbst bestimmen zu können, was ich mache." sagte er leise. "Und jetzt... wo sie plötzlich nicht mehr da war... Da wollte ich einfach nur alles dafür tun, dass sie wieder zu uns zurück kommt." Trotzig presste er die Lippen aufeinander. "Und Elisa fragt auch dauernd danach, wo Mutter ist, und langsam gehen Oma, Opa und mir die Ausreden aus."
"Wenn alles so funktioniert wie geplant, wirst du nicht mehr viele Ausreden brauchen." erklärte Nyria. "Aber du musst uns eins versprechen. Nach dem was heute Nacht passieren wird, verfolgst du in den nächsten Tagen niemanden von uns. Das Leben deiner Mutter und auch deins und das deiner Familie hängt davon ab, dass du über alles, was du heute Nacht sehen und hören wirst, den Mund hältst und nichts weiter unternimmst. Ist das klar?"
Tom Wechter nickte ernst.
"Ich verspreche es." sagte er.
Nyria klopfte sich innerlich auf die Schulter. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie sich in dem Jungen nicht getäuscht hatte.

Feldwebel Feinstich hatte die ganze Sache geschickt eingefädelt, das musste Raistan ihr lassen. Zuerst die Idee, als Treffpunkt den Unterrichtssaal des Wachhauses in der Kröselstraße auszuwählen, fernab von Intörnal Affärs-Agenten, tratschenden Rohrpostdämonen und sonstigen neugierigen Blicken. Zur Ankunftszeit des Rettungstrupps hatte sie Wilhelm Schneider hinter den Tresen gesetzt, nur um ihm anschließend nach einer Standpauke wegen einer versäumten Tresenschicht im Hauptwachhaus eine sofortige Strafe aufzudrücken und durch einen anderen Rekruten zu ersetzen. Der sowieso nur spärlich belegte Rekrutenschlafsaal lag zwei Stockwerke unter ihnen im Keller und selbst wenn ein neugieriger Rekrut etwas bemerken sollte - Wilhelm würde später behaupten, dass er bei seiner Strafarbeit mitbekommen hätte, wie eine Sitzung über die Verbesserung der Grundausbildung stattfand.
Der Raum, in dem die Rekruten ihren theoretischen Unterricht bekamen, war ähnlich spartanisch eingerichtet wie das Klassenzimmer der Dorfschule, in der Raistan den Grundstock seiner Bildung bekommen hatte - verschrammte Tische, Stühle die aussahen als wären sie im Hauptwachhaus ausgemustert worden und eine einfache Tafel am Kopfende des Zimmers. Für den heutigen Abend war ein Teil der Tische zusammen geschoben worden, sodass sich alle Anwesenden bequem herumgruppieren konnten. Die kindskopfgroße Kristallkugel stand auf einem Holzständer direkt vor Raistans Platz und glänzte im Licht der Öllampen. Um den Ständer herum hatte der junge Zauberer nach einer höflichen Entschuldigung bei den anwesenden Vampiren sicherheitshalber einen Schutzkreis gegen Untote gezogen. Zwar sollte ein einfacher Hellsichtzauber wie ein Blick in die Kristallkugel keinerlei Einfluss auf Racul den Dritten von Ankh haben, aber bei dem mentalen Band zu Ophelia konnte nie vorsichtig genug sein, was die Gefahr eines Rückschlags betraf.
Die übrigen Mitglieder des Rettungszirkels bis auf Rogi Feinstich standen in Grüppchen um den Tisch herum und unterhielten sich. Raistan konnte die unterschwellige Anspannung, die im Raum lag, förmlich spüren, da es ihm selbst nicht anders ging. Es waren nur noch dreizehn Stunden, bis es endgültig kein Zurück mehr gab.
Unauffällig beobachtete er Senray Rattenfänger. Bisher hatte er noch keinerlei Rückmeldung darüber erhalten, wie sie seinen Brief aufgenommen hatte. War sie nun beruhigter oder fürchtete sie ihn immer noch? Raistan brannte darauf, sie zu fragen, aber vor der ganzen Gruppe wollte er es nicht tun. Diese Geschichte ging nur ihn, Senray und vielleicht noch Wilhelm Schneider etwas an. Und morgen würden sie sowieso einige Zeit miteinander verbringen. Bregs hatte es arrangiert, dass sie sich während des Einsatzes in einem der leer stehenden Zimmer im Hauptwachhaus trafen, offiziell um an Senrays Dämonenproblem zu arbeiten. Raistan hatte dafür Ophelia Ziegenbergers ehemaliges Quartier vorgeschlagen. Immerhin gab es dort bereits einen eingebrannten Schutzkreis, sodass weiterer potentieller Schaden am Fußboden durch real nicht stattfindende magische Untersuchungen auch keine Rolle mehr spielte.
In diesem Moment schwang die Tür des Unterrichtszimmers auf und Rogi Feinstich trat ein.
"Alles ift sicher." erklärte sie. "Die Rekrutin Apollonia Graz fitzt am Tresen und alle anderen find im Schlafsaal."
Mina von Nachtschatten nickte und klatschte in die Hände um die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zu lenken. Die Gespräche verstummten und sogar die sonst so schnippische Assassinin verkniff sich eine letzte Bemerkung. Vielleicht hatte auch sie endlich begriffen, dass es langsam wirklich ernst wurde.
"Dies ist das letzte Mal vor dem Einsatz, dass wir alle versammelt sind." begann der Chief-Korporal. "Wenn alles gut läuft, sind Ophelia und Magane morgen um diese Zeit schon frei und der Kommandeur sorgt dafür, dass Racul in so viele Schwierigkeiten wie nur möglich gerät." Sie ließ ihren Blick über den Trupp schweifen. "Wir mögen zwar nicht alle ausgebildete FROGs oder ähnliches sein, aber wir sind entschlossen, alles zu geben, und das ist es, was zählt. Wir haben in den letzten Wochen fleißig trainiert und auch wenn es einige Rückschläge gab und Dinge ans Tageslicht gekommen sind, die sonst wohl verborgen geblieben wären, insgesamt haben wir das geschafft, was der Kommandeur sich von uns erhofft hat. So verschieden wir auch sind, wir sind ein Trupp geworden. Wir wissen um unsere Stärken und wie wir sie möglichst effektiv einsetzen können. Wir haben uns so gut vorbereitet wie es nur geht und so viele Komplikationsquellen wie wir nur können abgedeckt. Mit anderen Worten: Wir alle haben unser Bestes getan und werden es morgen unter Beweis stellen."
Raistan bezweifelte insgeheim, dass Mina von Nachtschatten so positiv dachte wie sie sprach, doch er erkannte den Sinn dieser Rede. Ein 'Au Backe, ich weiß nicht, ob wir das überleben' würde niemandem helfen und sie konnten jede Ermutigung brauchen die sie bekommen konnten. Nachdenklich betrachtete er die Mienen der übrigen Anwesenden und entdeckte viel Skepsis. Die Augen Tom Wechters, der Sohns von Feldwebel Schneyderin, leuchteten jedoch. Das unerschütterliche Vertrauen, das der Junge in die Fähigkeiten des Rettungstrupps zu haben schien, war geradezu beneidenswert und wenn irgendeine Gottheit es wert wäre, hätte Raistan zu ihm oder ihr gebetet, dass dieses Vertrauen nicht enttäuscht wurde.
Ein letztes Mal rückte Raistan die Kristallkugel auf ihrem Ständer zurecht. Die Ankunft der Giftkomponenten hatte jene Lawine losgetreten, auf deren Abgang sie alle mit wachsender Anspannung seit Tagen warteten und die sich nun unaufhaltsam in Richtung des metaphorischen Tals wälzte und sie alle auf Gedeih und Verderb mit sich riss. Der junge Zauberer zwang sich zu innerer Ruhe und ignorierte die leisen Gespräche, die um ihn herum wieder aufflackerten. Dies war sein letzter großer Beitrag zum großen Ganzen und er wollte es auf keinen Fall vermasseln.
Mit einem Räuspern versuchte er vergeblich, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und sah schließlich hilfesuchend zu Chief-Korporal von Nachtschatten.
Die Vampirin verstand sein Anliegen auch wortlos. Mit einigen Gesten brachte sie die übrigen Anwesenden zum Schweigen und bedeutete ihm anschließend, zu sprechen.
Raistan richtete sich auf. Besser, er kam so schnell wie möglich zum Punkt. Je später die Nacht wurde, desto weniger Zeit hatten sie alle zum Ausschlafen vor dem alles entscheidenden Einsatz.
"Zweck dieser Methode ist es, den genauen Aufenthaltsort von Ophelia Ziegenberger und Magane Schneyderin zu bestimmen. Hierzu verwende ich eine Kristallkugel als bildgebendes Medium und einen persönlichen Gegenstand der gesuchten Person als Fokus. Da ich selbst keine starke persönliche Bindung zu den beiden Gesuchten habe, brauche ich jeweils zusätzlich jemanden, der diese Qualifikation erfüllt."
Raistan wandte sich dem Rettungszirkel zu.
"Wer ist qualifiziert und bereit, diese Aufgabe für Ophelia Ziegenberger zu erfüllen?"
Fast zeitgleich traten Mina von Nachtschatten, Rach Flanellfuß und Rogi Feinstich an ihn heran.
"Ich bin sicher, dass meine Liebe zu ihr als starke persönliche Bindung zählt." erklärte der Inspektor voller Überzeugung.
"Sie war meine Patientin und wir sind zufammen einen langen Weg gegangen." hielt Rogi Feinstich dagegen.
Mina von Nachtschatten verschränkte die Arme. "Ich habe lange Zeit ihre Emotionen direkt zu spüren bekommen. Das ist eindeutig eine starke persönliche Bindung."
Raistan sah von einem zum anderen und ließ sich die Argumente der drei durch den Kopf gehen. Sie alle hatten ihre Berechtigung, aber eines stach besonders hervor.
"Ich werde es zuerst mit Chief-Korporal von Nachtschatten versuchen." verkündete er. "Wie ich mittlerweile beobachten konnte, scheinen von Vampiren ausgehende mentale Bänder sehr tief zu gehen."
"Also gut." In Rach Flanellfuß' Stimme schwang eine gewisse Verletzung mit, aber Raistan waren seine Gefühle in diesem Moment egal. Hier ging es um Ergebnisse und nicht um das Ego eines verliebten Mannes.
"Hast du einen persönlichen Gegenstand von Ophelia Ziegenberger?" wandte er sich an den Chief-Korporal.
Für einen kurzen Moment schien Mina von Nachtschatten mit sich zu ringen. Dann zog sie einen in Stoff eingewickelten länglichen Gegenstand hinter ihrem Gürtel hervor und legte ihn vor sich auf den Tisch.
Verwundert runzelte Raistan die Stirn, als sie die Stoffbahnen auseinanderschlug. Was dort vor ihnen lag war ein solide gearbeiteter und äußerst spitzer Pflock, nicht unähnlich dem Modell, das er selbst um seinen linken Unterschenkel geschnallt trug.
"Ist daf..." begann Rogi Feinstich, doch der Chief-Korporal schnitt ihr das Wort ab.
"Ich werde jetzt keine Fragen zu diesem Gegenstand beantworten." stellte sie klar.
Raistan steckte seine Hand aus, nahm den Pflock an sich und betrachtete ihn von allen Seiten. Wie lange Ophelia Ziegenberger in ihren von Vampiren verursachten Nöten diese Waffe wohl bei sich getragen haben mochte? Und wie war Mina von Nachtschatten an den Pflock heran gekommen? Raistan beschlich das Gefühl, dass eine längere Geschichte dahinter steckte, aber jetzt war eindeutig nicht der richtige Zeitpunkt dafür.
"Es ist eigentlich ganz einfach." erklärte er in Richtung des Chief-Korporals. Wir beide legen die Hand auf den, nun ja, persönlichen Gegenstand, wobei sich unsere Hände berühren müssen, und du denkst ganz fest an Ophelia und das, was dich mit ihr verbindet. Ich kümmere mich um den Rest und wenn alles so funktioniert wie es soll, dürften wir ein Bild von Ophelia Ziegenberger bekommen. Da der Zauber passiver Natur ist, dürfte auch niemand mitbekommen, was wir gerade tun. Allerdings ist dies nur eine einfache Ausführung einer Kugel, sodass das Bild stumm bleiben wird."
"In Ordnung."
Mina von Nachtschatten setzte sich auf den freien Stuhl neben Raistan und griff ebenfalls nach dem Pflock. Die Finger der Vampirin waren kühler als seine und wieder einmal wurde sich der junge Zauberer bewusst, dass Vampire eigentlich nicht lebten, und ihm stellte sich eine plötzliche Frage. Wenn ihr Körper in etwa die Umgebungstemperatur annahm, wieso froren Vampire dann bei Minusgraden nicht einfach ein? War die Antwort darauf genauso nebulös wie die Frage nach der sich mitverwandelnden Kleidung bei Wilhelm? Raistan riss sich zusammen und fixierte die Kristallkugel. So interessant die Fragestellung auch war, mit Vampirforschung konnte er sich auch noch beschäftigen, wenn die ganze Rettungsaktion vorbei war. Nun galt es, die Gefangenen zu finden und nichts anderes.
"Bereit?" erkundigte er sich.
"Ich wäre bereit." bestätigte Mina von Nachtschatten.
Sich der Tatsache bewusst, dass der gesamte Rettungszirkel ihn genau beobachtete, streckte Raistan seinen Zeigefinger aus und malte ein unsichtbares, verschlungenes Symbol auf die Oberfläche der Kristallkugel, während er die latatianische Formel sprach. Noch während der letzten Silben kroch ein zögerliches Prickeln den Arm, dessen Hand Mina von Nachtschatten und den Pflock berührte, hinauf und in Richtung der Kugel. Raistan packte die Kugel von unten und lenkte die Magie und Mina von Nachtschattens mentale Rufe nach Ophelia auf das magische Medium.
Was geschah, ließ ihn im ersten Moment vor Überraschung beinahe die Kugel loslassen. Anstatt wie erhofft den Weg zu Ophelia Ziegenberger zu finden, traf sein Wille auf eine oktarine Barriere, an der er einfach abglitt und irgendwo landete. In der Kugel erschien das Bild einer von Nadelbäumen umgebenen Wiese, auf der Menschen in bunten Kostümen einen absonderlichen Tanz aufführten und dabei Stöcke und Eimer schwenkten.
"Das... sieht nicht gerade nach einem Vampirgefängnis aus." bemerkte Nyria hinter ihm.
Raistan ließ den Zauber fallen und sah zu Mina von Nachtschatten, auf deren Gesicht sich Verwirrung zeigte.
"Habe ich nicht fest genug an Ophelia gedacht?" erkundigte sie sich.
Der junge Zauberer winkte ab und wandte sich zu den anderen um, die während der Zauberdauer erwartungsvoll näher gerückt waren.
"Es liegt nicht an dir, Chief-Korporal." erklärte er. "Wie es aussieht, hat Racul der Dritte von Ankh sein Anwesen nicht nur auf profane, sondern auch auf magische Weise abgesichert."
"Das ist gut zu wissen." sagte Kanndra. "Kann es uns morgen gefährlich werden?"
Raistan schüttelte den Kopf. "Ich glaube nicht. Sonst läge ich wahrscheinlich nun schon schreiend am Boden. Der Zauber scheint passiver Art zu sein." Er überlegte. Wie beschrieb er den Effekt für Laien am besten? "Es fühlte sich an als würde ich versuchen, auf einem Teppich zu stehen, den jemand unter mir wegzieht." sagte er schließlich.
Rach Flanellfuß wirkte ernüchtert. "Kannst du nicht einfach..." Seine Hand vollführte eine vage Geste in der Luft.
"Um eine Chance zu haben, den Zauber zu neutralisieren, müsste ich erstens wissen, um welchen es sich genau handelt, zweitens wo der Ankerpunkt ist, drittens, welchen Wirkungsradius er hat und viertens am besten auch noch, wer ihn gesprochen hat. Und da sich zumindest die ersten drei Punkte nur durch eine ausführliche Vor-Ort-Untersuchung herausfinden lassen - tut mir leid, Rach."
Der Inspektor seufzte schicksalsergeben.
"Heißt, das, dass wir nun gar keine Möglichkeit haben werden, nach den Gefangenen zu sehen?" Er schien einige Millimeter in sich zusammenzusacken.
Raistan konnte nur ahnen, wie sehr der Inspektor auf dieses Experiment hingefiebert hatte. Endlich eine Chance zu haben, seine entführte Verlobte zu sehen, auch wenn es nur ein kleines, stummes Bild in einer Kristallkugel war, und dann eine solche Enttäuschung - es war ein Wunder, dass Rach seine beherrschte Maske immer noch halbwegs aufrecht erhalten konnte.
"Einen Weg gäbe es da noch." sagte Raistan zögerlich und die Aussicht darauf gefiel ihm ganz und gar nicht. Es würde ihn - wieder einmal - an seine körperlichen Grenzen bringen und die Aussicht darauf, seine Schwäche vor dem gesamten Rettungszirkel zu zeigen, wirkte nicht sonderlich verlockend. Andererseits zählte der Rettungszirkel auf ihn und seine Fähigkeiten, und wenn er jetzt aufgab, würde er sich damit mindestens genauso blamieren wie mit einem Schwächeanfall. Es war metaphorisch betrachtet eine Wahl zwischen Schnappers Würstchen und Zwergenbrot. Raistan biss die Zähne zusammen. Wenn er sich schon blamieren musste, dann wenigstens nicht damit, mit seinen Zauberkünsten versagt zu haben.
"Und was wäre besagte Alternative?" hakte Mina von Nachtschatten nach.
"Rohe Gewalt." antwortete Raistan. "Schauen wir mal, wer stärker ist - derjenige, der den Zauber gesprochen hat, oder ich." Trotzig reckte er das Kinn vor und streckte erneut die Hand nach dem Pflock aus.
Dieses Mal wusste Raistan, was ihn erwartete, und er folgte der Spur, die ihm Chief-Korporal von Nachtschattens Verbundenheit wies, wesentlich vorsichtiger, bis er den Abwehrzauber spüren konnte. Dieser stellte sich wie das oktarine Äquivalent einer spiegelglatten Eisfläche dar. Raistan nickte grimmig. Er wusste, was er zu tun hatte. In Gedanken formte er aus seiner Kraft einen Hammer und ließ ihn mit einem mächtigen Schwung auf das Eis niedersausen.
Splitter flogen in alle Richtungen, als Raistans Wille ein großes Loch in den Abwehrzauber riss und mehrere schwächere, darunter liegende Schichten des gleichen Zaubers frei gab. Dem jungen Zauberer wurde eines klar. Wer auch immer für den Spruch verantwortlich war, konnte nicht besonders talentiert gewesen sein, aber im Laufe der Zeit war der Zauber immer wieder erneuert geworden, sodass sich die einzelnen, jeder für sich schwachen Sprüche zu einem massiven Ganzen verbunden hatten. Raistan biss die Zähne zusammen, schwang erneut den mentalen Hammer und fokussierte seine Kraft dieses Mal auf einen eng umrissenen Ort.
Wieder flogen Splitter und Mina von Nachtschattens Ruf nach Ophelia bohrte sich durch die so entstandene Lücke. Für einen Augenblick flackerte das Bild eines schäbigen, in rot gehaltenen Zimmers und eines Bettes auf, doch sofort schob sich das oktarine Eis gleich einem Gletscher wieder über die frisch geschlagene Bresche und in der Kugel erschien das Bild eines dicken alten Mannes, der eine spitz zulaufende Bademütze trug und sich genüsslich in einer überdimensionalen Badewanne aalte.
Raistan brach den Zauber ab. Er merkte, dass sein Atem schwer ging und sich die ersten Stiche bei jedem Atemzug bemerkbar machten. Aber er hatte es geschafft, zu Ophelia vorzudringen, wenn auch nur für vielleicht eine Sekunde. Eins zu Null für ihn.
"Ein rotes Fimmer." sagte Rogi Feinstich. "In einem solchen befand fie sich als ich bei ihr war. Aber alles ging fo schnell, dass ich nicht fagen kann, ob es daf gleiche ist."
"Ich glaube, ich weiß nun, wie ich beim Durchdringen des Zaubers vorgehen muss." erklärte Raistan. "Soweit ich es von hier aus erkennen kann, besteht der der Hauptzweck des Spruchs darin, Leuten einzureden, dass es hier rein gar nichts interessantes gibt." Er drehte sich zum Rettungszirkel um. "Falls ihr euch während des Einsatzes plötzlich fragen solltet, was ihr hier eigentlich genau wollt und denkt, dass es woanders doch viel schöner wäre - hört nicht drauf!"
"Ein guter Hinweis." sagte Kanndra. "Allein dafür hat sich das ganze Unternehmen hier eigentlich schon gelohnt."
"Aber was ist nun mit Ophelia?" warf Rach Flanellfuß ein. "Es lag jemand in dem Bett, aber ich konnte nicht erkennen, ob es..."
Ein verächtliches Schnauben kam aus Esther Flanellfuß' Richtung und aus dem Augenwinkel sah Raistan, wie Jules Ledoux ihr einen Rippenstoß versetzte um einen der beißenden Kommentare der Assassinin im Keim zu ersticken. Richtig so. Irgendwie tat der Inspektor Raistan mittlerweile wirklich leid. Erst die Enttäuschung des ersten Versuchs, nun ein kurzes Aufflackern eines Bildes der geliebten Person - Flanellfuß musste innerlich mittlerweile auf dem Zahnfleisch gehen.
"Versuchen wir es beim nächsten Anlauf nun doch mal mit wahrer Liebe." schlug Raistan deshalb vor. Erstens würde es dem Inspektor gut tun, etwas machen zu können. Und zweitens konnte so etwas, das seine mit einem chronisch erfolglosen Schriftsteller verheiratete Schwester als lodernde Leidenschaft bezeichnet hätte, vielleicht tatsächlich dabei helfen, das oktarine Eis im Schach zu halten.
Mina von Nachtschatten und Rach Flanellfuß tauschten die Plätze und der Inspektor zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus seiner Anzugjacke.
"Ich habe einen Brief von Ophelia mitgebracht. Sie hat ihn mir geschrieben, während sie noch im Wachhaus unter Arrest stand und der Inhalt ist sehr persönlich." Er musterte Raistan mit einem skeptischen Blick. "Musst du ihn lesen um den Zauber durchführen zu können?"
Der junge Zauberer winkte ab. "Es reicht, wenn er persönlich ist." Wenn man es genau nahm, wollte er auch gar nicht lesen, was Ophelia Ziegenberger ihrem Verlobten geschrieben hatte. Der schwülstige Liebesbrief, den er in Nyrias Auftrag ins reine geschrieben hatte, reichte ihm als Erfahrung mit romantischer Korrespondenz mindestens für die nächsten zehn Jahre. Wortlos streckte er die Hand aus.
Im Gegensatz zu Mina von Nachtschattens Leichenkühle waren Rach Flanellfuß' Finger warm und verschwitzt und schon als er den Zauber sprach, fühlte Raistan den Unterschied zur Verbindung der Vampirin zu Ophelia. Der junge Zauberer griff nach der Wärme der Liebe, die der Inspektor ausstrahlte, wickelte sie um den mentalen Hammer und es gelang ihm, mit einem einzigen Hieb, in den er seine ganze Kraft legte, die Barriere zu durchschlagen. Sofort strömte Flanellfuß' Zuneigung durch das so entstandene Loch und wieder erschien das Bild des Zimmers in der Kristallkugel. Dieses Mal hielt es mehrere Herzschläge stand und erste Einzelheiten waren zu erkennen. Die Wände des Zimmers waren tatsächlich in einem verwaschenen Rot gehalten und in dem Bett lag schlafend eine Frau, deren ebenfalls rotes Haar sich über das Kopfkissen ergoss. Doch dann verlor auch die tiefe Liebe Rach Flanellfuß' den Kampf gegen die Macht der akkumulierten Abwehrmagie und das Bild in der Kugel zeigte eine Frau, die auf einer Bühne um eine Stange herumturnte.
Vor Schreck ließ Raistan die Kugel los, als er erkannte, wie... wenig diese Frau trug, und er fühlte, wie die Röte in seine Ohren stieg.
"Äh... tut mir leid, das... war keine Absicht!" murmelte er gegen die stärker werdenden stechenden Schmerzen in seinen Lungen an und verbarg sein Gesicht in den Händen.
Ja, es war wirklich peinlich, wohin seine Magie dieses Mal abgeglitten war. Aber dieser Vorfall gab ihm die Chance, seine zunehmende Erschöpfung zumindest für einen Augenblick zu überspielen.
"Och." hörte er Jules Ledoux' Stimme. "Meinetwegen hätte das Bild noch etwas bleiben können."
Wieder schnaubte Esther Flanellfuß verächtlich durch die Nase. Raistan musste zugeben, dass er noch nie einer Person begegnet war, die diese abfällige Lautäußerung zu einer derartigen Kunstform perfektioniert hatte wie die Assassinin.
"Ich bin mir recht ficher, dass es daf Zimmer ist in dem ich schon einmal gewefen bin." wieder Rogi Feinstich. "Daf dort im Bett... war auf jeden Fall Ophelia."
Eine Hand legte sich auf Raistans Schulter.
"Alles in Ordnung?" erklang Nyrias Stimme dicht neben seinem Ohr.
"Es geht schon." murmelte er abwesend, während der Rest des Rettungszirkels hinter ihm zu debattieren begann. Eine plötzliche Idee begann, in ihm zu reifen.
daf Zimmer ist in dem ich schon einmal gewefen bin.
"Ich glaube, ich habe es." sagte er leise.
"Was?" fragte Nyria.
"Wie ich den Abwehrzauber umgehen kann um Ophelia zu erreichen. Rogi Feinstich war schon einmal dort unten. Vielleicht wirkt der Zauber nicht mehr auf sie?"
Nyrias Griff um seine Schulter verstärkte sich.
"He, das könnte tatsächlich die beste Idee sein, seit Leonardo da Quirm die Kartoffel erfunden hat." Sie hob ihre Stimme. "Seid mal ruhig! Hier wurde gerade eine wirklich gute Idee ausgebrütet!"
Raistan räusperte sich um die Heiserkeit aus seiner Kehle zu vertreiben.
"Ich dachte mir nur, weil Rogi schon einmal dort in dem Zimmer gewesen ist - dass ihre Verbindung zu Ophelia nun nicht mehr von dem Abwehrzauber aufgehalten wird."
Der Rettungszirkel schwieg.
"Daf wäre... durchaus im Rahmen des Möglichen." sagte die Igorina schließlich. "Lafft es uns probieren."
Sie nahm ein ziemlich zerknülltes Taschentuch aus ihrer Gürteltasche und legte es auf den Tisch.
"Hiermit hat Magane erfolgreich ihre Pendelverfuche durchgeführt. Es sollte als Fokus alfo ausreichen."
Raistan nickte. Was gut genug für eine Hexe war, sollte auch für ihn problemlos funktionieren. Er wartete, bis Rogi sich gesetzt hatte und griff dann nach dem Taschentuch und ihrer Hand.
Nicht nur verband Rogi Feinstich etwas mit Ophelia, auch ihm verband etwas mit der Igorina. Sie war diejenige gewesen, die ihm beim Aufwachen nach einer schweren Verwundung gesagt hatte, dass er nicht tot war, auch wenn er sich zu diesem Zeitpunkt gewünscht hatte, dass er an seiner Verletzung gestorben wäre. Mit einer ruhigen Beharrlichkeit hatte sie sich um ihn gekümmert während er immer noch unter dem Schock gestanden hatte, seinen Zwilling verloren zu haben, und sein Leben an sich als unlebenswert betrachtet hatte. Sie hatte all ihre Kunstfertigkeit aufgewandt um ihn zu retten und es wäre ihm wie ein Verrat an ihr vorgekommen, allem hinterher trotzdem ein Ende zu setzen. Um so mehr hatte es ihn erschreckt als er erfahren hatte, dass Rogi gestorben war, und als er von ihrer Wiederbelebung und Rückkehr gehört hatte, war er sehr froh gewesen. Er hatte ihr nie gesagt, wie viel er ihr verdankte, aber wenn Rogi für Ophelia nach dem Ascher-Vorfall für sie das gleiche getan hatte wie damals für ihn selbst, konnte er die Existenz eines tiefen Bandes eindeutig nachvollziehen.
Die beiden Daumen der Igorina legten sich auf seinen Handrücken und Raistan wob zum erneuten Mal an diesem Abend die Zauberformel.
Schon wappnete er sich mental dafür, sich erneut mit thaumaturgischen Hammerschlägen Einlass zu erzwingen, doch wie insgeheim erhofft bildete sich von allein eine Lücke im der Mauer des Abwehrzaubers, als er allein mit Rogi Feinstichs Band zu Ophelia zustieß. Das schon bekannte Zimmer bot sich im Kristallkugelbild in einer absoluten Klarheit dar und Raistan erfasste jede Einzelheit. Die abblätternde rote Tapete. Der Nachttisch, auf dem eine Teekanne und eine Tasse standen. Der Kamin, in dem ein niedriges Feuer brannte. Das Arsenal von Messern aller Art, das mit zum Bett zeigenden Klingen auf dem Boden lag. Und Ophelia Ziegenbergers Gesicht, dass es an Blässe und Ausgezehrtheit mit seinem eigenen aufnehmen konnte.
"Ophelia!" rief Rach Flanellfuß aus und beugte sich so weit vor, dass seine Nase fast das Glas der Kristallkugel berührte. "Sie sieht so krank aus..." murmelte er entsetzt. "Nur noch ein Schatten ihrer Selbst!"
Rogi beugte sich ebenfalls vor.
"Sie fieht schon viel besser aus alf bei meinem Besuch." sagte sie. "Es ift schwer, von hier aus eine Diagnofe zu erstellen, aber ich denke, wir müffen nicht mehr befürchten, daf sie zu schwach für eine Rettung ist."
"Und das Zimmer?" fragte Mina von Nachtschatten.
"Es ift der Raum in dem ich sie befuchen durfte. Ich kenne den kompletten Weg dorthin zwar nicht, aber ich weif zumindest, wie der Flur davor aussieht."
"Ich frage mich ja, wo der Kamin hinführt." sagte Kanndra nachdenklich. "Wahrscheinlich ist er mit einem der Schornsteine im Haus im Grüngansweg verbunden. In allen anderen Häusern würde sich bestimmt früher oder später jemand wundern, wohin der zusätzliche Schlot führt."
"Ich weiß nicht, aber diese ganzen Messer auf dem Boden gefallen mir gar nicht." schaltete sich Nyria ein. "Auch wenn wir wissen, dass Racul sie nicht töten kann - ist das irgendein gemeiner Püscho-Trick um sie mürbe zu machen?"
Rach Flanellfuß war immer noch wie hypnotisiert in den Anblick seiner Verlobten versunken. Raistan spürte wie seine Kräfte trotz Rogis Freifahrtpassage schwanden, aber er brachte es nicht übers Herz, den Zauber einfach so abzubrechen.
"Morgen, Ophelia." flüsterte der Inspektor. "Halt durch! Auch wenn du es noch nicht weißt, aber nur noch wenige Stunden, dann bist du frei! Das schwöre ich!"
"Nicht nur du." Jules Ledoux war hinter seinen Freund getreten. "Ist das nicht der Grund, weshalb wir alle hier sind? Wir werden Ophelia dort herausholen, Rach. Weniger als dreizehn Stunden und du kannst sie wirklich in den Armen halten."
Während der Inspektor seine Aufmerksamkeit dem Assassinen zuwandte, ließ Raistan den Zauber fallen und gab sich alle Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, dass er sich wie ein ausgewrungenes Handtuch fühlte. Am liebsten hätte er einfach nur noch ein Mittel gegen die mittlerweile penetranten Schmerzen beim Atmen genommen und wäre an Ort und Stelle eingeschlafen, aber seine zweite Aufgabe wartete immer noch auf ihn und für Magane Schneyderin gab es keine zweite Rogi, die ihm eine einfache Passage durch den Abwehrzauber bieten konnte. Raistan seufzte innerlich. In seinem derzeitigen Zustand würde ein weiterer Versuch, die magische Barriere zu durchdringen, ihn auf jeden Fall außer Gefecht setzen. Aber er konnte jetzt nicht aufgeben. Erstens stand sein Ruf als Zauberer auf dem Spiel. Und zweitens war da Tom Wechter. Geduldig hatte der Junge aus der zweiten Reihe all seine Versuche zur Lokalisierung Ophelia Ziegenbergers verfolgt, ohne sich ein einziges Mal einzumischen, in dem blinden Vertrauen, dass der Rettungszirkel schon wusste, was er tat. Wie alt mochte Tom sein? Zwölf, dreizehn Jahre? Ein abgrundtief böser Vampir hatte ihm seine Mutter genommen und er, Raistan Quetschkorn, konnte helfen, sie wieder zu ihm zurück zu bringen. Nyria hatte den Jungen bei seiner Familie abgeholt und sich auf dem Weg zur Kröselstraße ein grobes Bild von ihm machen können. Tom glaubte felsenfest daran, dass der Rettungszirkel seine Mutter befreien würde. Wie könnte Raistan es nur in Betracht ziehen, ihn zu enttäuschen?
"Da wir nun über Ophelias Aufenthaltsort Bescheid wissen - Nun sollten wir Magane Schneyderin finden." versuchte er, sich Gehör zu verschaffen und suchte Augenkontakt mit Tom. Der Junge rang sich ein schüchternes Lächeln ab als er vortrat und den Platz am Tisch einnahm, den Rogi für ihn frei machte.
"Hat jemand einen persönlichen Gegenstand des Feldwebels mitgebracht?"
Beinahe synchron traten Mina von Nachtschatten und Senray Rattenfänger vor und präsentierten zu Raistans Überraschung jeweils eine fast identische Teekanne.
"Diese, äh..." Unsicher sah Senray zu ihrer offiziellen Vorgesetzten.
Der Chief-Korporal musterte beide Teekannen ebenfalls gründlich.
"Die Kanne die ich dabei habe, stammt aus Maganes Büro und soweit ich mich erinnern kann, hat sie sie regelmäßig zum Aufbrühen diverser Tees benutzt."
Auch wenn er zu jenem Zeitpunkt größtenteils damit beschäftigt gewesen war, bei Bewusstsein zu bleiben, die Kanne, die Mina von Nachtschatten präsentierte, kam ihm vage bekannt vor und er streckte die Hand danach aus.
Tut mir leid, Senray, sagte er in Gedanken. Aber im Zweifelsfall nehme ich lieber etwas, was ich zumindest dunkel kenne. Vielleicht kann ich dir das ja morgen erklären. Morgen. Er wollte gar nicht daran denken wie der nach den heutigen unerwarteten Komplikationen den morgigen Tag überstehen sollte.
Seine Hand zitterte leicht, als er die Kanne an sich nahm und auf den Tisch stellte, und er hoffte inständig, dass es den anderen nicht aufgefallen war.
"Also, ich fasse die Teekanne und dich an und denke ganz fest an Mutter?" erkundigte sich Tom eifrig.
"Genau." Raistan nickte dem Jungen zu als er dessen Hand nahm und zur Teekanne führte. "Eigentlich kannst du gar nichts falsch machen."
Tom nickte ernst.
"Und je fester ich an Mutter denke - desto besser hilft es dir, sie zu finden?"
Der unerschütterliche Enthusiasmus des Jungen war geradezu rührend.
"Alles was du tust, hilft." sagte Raistan diplomatisch und begann, den Zauber zu wirken.
Noch während er die Formel sprach, Toms Liebe zu seiner Mutter hineinwob und verfolgte, wie sie durch seine Arme in die Kristallkugel kanalisiert wurde, bemerkte er es plötzlich. Zwar war sie ungeformt und chaotisch, aber Tom Wechter besaß eine eindeutige oktarine Aura. Wenn man bedachte, dass er der Sohn einer Hexe war, sicherlich nicht ungewöhnlich.
Raistan schob sämtliche Gedanken, dass Tom vielleicht das Zeug zu einer Ausbildung an der Unsichtbaren Universität hatte, energisch beiseite. Schon näherte er sich erneut der Barriere des Abwehrzaubers. Und im Gegensatz zu seinen Versuchen, Ophelia Ziegenberger zu finden, gab es hier keine zweite Chance mit einer anderen Bezugsperson.
Wie schon erprobt machte der mentale Hammer kurzen Prozess mit den zahlreichen verwobenen Schichten die ihn dazu bringen wollten, sich für etwas anderes zu interessieren, und Toms tief sitzende Liebe zu seiner Mutter stieß wie ein Armbrustbolzen durch die mühsam erzwungene Öffnung.
Das Zimmer, das in der Kristallkugel erschien, war im Gegensatz zu Ophelias Zimmer in einem schäbigen Blau gehalten. Ansonsten war das Bild, das sich bot, beinahe identisch, bis auf die Tatsache, dass die im Bett liegende Frau schwarzhaarig war und ein fremder Mann auf ihrer Bettkante saß, die Hände auf ihre Schläfen gelegt. Schon fühlte Raistan wie sich die Bresche, die er in den Abwehrzauber geschlagen hatte, schloss, und er rammte mit der letzten Kraft die er besaß einen mentalen Ellenbogen dagegen. Er musste das Bild um jeden Preis halten bis die anderen eine Chance gehabt hatten, die Szene zu analysieren.
Der Mann, der mit katzenhafter Anmut auf der Bettkante lauerte, war mindestens so elegant gekleidet wie Rach Flanellfuß und sorgfältig zurecht gekämmtes schwarzes Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Raistan brauchte sein Gesicht nicht zu sehen um selbst in seinem stark geschwächten Zustand zu erahnen, dass es sich um einen Vampir handelte. Der Druck des sich schließenden Abwehrzaubers wurde beinahe unerträglich. Raistan holte ein allerletztes Mal aus und stieß die aufeinander zustürzenden Eismassen auseinander. Wie aus der Ferne hörte er Rogi Feinstichs Stimme.
"Das ift er. Sebastian."
Dann wurde ihm schwarz vor Augen.

Nyria hatte schon in dem Moment, in dem Raistan von dem Abwehrzauber berichtet hatte, geahnt, was letztendlich passieren würde. Aber selbst wenn sie ihn gewarnt hätte, wäre sie auf taube Ohren gestoßen. Dafür kannte sie Raistan zu sehr in- und auswendig. Seine Scham, als Zauberer zu versagen hatte die Scham, vor dem kompletten Rettungszirkel Schwäche zu zeigen, überstimmt. Sie konnte sich vorstellen wie er gekämpft hatte, die Verbindung offen zu halten, bis Feldwebel Feinstich den Kerl auf der Bettkante identifiziert hatte. Deshalb hatte sie schon bereit gestanden, ihn aufzufangen, wenn das Unvermeidliche geschah - doch Wilhelm Schneider war schneller gewesen. Irgendwie hatte es der Vampir geschafft, sich still und heimlich im Laufe des Abends in genau die richtige Position für genau diese Situation zu begeben, als hätte er ebenfalls geahnt, was passieren würde. Insgeheim war Nyria froh, dass Raistan auch heute Abend seinen UU-Schal fest um den Hals gewickelt trug. Zwar hatte sie sich schon einmal auf das Niveau vampirischen Besitzdenkens herab begeben und Wilhelm deutlich klar gemacht, dass Raistan ihr Territorium war, aber man konnte ja nie wissen. Vampire dachten so... einseitig. Dabei war die Wirklichkeit so viel komplizierter. Raistan gehörte ihr, auf eine gewisse Weise. Aber noch viel mehr gehörte sie ihm. Wenn er ihr etwas befahl, dann blieb ihr am Ende aufgrund ihrer tief wurzelnden Instinkte gar nichts anderes übrig, als zu gehorchen.
Aufgrund seiner vampirischen Kräfte hatte Wilhelm keine Mühe, Raistan in seinen Armen zu halten, und argwöhnisch beobachtete Nyria jede seiner Bewegungen. Sie wusste durch die Senray Rattenfänger-Geschichte mittlerweile, dass Wilhelm gern Grenzen überschritt. Und was Raistan betraf, würde sie jeden Versuch seinerseits im Keim ersticken. Zwar traute sie ihrem Freund zu, in wachem Zustand mit Wilhelm fertig zu werden, aber zur Zeit war er außer Gefecht und damit wehrlos. Demonstrativ stellte sie sich direkt neben den Vampir, der immer noch unschlüssig zu sein schien, was er mit dem bewusstlosen Zauberer in seinen Armen anfangen sollte.
"Leg ihn doch einfach auf den nächsten Tisch." schlug sie ihm vor. "In ein paar Minuten ist er normalerweise wieder wach."
Wilhelm nickte geradezu automatisch und steuerte die leere Rückseite der für das Kristallkugelexperiment zusammen geschobenen Tische an. Behutsam, als würde er ein rohes Ei transportieren, legte er Raistan ab und machte sich sofort daran, seinen Umhang zu einem improvisierten Kopfkissen zusammenzufalten.
He, dachte Nyria. Eigentlich ist das in solchen Situationen mein Part. Mühsam riss sie sich zusammen um nicht dazwischen zu gehen und vor dem Rettungszirkel als eifersüchtige Ziege dazustehen. Weniger als einen Tag vor der Rettungsoperation konnten sie sich keine Konkurrenzkämpfe erlauben. Deshalb ließ sie ihn zähneknirschend gewähren, solange er sich keine Frechheiten herausnahm.
Die Geste, mit der Wilhelm Raistans Kopf anhob, den fertig zusammengelegten Umhang darunterschob und ihm dabei auch noch das Haar aus dem Gesicht strich, war geradezu liebevoll, und er machte keinerlei Anstalten, den Schal zu lockern, der den für Vampire wohl verlockendsten Körperteil einer Jungfrau egal welchen Geschlechts verbarg.
"Kein Hunger heute, Wilhelm?" konnte sich Nyria einen bissigen Kommentar trotzdem nicht verkneifen.
Den Gesichtsausdruck des Rekruten mit 'verletzt' zu beschreiben wäre noch untertrieben gewesen.
"Ich habe keinerlei solche Absichten." erklärte er steif. "Zumindest... schon lange nicht mehr."
"Gut für dich." Nyria zeigte ihre Zähne und nahm mit einem leisen, warnenden Knurren Raistans Hände in die ihren. Wie erwartet waren sie eiskalt.
"Glaub mir. Er ist mir wichtig geworden, jenseits allen Appetits." Der Vampir sah zu Boden. "Er... und Senray..."
"Und das Versprechen, das er dir gegeben hat."
Nyria erinnerte sich nur zu gut an das letzte Blind-Schnüffeltraining bei dem Raistan ihr erzählt hatte, was Wilhelms sehnlichster Wunsch gewesen war und weshalb er diesen nicht hatte ablehnen können.
"Und du hast ihn wirklich um seiner selbst willen gern und nicht nur weil er zufällig klein und zart ist, einen schlanken Hals hat und das ist, was bei Frauen als Jungfrau bezeichnet wird?" fragte sie scharf.
Der Rekrut räusperte sich verlegen.
"Nun ja... als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe... Da hatte ich spontan gewisse Instinkte, die meiner Spezies entsprachen. Aber dann, als ich ihn in den Besprechungen näher kennen lernte... und er mich bat, in seinen Kopf zu schauen... Da wurde mir klar, dass ich etwas mit etwas ganz Besonderem zu tun hatte."
So sehr sie ihre Werwolfssinne auch anstrengte, Nyria konnte keinerlei Lüge in Wilhelm Schneiders Aussage erkennen.
"Ja, er ist etwas ganz Besonderes." sagte sie und ließ zur Sicherheit erneut ihr Gebiss aufblitzen. "Deshalb habe ich mich auch für ihn entschieden. Und was dich und mich betrifft..." Sie bedachte ihn mit einem durchdringenden Blick und war sich bewusst, dass sie, so unterschiedlich sie im Aussehen auch sonst waren, die Augen des Kommandeurs hatte. "Wir sollten uns mal gründlich unterhalten, wenn die ganze Rettungsaktion vorbei ist. Bevorzugt auf einer langen, langweiligen Streife. Ich kann es einrichten, dass wir mal zusammen laufen."
Raistans Finger schlossen sich um ihre und sie wandte sich um, ohne sich weiter um Wilhelm zu kümmern.
"Na, wieder wach?" begrüßte sie ihren besten Freund.
Raistan brachte einen Schatten eines Lächelns zustande.
"Haben sie alle Informationen die sie brauchen?" flüsterte er.
"Ich denke schon. Auch wenn es dich mal wieder dahin gebracht hat, wo ich dich nicht gern sehe - du hast es geschafft!"

Igor war irritiert. Gleich fünf Mal kurz hintereinander hatte jemand heute Nacht jene magische Türglocke betätigt, die normalerweise dazu bestimmt war, unerwünschte Besucher fern zu halten. Jedes Mal war er pflichtbewusst zur Tür geschlurft, nur um festzustellen, dass niemand dort war. Resigniert zuckte Igor mit den Schultern. Die magische Barriere war immer noch intakt, also konnte es nichts schlimmes gewesen sein. Im Laufe der Jahre hatte Igor die Erfahrung gemacht, dass der Zauber, den der Herr über das Anwesen legen ließ, auf Leute im fortgeschrittenen Zustand der Trunkenheit manchmal seine Wirkung verfehlte. Nicht umsonst hieß es, dass Betrunkene gern einmal Dinge sahen, die überhaupt nicht existieren sollten. Vor einigen Jahren hatte Igor selbst erlebt, dass ein junger Mann nach reichlichem Genuss geistiger Getränke in vier Anläufen völlig davon überzeugt gewesen war, dass die Frau, die ihn gerade abserviert hatte, in genau diesem Haus wohnte. Das unter sträflicher Missachtung sämtlicher existierender Tonleitern bei jedem Versuch gelallte Ständchen ließ Igor bei der bloßen Erinnerung schaudern.
Immerhin hatte heute Nacht niemand versucht, die Minne zu singen.
Kurz hatte Igor darüber nachgedacht, die nächtlichen Vorkommnisse dem Meister zu melden, sich aber doch dagegen entschieden. Spätestens seitdem der Meister die Kräuterhexe hatte anschleppen lassen, hing der Haussegen noch schiefer als er es vorher schon getan hatte, und eine zusätzliche Belastung mit belanglosen Kleinigkeiten war das letzte, was der Meister gerade gebrauchen konnte.
"Gab ef Probleme?" erkundigte sich Igorina, als er in das gemeinsame Bett schlüpfte.
Zärtlich küsste er sie auf die Wange.
"Nichtf, waf wichtig wäre."

23.07.2017 11: 37

Kanndra

"Wilhelm? Warte mal", ein schlanke, dunkle Hand legte sich auf die Schulter des Vampirs als er den Unterrichtssaal verlassen wollte. Er drehte sich um und sah in die Miene der Späherin, die angespannt wirkte, auch wenn sie ihn anlächelte.
"Ja, Ma'am?"
"Ich glaube, wir sollten uns noch kurz unterhalten. Eigentlich... kann ich dich noch nicht so richtig einschätzen und das macht mir Sorgen. Besonders in Hinsicht auf das, was du gesagt hast." Kanndra deutete auf die gerade verlassenen Stühle und Wilhelm sah sich nach Senray um. Diese zögerte am Ausgang und er winkte ihr zum Zeichen, dass sie schon einmal vorgehen solle. Eine Unterhaltung mit dem Leutnant - das konnte interessant werden. Er hatte sowieso vorgehabt, sie einmal nach dem Thema zu fragen, dass ihm besonders auf den Nägeln brannte. Und nicht nur dort... Anscheinend war sie dämonisch auch nicht ganz unbelastet.
Als sie sich gesetzt hatten, fuhr Kanndra fort: "Ich verstehe natürlich, warum du denkst, dass es für dich keinen Weg zurück gibt..."
"Bist du da anderer Ansicht?" unterbrach sie der Rekrut. Das war natürlich nicht die feine Art einer Dame gegenüber und schon gar nicht gegenüber einer Vorgesetzten, doch seine Neugier, was sie zu dem Thema zu sagen hatte, war einfach zu groß. Sie schien ihm das auch nicht übel zu nehmen und sah ihn nur nachdenklich an.
"Nun, es gibt auch bei Dämonen solche und solche. Die meisten von ihnen sind nicht besonders klug. In diesem Fall scheinen wir es jedoch mit einem besonders heimtückischen und gefährlichen Exemplar zu tun zu haben. Ich bin trotzdem auch weiterhin der Meinung, dass sich auch für dieses Problem eine Lösung finden lässt - mit der nötigen Geduld und Expertise."
Wilhelm nickte, hatte aber das Gefühl, dass sie ihn nur beruhigen wollte. Die Gedanken an die Absicht, die Senray geäußert hatte tauchten ungebeten in seinem Kopf auf.
Kanndra zögerte, dann entschied sie aber, dass sie ihm keine Informationen vorenthalten sollte. "Ich bin selbst zur Hälfte Dämonin, musst du wissen."
Der Vampir war nicht wirklich überrascht, er hatte sich schon so etwas zusammen gereimt, nickte aber wieder mit ernster Miene. "Ich verstehe."
"Eines Tages hatte ich eine Begegnung mit meinem... Erzeuger, die ich auch nicht gerade in angenehmer Erinnerung habe. Den nachfolgenden Exorzismus hätte ich beinahe nicht überlebt."
"Das tut mir leid. Die Expertise war in diesem Fall wohl nicht so groß?"
Ein winziges Lächeln huschte über das Gesicht der Späherin. "Ich denke, so könnte man es ausdrücken. Was ich aber damit sagen wollte: man sollte die Hoffnung nicht aufgeben, auch wenn der Gegner nicht zu besiegen zu sein scheint. Das gilt auch für den Einsatz in der Fächelschule. Auch wenn wir alle damit rechnen müssen, verletzt zu werden oder gar zu sterben und auch wenn unsere Bemühungen hauptsächlich der Befreiung der beiden Kolleginnen gelten...", Kanndra blickte in das höflich-interessierte Gesicht eines Rekruten, der sich fragte, worauf sie eigentlich hinaus wollte. "Versuch einfach, keine unnötigen Risiken einzugehen, verstanden?"
"Ich werde es mir merken."
"Das hoffe ich sehr."

Nach diesem Gespräch ging sie noch einmal in ihr Büro, um ein weiteres Mal alles durch zu gehen. Der Einsatz machte sie nervös, auch wenn sie es vor den anderen nicht zu zeigen versuchte. Sie war es zwar gewöhnt, nicht genau zu wissen, was sie erwartete und auch die Möglichkeit der Verletzung und des eigenen Todes stand bei jedem Einsatz im Raum. Dennoch war es dieses Mal etwas anderes. Vielleicht trug die ständige Geheimhaltung dazu bei. Vor allem waren es jedoch die mächtigen, kaum einzuschätzenden Vampire, die ungewöhnliche Zusammensetzung der Truppe, sowie das Wissen darum, wie viel auf dem Spiel stand, dass ihr Angst machte. Als sie zum gefühlt hundersten Mal alles noch einmal durchdacht und überprüft hatte, öffnete sie die unterste Schublade und entnahm ihr eine schlichte Ledermappe, die sie aufklappte. Sie enthielt ihr Testament mit ihren Wünschen für ihre Beerdigung und die Verteilung ihres bescheidenen Vermögens. Kanndra hatte es schon vor einiger Zeit aufgesetzt und seitdem immer wieder aktualisiert. Nun fügte sie noch eine Zeile hinzu, pustete zu Trocknen darüber und legte es anschließend sorgfältig zurück.

23.07.2017 20: 58

Ophelia Ziegenberger

Der Gedanke driftete durch seinen Kosmos und verstimmte den alten Vampir massiv.
Sebastian!
Der Jüngere machte Ärger. Das war zwar weder unerwartet, noch neu. Aber seine Tendenzen dazu schienen sehr wohl ungewohnt hartnäckig in letzter Zeit.
Nachdrücklich.
Unverschämt!
Da war diese langjährige Gefahr, die unterschwellig stets mitgeschwungen war in der aufgezwungenen geistigen Knechtschaft des Jüngeren. Sein schwelender Hass, der immer schon umher gekrochen war und nach winzigen Durchlässen und Lücken in den Fesseln gesucht hatte. Eine ständige Herausforderung, die zwar angemessen war, die aber dennoch gezügelt gehörte. Mit Härte und Konsequenz. Es war mehr als ungünstig, dass Sebastian sich in eine Richtung entwickelt hatte, die den Lernwert von Schmerz ad absurdum führte. Bedauerlich! Das machte alles nur unnötig kompliziert.
Auch Ophelias Eintreffen in seinem Hausstand war das gewesen. Unnötig und kompliziert. Eine Komplikation. Lästig.
Noch immer regte sich der alte Groll in ihm, wenn er daran dachte, dass im Grunde Bef Schuld an allem Folgenden gewesen war. Dessen unersättliche Gier. Graf Bef von Stroganoff! Alter Adel, natürlich! Er hatte diesen einen Höhenrausch seines Daseins auskosten müssen, wie nahezu jeder gebürtige Meister der alten Schule. Nur warum hatte er sich dafür ausgerechnet dieses Territorium aussuchen müssen? Es gab wundervoll idyllische Landstriche in der Heimat, die er sich unter die Nägel hätte reißen können. Die Verwandtschaft, mit der er damals vor den Toren aufmarschiert war, hätte dafür ausgereicht. Aber nein, es musste eine Konfrontation mit dem Patrizier sein, ein unsinniges Ultimatum, hinterhältige Ränke inklusive einer blutigen Infiltration hinter den Mauern der Stadt!
Seiner Stadt! Er war hier zu Hause! Und auch wenn er nie einer von denen gewesen war, die sich in den Vordergrund drängten, so hatte er diesem Ansinnen Befs nicht stattgeben können. Es war ihm keine Wahl geblieben, als mit den Stadtwächtern zu kooperieren, um seine eigenen Vermögensstände, ja, seine eigene Haut, zu retten. Denn spätestens mit dem geschürten Spezieshass in den Straßen, war die Lage zu gefährlich für seinesgleichen geworden, um sie weiter zu ignorieren. Und einzig die Stadtwache hatte, klein und zittrig, den langen Schatten von Befs Anbefohlenen im Wege gestanden. So schwach, mit ihren verschwindend wenigen Männern und Frauen! Seine eigene Sicherheit in den Händen von diesen kümmerlichen Menschen? Undenkbar! Er hatte sich einbringen müssen.
Es war eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera gewesen, zwischen dem brandschatzenden Mob... und Ophelia.
Inzwischen war er sich nicht mehr gänzlich sicher, was schlimmer gewesen wäre. Mit den Plünderern hätten, zumal in Anbetracht des magischen Schutzschildes um sein Anwesen, allein Igor und Igorina eventuell fertig werden können. Mit Ophelia hatte selbst Sebastian seine liebe Not, auch wenn dieser das niemals zugegeben hätte.
Raculs Stimmung verschlechterte sich weiter.
Ophelia... auch er selber hatte sich in ihr vertan. Und, so wie Sebastian, war er zu keinem Millimeter Zugeständnis bereit, was diesen Fehler betraf.
Ihre Emotionalität hatte ihn getäuscht. Er war es über die Jahrhunderte hinweg gewohnt gewesen, dass Rücksicht, Mitleid und zugängliche Freundlichkeit, wie er sie damals beim Erstkontakt im Übermaß in ihr vorfand, einen schwachen Geist auszeichneten. Menschen mit diesen Eigenschaften waren zum Opfer auserkoren und wirklich wies sie jedes nur erdenkliche Merkmal dafür auf, einem vorgegebenen Schicksal unterworfen und letztlich als Wohltat für irgendeinen von ihnen zu enden. Das hatte sich früh abgezeichnet, er hatte von der ersten Minute an nicht daran gezweifelt. Sie wäre einfach zu leicht zu haben gewesen, so wenig Misstrauen, keinen Beschützer, mit Stil und Klasse, gebildet aber zart und unerfahren... Jungfrau! Wäre er nicht zu jenem Zeitpunkt seit Ewigkeiten schon nicht mehr aus dem Sarkophag entstiegen gewesen, er hätte es in Erwägung gezogen, sie selber zu sich zu holen. Sie entsprach seinem Beuteschema zu hundert Prozent! Allein Sebastians minutiöse Pläne und Sicherheitsmechanismen standen zwischen ihm und dieser Entscheidung, denn dieser riet ihm gleich zu Beginn davon ab. Die erzwungene Loyalität brachte ihn dazu und er hatte Recht gehabt. Direkt im Anschluss an die Ereignisse rund um die Belagerung der Stadt, wäre ihr Verschwinden allzu offensichtlich und er zum Hauptverdächtigen erkoren worden. Wie umsichtig Sebastians Warnung vor der Wächterin in seinem direkten Zugriff jedoch gewesen war, zeigte sich erst später. Zu spät!
Er hatte ihr Mittelmaß belächelt, ihre frische Jugend von Ferne beneidet und ihr mannigfaches Bemühen um Hilfsbedürftige verachtet. Aber, oh, wie hatte er die Momente der Kontrolle über sie genossen! Damals waren sie ihm noch wie harmlose Freuden erschienen.
Ein Bild von damals stand ihm immer wieder besonders deutlich vor Augen und er ließ es zu, sank in die Erinnerung, wie in ein lieb gewordenes Ruhekissen für sein kaltes Selbst.
Der Kampf! In ihrem Körper! Der fast undurchdringliche, eiskalte Regen, der auf ihre warme Haut peitschte, während sie sich - er sich, mithilfe ihres zerbrechlichen Körpers - auf den Zinnen der Stadtmauer zweien der feindlichen Vampire zugleich stellte. Ihr rotes Haar, das ihm in nassen Strähnen immer wieder ins Gesicht klatschte, während er den Körper zu schnellem Angriff und noch schnellerem Ausweichen zwang. Ihre dünnen Arme, ihr dünner Hals, die dünnen Hand- und Fußgelenke, ihre zartgliedrigen Finger um das Heft des Schwertes... alles erfüllte ihn unterschwellig mit der Sorge, dass es jede Sekunde zu Bruch gehen oder von den beiden Schmarotzern in den Griff bekommen werden könnte. Schon dass er ihr auf geistigem Wege seine Macht aufzwang, seine unmenschlichen Kräfte durch sie fließen ließ, um schnell genug zu sein für diesen Kampf, trieb ihren blutgebundenen Kreislauf an dessen Grenze! Sollten die beiden sich also zur Zusammenarbeit entschließen und nicht gänzlich unfähig sein, so wusste er um die Unmöglichkeit, diese besondere Festung zu halten. Dann würde er sie fallen- und ihrem Schicksal überlassen. Aber bis dahin... Er konnte sich an ihr schweigendes Staunen erinnern, als sie wie von Ferne mitverfolgte, wozu sie durch ihn imstande war. Einer der Sippschaft blockte den Schlag des Schwertes mit seiner bloßen Hand, indem er dessen Breitseite weg schlug. Ophelias Arm ließ den Aufprall durch ihren gesamten Leib vibrieren, ein brutaler Schmerz, der die Knochen bis ins Mark durchdrang und die Gelenke zu kurzem Aussetzen zwang. Er war dazu gezwungen gewesen, den abfedernden Stahl am ausgestreckten Arm auf den zweiten Angreifer hinter ihr schwingen zu lassen und stattdessen für einen Moment mit ihren Füßen weiterzukämpfen. Ein Kick, der allerdings aufgrund der vom Regen voll gesogenen Röcke lächerlich daneben ging. Er musste ihr Gleichgewicht wieder finden und ihrem Körper das Ringen um Atemluft zugestehen – und kam zum Stillstand, zwischen den beiden gierigen Angreifern. Sofort hatte ihre menschliche Hülle mit unübersehbarer Schwäche gelockt! Und es war ein seltsames Gefühl gewesen, sich ihres rauschenden Blutes gewahr zu sein und dabei zugleich den Mittelpunkt eben jener Verlockung zu bilden. Und sich im Fokus der kreisenden Jäger zu befinden. Seltsam und erheiternd. Unpassenderweise. Die beiden Vampire hatten sie - und damit auch ihn - mit hungrigen Blicken abgeschätzt und mit geistigen Fühlern nach ihrem Sinn getastet. Einer von ihnen war sich seiner selbst so sicher gewesen, dass er sich ihnen auf schmeichlerischste Weise nähern und bereits seine Besitzansprüche geltend machen wollte.
"Beeindruckend, junge Dame. Darf ich mich vorstellen? Vicomte Paranocte, adliger Vampir und dein künftiger Meister. Wir werden gewiss viel Spaß miteinander haben."
Er hätte damals beinahe laut aufgelacht. Welch absurdes Ansinnen! Nicht nur diesem Gefäß in seiner zerbrechlichen Nutzlosigkeit gegenüber. Erst recht, wenn er dessen Worte auf sich selbst hinter ihren feinen Gesichtszügen bezog. Doch der fordernde Tonfall des Unwissenden hatte damals den tiefsten Widerstand in ihr geweckt. Mitten in diesem Kampf auf Leben und Tod, immerhin um ihr Leben und ihren Tod, hatte sie ihn das erste Mal in ihrer – wie sich später zeigen sollte – so charakteristischen Art überrascht. Sie übernahm einfach wieder selbst das Ruder, stieß ihn in die hinterste Ecke ihres Körpers, ihres Geistes, wenn auch nur für wenige Sekunden, und riss ihren Schwertarm in die Höhe. Sie hielt die Klinge keinen Fingerbreit von der Kehle des Vampirs entfernt.
"Denkt nicht mal daran!"
Ein Schwall aus zorniger Entrüstung trug sie damals aus ihrer Apathie und auf diesen Konfrontationskurs mit Allem und Jedem. Eben jene lächerlichen Emotionen hatten ihr ungeahnte Kräfte verliehen.
Vielleicht hätte ihm diese frühe Erfahrung mit ihr zu denken geben sollen...
Aber dann wieder, was hätte es geändert? Seine Entscheidung, sie zu sich zu holen, war ebenso unausweichlich gewesen, wie der Flug Groß A'Tuins. Eines hatte sich zum anderen gefügt, bis sie ihm keine Wahl mehr ließ.
Und eine Zeit lang hatte er den Eindruck gehabt, dass ihre Anwesenheit zumindest Sebastians Spieltrieb soweit an sich band, dass dieser beschäftigt und zu abgelenkt für seine kleinen Rebellionen war. Ein positiver Effekt. Angenehm und erholsam, während er selber gleichzeitig zu eingespannt gewesen war von der Notwendigkeit, den größten Teil seiner Zeit und Aufmerksamkeit in ihr Verschwinden zu investieren. All die Energie, die er in die mannigfachen Schutzschilde kanalisiert hatte, über Wochen, nein, Monate! Er hatte sie unterrichtet! Ihr die Prinzipien geistiger Tarnung eingebläut, sie in ihrem eigenen Sinn gegen das mentale Verbluten gedrillt. Um jede Spur von ihr nach außen zu vernichten und ihre Existenz zu etwas Unscheinbarem zu minimieren. Er, Racul, der Tausendjährige, der Schatten von Ankh, er hatte eine Sterbliche in die Lehre genommen! Etwas, das nie zuvor geschehen war. Nicht, dass sie es hätte wertschätzen wollen. Aber das spielte dabei kaum eine Rolle.
Und dann war ihm irgendwann, leise und schleichend, der erste Verdacht gekommen!
Sebastian war zu ruhig gewesen.
Und es häuften sich erste Zwischenfälle.
Igorina hatte ihn darauf hingewiesen, dass es vielleicht keine gute Idee sei, Sebastian vollen Zugriff auf die Gefangene zu gewähren. Doch da hatte er noch nicht geahnt, wie weit dessen mörderische Pläne bereits reichten.
Racul spürte kaum, wie eisiger Zorn in ihm aufstieg, gleich den frostigen Dunstschleiern, die außerhalb seines Sarkophags aus diesem herauszuquellen begannen. Kalte Luft rutschte vom Deckel herab und floss in bläulichen Schlieren an den Wänden und Steinstufen des Podestes hinab. Rauhreif bildete sich auf dem glatt polierten Marmorboden des ansonsten leeren, runden Raumes. Eiskristalle wucherten in der selbst gewählten, absoluten Finsternis ineinander und auf die Wände zu.
Du Leuchtender unter den Verblassenden! Du Trügerischer! Verfluchter!
Sebastians außergewöhnliches Talent hatte sich, zusammen mit seinem vor Selbstbewusstsein strahlendem Auftreten und seiner frischen, gefälligen Erscheinung zu etwas kumuliert, dem er damals nicht hatte widerstehen können. So ungeheuer viel Potential! Er hatte den deutlich Jüngeren beobachtet und auserkoren.
Und dieser hatte ihn enttäuscht.
Nicht sofort! Die ersten Jahre waren unterhaltsam gewesen, herausfordernd. Irgendwann hatte es gar eine Phase gegeben in ihren Interaktionen, in welcher das gegenseitige Verständnis alle anderen Faktoren überwog. Sebastian hatte sich in ihm gefunden, hatte erkannt gehabt, wie ähnlich sie sich doch eigentlich waren. Ihre Vorlieben ähnelten sich. Ebenso wie ihre Abneigungen. Sie verstanden einander selbst dann wortlos, wenn er den Jüngeren nicht in direkter Form verpflichtete. Und sie liebten beide in gleicher Weise die Macht, die in ihnen schlummerte, die Möglichkeiten, die sie ihnen in Aussicht stellte.
Dennoch! Der junge Mann ließ seinen egoistischen Neigungen die Zügel schießen. Seine frühe "Erziehung" hatte ihn bereits zu nachhaltig verdorben und diese Saat entfaltete sich zwar mit deutlicher Verzögerung, dafür aber umso nachhaltiger. Eine Entwicklung, die unmöglich absehbar gewesen war. Und eine Entwicklung, die zu der bitteren Erkenntnis führte, kostbare Zeit vertan zu haben mit einem Zögling, der es nicht wert gewesen war.
Immerhin, seinem Vermögen hatte Sebastians Aufmerksamkeit derweil gut getan. Selbst dessen großzügig abgezweigten Beteiligungen änderten nichts an diesem Umstand. Im Gegenteil! Je mehr er dem Jüngeren prozentual zugestand an einzelnen Transaktionsabschlüssen mit seinen Geschäftspartnern, desto höher fielen die Gewinne gewöhnlich aus. Die Schatzkammer war seit Jahrhunderten nicht mehr so reich gefüllt gewesen, wie sie es derzeit war. Auch wenn ihm das keine großen Gefühlsregungen abverlangen konnte, war es doch beruhigend. Gold war Gold - war Gold! Das war eine Währung, die von je her Türen geöffnet hatte.
Auch so eine Seltsamkeit, die sich mit den Jahren intensiviert hatte: Sebastian gab mehr denn je seiner Neigung nach, einen großen Schwung seines Anteils in Kunst zu investieren! Eine ganze Seite der gemeinsam genutzten Schatzkammer war inzwischen für dessen Sammlung abgeteilt. Gemälde, Skulpturen, seltene Kostbarkeiten wie Phiolen mit exotischen Giften und Duftstoffen, Gewänder borogravischer oder klatschianischer Königshäuser, besetzt mit Stickereien und Juwelen, mehrere Koffer mit diamantenbesetzten Diademen, flache Zigarrenkisten mit knisterndem Rollblattwerk, das die Kammer mit würzigem Aroma füllte... aber vor allem Gemälde. Was versprach er sich davon?
Die Gedanken an das inzwischen angehäufte Vermögen wirkten besänftigend. Vergessen war der nagende Zweifel ob einer verhängnisvollen Abhängigkeit von seinem engsten Diener, verdrängt der Zorn ob dessen provokanten Eigenmächtigkeiten.
Der Junge hatte sich zu viel herausgenommen in der Nacht der Strafmaßnahme? Ein Aufbegehren, von vielen. Nicht besonders, nicht bedeutsamer in seiner Art.
Er hatte ihm vor Allen die Stirn geboten, ihn herausgefordert? Pubertäres Gehabe, wie es jedem Jungvampir irgendwann passierte.
Er hatte die Frechheit besessen, ihm zu drohen? Lächerlich, nicht mehr als das!
Aber solch ein Austesten der Grenzen, wer hätte das in seiner Jugend den Älteren gegenüber nicht schon versucht gehabt, nicht wahr? Und Sebastian mochte das in seinem störrischem Übermut zwar annehmen, doch er war noch nicht soweit, es wirklich mit ihm aufnehmen zu können, das konnte nicht sein. Sebastian hatte Glück gehabt, mit den Umständen jener Nacht. Die Situation hatte ihn verärgert und war ihm lästig gewesen. So viel Risiko, nur um wieder einmal ein Schlupfloch in seinen Worten zu finden! Wenn er es aber darauf angelegt gehabt hätte, so wäre dem Jüngeren auch bei diesem Versuch nichts anderes über geblieben, als in Demut die Knie zu beugen!
Das entsprechende Bild der ersten Unterwerfung geisterte durch seinen schläfrigen Sinn und erfüllte Racul mit Zufriedenheit.
Das waren glorreiche Zeiten gewesen!
Irgendwann... irgendwann würde er Sebastian wieder einmal, wie damals, die Grenzen aufzeigen müssen. Er würde die Energieströme durch dessen Nervenbahnen jagen müssen, wie frische Lava. Und er würde die Linien neuerlich ziehen müssen, die ihm schmerzhaft sein Können und Dürfen aufzeigten. So schmerzhaft diesmal, dass sie selbst den krankhaft mutierten Veränderungen in Sebastians Veranlagung Rechnung trügen! Ja, das würde er... bald. Sobald sich die Lage wieder etwas normalisiert hätte und Ophelias Zustand stabiler wäre, damit er sich auf diese anspruchsvolle Arbeit konzentrieren konnte.
Kurz kam ihm das Bild der Hexe in den Sinn, wie er sie in Sebastians Gedanken gesehen hatte. Eine rebellische Frau, nützlich, ansehnlich, in vielen seiner Erinnerungen berauschend und nackt. Doch sie baute ab. Ihr Körper konnte nicht Schritt halten mit dem Spieltrieb des Jüngeren und auch ihre geistige Hintergrundpräsenz, die seit Tagen durch die Gänge um ihn herum wisperte, degenerierte.
Vielleicht wäre es gut, sie diese Teemischung auf Vorrat produzieren zu lassen? Nur zur Sicherheit. Er würde das in Auftrag geben, sobald Sebastian sich wieder zur Stelle zu melden hatte.
Denn auch wenn Ophelia mit sich stärkender Gesundheit vermehrt selber für ihre mentale Abschirmung zu sorgen hätte, ein Plan B war nie verkehrt.
Natürlich mochte Sebastian Ophelia nicht leiden. Mochte es noch nie. Aber er stand unter Kommando. Und er würde sich kümmern müssen!
Ja, Sebastian würde sich schon darum kümmern...
Ein Plan B... später...


23.07.2017 22: 35

Nyria Maior

Schon als sie im Morgengrauen das Haus verlassen hatte, hatte Nyria gemerkt, dass die Luft irgendwie seltsam roch. Es war das olfaktorische Äquivalent einer bleiernen Glocke, die über der Stadt lag, als würde das Wetter den Atem anhalten. Leichter Dunst hing in den Straßen und kein Lüftchen regte sich, als die Gefreite in Richtung Nilpferd lief. Sie trug ihre übliche nichtssagende Zivilkleidung und hatte ihr Haar unter einer dunkelbraunen Schiebermütze verborgen.
Trotz der frühen Morgenstunde herrschte schon einiger Verkehr auf den Straßen. Lieferkarren brachten Waren in die Stadt, damit sie bei Geschäftsöffnung frisch in den Läden lagen, die Milch wurde ausgefahren und auch die ersten Hausangestellten waren bereits auf den Beinen. Niemand würdigte Nyria eines zweiten Blicks als sie mit forschem Schritt, als hätte sie etwas dringendes zu erledigen, an Lady Deirdre Wagens Institut für Höhere Töchter vorbeimarschierte. Das Internat lag noch in tiefem Schlaf. Keine Auffälligkeiten hier.
Während sie ihre inoffizielle Streife fortsetzte, ging Nyria im Geiste noch einmal ihre Vorbereitungen durch. Die Zettel, die ihr unmissverständliche Kommunikation auch in Wolfsgestalt ermöglichen sollten, steckten in ihrer Manteltasche. Bregs hatte aus dem Fundus von Braggasch Goldwart eine Vorrichtung organisiert, die den stolzen Namen 'Schloss-Schredderer' trug und mit der Geheimtür im Internat kurzen Prozess machen dürfte. Vor ein paar Tagen hatte Nyria das Schloss des Dienstboteneingangs noch einmal gründlich unter die Lupe genommen. Es war ein relativ einfaches Modell, mit dem sie mit Dietrichen problemlos fertig werden würde.
Auch um ein Alibi für die Einsatzzeit hatte sich Nyria vorsorglich gekümmert. Bei der Morgenstreife mit Ettark, die sie nachher noch lief, würde sie nebenbei andeuten, dass sie heute Mittag eine Verabredung mit Becher-Paule hatte. Dieser wollte ihr zeigen, was seine unlizenzierte Konkurrenz trieb und eventuell konnte sich daraus eine heiße Spur im Fall der verschwundenen Tavernenlieferungen ergeben. Becher-Paule war ein lizenzierter Hehler, den Nyria schon seit der Zeit vor ihrem offiziellen Ableben kannte. Gegen das Versprechen eines kleines Gefallens würde er ihr für die Mittagsstunden ein hieb- und stichfestes Alibi liefern.
Die Gefreite grinste hämisch, als sie in den Grüngansweg einbog und sich zwischen den Händlern einreihte, die ihre Waren zum nahe gelegenen Markt brachten. Was für eine Ironie. Ausgerechnet Ettark Bergig, der sie aufgrund ihrer Spezies für nicht sonderlich schlau hielt, würde ein Teil ihrer Vertuschungsaktion werden.
Um halb elf hatte Bregs Raistan ganz offiziell zu sich bestellt, unter dem Vorwand, vor der ersten stattfindenden 'Sitzung' die Details des Senray-Problems noch einmal gründlich mit ihm durchsprechen zu wollen. Nyria würde draußen zwischen den Säulen des Opernhauses auf ihn warten und ihm ihre Dienstmarke zur Verwahrung geben. Heute Mittag hörte sie für ein paar Stunden auf, eine Wächterin zu sein. Falls sie irgendwie geschnappt wurde oder ihre Leiche in der Gegend herumlag, sollte kein Hinweis zu finden sein, dass sie der Wache angehörte. In zwei Nächten war Vollmond. Wenn es sie tödlich erwischen sollte, wäre sie dieses Mal nur kurz außer Gefecht. Dennoch war die Totenstarre eine Erfahrung, die sie nur äußerst ungern wiederholen wollte, und deshalb hoffte sie von ganzem Herzen, dass es nicht dazu kommen würde. Und dann gab es auch immer noch die Gefahr, dass Racul seine Lauer auch explizit gegen Werwölfe geschützt und einige silberhaltige Fallen eingebaut hatte. Damit wollte sie wirklich nicht in Kontakt kommen.
Verstohlen warf Nyria im Vorbeigehen einen kurzen Blick auf das Haus, das heute Ziel der anderen Hälfte des wütenden Mobs werden sollte. Nichts regte sich hinter den Spitzengardinen, hinter denen offiziell eine gebrechliche alte Dame residierte. Auch der Rest des Grünganswegs wirkte wie immer. Zumindest in der direkten Umgebung der beiden Zielgebäude war nicht mit unvorhergesehenen Schwierigkeiten zu rechnen.
Aber wenn es tatsächlich zum Schlimmsten kommen sollte... Nyria dachte wieder einmal an das Versprechen, das Wilhelm sich von Raistan hatte geben lassen. Sie selbst hatte nie auch nur darüber nachgedacht, ihren kleinen Zauberer irgendwem anzuvertrauen. Die ganze Sache klang so... vampirisch. Wie ein Besitz, der weitergereicht wurde. Nyria war froh darum gewesen, dass Leutnant Mambosamba Wilhelm nach Abschluss des letzten Treffens in ein Gespräch verwickelt hatte. Ansonsten hätte er bestimmt darauf bestanden, Raistan mit zurück zur Universität zu begleiten. Nachdenklich schob sich Nyria eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie an. Es wurde wirklich Zeit, dass sie und der Rekrut Wilhelm Schneider mal ein langes Gespräch miteinander führten.
Der heutige Tag würde für Raistan bestimmt auch kein Spaß werden. Mit zusammengebissenen Zähnen und unter Auferbietung all seiner Willenskraft hatte er es noch auf eigenen Beinen zurück zur Universität geschafft, aber bei einer derartigen Überanstrengung dauerte es immer ein paar Tage, bis er sich wieder vollständig davon erholt hatte. Aber sie kannte Raistan in- und auswendig. Er würde stur so tun als ob es ihm gut gehe, auch wenn ihm jeder ansah, dass dem nicht so war, und seine Aufgabe erfüllen - Aufpassen, dass sich die Obergefreite Senray Rattenfänger keinen Fingernagel umknickte. Nyria verdrehte die Augen und blies eine Rauchwolke in die Morgenluft. Hoffentlich hielt dieses komische Leuchtzeug wenigstens, was es versprach. Dann wäre die Obergefreite immerhin nicht ausschließlich nutzloser Ballast im Rettungszirkel gewesen.
Anderthalb Zigarettenlängen später war Nyria immer noch nichts außergewöhnliches rund um das Einsatzgebiet aufgefallen. Sie schnippte ihren aufgerauchten Stummel in den Rinnstein und machte sich auf den Weg zur Götterinsel und dem Wachhaus. Erstens sehnte sie sich nach einem Kaffee. Und zweitens, wenn sie zu lange rund um den Grüngansweg herumlungerte, würde sie in den letzten Stunden doch noch Verdacht erregen.

08.08.2017 0: 06

Wilhelm Schneider

Hierfür waren sie extra früh aufgestanden, noch im Dunkeln. Um keine Eile haben zu müssen. Beziehungsweise Senray hatte ihn darum gebeten gehabt, ihren traumlosen Schlaf zeitig genug aufzuheben. Vielleicht den letzten dieser Art, den er ihr schenken können würde? Was sie nicht wusste, war, dass er selber sich in dieser Nacht den Sessel mit in sein Schlafzimmer gestellt hatte, um sich neben das Bett zu setzen. Um wenigstens noch - ebenfalls ein eventuell letztes Mal - diese Momente an ihrer Seite zu verbringen. Er hatte währenddessen in schlichten Worten sein Testament aufgesetzt und unter anderem sie darin bedacht.
Jedenfalls... es wurde Zeit. Und sie wussten das beide nur zu gut. Trotzdem hatten sie das gemeinsame Frühstück immer mehr ausgedehnt, als wenn es ihr letztes wäre.
Aber genau das war ja auch das Problem! Es bestand eine realistische statistische Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie gleich auseinander gehen und sich niemals wieder sehen würden. Und es hätte schon ein Herz aus Stein gebraucht, um mit dieser Drohung gelassen umgehen zu können.
"Soll ich dir noch mal nachschenken?"
Die junge Frau blickte ihn bei seiner Frage fast gehetzt an, rang sichtlich mit sich, ehe sie doch das Unabwendbare akzeptierte und verneinte.
"Ich... würde wirklich... sehr gerne aber, uhm... Ich muss, also... los..."
Sie schluckte schwer und ihre Hand auf der Tischplatte verkrampfte sich zu einer zerbrechlich anmutenden Faust.
Der Vampir hätte sie gerne beruhigt. Ihr Herz schlug leicht aus dem Takt, als wenn es sich zu jedem weiteren Schlag zwingen und zuvor erst wieder willentlich entkrampfen müsse.
Aber er war selber aufgewühlt!
"Ja. Natürlich. Ich bringe dich noch zur Tür, wenn du gestattest?"
Sie nickte nervös, erhob sich widerwillig von ihrer Seite des Tisches, nahm ihre bereit stehende Tasche vom Boden auf und folgte ihm die enge Treppe hinab, zum noch verschlossenen Verkaufsraum. Auf halber Strecke wurde er jedoch deutlich langsamer, bis er plötzlich stehen blieb und sich zu ihr umdrehte. Mitten auf der Treppe. Die Wände zu beiden Seiten waren so dicht, dass es kein Vorbeikommen für sie gab und dadurch, dass er bereits zwei Stufen tiefer stand als sie, waren sie plötzlich auf Augenhöhe zueinander. Ein seltsames Gefühl.
"Senray... du weißt, dass ich vielleicht nicht... also... dass dieser Einsatz eine ganz besondere Gefahr birgt?"
Er wollte es aussprechen – und gleichzeitig wollte er es keinesfalls in Worte fassen. Aber er musste es einfach wissen. Ob sie verstand. Und ob sie akzeptieren und auf sich aufpassen würde, falls...
Sie brachte es kaum fertig, ihm in die Augen zu sehen. Und doch zwang sie sich offenbar dazu. Ihre Hände nestelten an ihrer Kleidung herum.
"Ich weiß", schnappte sie regelrecht. Was ihr sofort darauf jedoch wieder leid tat. Hastig trat sie einen winzigen Schritt auf ihn zu, rutschte mit ihren Schuhspitzen über die Stufenkante hinaus, um sich zu entschuldigen. Doch die Worte blieben ihr auf der Zunge haften, so dass sie kein einziges herausbrachte. Nur ihr flehentlicher Blick wurde immer unerträglicher.
Er hob beschwichtigend die Hände und lächelte sie schief an.
"Entschuldige! Ich wollte nicht andeuten, dass du uninformiert sein könntest. Ich wollte nur..." Sein Blick senkte sich gen Boden und seine Stimme wurde ungewohnt leise. "Wir haben uns in den letzten Tagen kennen gelernt. Vermutlich kann man sogar sagen, dass wir uns ziemlich gut kennen gelernt haben. Und... wenn ich eines dich betreffend verstanden habe, dann das, dass du dir viel zu viele Dinge selbst zuschreibst. Dass du dir so unsagbar viele Vorwürfe machst. Und... so kann man nicht leben, auf Dauer. Dinge passieren nun mal und manchmal... manchmal muss man bestimmte Gefühle, die einen kaputtmachen, loslassen. Sich nicht so schrecklich daran klammern, an allem Schuld zu sein, zum Beispiel." Er suchte ihren Blick und selbst, wenn er nur ein Mensch gewesen wäre, hätte er so, wie sie sich gegenüber standen unweigerlich gespürt, dass sie den Atem anhielt. Ihr Herz schlug schmerzhaft schnell. Und sie mühte sich darum, mit fester Stimme zu sprechen, nicht in Tränen auszubrechen. Was ihn einerseits natürlich positiv anrührte, ihm andererseits aber auch eine schwere Last aufbürdete.
"Aber wenn es doch meine Schuld ist?!"
Er schüttelte unwillkürlich den Kopf, versuchte sich an einem seiner typisch gelassenen Grinser und hoffte inständig, dass es ihm gelang.
"Sei nicht so gierig!"
Sie blinzelte irritiert und runzelte leicht die Stirn.
Er beeilte sich, hinzuzufügen:
"Du kannst unmöglich an allem Schuld sein. Wirklich nicht! Wenn du also unbedingt an irgend etwas Schuld sein möchtest, dann suche dir gefälligst einen einzigen Punkt aus und konzentriere dich auf den!"
Senray scheiterte kläglich daran, den Scherz aufzugreifen. Sie lachte ein kleines Verzweiflungslachen und sagte stattdessen:
"Nicht, dass ich wirklich eine Auswahl treffen könnte... aber wenn du darauf bestehst... dann bin ich daran Schuld, dass du in diesem schrecklichen Pakt gefangen und an mich gebunden bist, mit all seinen unfairen Konsequenzen."
Er breitete beide Arme seitlich aus, soweit der Platz reichte und lächelte sie an.
"Und siehst du? Gut dass wir noch schnell darüber sprechen, bevor wir uns trennen. Das ist falsch! Daran bist du überhaupt kein bisschen Schuld! Daran bin ich selber Schuld, weil ich in meiner Neugier deine persönlichen Grenzen nicht akzeptiert hatte! Und das weißt du! Du hattest mich nicht in deinen Sinn eingeladen, im Gegenteil, hättest du davon gewusst gehabt, wärest du panisch geworden! Oder willst du mir darin widersprechen? Überlege es dir gut!"
Sie sah ihm trotzig entgegen, die Tränen standen hoch in ihren Augen.
"Wilhelm, lass das! Ich will nicht mit dir argumentieren. Ich... ich will das nicht. Nicht jetzt."
Er wollte im Reflex die Arme sinken lassen – doch dann zögerte er. Und streckte sie im Gegensatz noch ein winziges Stück weiter. Wortlos stand er vor ihr. Mit ausgebreiteten Armen und dem unausgesprochenen Wunsch deutlich vom Gesicht ablesbar.
Sie zögerte.
Er lächelte schief.
"Was willst du dann, kleines Vogelherz? Wenn dir nicht nach Diskutieren zumute ist, was wünschst du dir dann stattdessen?"
Sie sah ihn an, als wenn sie jede Sekunde ihren Halt verlieren könnte. Ein Herzschlag verging, dann näherte sie sich ihm ebenso an, wie er sich ihr und sie vergrub wortlos ihr Gesicht an seiner Schulter. Sie hielt sich an ihm fest, zittrig, zerbrechlich, um ihre Fassung bemüht. Und er schloss langsam und bedächtig seine Arme um sie, hielt sie dicht an sich, geborgen.
Und so blieben sie lange stehen, gemeinsam, aneinander gelehnt, im Halbdunkel der stillen Treppe, zwischen Wohnung und Laden, zwischen Geborgenheit und Abschied.

Senray ging und er sah ihr nach. Er stand in der offenen Ladentür und folgte ihr mit dem Blick, wie sie im trüben Morgendunst die graue Straße gen Boucherie entlang eilte, eng eingewickelt in den Umhang, den er ihr schnell noch aufgedrängt hatte. Sie war deutlich zu dünn angezogen für dieses Wetter. Es war nicht der gute, den er für Opernabende oder ähnlich gewichtige Ereignisse aufbewahrte. Aber auch dieser war von guter Qualität und würde sie wärmen.
Selbst, wenn er nicht zurück käme.
Sie hatte sich mit wissendem Blick darin eingemummelt, nachdem er betont hatte, dass es sich lediglich um eine Leihgabe handelte, die sie ihm heute abend zurückgeben könne. Und er hatte nicht verhindern können, dass er ihr ein "Pass auf dich auf!" mit auf den Weg gab; was sie sogleich erwiderte. Dann war die Situation zu viel für sie geworden, sie hatte sich hektisch abgewandt und war geflohen.
Schritte näherten sich beinahe lautlos von hinten, ebenso wie ein charakteristisch kräftiger Herzschlag.
"Danke", sagte er gerade laut genug, damit sie ihn hören konnte. "Dass du diesen Moment noch abgewartet hast, bis sie sich wirklich... verabschiedet hatte."
Sie war zwei Schritt hinter ihm stehen geblieben und schwieg auf beredte Weise.
Er atmete tief durch, ehe er sich bemüht entspannte und zu ihr umdrehte.
Hannah stand ihm mit ernstem Gesichtsausdruck gegenüber, die Hände locker vor ihrem Körper ineinander gelegt.
"Keine Ursache. Ich wollte nicht stören. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ihr bereits beide hier unten anzutreffen sein würdet. Aber als ich erst weit genug nach vorne gekommen war... logisch, dass du mich da längst wahrgenommen hattest. Ich konnte lediglich verhindern, diese Ablenkung ihr gegenüber zu verschlimmern. Und sonst... hätte ich mich im Ernstfall bemerkbar gemacht."
Er fand ihre Rücksichtnahme liebenswert und auch ein klein wenig erstaunlich.
"Wie gesagt... danke!"
Sie sah ihn lange an, ehe sie mit leicht gerunzelter Stirn fragte: "Ihr seht euch heute abend wieder und bis dahin... bis dahin wird... etwas geschehen, was ihr so starke Angst um dich macht, dass sie... dass man es ihr deutlich anmerkt? Was wird passieren, Wilhelm? Etwas mit diesem Dämon?"
Er straffte seine Gestalt und atmete tief durch. Ein Verhalten, so untypisch für ihn, dass es sie leider sichtlich noch mehr alarmierte.
"Nein. Nicht wirklich. Senray sollte aus der Gefahrenzone bleiben, dafür ist gesorgt. So gesehen, dürfte dem Dämon eine konkrete Handhabe gegen mich fehlen. Hoffentlich. Aber es geht um eine Angelegenheit, die uns in gewisser Weise beide betrifft, sie ebenso, wie mich. Irgendwie." Er hob beschwichtigend beide Hände und sah sie entschuldigend an, als sie wegen dieser dürftigen Ausflüchte protestieren wollte. "Hanna, ich kann dir nicht mehr erzählen! Es ist eine streng geheime Wache-Aktion, an der ich teilnehmen werde. Um jemandem Unschuldigen zu helfen, der tatsächlich in Lebensgefahr schwebt. Es ist also eine gute Sache, wert, dafür zur Not zu sterben."
Sie sah ihn finster an, hielt sich jedoch bewundernswert zurück.
"Weißt du, was unpraktisch ist, Wilhelm?"
Er schüttelte fragend den Kopf.
"Dass man sich nach einiger Zeit der Zusammenarbeit einschätzen kann. Wenn du also sagst, 'eine Sache, wert, dafür zur Not zu sterben'... dann sagst du so etwas nicht einfach daher..."
Wilhelm hielt ihrem Blick stand, bis sie es war, die ihm auswich. Kurz nur aber bedeutsam. Untypisch. Sie machte sich ebenfalls Sorgen - um ihn.
"Hast du vorgesorgt?"
Wilhelm war für einen Moment irritiert. Woher wusste sie von dem Testament, das er in der Nacht aufgesetzt hatte?
Sie lächelte fast spöttisch, immerhin geschah es nur selten, dass sie ihn aus dem Konzept bringen konnte. Aber eben nur fast. Die Situation war ihr selbst dafür zu ernst. Stattdessen seufzte sie leise, löste ihre Haltung etwas und trat nun doch näher zu ihm. Sie griff nach seiner Hand und hielt diese fest, als sie mit leiser Stimme fragte:
"Wann hast du das letzte Mal getrunken, Wilhelm?"
Natürlich bot Hannah sich ihm an, warum hatte er es nicht gleich kommen sehen? Der Gedanke war ihm überraschend unangenehm. Senray war eben erst durch die Tür hinaus. Und auch, wenn er sich nicht dieserart verbiegen und ihr zuliebe wieder zum Schwarzbandler werden würde... seine grundlegenden Bedürfnisse wären ihr unangenehm. Und dann kam noch dazu, dass ihm auch an seiner Angestellten lag. Hannah war glücklicherweise egoistisch genug, dass er sich bei ihr nie darum sorgen musste, die entscheidende Grenze zu überschreiten. Aber auch ihr gegenüber würde dieser Morgen ein Abschied werden. Auch sie war in seinem Nachlass bedacht worden. Sie teilten gemeinsame Erinnerungen, Gefühle. Wenn auch gänzlich andere, als sie ihn mit der kleinen Kollegin verbanden. Wollte er sie wirklich durch den roten Schleier des Rausches in Erinnerung behalten, statt so, wie sie jetzt vor ihm stand, ernst und hilfsbereit?
Sie nahm sein Schweigen zum Anlass, auch seine zweite Hand in die ihren zu nehmen.
"Ich bin mir nicht sicher ob... diese Arbeit bei der Stadtwache, ob die wirklich das Richtige für dich ist, Wilhelm, weißt du das? Du bist hier doch eigentlich ausgelastet, wenn du das möchtest. Und es ist bei Weitem nicht so gefährlich."
Er veränderte seine Handhaltung, so dass nun er ihre Hände hielt und beruhigend drückte.
"Es ist nicht immer so gefährlich, wie heute. Meistens ist es sogar regelrecht erholsam. Heute wird eine Ausnahme."
Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern, doch sie wich nicht seinem Blick aus. Diesmal nicht. Es war ihr ernst.
"Mach' dir keine unnötigen Gedanken. Ich habe gut gefrühstückt und wir haben noch reichlich Fruchtsaft hinten im Laden eingelagert. Ich möchte, dass du mein Hilfsangebot annimmst. Jetzt. Bevor irgend etwas dazwischen kommt und dich wohmöglich zur Eile antreibt. Man weiß ja schließlich, wie das ist, in den dramatischen Geschichten."
Er verstand ihren Wunsch. Und er verstand die Notwendigkeit. Es war ein logischer Vorschlag, ein guter Plan. Aber er würde dieser reinen Nützlichkeit ein gut Teil Zuneigung hinzufügen.
Wortlos öffnete sie ihren Blusenkragen und er strich ihr Haar beiseite. Er sah ihr lange in die Augen, bis sie einander anlächelten. Und erst dann umfasste er ihre Hüfte und zog sie sanft näher, neigte seinen Kopf ihrem Hals entgegen, während sie den ihren beiseite sinken ließ und sich an ihn schmiegte. Seine Zähne sanken in ihre Haut und ihr Körper richtete sich in einem instinktiven Reflex in seinen Armen auf, presste sich stärker an ihn, sie atmete heftig ein. Ihr Herzschlag pulste über seine Lippen, dehnte sich in seinen Körper hinüber und jeder einzelne Schlag davon, trieb ihm warmen Schwindel in den Schädel. Ihr Duft benebelte ihn zusätzlich. Seine Hände zogen sie noch näher.
Und draussen gewann die Sonne durch einen seltsam trüben Himmel an Kraft, zog die Feuchtigkeit aus dem kalten Matsch der Strassengosse, von den taunassen Scheiben der Schaufenster und aus den überlaufenden Regentonnen in den Hinterhöfen, um sie zu gelblichen Unwetterwolken zusammenzuziehen.

09.08.2017 6: 54

Rach Flanellfuß

Nur noch wenige Stunden, dachte er still in sich hinein und sah dabei auf seine Taschenuhr. Alles war vorbereitet. Die Giftpfeile für sein Blasrohr trug er ungewohnt offen an einem Gurt quer über die Brust gespannt und er strich mit dem Finger über deren Befiederung. In das Gift hatte er jede Menge Arbeit gesteckt und auch Jules hatte er damit ausgerüstet – falls sein Freund eher eintraf, oder schlimmer, wenn er es selbst nicht schaffen würde, hatte Jules zumindest noch eine Chance. Das dünne Kettenhemd aus der Gildenzeit lag kühl auf seiner Haut. Darüber trug er ein schwarzes Hemd, ebenfalls noch aus seiner Gildenzeit und einen schlichten dunklen Anzug, der ihm genug Bewegungsfreiraum lies. Das Blasrohr steckte er in den Ärmel und mit ein paar letzten Handgriffen überprüfte er die Ausrüstung. Fünf Phiolen Weihwasser, jeweils von einem anderen Tempel geweiht. Seit sein Spitzel nicht mehr aufgetaucht war, hatte er die ungewohnte Freiheit genutzt, solcherlei Besorgungen selbst vorzunehmen. Seine leichten Lederhandschuhe hatte er in den Gürtel geklemmt. Auf weitere Waffen verzichtete er, da vertraute er ganz auf seine Schwester und Nyria.
"Bist du soweit?", hörte er schließlich Jules im Türrahmen und Rach drehte sich zu ihm um.
"Ja, und ihr?"
"Ja, du kennst Esther. Sie sträubt sich noch gegen das, was nun als nächstes kommt."
"Glaub mir, ich bin auch nicht begeistert. Aber alles was uns einen Vorteil verschafft, nehme ich in Kauf. Und wenn ich eine Woche später noch nach Knoblauch riechen sollte."
"Das sagst du jetzt, doch jammere mir nicht rum, wenn Ophelia dann nichts mit dir zu tun haben möchte."
"Ich bin vorbereitet", entgegnete er mit einem fröhlichen Grinsen und hielt seinen kleinen Vorrat an Minze in die Höhe, ehe er das Papiertütchen in die Brusttasche steckte.
Jules konterte diesmal nicht, sondern klopfte ihm nur auf die Schulter, als wollte er ihn zu seinem Optimismus beglückwünschen.
Er streifte sich noch einen Mantel über, der sowohl die Kälte fernhielt, als auch seine Ausrüstung verbergen konnte und ging mit seinem Freund nach unten.
"Endlich!", entgegnete seine Schwester ungeduldig und wartete schon an der Tür, "Bringen wir es endlich hinter uns!"
Unten angekommen erwartete sie allerdings ein ungewohnter Anblick.
Die Kutsche seiner Lordschaft stand mitten auf dem Weg vor ihnen.
Das Dreiergespann blieb abrupt stehen und sah sich an.
"Ich denke, die ist für mich", sagte Rach so gelassen wie möglich, "Geht ihr schon mal vor."

09.08.2017 22: 33

Magane

Sie konnte Ophelia nicht retten. Die Freundin würde verbluten, direkt vor ihren Augen. Unter diesen Bedingungen war kaum Hilfe möglich, mit nur einer Hand, auf dem Boden eines dunklen Ganges ohne Verbandsmaterial oder chirurgisches Besteck. Selbst unter den besten Bedingungen hätten ihre Chancen bei dieser Verletzung nicht gut gestanden. Es hatte schon seine Gründe, dass sie normalerweise nur Tote operierte. Wenn sie jetzt starb war das Maganes Schuld, nicht nur, weil sie sie nicht retten konnte, sondern auch, weil sie ohne jede Sicht mit einem Pflock um sich gestochen hatte. Sebastian hatte sie dazu getrieben, aber zugestochen hatte sie. Mit der bloßen Hand drückte Magane auf die stark blutende Wunde, zwecklos... vielleicht konnte sie ihr wenigstens den Schmerz und die Angst nehmen. Dann könnte Ophelia in Frieden sterben. Aber alles Tasten half nichts, sie konnte die Gefühle der Freundin nicht erreichen. Lag das am Tee? Konnte es sein, dass sie mit ihrer sehr speziellen Hilfe verhindert hatte, dass sie jetzt in Ophelias letzten Minuten auf die klassische Hexenart helfen konnte? Kurz tastete sie nach Sebastian, eigentlich wollte sie nicht wissen was er jetzt fühlte, wie sehr er seinen Triumph auskostete, aber ihn konnte sie ebenfalls nicht spüren. Woran lag das nur? Blockierte er sie? Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Er würde es genießen, wenn sie unter seinen Gefühlen litt. Also musste es einen anderen Grund geben, warum sie die Gefühle der Anderen nicht lesen konnte. War dies echt? War ihr tatsächlich die Flucht aus dem blauen Raum gelungen? War das überhaupt möglich?
Das war eine Illusion. Ein Traum, nicht echt. Sebastians Werk.
Er strich über ihre Wange, griff dann nach ihrem Kinn und drehte ihren Kopf zu sich, um ihr in die Augen zu sehen. Magane schob den Zorn, den diese Erkenntnis ausgelöst hatte, beiseite und ließ ihn nur den Schmerz und die Hoffnungslosigkeit sehen. Ihr linker Arm war bereits völlig taub. Er trank vollkommen schamlos, ohne Rücksicht auf Verluste oder auf ihre körperliche Unversehrtheit. Er musste sich auch nicht zurückhalten, das hier war nicht echt, er durfte sie töten, weil es nur ein Traum war. Sebastian hockte sich zu ihr herunter, ließ von ihrem Arm ab, ohne die Wunde zu verschießen, sodass sie weiter blutete und küsste sie. Mit dem Geschmack ihres eigenen Blutes im Mund wurde Magane endlich ohnmächtig.
Sie war augenblicklich wach und tastete mental ihre Umgebung ab. Omseidank war sie allein. Sein Grinsen hätte sie jetzt nicht ertragen können, vielleicht konnte sie das nie wieder. Sebastian hatte sie allein gelassen und diesen Traum sich einfach wiederholen lassen. Den Schmerz, der sich mit der ersten Bewegung einstellte, begrüßte sie wie einen alten Freund. So schlimm war es bisher nur einmal gewesen, aber im Gegensatz zu dem Morgen vor einer gefühlten halben Ewigkeit, lag sie heute wenigstens auf dem Bett und nicht auf dem kalten Fußboden. Er hatte also tatsächlich getrunken, nicht nur im Traum und es war wieder zu viel gewesen.
Zögerlich öffnete sie die Augen, liegen bleiben würde nicht helfen. Mit einem leichten Grausen hob sie die linke Hand vor die Augen, die Taubheit im ganzen Arm war kein gutes Zeichen. Die Bissnarbe auf der Innenseite des Handgelenkes sah scheußlich aus, viel schlimmer als die anderen. Sie war zwar nicht mehr offen, aber auch nicht so gut verheilt wie die zahlreichen anderen Stellen. Wenn sie die Schmerzen gleich los war musste sie unbedingt wieder Gefühl in den Arm bekommen. Und sie musste überprüfen wieweit ihre Vorbereitungen ihn von den wichtigen Erinnerungen ferngehalten hatten. Aber eins nach dem anderen, zuerst das Teewasser.
Der Tee machte noch lange nicht alles besser, aber immerhin erträglicher. Das Handgelenk hatte sich inzwischen entschlossen zwar nicht wehe zu tun, das war Dank des Tees nicht möglich, aber unheimlich empfindlich zu sein. Aber körperliche Verletzungen waren ihr weitgehend egal, sie musste unbedingt wissen wie sehr er in ihrem Kopf gewütet hatte. Dazu musste sie wie am Vortag meditieren, aber heute um nachzusehen inwieweit ihre Sicherungsmaßnahmen gefruchtet hatten. Der weiße Raum brauchte inzwischen einen anderen Namen. Vielleicht Vorhölle? Hier war nichts Friedliches mehr, keine Ruhe. Die Dunkelheit war aus ihren tieferen Bewusstseinsebenen heraufgekrochen und hatte sich überall ausgebreitet. Es war finster in ihrem Kopf, nachtschwarz, sie entzündete ein Feuer und beschwor eine Fackel herauf, bevor sie durch den Durchgang ging.
Magane hatte als Vorbereitung so viele Türen wie möglich verschlossen und versiegelt, nicht, dass ihn das hätte auf Dauer draußen halten können, aber vielleicht würde er sich erst mit den offenen Erinnerungen beschäftigen bevor er sich gewaltsam Zugang zu den verschlossenen verschaffte. Gedacht wie ein Dieb... irgendwie hatte sie de Sache ja angehen müssen. Und wenn sie ihre Träume der vergangenen Nacht richtig interpretierte, hatte sie damit auch nicht gänzlich falsch gelegen. Er schien sich auf das Wachhaus konzentriert zu haben. Auf dem Weg dorthin kam sie an keiner aufgebrochenen Tür vorbei. Im Gegensatz zu ihren echten Träumen, an die sie sich meist nur bruchstückhaft erinnerte, waren ihr die Bilder der letzten Nacht klar vor Augen. Der größte Teil war vollkommen absurd, sie kannte die Kollegen seit vielen Jahren und auch wenn man grundsätzlich jedem einen Mord zutrauen musste, waren die Morde so doch äußerst unwahrscheinlich.
Was ihr wirklich Sorgen machte war der Traum von Senray und der von Ophelia. Diese beiden basierten nicht auf Erinnerungen. Sie hatte keine Erinnerung an Senray, die die Kontrolle über ihren Körper an den Feuerdämon verlor, das war eine bloße Befürchtung, nichts weiter. Und Sebastian konnte davon nichts wissen, also kam dieser Traum aus ihrem Unterbewusstsein und war echt. Sollten sie sich je wiedersehen würde sie mit Senray darüber reden müssen und davor graute ihr schon jetzt. Der Traum von Ophelia war das genaue Gegenteil, der hatte nichts mit ihr zu tun, der kam nicht aus ihrem Unterbewusstsein, der kam ausschließlich von ihm. Ein persönlicher Designeralptraum nur für sie. Dabei hätte sie genügend Erinnerungen an Ophelia gehabt, die man hätte manipulieren können, aber stattdessen hatte er ein Szenario erschaffe, dass sie zusätzlich an der Flucht hindern sollte. Die unmissverständliche Botschaft lautete: Wenn sie versuchen sollte zu fliehen würden sie beide sterben, auf grausame Weise. Dabei hatte sie längst begriffen, dass sie nicht fliehen konnte, nicht solange Sebastian lebte. Und mit einem Pflock, selbst wenn sie einen hätte, wäre sie niemals schnell genug. Es war aussichtslos. Das einzig Gute daran war, dass sie die Kollegen, die sie in der letzten Nacht einer nach dem anderen getötet hatten, nie wieder sehen musste und sich somit auch das Gespräch mit Senray erübrigte.
Und Ophelia... sie würde es verstehen, vermutlich hatte er ihr Ähnliches angetan.
Magane öffnete eine andere Tür zu einer längst vergangenen Erinnerung. Beißender alchemischer Gestank quoll daraus hervor. Mal sehen war er damit anstellen würde.

10.08.2017 0: 14

Kanndra

Schusis Schnauben schickte einen Schwall feucht-warme Luft in ihren Handteller, als Kanndra dem alten Esel ein wenig Hafer fütterte. Sanft streichelte sie mit der anderen Hand über das struppige Fell an seinem Hals.
"Schusi, mein Junge, du wirst auch schon grau an den Schläfen", neckte sie den Hengst, dessen natürliches Rot tatsächlich langsam von immer mehr grauen Haaren durchzogen wurde. Seine legendäre Schnelligkeit hatte sich zwar schon seit einiger Zeit ein wenig reduziert, dennoch war er noch immer der Schnellste. Deshalb wurde er auch noch immer für FROG-Einsätze bevorzugt ausgewählt. Er war ein kräftiges Tier und an die mitunter recht hektischen und lauten Aktionen gewöhnt. Es gab kaum etwas, was den erfahrenen Esel noch schrecken konnte. Nichts außer Glocken.
Als Antwort schnaubte Schusi wieder, als hätte ihn die Bemerkung amüsiert oder er wolle sie als irrelevant abtun.
Die Späherin fuhr mit dem Streicheln fort und arbeitete sich systematisch von vorne nach hinten vor, denn sie wollte dem Esel nicht nur ein wenig Zuwendung geben, sondern auch seinen allgemeinen Zustand überprüfen. Sie hatte sich dafür entschieden, auch diesmal Schusi vor den Karren zu spannen, wenn sie heute Mittag zum Rettungseinsatz aufbrachen. Doch natürlich nur, wenn es dem Tier gut ging. Offiziell würde sie zu einem Schmied fahren, um die Räder überprüfen zu lassen. Praktischerweise hatte dieser seine Zelte in einem Mietstall aufgeschlagen, der in der Nähe ihres Einsatzortes lag, so dass sie den Karren tatsächlich dorthin lenken und ihn dort unterstellen würde.
Schließlich zufrieden mit ihrer Inspektion tätschelte sie dem Esel noch einmal den Hals und fütterte zur Belohnung fürs Stillhalten eine Möhre. Dann wandte sie sich der Nachbarbox zu. Hier war der Sohn von Schusi mit seiner Mutter untergebracht. Der junge Hengst hatte fast genauso rotes Haar wie sein Vater und war genauso wild auf Mohrrüben wie dieser. Noch war er zu klein für das Ziehen eines Karrens, aber die langen, kräftigen Beine ließen hoffen, dass er seinem Vater auch in Schnelligkeit einmal nicht nachstehen würde. Als auch der kleine Basti seinen Teil an Aufmerksamkeit bekommen hatte, steckte Kanndra den Beutel mit den restlichen Möhren in ihren Rucksack. Es schadete nie, eine Extraportion für den Rennesel im Gepäck zu haben.

Als sie die Kantine betrat, hatten sich bereits Jules, Esther und Rogi um einen Topf versammelt, der auf einem Tisch an der hinteren Wand stand. Madame Piepenstengel schwang eine Kelle, die der Späherin etwas überdimensioniert vorkam. Die anderen schienen sich stumm darum zu streiten, wer als erster in den sauren Apfel beißen bzw. die stinkende Brühe schlürfen musste.
"Was is denn nu? Erst wird Brühe bestellt, dann will keiner. Das is keine Art mit dem Küchenpersonal umzugehen! Los jetzt, Schüsseln her!", keifte die Köchin.
Daraufhin fasste die Igorina sich ein Herz und ließ sich die Schüssel füllen.
"Wo ist denn Rach?", erkundigte sich Kanndra als die Piepenstengel sich wieder in die Küche verzogen hatte und sie schließlich alle vier mit vorsichtigen Schlucken und gekrauster Nase an der Brühe nippten.
Jules zwinkerte ihr zu. "Lord Vetinari hat kurzfristig eine Arbeitsbesprechung anberaumt."
"Oh. Ich hoffe, er ist rechtzeitig zurück."
"Das hoffen wir alle."
Pit Püreh kam herein und begann mit einem schmutzigen Lappen über die Tische zu wischen. "Trinkt ihr das Zeugs echt freiwillig?", fragte er mit einem Nicken zu den dampfenden Schüsseln in ihren Händen.
"Das... fördert die Gefundheit ... und verlängert das Leben."
Zweifelnd schaute der Rothaarige die Igorina an."Wenn du das sagst. Is wahrscheinlich wieder so ne Mode wa? So wie letztens, da wollte doch tatsächlich einer, dass ich ihm püriertes Gemüse ins Glas kippe. Bekloppt." Mit diesen Worten zog er wieder ab, aber nicht ohne Esther noch ein Grinsen zu schenken, dass sie gekonnt ignorierte.
Kanndra schüttelte sich. "Und dann schmeckt es auch noch total widerlich. Naja, was solls? Runter damit." Sie holte tief Luft und trank die letzten Schlucke ohne Abzusetzen. Anschließend erhob sie sich und setzte ihren Rucksack wieder auf.
"Ein paar Dinge habe ich noch zu erledigen. Wir sehen uns dann... später."

12.08.2017 13: 24

Ophelia Ziegenberger

Rogi war nervös. Natürlich, sie alle waren das. Aber sie vermutete, dass es sie doch nochmal im besonderen Maße betraf. Die Situation war einfach absurd! Hatte man schon jemals davon gehört, dass eine Igorina mit einem Mob gegen Ihresgleichen zog? Nun, eigentlich zogen sie ja nicht gegen das ältere Dienerpärchen, sondern gegen deren Arbeitgeber. Aber trotzdem! Etwas in ihr wand sich bei dem Gedanken. Und das machte es doppelt schlimm. In einem Winkel ihres Seins pochte immer und immer wieder der Gedanke, dass es eben nicht einfach nur gegen einen Schwerverbrecher ging, sondern zugleich auch gegen einen Vampir. Einen der Alten. Einen Meister.
Stelle keine Fragen! Niemals widersprechen!
Rogis Blick wanderte gedankenversunken zum bezogenen Himmel hinauf und verfolgte das Spiel der schwarzen Wolken im kränklich gelben Licht der blassen Mittagssonne.
Im Gegensatz zu den Anderen, hatte sie ihn schon persönlich kennenlernen müssen! Was würde geschehen, wenn sie wieder in seinen direkten Wirkradius geriete? Hatte Wilhelm wirklich jeden Einfluss des Alten rückgängig machen können?
Im Moment fühlte sie vor allem Aufregung und Unsicherheit, Sorge um die beiden eingekerkerten Kolleginnen, sowie umfassende Wut, wenn sie an den Greis in seiner Gruft irgendwo zu ihrer aller Füßen dachte. Der Alte hatte zu lange schalten und walten dürfen, wie es ihm beliebte, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen worden zu sein.
Aber wie würde das sein, wenn sie ihm gegenüberstand?
Und würden die Anderen seiner mächtigen Aura entgegentreten können? Hätten sie dem Impuls, vor dem Vampir auf die Knie zu fallen, etwas entgegenzusetzen? Oder würde der Kampf fatal kurz werden?
Sie gab sich einen Ruck und schloss zu den anderen ihrer Gruppe auf.
Konzentration! Zweifel und Unsicherheiten würden sie nicht weiter bringen. Jetzt galt es, ganz bei der Sache zu sein, in den Untergrund zu gehen, den Weg zu Ophelia zurück zu finden... und damit sicherlich auch den Weg zu ihm. Und dann...

14.08.2017 12: 47

Kanndra

Der Karren stand trocken und sicher im Mietstall und das war wohl auch gut so - auch wenn es noch nicht regnete, am Horizont ballten sich Wolken, deren Farbe Kanndra gar nicht gefiel. Das schon fast schwarze Grau war schon schlimm genug, doch zusätzlich mischte sich noch ein ungesunder Gelbton darunter. Die Luft war unangenehm feucht und blies ihr einen heftigen Wind entgegen, als sie sich auf den Weg zum Anwesen machte. Sie hatten verabredet, dass jeder seine Fackel mitbrachte und Kanndra hatte zusätzlich noch die beiden Mistgabeln für ihre Gruppe dabei. Ihre Uniformjacke hatte sie im Karren gelassen und stattdessen einen alten Mantel in verwaschenem Schwarz übergezogen. Sie würde Jules, Rogi und Mina am Gänsetor treffen, von wo sie zum Anwesen Raculs laufen und sich dort Zutritt über den Haupteingang verschaffen wollten. Nyria, Wilhelm, Esther und Rach dagegen würden den von der Werwölfin ausgekundschafteten Weg ins Labyrinth nehmen. Die ersten Blitze kamen, noch ehe sie am Ziel angekommen war.
Rogi nickte ihr zur Begrüßung ernst zu und gemeinsam warteten sie an einem Marktstand mit Obst auf die anderen beiden.
"Scheußliches Wetter", lautete Jules Kommentar, als er als Letzter eintrudelte. Sie hatten zwischenzeitlich bereits böse Blicke von der Obstverkäuferin geerntet, weil die wenigen Kunden, die bei dem immer schlimmer werdenden Wetterleuchten unterwegs waren einen deutlichen Bogen um die Knoblauchfahne schlugen, die ihnen von dem Stand entgegenschlug. Auch Mina hielt so viel Abstand wie sie konnte, obwohl sie vermutlich längst das Atmen eingestellt hatte.
Die Späherin nickte und warf einen Blick auf ihre Taschenuhr. "Darum lasst uns nicht mehr länger warten. Die anderen dürften ebenfalls bereits in Position sein."
Als das Streichholz aufflammte und kurz darauf die erste Fackel in Brand setzte, standen in Sichtweite jedoch bereits die ersten Schaulustigen bereit. Mit dem untrüglichen Instinkt des Ankh-Morporker Bürgers ahnten sie, dass es gleich Ereignisse geben würde, die dem Zuschauen würdig waren und keinesfalls verpasst werden durften. Auf dem kurzen Weg bis zum Grüngansweg sammelten sich weitere Interessierte hinter dem kleinen Mob. [19]
Alle platzierten sich in einem Halbkreis, als dieser schließlich das Anwesen erreichte. Allerdings zögerte die Gruppe plötzlich.
"Seid ihr sicher, dass wir das Richtige tun? Vielleicht sollten wir ein anderes Mal wiederk...", der Rest der Worte der Vampirin gingen in einem Donner unter, doch Kanndra wusste was sie meinte. Auch sie hatte das Gefühl, dass sie hier am falschen Ort waren und noch dazu zu einer völlig falschen Zeit.
Auch Jules ließ die Fackel sinken. "Wir stören doch bestimmt gerade."
Hinter ihnen löste sich der Halbkreis aus Neugierigen langsam auf, als auch die Bürger Ankh-Morporks das Gefühl bekamen, dass sie jetzt lieber ganz woanders sein wollten.
Die Späherin sah ihnen hinterher und drehte sich bereits um, um zu Schusi zurück zu kehren. Irgendetwas sagte ihr, dass dieser sie gerade brauchte. Doch da wurde der Anhänger an ihrer Brust ganz warm und sie hatte kaum zwei Schritte getan, als ihr eine Erkenntnis dämmerte.
"Schutzzauber", raunte sie den anderen zu. "Lasst euch nicht davon irritieren." Sie ging die wenigen Schritte auf die Eingangstür zu, obwohl ihr dabei gar nicht wohl war. Noch immer konnte sie das Gefühl, unberechtigterweise lästig zu fallen nicht ganz abschütteln. Deshalb fiel ihr Gang vermutlich weniger entschlossen aus, als sie beabsichtigt hatte. Trotzdem folgte ihr der Rest der Gruppe. Sogar einige wenige Bürger standen noch unentschlossen herum und merkten jetzt noch einmal auf, als es wieder etwas interessanter zu werden versprach.
Kanndra klopfte erst ein wenig zaghaft, dann kräftiger an die Tür.
Nach wenigen Augenblicken wurde diese geöffnet und ein Igorpaar blickte sie in einer Mischung aus Wut und Angst an.
"Waf foll daf?", siteß der männliche Igor barsch aus.
Rogi schien sich angesichts ihrer Verwandten lieber unsichtbar machen zu wollen, Mina hielt sich als eher ungewöhnliche Mob-Besetzung ebenfalls dezent zurück und Jules schien noch immer an der Vorstellung eines ungebetenen Besuchers zu knabbern.
"Äh.. wir wollen nicht stören...", begann der Leutnant, riss sich dann aber zusammen und fuhr mit lauterer Stimme fort: "... aber dies ist ein offizieller Mob und ihr seid gekündigt! Also packt eure Sachen und haut ab!" Von hinten kam zögerlicher Applaus und die Worte schienen den Bann entgültig gebrochen zu haben. Mit neuer Entschlusskraft drängte der "Mob" die Igors einfach beiseite ohne auf deren Reaktion zu achten und betrat das Eingangsfoyer.

14.08.2017 17: 24

Nyria Maior

Mit einem schnappenden Geräusch gab das Schloss des Dienstboteneingangs unter Nyrias Dietrichen nach.
"Na endlich." hörte sie Esther murmeln, als sie ein Streichholz anriss und ihre Fackel entzündete. Nyria ignorierte den Kommentar geflissentlich. Selbst durch die Knoblauchwolke, die die beiden menschlichen Mitglieder ihres Mobs einhüllte konnte sie riechen, dass die Assassinin genauso angespannt war wie sie alle.
Entschlossen packte die Werwölfin mit der freien Hand ihre Mistgabel und trat festen Schrittes in den Hof des Internats.
"Folgt mir!" knurrte sie mit angemessen zur Schau gestellter Grimmigkeit und führte ihre Mitstreiter eilig über den Hof zur Küchentür. Am Himmel in Richtung Sto-Ebene ballten sich schwärzliche Wolken, in denen unregelmäßiges Wetterleuchten aufflackerte. Selbst das Wetter schien auf ihrer Seite zu sein.
Ein kräftiger Tritt ließ die Tür drinnen gegen die Wand krachen und der Wütende Mob stürmte die Küche. Mehrere Küchenmädchen stoben kreischend davon. Eine dicke, resolut wirkende Frau, wahrscheinlich die Chefköchin, hob halbherzig ein Nudelholz.
"Aus dem Weg!" knurrte Nyria und schwang die Mistgabel herum.
Die Köchin wich zurück.
"Wir haben eine Platinplakette!" protestierte sie noch schwach, aber der Wütende Mob befand sich bereits auf der Treppe zum Erdgeschoss.
Ein leicht irres Grinsen stahl sich auf Nyrias Lippen. Auch wenn sie gerade Hals über Kopf in die Gefahr rannten, irgendwie machte die Sache auch eine Menge Spaß.
Die Schülerinnen, die ihren Weg durch das Gebäude kreuzten, flohen vor ihrem fackel- und mistgabelbewehrten Anblick wie ein Haufen aufgescheuchter Hühner und hinterließen nur ein leises Rascheln pastellfarbener Spitze. Ein weiterer kräftiger Tritt machte mit der Tür des Blassvioletten Salons kurzen Prozess. Inne zu halten und das Schloss auf die altmodische Weise zu knacken, wäre für einen Wütenden Mob einfach schlechter Stil gewesen, befand Nyria und bedauerte ein wenig, dass sie auf den traditionellen Rammbock hatten verzichten müssen.
"Musste das sein?" bemängelte Esther. "Jetzt kann hier jeder hereinspazieren."
"Wir sind ein Wütender Mob, kein Schleichkommando." gab Nyria zurück. Sie durchquerte das Zimmer und lehnte ihre Mistgabel an das Bücherregal. "Krawall ist unser Geschäft. Traditionell müssten wir am Ende sogar das Gebäude anzünden, aber das würde uns die Schäffetage wirklich übel nehmen."
"Wo sie recht hat, hat sie recht, Schwesterchen." bemerkte der Inspektor. "Wenn dich die offene Tür so irritiert kannst du ja darauf aufpassen, während wir uns um den Zugang zum Labyrinth kümmern."
Nyria klappt das Wandpaneel zur Seite und wies mit einer einladenden Geste auf das zwergische Meisterwerk dahinter. Rach Flanellfuß beugte sich vor und nahm den Mechanismus gründlich in Augenschein, während Wilhelm Schneider hinter ihm ebenfalls einen Blick zu erhaschen versuchte.
Nach einem kurzen Augenblick nickte der Inspektor zufrieden. "Soweit ich erkennen kann, gibt es zumindest hier keine zusätzliche Sicherung durch eine Falle."
Nyria drückte Wilhelm ihre Fackel in die Hand, ließ die Umhängetasche, die sie bei sich trug, von ihrer Schulter gleiten und holte das dick in Stoffreste eingewickelte Päckchen hervor, dass Bregs ihr in einem unauffälligen Moment gegeben hatte. Vorsichtig entfernte sie die Umhüllung und betrachtete die Konstruktion aus einer Art Dietrich, einem Metallrohr und einer Zündschnur, die daraus herausragte. Angeblich sollte dieses Ding idiotensicher in der Anwendung sein.
"Was ist hier los?" donnerte eine kräftige Männerstimme aus der Richtung der Tür und Nyria warf einen schnellen Blick über die Schulter. Ein großer Mann mit einem Brustkorb wie ein Fass stand Esther Flanellfuß gegenüber und drohte ihr mit einem Knüppel.
"Wir kümmern uns drum." sagte der Inspektor leise und ließ Nyria und Wilhelm allein.
Die Werwölfin fletschte unwillkürlich die Zähne. Weiter machen. Bloß nicht inne halten, sondern schnell vollendete Tatsachen schaffen. Während in ihrem Rücken eine hitzige Diskussion stattfand, schob Nyria die dietrichartige Vorrichtung so tief wie es nur ging in das Schloss. Sie holte sich ihre Fackel von Wilhelm zurück und hielt sie an die Zündschnur, die sogleich funkensprühend Feuer fing.
"Alle in Deckung!" schrie Nyria so laut sie konnte und hechtete hinter einen zartvioletten Polstersessel. Sie sah, wie Flanellfuß-Geschwister den Hausmeister mit vereinten Kräften zurück auf den Flur schubsten und hinter der Wand in Deckung gingen. Wilhelm Schneider sah sich erst für einen kurzen Augenblick hektisch um, bis er sich schließlich auf der der Geheimtür abgewandten Seite des Bücherregals gegen die Wand drückte.
Zischend verschwand der Zündfunke im aus dem Schloss herausragenden Metallstab und Nyria sprach ein Stoßgebet zum Gott der Wächter, dass Braggasch Goldwart gewusst hatte was er tat, als er diese Sprengvorrichtung konstruiert hatte. Reflexartig klemmte sie sich den Griff ihrer Fackel zwischen die Zähne und hielt sich die Ohren zu.
Wenige Sekunden passierte nichts. Dann zerriss ein ohrenbetäubender Knall die Stille und Holzsplitter sowie Stücke von Putz und Mauerwerk flogen durch den Raum. Ein verbogenes Metallteil schoss über Nyrias Deckung hinweg und blieb in der gegenüberliegenden Wand stecken. Irgendwo klirrte Geschirr.
Nyria nahm die Hände von den Ohren und spähte hinter dem Sessel hervor. Eine Staubwolke vernebelte einen Teil der gegenüberliegenden Wand, doch die Werwölfin konnte das etwa tellergroße Loch an der Stelle, wo sich das zwergische Schloss befunden hatte, bereits erahnen.
"Wahnsinn." murmelte sie beeindruckt und nahm sich vor, Braggasch in nächster Zeit unauffällig einen Gefallen zu tun.
"Was... zum..." Die Stimme des Hausmeisters klang verunsichert.
"Glauben Sie mir." flötete Esther. "Das, was hier passiert ist langfristig zum Besten des gesamten Internats. Keine nächtlichen Kutschen mehr. Keine plötzlich verschwundenen Schülerinnen."
Ob es an der Charmeoffensive der Assassinin oder an der allgemeinen Überrumpelung durch die Sprengung lag, aus der Richtung des Hausmeisters kamen keine weiteren Einwände.
Neugierig näherte sich der Wütende Mob der Stätte der Verwüstung. Rach Flanellfuß lauschte für einen Augenblick an dem Loch in der Wand, schob anschließend die Fackel hindurch und leuchtete in das Dahinter.
"Was zu sehen?" erkundigte sich Nyria.
Der Inspektor holte seine Fackel zurück.
"Nur ein ganz schlichter Gang, der geradeaus und leicht abwärts führt. Es sind keine Wachen zu sehen."
"Vielleicht brauchen sie noch etwas, bis sie angelaufen kommen." bemerkte Esther.
Rach zuckte mit den Schultern. "Sollen sie. Überraschen können sie uns jedenfalls nicht mehr."
Nyria wurde ihre Fackel wieder an Wilhelm los, griff sich ihre Umhängetasche, klopfte den Staub der Explosion ab und zog sich hinter den Sessel zurück, der sich bereits als Versteck bewährt hatte. Gern hätte sie auf das, was nun kam, verzichtet. Schnell entledigte sie sich ihrer Kleidung, stopfte sie in die größtenteils leere Tasche und versteckte diese unter dem Sessel. Dann konzentrierte sie sich auf ihre wölfische Seite und wechselte die Form.
Die Gerüche von Mörtelstaub, altem Holz und Pulver Nummer 1 waren überwältigend, dicht gefolgt von der Knoblauchwolke, die Rach Flanellfuß und seiner Schwester ausströmten. Nyria streckte sich, sortierte die Anzahl ihrer Pfoten und trottete zu den anderen, die mittlerweile die ihres Schließmechanismus beraubte Tür aufgestemmt hatten.
Der Inspektor nahm ihr Wiedererscheinen mit einem knappen Nicken zur Kenntnis.
"Sind alle bereit?" erkundigte er sich.
Nyria bellte ihre Zustimmung und auch Esther und der Rekrut bejahten.
"Für Ophelia." murmelte Rach so leise, dass Nyria es nur dank ihrer Wolfsohren hören konnte, und betrat den Tunnel, dicht gefolgt von seiner Schwester.
Nyria folgte ihnen in zwei Schritt Abstand, die Nase dicht am Boden. Nach einigen Schritten nahmen die Gerüche der Explosion ab und die Werwölfin konnte Feinheiten erkennen. Mehrere Personen waren in den letzten Tagen hier entlang gekommen. Eine von ihnen war der Vampir mit der leichten Pfefferminznote, eine andere Spur roch menschlich, gewürzt mit einer kräftigen Prise Staub und jener Geruchsmischung die Nyria als 'Gerichtsmedizin' bezeichnete.
Während die Flanellfuß-Geschwister den Wänden große Aufmerksamkeit schenkten, gab sich Nyria große Mühe, auf der vampirischen Geruchsspur entlang zu laufen. Sie ging davon aus, dass die Bewohner des Verließes wussten, wo sie hintreten mussten, um nicht von Fallen flambiert oder aufgespießt zu werden, und konzentrierte sich auf andere, nicht von Lebewesen ausgehende Gerüche.
Doch alles was in ihre Nase stieg, als sie sich tiefer und tiefer in den Untergrund wagten, waren ihre Kameraden, die beiden fremden Spuren und der allgegenwärtige Hintergrundgeruch eines alten Kellers.

14.08.2017 17: 36

Mina von Nachtschatten

"Wohin jetzt?"
Glücklicherweise gestaltete sich das Erdgeschoss als vergleichsweise übersichtlich, also verteilte sich der "Mob", öffnete rigoros Türen und gab sich alle Mühe, einen möglichst aufrührerischen und zu allem entschlossenen Eindruck zu machen. Es war in gewisser Weise kurios, einmal auf der anderen Seite zu stehen. Mina hatte mehr als einmal einen echten überwalder Mob erlebt und im Vergleich dazu nahm sich ihr Grüppchen geradezu niedlich aus. Aber solange die Bedingungen erfüllt waren... Dass Gefühl, sie wären hier fehl am Platze hatte sich zudem mittlerweile vollkommen verflüchtigt.
Das Igorpaar unterdessen schien mit der Situation vollkommen überfordert. Nachdem es ihnen nicht gelungen war, sie an der Eingangstür abzuwimmeln, hatten sie nunmehr ihre Verwandte ins Visier genommen. Es war schließlich nur eine Frage der Zeit gewesen, bis diese ihnen auffiel. Die leise, aber nichtsdestoweniger verärgert geführte Diskussion begleitete ihre Durchsuchung der Etage als stetes Hintergrundraunen.
"... ihr habt keinerlei Befugnif..."
"Doch, die haben wir. Fämtliche formale Anforderungen find erfüllt, ef ift eure Pflicht..."
Mina öffnete eine weitere Tür und sah sich einem großzügigen Arbeitsbereich gegenüber, auf dem sich Geschirr in verschiedenen Stadien des Abwaschs befand. Küche. Wahrscheinlich weniger hilfreich.
"Ihr könnt daf nicht einfach fo tun!", schimpfte der Igor unterdessen. "Fudem, unter einem derart fadenscheinigen Vorwand hier auffutauchen, du follteft dich waf schämen!"
"Ja, nur fu, nur fu, daf ändert auch nichtf", gab Rogi gereizt zurück.
"Bitte..." Die Igorina wandte sich hilflos hin und her, in dem Versuch, sie alle zugleich im Auge zu behalten.
"Kellertreppe!", rief Kanndra in diesem Moment von weiter hinten. "Ich denke, das sollten wir uns genauer anschauen."
"Das klingt erfolgversprechend!" Jules tauchte aus einem anderen Zimmer auf. "Besser als, sagen wir, der Dachboden."
Doch der Igor dachte immer noch nicht daran, seine Stellung aufzugeben. Er schob sich zwischen Kanndra und die anderen und funkelte Rogi herausfordernd an. Diese hielt dem Blick stand. Für einen Moment war es still, doch dann begann der Oberfeldwebel zu sprechen und ihre Stimme war eiskalt:
"Waf wollt ihr noch hier? Nehmt eure Tasche und verschwindet. Ihr feid nicht mehr an diefef Hauf gebunden."
Langsam, ganz langsam sanken die Schultern des alten Igors herab. Er ballte sie Hände zu Fäusten. Dann trat er ruckartig einen Schritt beiseite und ließ sie passieren. Den Blick auf den Boden geheftet.

Sie betraten einen geräumigen Kellerraum. Im Halbdunkel waren mehrere gut gefüllte Regale zu erkennen; fein säuberlich übereinander angeordnete Stiegen mit Obst und Gemüse rechterhand der Tür, während sich diverse eingemachte und in Dosen konservierte Vorräte um die Ecke an der langen Wand des Kellers stapelten. Dem Eingang gegenüber türmte sich zudem ein mächtiger Stapel Kaminholz, ein Stück daneben befand sich eine Art quadratische Säule mit einer Klappe etwa auf Brusthöhe. Aber abgesehen davon, sowie einer weiteren Tür am fernen Ende des Raumes, gab es auf den ersten Blick nichts, was auf irgendeine Art besonders oder ungewöhnlich gewirkt hätte. Ein ganz normaler Vorratskeller eben. Nur, dass dieser Eindruck hier mit einiger Sicherheit dazu dienen sollte, den oberflächlichen Betrachter zu täuschen.
Kanndra drehte sich einmal um die eigene Achse und musterte die Einrichtung mit prüfendem Blick.
"Da müssen wir wohl suchen", meinte sie, "und hoffen. Und wenn sich hier kein Zugang befinden sollte..." Sie zuckte mit den Schultern und strebte dann der Säule mit der Klappe zu. Es klackte leise, dann ein Schaben Holz auf Holz. "Speiseaufzug", verkündete die Späherin kurz darauf. "Allerdings führt der Schacht nur nach oben."
"Tja, geheime Zugänge heißen nicht umsonst so." Jules kratzte sich am Kinn. "Und das da wird er wohl kaum sein." Der Assassine wies mit dem Daumen auf die hinterer Tür. "Dennoch, ich schau mir das mal an."
Da der hintere Teil des Raumes damit hinreichend untersucht wurde, wandte sich Mina der Einfachheit halber der Wand direkt neben dem Eingang zu. Sie spähte hinter die gestapelten Lebensmittel und unterzog die Mauer einer genaueren Betrachtung. Aber da war nur festgefügter Stein zu erkennen, höchstens mit kleinen Rissen in den Fugen. Es gab auch keinen wahrnehmbaren Luftzug oder etwas ähnliches, was auf einen versteckten Durchgang hingewiesen hätte. An dieser Stelle würde wohl nichts zu finden sein.
"Doch, hier ift etwaf", hörte sie Rogi leise murmeln, als habe diese ihre Gedanken gelesen. Die Igorina strich nachdenklich über das gestapelte Holz. "Hier irgendwo. Daf fpüre ich. Aber ich..."
Was auch immer sie hatte sagen wollen, es wurde von einem triumpierenden "Ha" unterbrochen.
Mit einem zufriedenen Grinsen tauchte Jules in der Zwischentür wieder auf.
"Meine Damen, ihr könnt eure Bemühungen einstellen. Denn hier drin gibt es, abgesehen von einigen wirklich erlesenen Jahrgängen, noch mehr Schönes zu entdecken."
"Das ging aber schnell." Kanndra stellte eine Dose ins Regal zurück.
"Tja, ich würde gern behaupten, dies läge an meinen hervorragenden Fähigkeiten." Jules hob in einer bescheidenen Geste die Hände. "Aber um ehrlich zu sein war der Zugang relativ einfach zu finden. Gut getarnt, aber eben nicht perfekt. Ich bin fast ein bisschen enttäuscht."
Der sich anschließende Raum entpuppte sich als Weinkeller. Jules führte sie direkt bis ans andere Ende durch. Dort war ein Stück Wand zurückgeglitten und offenbarte eine stabil aussehende Holztür.
"Immerhin ist sie abgeschlossen. Wer möchte sich die Ehre geben?"
Kanndra hatte ihre Dietriche schon in der Hand, bevor er den Satz zu Ende gebracht hatte und es dauerte nicht lange, da ließ sich die Tür nach innen aufdrücken. Absolute Schwärze quoll ihnen entgegen und in der tiefen Stille klang das leise Knistern der Fackeln geradezu unangenehm aufdringlich.
"Na dann."
Sie betraten nacheinander einen steinernen Gang. Langsam. Vorsichtig. Bis zu diesem Punkt war alles noch relativ planbar gewesen... doch das, was nun vor ihnen lag, würden sie nur mit Glück, im Vertrauen aufeinander und ihre Fähigkeiten bewältigen können. Die große Unbekannte. Jetzt wurde es ernst.
In stillem Einvernehmen übernahm Kanndra die Führung der Gruppe, die anderen folgten dicht auf. Jeder Schritt wurde mit Bedacht gesetzt, die Blicke huschten von einer Wand zur anderen, die Augen suchten nach Unregelmäßigkeiten oder Hinweisen auf Fallen, wobei das flackernde Spiel von Licht und Schatten, welches die Fackeln auf die Wände malten, nur bedingt hilfreich war. Die Sinne eines jeden mussten in Alarmbereitschaft sein. Alle Sinne. Entsprechend beschloss Mina in diesem Moment, vorsichtig mit dem Riechen zu beginnen. Sie hatte die eigene Atmung weitestgehend eingestellt, als sie aufgebrochen waren - der Knoblauchdunst, welcher die Gruppe umwaberte, war auch so schon schlimm genug, den musste man nicht auch noch aktiv aufnehmen. Aber jetzt... Die Vampirin wappnete sich innerlich und sog dann langsam etwas Umgebungsluft ein. Es gelang ihr auch tatsächlich, nur kurz im Schritt zu verharren und wie in einer sich bewusst orientierenden Geste nach der Wand zu tasten. In Wahrheit gestaltete es sich deutlich schwieriger als erhofft, es sich nicht anmerken zu lassen, dass die Geruchskeule im wahrsten Sinne des Worts atemberaubend war. Mina wurde übel und der Gang drehte sich einmal nach rechts, bevor er wieder zurückschnappte. Mit Macht verdrängte sie den Impuls, einige Meter hinter der Gruppe zurückzufallen, Abstand zwischen sich und den Knoblauchdunst zu bringen. Nein, es musste ihr gelingen, diesen und den dumpfen Mief des Tunnels als Hintergrundgeruch abzutun. Nur dann war es möglich, Veränderungen zu bemerken. Einfach möglichst flach atmen, nur eine feine Geruchsspur passieren lassen und dabei konzentriert bleiben. Das musste doch machbar sein! Dennoch war sie im ersten Moment noch so mit sich selbst beschäftigt, dass sie beinahe in Jules hineingelaufen wäre, der wenige Schritte vor ihr Halt gemacht hatte. Die Gruppe hatte die erste Gangecke erreicht.
Kanndra wagte einen vorsichtigen Blick in den abzweigenden Gang.
"Es sieht aus, als wäre alles in Ordnung", meinte sie, auch wenn ihr Tonfall deutlich machte, dass sie damit keinesfalls jede Gefahr von vornherein ausschloss.
Jules runzelte die Stirn.
"Riecht ihr das auch?"
Rogi schnupperte.
"Feltfam."
"Was denn?" Mina seufzte, als die anderen ihr verwunderte Blicke zuwarfen. "In ein paar Minuten ist meine Nase vielleicht auch soweit, aber im Moment..."
"Ah, richtig, da gab es ja diese gewisse... Problematik", Kanndra nickte. "Es riecht trocken", erklärte sie dann. "Zu trocken für einen unterirdischen Gang."
"Und feht euch mal die Wände an." Die Igorina streckte ihre Fackel nach vorn und wies auf die Mauern, welche sich nach einigen Metern allerdings wieder in der Dunkelheit verloren. "Etwaf zu fauber, wenn ihr mich fragt."
"Und was machen wir jetzt?" Kanndra wiegte den Kopf. "Einfach auf gut Glück weitergehen scheint mir keine gute Idee."
"Naja, wenn wir von hier nichtf weiter erkennen können..."
"Ich weiß nicht wie es euch geht, aber mir bereitet der Gedanke, mit Fackeln in einen verdächtig trockenen Gang zu gehen, bevor wir wissen, was sich darin befindet, irgendwie Magenschmerzen", sagte Jules. "Allerdings..." Er sah Mina nachdenklich an. Sie nickte. Offenbar hatten sie den gleichen Gedanken.
"Nun, ich kann ja einen Blick ohne Licht riskieren", sagte sie. "Wenn ihr mit den Fackeln hinter der Ecke zurückbleibt."
"Irgendwelche Einwände?" Der Assassine sah in die Runde.
"Wir können ja schließlich nicht ewig an dieser Ecke herumstehen." Kanndra schien von der Idee zwar nicht begeistert, nickte aber. "Und eine Alternative haben wir wohl auch nicht."
Damit zogen sich die Späherin, Rogi und Jules ein Stück zurück und mit dem Licht wich auch der Knoblauchgeruch so weit, dass selbst Mina nach kurzer Zeit den eigentümlich trockenen Geruch wahrnehmen konnte. Sie schloss kurz die Augen, um sich schneller auf die absolute Dunkelheit vor ihr einstellen zu können und sah dann erneut in den Gang. Das Bild, welches sich bot, unterschied sich nicht großartig von dem davor.
"Ich gehe ein paar Schritte, vielleicht kann ich weiter vorn etwas erkennen", teilte sie denn anderen mit.
"In Ordnung, aber sei vorsichtig."
"Natürlich. Ich werde nicht lange weg sein."
Behutsam setzte Mina einen Schritt nach dem anderen, ihre Umgebung genau im Auge behaltend. Während der ersten Meter veränderte sich nichts, doch dann schien es ihr so, als würden die Wände voraus noch etwas sauberer werden. Nein, nicht nur "noch etwas" - ab einem bestimmten Punkt schien sie jemand geradezu blitzblank geschrubbt zu haben. Diese Stelle befand sich in etwa in der Mitte des Gangabschnitts und kurz davor nahm auch der bewusste Geruch dezent zu. Mina blieb stehen und betrachtete die sichtbare Schmutzkante zwischen den beiden Mauerabschnitten. Sie streckte die Hand aus, überlegte es sich aber anders, kurz bevor ihre Finger die Steine berührten.
"Jules?", fragte sie. Sie war noch nicht weit genug gekommen, als dass man nicht in normaler Lautstärke hätte kommunizieren können. Es wurde heller, Schritte erklangen hinter ihr und der Assassine tauchte an ihrer Seite auf, Kanndra und Rogi im Schlepptau. Mina wies auf den vorausliegenden Gangabschnitt. "Was hältst du davon?"
"Hmm..." Jules ließ sich Zeit mit einer Antwort, ging ein paar Mal zwischen den Wänden hin und her, hockte sich hin, spähte knapp über den Boden.
"Ich bin mir nicht ganz sicher", meinte er dann, "aber es gibt da einen eher seltenen Fallentyp, welcher durch eine versenkbare Steinplatte im Boden ausgelöst wird. Daraufhin wird eine Substanz in den Gang gesprüht, welche meist fatale Folgen für all jene hat, die ihr ausgesetzt sind. Und gemessen an der Länge dieses Abschnitts", er schloss den sehr sauberen Bereich mit einer Geste ein, "dürfte die dazugehörige Platte in diesem Fall zu groß sein, um einfach hinüberzuspringen. Es gibt also zwei Möglichkeiten: Die Falle aus einem gehörigen Sicherheitsabstand auslösen oder aber versuchen, sie irgendwie zu entschärfen." Er sah sich suchend um. "Ich zumindest würde mir keine Falle ins Haus holen, zu der es nicht auch auf der äußeren Seite einen versteckten Aus-Hebel gibt, für den Fall, dass ich in die Verlegenheit kommen, hier festzusitzen." Fachmännisch begann er, die Wand einer neuerlichen Musterung zu unterziehen.
"Also könnten wir etwas werfen und schauen, was passiert", Kanndra nickte.
"Waf haben wir denn dabei?"
"Die Mistgabel dürfte zu viel Lärm verursachen."
"Wartet mal!" Die Späherin kramte in ihrem Rucksack und förderte einen Beutel zutage. "Das müsste doch gehen."
Rogi legte den Kopf schief.
"Möhren?"
"Eine Extraportion für Schusi. Aber ich denke, im Sinne der Sache kann er darauf verzichten."
Jules kehrte von seiner erfolglosen Suche nach einem Bedienmechanismus für die potenziell vor ihnen liegende Falle zurück. Er wirkte etwas frustriert.
"Und im Sinne einer Zeitersparnis plädiere auch ich für den Versuch." Er nahm den Möhrenbeutel von der Späherin entgegen. "Geht vorsichtshalber noch ein paar Schritte zurück."
Der Assassine wog das Wurfgeschoss kurz in der Hand, verlagerte dann das Gewicht auf das vordere Bein, nahm Maß... Der Beutel flog in einem flachen Bogen durch den Gang und traf mittig auf dem Boden des fraglichen Abschnitts auf, kollerte ein Stück weiter. Und dann kam es zu einer Art Explosion aus Licht und Hitze. Heiß fauchend schossen Flammen aus den Wänden vor ihnen, verwandelten den Gang in ein brennendes Inferno, leckten über dem Stein, tosten in ihren Ohren. Die dadurch erzeugte Hitzewelle ließ den Trupp geschlossen einen Satz zurück machen. Sie stolperten gerade außerhalb der Reichweite der Funken, welche von der Decke herabregneten. Dann war der Spuk mit einem Mal vorbei und lediglich die wabernden Luftschichten erinnerten noch daran, dass da eben die reine Hölle getobt hatte.
Einen Moment herrschte betroffenes Schweigen.
"Tja..." Jules wischte sich ein paar Rußflocken vom Ärmel. "So viel zur Paranoia des Hausherrn."
Kanndra starrte immer noch entgeistert in den Gang vor ihnen.
"Ich habe ja mit einigem gerechnet - aber sowas?"
"Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, genau an der Stelle stehen geblieben zu sein", murmelte Mina.
"Und waf machen wir jetft?" Rogi rümpfte die Nase. "Waf, wenn die Falle nicht nur ein fondern jedef Mal auflöft, wenn jemand die Bodenplatte betritt?"
"Das müsste man versuchen."
"Dann jetzt doch die Mistgabel?"
"Vielleicht könnte man darüber dauerhaften Druck ausüben..."
"Haft du daf gerade gefehen? Dafu müffte man viel fu nah dranftehen!"
Sie sahen sich nachdenklich an. Dann stöhnte Kanndra mit einem Mal entnervt auf und verbarg das Gesicht in den Händen.
"Was sind wir doch verbohrt! Leute, wir kommen gerade aus einem Raum voller Lebensmittel. Durchaus roll- und werffähiger Lebensmittel."
Bei einer anderen Gelegenheit wäre es an dieser Stelle vielleicht interessant gewesen, über die Ironie der Situation und den Tunnelblick von Wächtern im Einsatz zu diskutieren, aber im Lichte der bereits verstrichenen Zeit wurde an jedem Kommentar gespart und die Energie vielmehr darauf verwandt, weitere Testobjekte herbeizuschaffen. Kurz darauf rollten oder flogen etliche Bohnendosen durch den Gang und bei jeder hielten die vier unwillkürlich den Atem an, bereit, sofort zurückzuweichen, sollte sich das Ereignis von vorhin wiederholen. Doch es geschah... nichts. Aber erst, als sich in etwa so viele Dosen auf der Bodenplatte befanden, wie es ihrem gemeinsamen Gewicht entsprochen hätte, beschlossen sie, dass es jetzt sicher wäre, den Weg fortzusetzen. Der Trupp ließ die Falle rasch hinter sich und drang weiter in die Dunkelheit des Labyrinths vor.

14.08.2017 20: 44

Wilhelm Schneider

Das war also jenes Gefühl, welches er sich ursprünglich so sehr gewünscht hatte. Der lange zurück liegende Grund für seinen Wachebeitritt.
Wilhelm versuchte, sich zugleich auf den dunklen Gang, als auch auf die Emotionen in seinem Inneren zu konzentrieren.
Da war Aufregung. Die drei schnellen Herzschläge untermalten das drängende Gefühl dramatisch, ließen seine Sinne unter äußerster Anspannung vibrieren.
Unsicherheit. Rogi Feinstich war sehr davon überzeugt gewesen, dass sie mit Fallen in diesem unterirdischen Bereich der Lauer zu rechnen hätten. Und auf das Gespür einer Igorina sollte man sich besser verlassen. Hatte er gelesen. Aber wo waren sie dann, diese Fallen?
In jeder Hand eine Fackel, huschte sein Blick an den Wänden entlang, vor und zurück, ebenso, wie dies die Blicke der anderen wohl taten, während sie in bedachtem Tempo dem Ungewissen entgegen strebten. Rach ging links vor ihm, Esther zu dessen Rechten, während Nyria in ihrer vierbeinigen Gestalt die Gangmitte und deren Boden schnüffelnd zu untersuchen schien.
Der Schein ihrer Fackeln flackerte unangenehm hell voran.
Der Vampir schloss immer wieder für eine Sekunde die Augen, um seine Nachtsicht zu relativieren. Aber irgendwie funktionierte das nur besorgniserregend ungenügend.
Seine Sicht war eindeutig leicht beeinträchtigt, so seltsam gedimmt wie ihre Fackeln inzwischen wirkten. Vielleicht sollte er den Anderen Bescheid sagen, dass auf seine Augen gerade kein Verlass war? Dass er damit noch weniger nützlich wurde, als ohnehin schon?
Fast hätte er sich dazu durchgerungen, da hellte seine Sicht wieder auf und der dunkle Gang schälte sich mit schnell deutlich werdender Klarheit aus den Schatten heraus, mit jedem Schritt, den er tat, weitere Meter in der Ferne offenbarend.
Wilhelm straffte erleichtert die Schultern.
Was auch immer das eben gewesen war, gut, dass er sich nicht die Blöße gegeben hatte. So war das doch schon deutlich besser. Vielleicht könnte er nun irgendwas Verdächtiges erkennen, Anzeichen, verräterische Flecken oder so. Auf jeden Fall etwas winzig Kleines. Denn einen beschrifteten Hebel, zum Auslösen irgendeiner Falle, würden sie wohl eher nicht vorfinden. Also etwas Unscheinbares, irgendwas, das man leicht übersehen konnte...
Er blieb abrupt stehen, als ihm klar wurde, warum er plötzlich wieder so viel besser sehen konnte: Die Kollegen mit den störenden Lichtquellen befanden sich inzwischen allesamt hinter ihm, statt dass sie, wie zuvor, voran gegangen wären! Er hatte seine optische Wahrnehmung lediglich - ungestört von ihnen - auf den nächtlichen Flugmodus einstellen können! Und noch etwas wurde ihm in dem Moment bewusst, als er sich zu den Kollegen umdrehte. Die Fackeln waren tatsächlich dunkler geworden, es handelte sich dabei keinesfalls um eine optische Täuschung!
Irgendwas spielte mit dem Licht und die Kollegen wurden langsamer? Das konnte nichts Gutes bedeuten!
"Was ist mit euch?"
Rach holte tief Luft und blieb stehen.
"Geht gleich wieder... etwas außer Puste..."
Wilhelm machte schnell einige Schritte zurück und betrachtete die beiden Menschen in seinem Gefolge genauer.
Rach schien inzwischen permanent um Atem zu ringen, etwas, das schlichtweg absurd anmutete, wenn man sich allein schon dessen Bild während des Übungsparcours vor einigen Tagen vor Augen führte. Und auch seine Schwester war aussergewöhnlich blass und ihre Augenlider flatterten leicht. Das hatte nichts mit dem überraschenden Verlust von Kondition zu tun.
Er lauschte bewusst auf ihre Herzen und diese schienen mit einer unsichtbaren Macht zu ringen und um jeden weiteren Atemzug für die sterblichen Körper zu kämpfen.
Die Werwölfin kam zu seinen Füßen angetrottet und blickte fast gehetzt zu ihm auf, während ihr die Zunge lang aus dem Maul hing. Sie hechelte so schnell, dass es auf gar keinen Fall normal sein konnte.
"Verdammt! Irgendwas mit der Luft und ich bekomme es nur nicht mit, weil ich von Anfang an auf's Atmen verzichtet habe. Zurück! Los, macht schnell! Bevor ihr hier zusammenklappt. Wir müssen bis dorthin zurück, wo die Fackeln wieder normal brennen!"
Nyrias Fackel in seiner Linken verlosch bei seinen Worten prompt, als wenn er ihr ein Stichwort gegeben hätte.
Die Flanellfuss-Geschwister machten synchron auf dem Absatz kehrt. Nyria eilte mit derart hängendem Kopf den soeben entlang gekommenen Weg zurück, dass es in der schattigen Beleuchtung fast so wirkte, als wenn dem Gangboden ein pelziger Hügel entwachsen wäre, der ihnen nun schnell voranglitt.
Mit einem knisternden Fauchen brannten die verbliebenen Fackeln plötzlich wieder hoch und hell auf.
Die Truppe blieb stehen. Esther und Rach atmeten einige Sekunden lang, auf den Knien vorgestützt, einfach nur tief durch. Nyria hatte sich auf die Seite gelegt, so dass ihr schnelles Hecheln das seidige Fell ihrer Flanke im Fackellicht schimmern ließ.
Wilhelm beobachtete seine Kollegen mit Sorge.
"Geht es wieder?"
Rach nickte wortlos, nahm sich aber dennoch einen weiteren Moment, um trocken zu schlucken und durchzuatmen, ehe er mit grimmigem Blick in den vor ihnen liegenden Tunnel sagte:
"Irgendwas mit der Luft... oder besser gesagt, ohne Luft. Ich konnte atmen und gleichzeitig doch auch nicht. Es hat nichts gebracht!" Er sah zu der blassen Assasinin hinüber und seine Besorgnis war unübersehbar. "Esther? Alles in Ordnung bei dir?"
Diese winkte mit abfälligem Schnaufen ab, hielt sich aber sonst zurück. Stattdessen stemmte sie die Arme undamenhaft in die Hüften und legte den Kopf zum Atmen in den Nacken. Sie murmelte mit geschlossenen Augen und spöttischem Tonfall:
"Eine magische Falle. Hätte nicht gedacht, dass ich in sowas wirklich mal reinrenne. Erzähls niemandem, Bruderherz, ich warne dich!" Dann richtete sie sich wieder auf und klatschte in die Hände. Ihr Blick traf den des Vampirs und Wilhelm sah deutlich das übermütige Funkeln darin. "Das dürfte dann wohl ein so genannter Luftabschneider sein. Ein Kraftfeld, in dem bestimmte Bestandteile der normalen Atemluft fehlen, die aber für Menschen und Werwölfe zum Beispiel wichtig wären. Du hast Glück, Rekrut. Dich betrifft das nicht. Oder vielleicht sollte ich eher sagen, du hattest bisher Glück? Denn damit ist ja wohl klar, wer von uns das Arreal absteckt, nicht wahr?"
Wilhelm spürte ein unangenehmes Zusammenkrampfen in seinem Magen.
"Ich soll... gibt es keine andere... also..." Die schöne Assassinin blickte ihn weiter mit diesem mutwilligen Leuchten in ihren Augen an und ihre Lippen verzogen sich spöttisch. Wilhelm verstummte sofort wieder und senkte seinen Blick. Atemnot betraf ihn tatsächlich nicht. Und selbst, wenn er bei dieser Aufgabe auf andere Fallen stoßen würde... sein Weg war vorgezeichnet: Tiefer in dieses Labyrinth! Selbst wenn keiner seiner Kollegen mit ihm ginge. Somit konnte er auch gleich nur für sich vorangehen, um den drei Kollegen im besten Falle den Weg zu sichern. Er sah wieder auf und nickte. "In Ordnung. Gibt es einen ungefähren Richtwert, wie groß so ein Bereich im Durchschnitt ist?"
Sie wog ihre Antwort in einer unbestimmten Geste mit der schlanken Hand ab.
"Das hängt vom Können desjenigen ab, der den Bereich präpariert. Und davon, wie ernst der Auftraggeber es meint. Das ist tatsächlich eine klassische Tunnelfalle, auch wenn sie nur selten eingesetzt wird, einfach schon deswegen, weil der Zauber in die Länge gestreckt und am Anfang und am Ende der Gangstrecke verankert werden muss. Es soll damit verhindert werden, dass so Leute wie wir einfach durchmarschieren können. In normalem Tempo, oder gar so langsam schleichend, wie wir bisher unterwegs waren, würde einem die Luft ausgehen. Die Strecke dürfte also zumindest lang genug sein, dass sie dem Atemrhythmus zuwider läuft."
Wilhelm runzelte die Stirn.
"Und wie soll ich dann ohne selber zu atmen bemerken, wenn..."
Sie blickte erst demonstrativ auf die verloschene Fackel in seiner Linken, dann auf die wieder hell brennende in seiner Rechten, ehe sie ihn mit hochgezogener Augenbraue fixierte.
Der Vampir räusperte sich leise.
"Äh... ja, natürlich. Verstehe. Sehr gut."
Esther drehte sich leicht in der Hüfte, um zu ihrem Bruder zu schauen, der sich soeben wieder normal aufrichtete.
"Das ist doch in unser aller Sinne, oder, Bruderherz? Das ist diese Sache mit der Thiemarbeit und du siehst, ich bin dazu imstande."
Rach Flanellfuß warf ihm einen undeutbaren Blick zu.
Ein seltsam ungebetener Gedanke stieg in Wilhelm auf, zusammen mit dem Bild des Kollegen, wie dieser ihn damals erst hitzig zum Teilnehmen an dem Blasrohrversuch überredet und ihn dann eiskalt mit dem Betäubungsmittel abgeschossen hatte. Wie Rach ihn in den Schwindel geschickt und zu Boden gehen lassen hatte - und ihn alsdann desinteressiert, als Opfer, der Wirkung des Giftes überließ.
Die perfekte Gelegenheit für ihn, mich loszuwerden? Sich an mir zu rächen? Für alles, was ich mir seiner Meinung nach unerlaubt seiner Verlobten gegenüber herausgenommen habe?
Wilhelms Nackenhaare richteten sich wie in kühlem Luftzug auf.
Der Inspektor nickte langsam.
"Ja, Esther, es ist im Sinne des Thiems. Ich bezweifle zwar, dass deine Einstellung dahinter die gemeinte ist... aber der Plan ist gut. Ich bin dafür." Der Blickkontakt zwischen ihnen brach und Rach sah zu der Werwölfin hinunter, die sich ebenfalls schwungvoll aufrappelte und dann schüttelte. "Stimmst du ebenfalls zu?"
Nyria bellte einmal leise aber klar und verständlich. Sicherheitshalber ließ sie dieser verbalen Antwort noch ein Kopfnicken folgen.
Dann sollte es wohl so sein.
"Na gut... dann will ich mal." Er legte die beiden Fackelköpfe aneinander, bis auch die verloschene wieder brannte, und wandte sich dem dunklen Gang zu. "Ich gehe also einfach so lange hinein, bis das Feuer wieder gleichmäßig und hell leuchtet?"
"Richtig. Und vermutlich wäre es gut, wenn du dabei schneller als normal gehen würdest. Damit sie dir nicht vor dem Ende des präparierten Abschnitts ausgehen."
Er nickte. Und ging los.
Die Blicke der Kollegen folgten ihm und verstärkten das Prickeln im Genick.
Wie empfohlen, ging er zügigen Schrittes, beinahe mit seiner naturgegebenen Geschwindigkeit. Bald schon erreichte er die Kreuzung, mitten im undefinierbaren Nirgendwo. Und fast augenblicklich flammten die Fackeln wieder mit normaler Intensität auf. Er drehte sich um und betrachtete die beiden Menschen und die Werwölfin, die klein und irgendwie unwichtig wirkten in ihrem schwachen Lichtfleck inmitten des Tunnels, so viele, viele Meter entfernt.
Sie hatte richtig vermutet. Das ist eine Wegstrecke, die zu lang ist, um sie problemlos zu überstehen. Sie werden fast rennen müssen, wenn sie bei Bewusstsein bleiben wollen.
Er hob die Fackeln, um ihnen den Endpunkt des gefährlichen Arreals zu verdeutlichen. Dann legte er eine seiner Fackeln an dieser Stelle auf dem steinigen Boden ab und machte sich ebenso schnell auf den Rückweg.
"Kurz vor der Kreuzung scheint die Wirkung des Zaubers nachzulassen. Ist ein ganz schönes Stück Wegstrecke. Ich dachte mir, ich gehe mit euch mit, falls es einer nicht ganz schafft. Dann könnte ich schnell zugreifen und aus dem Bereich raushelfen."
Rach nickte kurz angebunden, beachtete ihn aber nicht weiter. Sein Blick taxierte bereits das sichtbare Wegstück. Esther schüttelte ihre Hände aus, die Fackel dabei hin und her wechselnd. Sie lockerte ihre Beine, als wenn sie zum Sprint ansetzen wollte.
"In Ordnung. Dann also Luft anhalten und durch da."
Rach federte leicht auf seinen Sohlen, als er anmerkte:
"Nimm möglichst den gleichen Weg, den auch Rekrut Schneider gegangen ist!"
Esther schnaufte amüsiert.
"Ach, echt jetzt? Schlaumeier!"
Nyria bellte leise und duckte sich schwanzwedelnd auf die Vorderpfoten.
Dann liefen sie los.
Wilhelm behielt diesmal jeden Einzelnen genau im Auge und folgte ihnen dichtauf. Noch immer merkte er selber nichts, von der Wirkung des magischen Feldes. Aber es dauerte nur Momente, bis er die Symptome an seinen Kollegen beobachten konnte. Was als flotter Sprint begonnen hatte, wurde zu einem fast verzweifelten Eilen, welches schon kurz darauf in ein kraftloses Voranschleppen kippte. Nyrias Kopf hing immer tiefer über dem Boden, während sie schnaufend Staubwolken von dort emporpustete. Rach und Esther konzentrierten sich zwar mit unverrückbaren Blicken auf die liegende Zielfackel, sie wurden jedoch merklich langsamer und schnappten nach Luft.
Das Licht der mitgeführten Fackeln wurde weniger, deren Flammen sanken zu blakender Glut am Stock zusammen, ehe sie eine nach der anderen verloschen.
Zum Schluss blieb nur noch das Licht der Kreuzungsfackel. Und noch immer fehlte ein gutes Stück Wegstrecke.
Die Werwölfin erkannte offenbar, dass eine letzte Kraftanstrengung nötig würde. Sie riss ihren Kopf in die Höhe und gab sich winselnd einen Ruck, trabte ihnen allen mit neuem Tempo davon.
"Nur noch wenige Meter, ihr schafft das!"
Fast wäre Wilhelm über Esther gestolpert, als diese mit verdrehten Augen in die Knie sackte und zu Boden ging.
Rach machte es ihr sofort darauf nach.
Wilhelm überlegte nicht lange, klemmte sich die Fackel unter den Arm und packte jeweils einen Flanellfußsprössling am Handgelenk, um beide hinter sich her zu ziehen. Raus aus der Gefahrenzone. Die beiden hinterließen deutliche Schleifspuren auf dem Boden des unterirdischen Ganges und so, wie er den Inspektor kennen gelernt hatte, war es nicht unwahrscheinlich, dass ihm das irgendwann einen verspäteten Rüffel einbringen konnte, was ruinierte Kleidung anging. Falls sie alle dies überlebten. Aber das wäre es wohl wert.
Dann, auf der Weggabelung, ließ er die Arme, an denen er sie bis hierher gezogen hatte, fallen. Tiefe Atemzüge des Geschwisterpaares waren sein Lohn und die Werwölfin hechelte ihm mit fast verschwörerischem Blick zu.
Was ihr wohl gerade durch den Kopf geht? Nein, ich werde nicht nachsehen. Nicht jetzt und nicht hier. Und überhaupt!
Der Inspektor fand als erster seine Sprache wieder. Keuchend wies er, noch am Boden liegend, darauf hin:
"Wir sollten den Gang markieren... den, aus dem wir gekommen sind."
Nyria bellte wieder einmal kurz und stubste mit ihrer Schnauze an die entsprechende Tasche an Esthers Kleidung. Die junge Frau rappelte sich hustend auf und nickte schlecht gelaunt.
"Ja, sollten wir. Mit Leuchtpaste 'a la Senray Rattenfänger!"
Sie kam vorsichtig auf die Füße, schraubte die kleine Dose auf und tauchte ihren Finger in die cremige Substanz, ehe sie damit an die Tunnelwand herantrat und diese markierte.
"Also, wenn ihr mich fragt, wäre es wirklich schön, für den Weg nach Draußen später einen anderen Abzweig nehmen zu können."
Stummes aber einhelliges Nicken folgte.
Nyria versteifte sich plötzlich am ganzen Körper und ging in eine stabile Habacht-Stellung, ihr Blick stierte in die Dunkelheit geradezu, hinter dem Flackern der am Boden liegenden Fackel.
Wilhelm hörte es fast zeitgleich und er teilte die Information flüsternd den beiden Menschen mit.
"Da kommt jemand!"
Esthers höhnischer Kommentar ging mit ihrem Bücken nach der Fackel einher. Sie hielt ihm deren Flammen entgegen, um die einzig verbliebene andere Fackel von Neuem zu entzünden.
"Dann machen wir mal etwas mehr Licht, um den Besucher zu begrüßen, nicht wahr? Mit Geheimhaltung ist ja ohnehin nichts mehr. Die Schönheit hier", womit sie die aufgehobene Lichtquelle demonstrativ vorzeigte, "dürfte in der sonst so undurchdringlichen Dunkelheit dieses Tunnelsystems kaum zu übersehen gewesen sein. Auch von Weitem nicht."
Rach nickte in Richtung des geradezu verlaufenden Tunnels.
"Du meinst, in etwa so, wie bei dem dort?"
Der Unbekannte, der ihnen entgegen kam, führte ebenfalls Licht mit sich. Dann aber teilte sich das Licht, je näher es kam, in mehrere kleine Lichter auf. Und eine leise Stimme war zu hören.
"Ich glaube, wir haben fon die anderen gefunden!"
Wilhelm konnte nicht verhindern, dass sich ihm ein Lächeln auf die Lippen stahl. Die Werwölfin drängte sich mit wedelnder Rute an ihm vorbei.
Rach Flanellfuß trat an seine Seite und nickte entschlossen.
"Sehr gut! Das dezimiert die möglichen Routen für unser weiteres Vorgehen deutlich. Nur noch zwei Richtungen, in die es Sinn machen würde, weiter zu gehen. Links oder rechts?"

15.08.2017 22: 10

Nyria Maior

Raistan trat einen Schritt zurück, stützte sich gegen das wieder einmal einsetzende leichte Schwindelgefühl auf einem der ausrangierten Schreibtische ab und betrachtete zufrieden sein Werk.
Der dreifache Kreidekreis mit den komplizierten Schutzrunen und dem im Inneren eingebetteten Oktagramm nahm exakt die Position der Brandspuren auf dem Fußboden von Ophelia Ziegenbergers ehemaligem Zimmer ein. Jedem Beobachter musste er als wahres Bollwerk des Schutzes vor dämonischen Kräften erscheinen, doch Raistan wusste es besser, da er beim Schreiben der Runen einige unauffällige Striche weggelassen hatte. Von dem Kreis, den er während der letzten Viertelstunde geschaffen hatte, würde sich nicht einmal ein einfacher Kaffeemaschinendämon beeindrucken lassen.
Die Obergefreite Senray Rattenfänger saß auf einem Kissenhaufen in der Mitte der Schutzkreisattrappe und beobachtete ihn mit einer Mischung aus Nervosität und Sorge, während ihre Finger an der Tassel eines Kissens herumzupften. Seit sie das Kommandeursbüro verlassen hatten, hatte die junge Frau bisher kaum etwas gesagt, aber es war ihr deutlich anzumerken gewesen, dass Ophelias altes Zimmer ihr alles andere als geheuer war. Aber da musste sie durch. Raistan konnte schließlich schlecht den Kantinenboden mit magischen Symbolen bemalen. Erstens waren Dämonen-Beherrschungsübungen nichts für die Öffentichkeit und zweitens hätte Mamsell Piepenstengel ihm für das Beschmieren ihrer frisch geschrubbten Bodendielen garantiert die Ohren und noch einiges anderes lang gezogen.
Nach einigen Sekunden traute Raistan seinen Beinen wieder genug um den Tisch loszulassen. Langsam trat er an den Rand des Kreises und ließ sich Senray gegenüber im Schneidersitz nieder. Sitzen. Schon viel besser. So stand er hoffentlich die nächste Stunde durch, ohne vor den Augen der Obergefreiten ein weiteres Mal vor Schwäche zusammenzubrechen. Jetzt musste ihm nur noch etwas einfallen, worüber er sich mit ihr unterhalten konnte. Aufgrund des Beruhigungsaspekts schieden so ziemlich alle Themen, die ihn an ihr wirklich interessierten, schon mal aus.
Senray sah ihn immer noch mit großen Augen an wie ein verschrecktes Kaninchen und zwischen ihren Fingern löste sich die Tassel allmählich in ihre Bestandteile auf. Er musste dringend etwas unternehmen, bevor sie begann, auf ihren Fingernägeln herumzubeißen. Das Schlimme an der Sache war, dass er nur zu gut nachvollziehen konnte, was in ihr vorging. Auch ihn machte es schier verrückt, rein gar nichts tun zu können um die Chancen des Rettungstrupps zu verbessern, außer aufzupassen, dass sich Senray nicht von ihren Kissen fortbewegte und somit Wilhelm Schneider nicht gefährdete.
Wilhelm. Raistan kam ein plötzlicher Gedanke. Da gab es tatsächlich etwas, was er Senray fragen konnte, und was nichts mit Dämonen oder dem Einsatz zu tun hatte.
"Sag mal... Du kennst Wilhelm mittlerweile recht gut, oder?" eröffnete er das Gespräch und ärgerte sich darüber, wie dünn und kratzig seine Stimme aufgrund seiner Erschöpfung klang.
Ihre Miene drückte Überraschung aus.
"Ich... denke schon. Ja." sagte sie zögerlich.
"Magst du mir dann eine Frage beantworten?"
Sie nickte langsam.
"Wenn ich es... kann."
"Mir ist aufgefallen, dass Wilhelm sich in meiner Gegenwart manchmal seltsam benimmt." versuchte Raistan, sich möglichst vorsichtig an sein Anliegen heranzutasten. "Er beobachtet mich. Bleibt in meiner Nähe. Und Nyria hat mir erzählt, was gestern Abend passiert ist als ich kurz außer Gefecht war. Meinst du, das hat etwas mit seinen, nun ja, unterdrückten Nahrungsvorlieben zu tun?"
Senray erstarrte und eine brennende Röte erschien auf ihren Wangen.
"Ich... also... ich, ähm, weiß es nicht? Ich dachte eigentlich... also, es wäre eher... na ja, dass er dich eben... mag?" stammelte sie und senkte verlegen den Kopf.
Raistan seufzte innerlich. Na großartig. Das hatte ja wirklich gut funktioniert mit dem Beruhigen. Aber immerhin hatte er sie wahrscheinlich vorläufig vom Grübeln über den Einsatz abgelenkt. Vielleicht sollte er den Gesprächsfaden weiter verfolgen. So war seine soziale Inkompetenz wenigstens zur Abwechslung mal zu etwas nützlich.
"Wahrscheinlich mögen im Sinne von appetitlich finden. Es ist mir durchaus bewusst, dass ich da gewissen optischen Kriterien entspreche." bemerkte er. "Hat er dir erzählt, dass er sich als Gegenleistung für das Untersuchen meines Kopfes eine Blut-Kostprobe von mir erbeten hat?"
"Er..." begann Senray und verstummte. Es war deutlich zu sehen, wie widerstreitende Gefühle in ihr arbeiteten. Dann schüttelte sie zaghaft den Kopf. " Nein, das... also, das hat er nicht... ähm, erzählt." Ihre Stimme verlor sich wieder.
Raistan fragte sich, was sie sich gerade insgeheim ausmalte. Hatte er gerade mit wenigen Worten einen Haufen ihrer Illusionen über Wilhelm zerstört?
"Es ist ein vertraglich geregeltes, legitimes Abkommen." beeilte er sich, ihr zu versichern. "Eine kleine Blutmenge wird mit einer Spritze entnommen und ihm frisch zum Verzehr übergeben. Das ist alles. Glaub mir, ich würde mich nie freiwillig beißen zu lassen und wer es trotzdem versucht, kann was erleben."
Wieder bekam er keine verbale Antwort. Stattdessen gab Senray ein halb verzweifeltes, halb amüsiertes Glucksen von sich und schüttelte erneut den Kopf.
Raistan biss sich auf die Unterlippe. Wie spät mochte es mittlerweile sein? Zwanzig nach zwölf? Noch so viel Zeit in der er die Obergefreite irgendwie von ihren blank liegenden Nerven ablenken musste. Und so wie das Gespräch gerade lief, war er in eine Sackgasse geraten. Er musste sich etwas neues einfallen lassen. Vielleicht konnte er sie dazu bekommen, von sich aus ein Gesprächsthema vorzuschlagen?
"Senray." versuchte er, ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken.
Wieder dieser Blick, diese Mischung aus Nervosität und Sorge.
"Jetzt wo wir hier allein sind - Hast du irgendwelche Fragen an mich, die du vor den anderen nicht stellen wolltest? Ich verspreche dir, sie absolut ehrlich zu beantworten, wenn du..." Er suchte kurz nach den richtigen Worten als er daran dachte, wie Wilhelm auf die nackte Wahrheit reagiert hatte. "Wenn du mir nachsiehst, dass Feingefühl, nun ja, nicht gerade meine Stärke ist."
Die Obergefreite schien nachzudenken. Ihre Finger spielten mit einer weiteren Tassel des mittlerweile schon etwas gerupft wirkenden Kissens.
Raistan änderte seine Sitzposition minimal um der Unbequemlichkeit des harten Bodens etwas entgegen zu setzen. Gern hätte er eines der Kissen für sich behalten, aber wenn er es zu bequem hatte, schlief er wohlmöglich noch einfach ein, und das durfte auf keinen Fall passieren. Nicht, solange sie noch kein Signal erhalten hatten, dass der Einsatz beendet war. Er streckte seinen Rücken durch und harrte der Fragen, die Senray stellte. Was würde sie wohl von ihm wissen wollen? Und war er wirklich bereit, ihr in allen Dingen die Wahrheit zu sagen? Was, wenn sie ihn auf seine Schwächeanfälle ansprach? Würde er ihr wirklich von dem Fluch, den oft schmerzenden Narben in seinen Lungen und seiner allgemein miserablen Konstitution erzählen? Vielleicht war es doch besser, wenn er alles auf Racul und seine Abwehrzauber schob. Es gab schon genug Personen, die sich ständig um seine Gesundheit sorgten, da wollte er nicht noch eine weitere der Liste hinzufügen. Zumal Senray Rattenfänger bereits mehr als genug Sorgen mit sich herumschleppte.
"Wenn es dir nichts ausmacht..." Die Obergefreite schien sich etwas gefangen zu haben und so etwas wie Neugierde lag in ihrem Blick. "Aber... welche, äh, Erfahrungen hattest du schon mit Dämonen?"
Raistan atmete erleichtert auf. Auch wenn das lange Sprechen schmerzhaft und ermüdend für ihn werden würde, das war ein Thema, mit dem sich einige Zeit füllen ließ. Zeit, in der Senray Rattenfänger nicht an den Einsatz dachte und nicht weiter Kissen zerpflückte.
Er begann mit einer Beschreibung seiner Vorlesungen in einfacher und fortgeschrittener Dämonologie, den dazugehörigen praktischen Beschwörungs- und Exorzismusübungen und wie nervös er vor seiner ersten Begegnung mit einem der Wesen aus dem Pandämonium gewesen war. Dann erklärte er ihr den Unterschied zwischen der Beschwörergilde und dem, was die Zauberer taten, und warum es in der Gilde manchmal zu 'Zwischenfällen' kam, wenn ein Mitglied meinte, etwas mächtigeres beschwören zu können als er in der Lage war zu beherrschen. Er erzählte von dem einem Studenten entkommenen Chaoswesen, das mehrere Tage lang HEX heimgesucht hatte, bis Ponder Stibbons und er es endlich erwischt und ordnungsgemäß gebannt hatten. Und er erzählte von Fähnrich Robin Picardo. Wie dieser sich, wie im Nachhinein rekonstruiert werden konnte, bei einem Außeneinsatz einen Zwei-Komponenten-Dämon eingefangen hatte, der die Form eines hundegroßen, grünen Hasen mit messerscharfen Nagezähnen besaß. Wie der Dämon schleichend immer mehr Einfluss auf den Fähnrich genommen und seine schlechten Eigenschaften verstärkt hatte, bis dieser einen perfiden Plan ausgeheckt hatte, Araghast Breguyars Leben komplett zu ruinieren. Wie Raistan durch einen dummen Zufall zwischen die Fronten dieses Plans geraten war. Wie Robin Picardo durch einen weiteren Zufall starb und der Dämon aus der Leiche aufstieg. Und wie Raistan am Ende unter Aufbietung all seiner Kräfte den Dämon mit einem hochgradig improvisierten Spontanexorzismus zurück ins Pandämonium geschleudert hatte.
Erst als er mit seiner Erzählung geendet hatte und wieder zu Atem gekommen war, bemerkte Raistan, dass Senray bleich wie eine Wand geworden und ihr ganzer Körper wie in einem plötzlichen Schock erstarrt war.
Der junge Zauberer gönnte sich innerlich einen der farbenfroheren Flüche des Kommandeurs. Was hatte er jetzt schon wieder falsch gemacht, wo er doch exakt dem Wunsch der Obergefreiten entsprochen hatte? Man konnte es drehen und wenden wie man wollte, in zwischenmenschlichen Belangen war er einfach ein Versager. Plötzlich überkam Raistan akutes Heimweh nach dem Gebäude für Hochenergetische Magie und HEX. Dort wusste er genau, was er tat, und die Kommunikation mit dem Denkapparat war einfach und logisch. Leute hin gegen waren... so unglaublich kompliziert und unberechenbar.
Ein zaghaftes Räuspern ließ ihn aufhorchen.
Wieder einmal focht die Obergefreite einen ihrer inneren Kämpfe aus.
"Glaubst du, das wird..." begann sie, brach den Satz ab und blickte auf ihre Hände, die in ihrem Schoß lagen. Dann atmete sie tief ein und sah ihn direkt an.
"Bevor das mit mir passiert... Bevor er... musst du..." In ihrem Blick lag etwas Flehendes.
Raistan schluckte, als er verstand. Das war es also, was sie so verstört hatte. Sie befürchtete, dass ihr Dämon mit ihr das gleiche tun würde, wie es mit Robin Picardo geschehen war. Und wie er es verstand, hatte sie ihn gerade gebeten, in diesem Fall einzuschreiten. Was unausweichlich zu ihrem Tod führen würde.
"Meinst du das wirklich ernst?" fragte er leise.
Sie nickte so entschlossen wie er sie bisher nur selten erlebt hatte.
"Ja. Bitte." sagte sie eindringlich. "Wenn es soweit wäre... dann bin ich schon verloren. Und ich will nicht, dass er mich... meinen Körper... nutzt, um diejenigen zu verletzen, die mir etwas bedeuten. Das mit Wilhelm... war schon schrecklich genug!"
Raistan konnte nur erahnen, wie viel Überwindung es die Obergefreite gekostet haben musste, diese für sie fatale Bitte an ihn zu richten. Aber sie hatte ihre Situation verstanden. Wenn es soweit kam, dass der Dämon die Kontrolle übernahm, dann existierte die Senray Rattenfänger, die sie alle kannten, bereits nicht mehr. Ihr Körper würde nur noch eine leere Hülle für ein abgrundtiefböses Wesen aus dem Pandämonium sein. Und ein Zauberer hatte in diesem Fall seine Pflicht zu erledigen, ob es ihm gefiel oder nicht.
Er nickte.
"Es wird mir nicht leicht fallen, aber ich werde es tun." sagte er feierlich. "Aber hab bitte vorher noch ein langes, schönes Leben, ja?"
Senray blickte für einen Augenblick verdutzt drein, dann lächelte sie zum ersten Mal während der gesamten Sitzung.
"Ich, ähm, gebe mir Mühe." Sie beugte sich vor. "Aber bitte... sag Wilhelm nichts davon. Er würde es nicht verstehen."
Das konnte Raistan sich nur allzu gut vorstellen.
"Wilhelm wird von mir keine einzige Silbe erfahren." versprach er. "Weißt du, als ich mir von ihm Rat für deinen Brief geholt habe, musste ich ihm unglaublich oft versichern, dir wirklich nichts tun zu wollen."
Sie lächelte ein weiteres Mal und wirkte schon viel gelöster.
"Ich wollte auch immer noch... Danke sagen. Für den Brief. Bisher hatte es sich nur nicht, nun ja, ergeben."
"Es schien mir in der Situation das richtige zu sein." Raistan rang sich ein schwaches Lächeln ab. "Wie du wahrscheinlich gemerkt hast, bin ich nicht sonderlich gut darin, mit Leuten direkt zu reden."
"Nun ja..." antwortete sie. "Ich schätze... ich bin auch nicht der, ähem, einfachste Gesprächspartner."
Die plötzliche Lockerung der Stimmung im Raum war förmlich spürbar und Raistan entspannte sich etwas. Endlich schienen sie so etwas wie einen gemeinsamen Nenner zu finden.
"Gibt es noch etwas, was du wissen möchtest?" erkundigte er sich um das Gespräch in Gang zu halten.
Senray zögerte einen Moment.
"Kennst du etwas, das gegen, ähm, Alpträume hilft?" erkundigte sie sich schließlich vorsichtig.
Im ersten Moment war Raistan versucht, genauer nachzuhaken, worum es bei diesen Alpträumen ging, ließ es dann aber sein. Er hatte ihr Zögern bei dieser Frage bemerkt. Die Gefahr war zu groß, dass es sich bei dem Gegenstand der Träume um den Dämon handelte und schlimme Dinge sowohl mit ihr als auch mit Wilhelm passierten, wenn sie versuchte, mehr Details zu liefern. Außerdem konnte er, was das Thema betraf, wirklich nicht weiterhelfen.
"Glaub mir, ich wollte, ich wüsste da etwas." antwortete er ihr wahrheitsgemäß und ließ seinen Blick verstohlen durch das Zimmer schweifen. In weiser Voraussicht hatte Bregs bei der Vorbereitung der Sitzung eine alte Bürokommode vor die Rohrpostklappe geschoben und auch sonst wies nichts darauf hin, dass es versteckte Lauscher gab. Zur Sicherheit murmelte Raistan einen kurzen Zauberspruch und ließ ihn auf den Raum wirken. Kein anderes Lebewesen außer ihnen beiden befand sich hier bei ihnen. Dennoch senkte er seine Stimme zu einem Flüstern, als er weitersprach.
"Zur Zeit schlafe ich auch nicht gut. Ich habe immer noch fast jede Nacht Alpträume von Ophelia, dem Käfig und all ihren Gefühlen die sie damit verbindet."
Senrays Nicken war verständnisvoll.
"Die anderen sind dabei, sie da rauszuholen." sagte sie plötzlich mit unerwarteter Heftigkeit. "Und sie werden es schaffen... sie müssen!"
Und schon waren sie durch seine Ungeschicklichkeit wieder bei einem Thema gelandet, das Raistan eigentlich vermeiden wollte. Also musste er nun das beste daraus machen und Senrays plötzlichen Optimismus ausnutzen.
"Es sind Wächter." sagte er deshalb sowohl zu ihr als auch zu seinen eigenen Zweifeln. "Unkraut vergeht nicht."
Die Obergefreite lächelte. "Hm... das stimmt wohl."
Während Raistan noch überlegte, was er darauf antworten sollte, fuhr sie auch schon fort.
"Was meinst du... Wo werden sie Ophelia und Magane hinbringen, wenn sie, ähm, frei sind? Das Wachhaus geht ja nicht."
Wenn sie frei sind... Im Moment schien Senray ein Scheitern des Rettungseinsatzes nicht einmal mehr in Betracht zu ziehen. Raistan wünschte sich nichts sehnlicher, als das gleiche von sich behaupten zu können.
"Es kommt drauf an, wie transportfähig Ophelia ist." ging er auf ihre Spekulation ein. "Aber ein logischer Ort wäre das Flanellfuß-Anwesen. Ich bezweifle, dass der Inspektor sie in nächster Zeit aus den Augen lässt."
"Nein... wahrscheinlich nicht." stimmte die Obergefreite ihm zu. "Und... sie wird dort... sicher sein. Bei so vielen, ähm, Assassinen in der Familie."
"Racul wird nicht mehr viel zu melden haben." erklärte Raistan. "Der Kommandeur plant, ihn zu ruinieren wo er nur kann."
Zumindest diese Sache war sicher. Wenn Bregs sich etwas vornahm, dann hatte er die Zielstrebigkeit einer Trollarmee, die sich einer Zwergenarmee gegenüber sah. Egal wie der Einsatz letztendlich ausging, der 'Vorfall' im Grüngansweg würde von der Wache gründlich untersucht werden.
"Zu recht." stimmte Senray dem jungen Zauberer zu. "Aber..." Ihre Finger begannen wieder mit einer Kissentassel zu spielen. "Es darf nur nicht so sein, dass es sich, nun ja, auf Ophelia auswirkt." Sie sah ihn fragend an. "Glaubst du... also ich meine, kennst du vielleicht irgendeine magische Methode, die beiden zu trennen? Jetzt wo du, ähm, weißt, wer der andere ist?"
Raistan seufzte leise. Wenn sie nur wüsste, wie lange er sich schon ohne Erfolg über dieses Problem das Hirn zermartert hatte. Wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte, Ophelia von Racul zu trennen ohne ihr zu schaden, wäre die Entführung vielleicht gar nicht passiert. Resigniert schüttelte er den Kopf.
"Es gibt nur eine Möglichkeit, die beiden zu trennen, und das ist der Tod. Es tut mir leid."
Senrays Schultern sackten zusammen.
"Aber genau das ist Raculs wahre Strafe." fuhr Raistan fort. "Er weiß genau, dass seine Uhr tickt. Irgendwann wird Ophelia eines natürlichen Todes sterben. Und dann war es das endgültig für ihn. Wir Menschen wissen, dass unsere Zeit hier auf der Scheibenwelt begrenzt ist. Aber für ein quasi unsterbliches Wesen muss das ein extrem harter Brocken zu knabbern sein."
"Das geschieht ihm recht." sagte Senray überraschend hitzig und hob den Kopf. "Wusste er das nicht... dass das passieren würde, als er sich, nun ja, gebunden hat?"
Raistan zuckte mit den Schultern. "Ich glaube nicht, dass er es wollte. Aber da Ophelias Verstand von einem Vampir nach dem anderen mental geröstet wurde, gab es wohl Komplikationen, mit denen er nicht gerechnet hat."
Die Obergefreite sah auf ihre Hände herab.
"Ich würde so gerne helfen... irgendwie!"
Raistan erinnerte sich an die Gefühle, die er während seines Experiments von Ophelia empfangen hatte.
"Am besten hilfst du ihr, indem du dafür sorgst, dass sie ihre Freiheit so richtig genießen kann." sagte er nachdenklich. "Sie ist in ihrer Gefangenschaft so unendlich einsam gewesen. Sei für sie da. Zeig ihr, dass du immer an sie gedacht hast."
Senray seufzte tief.
"Wenigstens können die anderen zu ihr." sagte sie und ein Hauch von Traurigkeit schwang in ihrer Stimme mit. "Aber ich, also, ich werde Mistvieh mit einer Nachricht schicken so oft ich kann!"
"Warum schreibst du ihr nicht einfach Briefe?" schlug Raistan vor. "Ganz normal mit der Post. Damit kannst du so viel mehr sagen als mit kurzen Taubennachrichten."
Ein vorsichtiger Optimismus kehrte in die Miene der Obergefreiten zurück.
"Das... stimmt." sagte sie ein wenig beschämt.
"Vielleicht sollte ich das auch tun." sagte Raistan mehr zu sich selbst. "Ihr schreiben. Ich fürchte, nach dem Experiment damals ist sie immer noch nicht sonderlich gut auf mich zu sprechen."
Senray sah ihn überrascht an.
"Oh." sagte sie nur. "Dann wäre ein Brief... vielleicht wirklich besser?"
Raistan konnte sich eines seiner seltenen Lächeln nicht verkneifen als er die Obergefreite betrachtete, die dort auf dem Kissenhaufen saß und wahrscheinlich gedanklich gerade völlig in den Möglichkeiten aufging, die der Postverkehr ihr bot. Er fasste einen Entschluss. Ja, er würde Ophelia schreiben. Schließlich hatte ein Brief schon einmal dort Erfolg gehabt, wo ein direktes Gespräch mit großer Wahrscheinlichkeit versagt hätte.

16.08.2017 10: 30

Senray Rattenfaenger

Die Wüste, die vorher schon nichts anders als verbranntes Land gewesen war, sah nun noch schlimmer aus. Feuerstürme hatten die letzten Tage hier gewütet, immer und immer wieder.
Irgendwie hatte Refizlak seinen Gefühlen Luft machen müssen.
Er war einmal beinahe dem Impuls gefolgt, das Senray symbolisierende Gefäß direkt anzugehen. Allerdings konnte nicht einmal er sich sicher sein, was dann geschah. Und es wäre ein klarer Verstoß gegen den Pakt mit ihr, dessen Konsequenzen ebenfalls nicht absehbar waren. Zu viel Risiko für einen unklaren Effekt. Und doch konnte er seinen Zorn kaum noch zügeln.
Ausgerechnet der Blutsauger, wegen dem Refizlak die Albträume erschaffen hatte, hebelte genau diese aus. Führte das ganze Prinzip ad absurdum. Machte seine Arbeit zunichte!
Schon wieder.
Und dann auch noch Senrays eigene, wachsende Gefühle für die Zecke! Wie konnte sie nur?! Wie konnte sie es auch nur in Erwägung ziehen, ihn wirklich ernsthaft zu mögen – geschweige denn mehr?! Er war nichts anderes als Ungeziefer das man eigentlich auf Sicht vernichten müsste!
Was er selbst nicht getan hatte, als er die Gelegenheit dazu hatte. Um verdeckt zu bleiben und nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sein Gefäß zu lenken, hatte er den Vampir mit seinem Unleben davon kommen lassen. Und was hatte er jetzt davon?
Der halbe Pack dieser Wächter wusste mehr über ihn, als je herausgekommen wäre, wäre der Vampir einfach vor ihnen in Flammen aufgegangen! Sein Gefäß entwickelte Gefühle für die penetrante Zecke, verbrachte freiwillig Zeit in dessen Gesellschaft, ja, vertraute ihm! Begann, gegen Refizlak selbst Zweifel zu hegen ob seines Verhaltens des Blutsaugers gegenüber.
Weil er Gnade gezeigt hatte.
Nie wieder.
Dieser Fehler würde ihm nie wieder passieren.
Auch nicht Senray gegenüber.
Es war offensichtlich an der Zeit, dass er sie wieder daran erinnerte, wer von ihnen über wen Macht hatte.
Sie dachte wirklich, sie würde ihn in ihrem Kopf festhalten?
Sie war überzeugt, sie wäre die Wächterin und er der Gefangene. Sie diejenige, die mit genug Ausdauer und Stärke, ihn überdauern würde. Und falls nicht, diese Verantwortung Anderen übergab. Sie hatte sich gewagt nicht nur darüber nachzudenken, den Pakt zu lösen und ihn durch die Zauberer bannen zu lassen. Nein, sie hatte es gewagt auch mit dem Zauberer direkt darüber zu reden!
Sein Zorn machte sich in erneuten Feuerstürmen Luft. Würde sie jetzt Kontakt zu ihm suchen, ihre Seele würde nicht unbeschadet aus diesem hervor gehen. Warum sollte er sie auch schonen, wo sie so offen über diesen höchsten Verrat nachdachte? Hätte sie es direkter formuliert, er hätte sie strafen können. Doch sie hatte es bei gesprochenen Andeutungen und klaren Gedanken gelassen! Sie! Die, von der er den Verrat am wenigsten erwartet hätte. Die ihm bisher so treu war, der er vielleicht sogar Zugeständnisse gemacht hätte. Dieser Feigling vor einem Mensch, dem er Schutz vor der Welt versprochen hätte, würde sie nicht nun ihn fürchten. Überhaupt! Sie und seine Wächterin?
Refizlak streunte durch die Ruine, bis er vor Senrays beiden Gefäßen stand.
Zwei angekettete Kisten.
Nein, nicht sie hielt ihn. Er hielt sie, in sich verborgen und gefangen. Er ließ gerade einmal zu, dass so viele ihrer unbedeutenden, oberflächlichen Gedanken und Gefühle nach Außen drangen, dass niemandem auffiel, dass ihr wahres Inneres verborgen war. Um keine Aufmerksamkeit zu erzeugen. Selbst jetzt noch. Er brauchte nicht noch mehr Aufmerksamkeit durch Zecken, nicht noch mehr Mitwisser. Und dieses Ungeziefer neigte zu Neugier, sobald etwas aus dem normalen Muster der Sterblichen fiel.
Hätte er sich in der menschlichen Gestalt befunden, er hätte wohl jetzt mit den Zähnen geknirscht.
Doch das war er nicht. Das war nicht sein wahres Selbst, warum Zeit darauf verschwenden, wenn sie nicht hier war? Warum eine Illusion aufrechterhalten, wenn niemand sie sah?
Er hielt inne. Eine Illusion aufrechterhalten? Nun, eigentlich war alles um ihn herum eine Illusion. Auch wenn die Wüste und ihr Kern, das Podest mit seinem ewigen Feuer und die Gefäße Substanz hatten.
Allerdings Senrays Äußeres, wenn sie mit ihm sprach, wenn sie auf diese Ebene kam...
Es entsprach nicht der Wirklichkeit. Es war das, was sie sehen wollte, was er sie sehen lies. Es war ein Bild von ihr selbst, vollständig und in Freiheit. Wie Teile ihrer Gedanken, die er filterte und nach Außen durchleiten ließ, war auch ihr Aussehen hier nur Blendwerk, welches durch ihn geschaffen wurde.
Solange ihre Gefühle ihm gegenüber positiv waren, hatte er ihr keinen Anlass geben wollen, diese zu hinterfragen. Das wäre Sabotage an sich selbst gewesen.
Doch nun, da sie ihn sowieso hinterfragte? Begann, ihn in Gedanken als einfachen ‚Dämon‘ zu sehen?
Da konnte er sich auch so verhalten. Ihr zeigen, wer die Oberhand hatte, wer die Gefangene und wer der Meister waren. Von wegen Wächter!
Und dabei musste er nicht einmal eine neue Illusion erschaffen. Er musste nur die Alte aufgeben und ihr den wahren Zustand ihrer Seele, ihres Selbst zeigen. Nichts war leichter als das.
Mal sehen, wie es ihr gefallen würde.
Refizlak lächelte in dunkler Vorfreude. Noch mied sie ihn. Aber er würde es schon schaffen, sie irgendwie wieder hier her zu locken. Und wenn er etwas nachhelfen musste – er würde mit dem Rückschlag, der darauf folgen würde, umgehen können. Und immerhin gab es Mittel und Wege. Es würde nicht einfach werden, aber er war sich sicher, dass er sich auf Senrays Gefühle für die Ziegenberger-Frau verlassen konnte. Und das würde er ausnutzen, voll und ganz. Und sollte sich dadurch die Gelegenheit ergeben, seinen Frust ebenso an dieser oder vielleicht sogar an der verhassten Zecke auszuleben – umso besser. Er würde sich diese Situation zunutze machen, auch wenn es erst einmal noch warten hieß. Und sollte die Ziegenberger-Frau bei dem heutigen Rettungsversuch ihr Leben verlieren... Dann könnte er innerhalb der Grenzen des Paktes weiterhin Wilhelm Schneider strafen, wie er wollte. Und Senray würde früher oder später wieder etwas passieren. Er selbst hatte noch nicht alles ausgeschöpft, was möglich war. Sie forderte ihn heraus – er antwortete.
Ob Senray auch damit, mit ihm, umgehen können würde? Wohl kaum. Er hatte ihr viel zu lange das Zuckerbrot gegönnt, sie war verwöhnt. Die Peitsche würde für sie doppelt hart. Doch da es die einzige Art zu sein schien, in der Menschen dauerhaft lernten... Nun, sie hatte es nicht anders gewollt. Er musste nur aufpassen, dass er ihr Innerstes nicht zu sehr beschädigte. Sie hatte bereits vor wenigen Tagen noch eine gefährliche Neigung zur kompletten Selbstaufgabe gezeigt. Das durfte sich nicht wiederholen.
Und wenn doch... Wenn sie letztendlich mit den Qualen nicht umgehen konnte und sich für einen schnellen Ausweg entschied? Oder aber irreparabel beschädigt war, aber am Leben blieb?
Nun, letztendlich war sie nur ein weiteres Gefäß. Es würden Neue kommen. Er musste ihre Lebensspanne abwarten. Doch wie lang war das schon, ein Menschenleben? Vor allem unter diesen Voraussetzungen.
Refizlak ignorierte das Gefühl, welches bei diesem Gedanken hoch kommen wollte. Sie hätte etwas Besonderes werden können. Und wenn er sie dazu brachte, ihm mehr Freiheiten zu gewähren... dann könnte ihr Körper immer noch nützlich sein.
Doch ihre Emotionen und ihr Geist waren bereits jetzt zu sehr von der Zecke manipuliert und verseucht worden, als das sie sich ihm freiwillig hingeben würde.
Und er wusste, dass eine Hingabe unter Zwang nie dasselbe sein würde, wie wenn sie ihn ein weiteres Mal willkommen geheißen hätte. Was er wirklich wollte war also bereits jetzt dank Wilhelm Schneider wohl für ewig verschlossen für ihn. So viel Schaden durch eine einzige falsche Entscheidung. Gnade. Ein Wort das ihm mittlerweile Übelkeit und Zorn auslöste. Nie wieder.
Aber er konnte sich auch damit zufrieden geben, nur den Körper zu übernehmen und den Geist dafür zu knechten. Ein Körper war immerhin ein Körper. Und ihrer getränkt durch angeborene Magie, sobald er sie wieder freisetzte. Auch damit hätte er bereits viel Macht und noch mehr Möglichkeiten.
Er würde also in naher Zukunft nachhelfen müssen. Zeit, seinen bereits heranreifenden Plan auszubauen und schließlich in die Tat umzusetzen.

17.08.2017 9: 38

Nyria Maior

Nyrias Gefühle über das schnelle Aufeinandertreffen der beiden einzelnen Wütenden Mobs waren zwiespältig. So sehr sie sich auch freute, dass sie einander schneller als erwartet gefunden hatten, so bedeutete die Vereinigung auch, dass sie es nun mit doppelt so vielen Personen zu tun hatte, die eine überwältigende Knoblauchwolke ausdünsteten.
Während die übrigen einander knapp Bericht erstatteten, auf was sie bisher gestoßen waren, sonderte sich Nyria von der Gruppe und der Knoblauchwolke ab und begann mit der olfaktorischen Untersuchung der beiden noch unbekannten Gänge. Welcher von ihnen war der Weg, den der nach Minze riechende Vampir bevorzugt benutzte?
Gerade berichtete Mina von Nachtschatten, wie ihr Trupp eine äußerst unangenehm klingende Feuerfalle außer Gefecht gesetzt hatte, als Nyria die Spur schließlich im von ihrem Trupp aus betrachteten linken Gang fand. Mit einem Bellen machte sie auf sich aufmerksam und begann demonstrativ, ein paar Schritte in den Gang und wieder zurück zu laufen. Hoffentlich begriffen die anderen, was sie ihnen sagen wollte. Nicht sprechen zu können war eindeutig der größte Nachteil der Wolfsgestalt.
"Ich glaube, fie hat etwas gerochen." stellte Feldwebel Feinstich fest.
"Da wir keine anderen Hinweise haben - immer der Werwolfsnase nach, würde ich sagen." Mina von Nachtschatten sah den Rest des Rettungszirkels an und erntete allgemeine Zustimmung.
Schon nach wenigen Schritten bildete sich ein charakteristisches Muster in der Gruppenreihenfolge heraus. Leutnant Mambosamba führte die Gruppe an, was in Nyrias Augen eine Menge Sinn ergab. Schließlich war sie exakt für solche Situationen ausgebildet worden. Rach Flanellfuß ließ es sich nicht nehmen, dicht bei ihr zu bleiben. Insgeheim vermutete Nyria, dass er auf jeden Fall ganz vorn mit dabei sein wollte, wenn sie Ophelia fanden. Jules und Esther folgten dicht auf dem Fuße, ebenso Mina von Nachtschatten. Nyria wollte gar nicht wissen, wie die Vampirin die konzentrierte Knoblauchwolke rund um sich herum ertragen konnte. Sie selbst hielt ein paar Schritte Abstand zu den Vorausgehenden und versuchte mit aller geistigen Anstrengung, den allgegenwärtigen Gestank auszublenden und sich auf alles zu konzentrieren, was ungewöhnlich roch. Hinter sich hörte sie die Schritte von Wilhelm Schneider und Feldwebel Feinstich.
Sich konzentrieren. Riechen. Nyria war so in ihre Aufgabe vertieft, dass sie die geschlossene Tür auf der linken Seite der Wand beinahe nicht bemerkt hätte. Nach einer kurzen Untersuchung wurde selbige für uninteressant erklärt. Nyria war das nur recht. Je länger sie sich mit dem Durchsuchen irgendwelcher unwichtiger Räume aufhielten, desto mehr Zeit hatten die Bewohner des unterirdischen Gangsystems, sich auf ihre Angreifer vorzubereiten. Mechanisch setzte die Werwölfin eine Pfote vor die andere, ihren Geruchssinn auf das äußerste geschärft. Irgendwo in diesem Meer aus Knoblauch konnte sich ein Hauch eines Geruchs verbergen, der über Leben und Tod entschied...
Eine zweite Tür wurde ebenso knapp untersucht wie die erste und anschließend ebenfalls ignoriert. Ansonsten wirkte der Gang in seiner auf das Notwendigste reduzierten Schlichtheit geradezu verdächtig harmlos. In gefühltem Schneckentempo kroch der Rettungszirkel vorwärts, die Umgebung mit allem Sinnen auf winzige, verdächtige Details absuchend. Nyria beschlich das Gefühl, dass Bregs mit seinen nun geradezu lächerlich anmutenden Stolperdrähten während des Trainings die Situation gnadenlos unterschätzt hatte. Wer auch immer hier am Werk gewesen war - es musste sich um einen absoluten Profi handeln.
Sie spürte es eher instinktiv, als dass sie wirklich bewusst sagen konnte, dass sie es gerochen hatte, aber sie reagierte sofort. Ihr Nackenfell stellte sich auf und sie blieb auf der Stelle stehen und stieß ein lautes, warnendes Knurren aus.
Die Vorhut blieb wie angewurzelt stehen und sah sich fragend nach ihr um. Nyria ignorierte sie vorerst und atmete stattdessen langsam und bewusst ein und aus. Beim vierten Atemzug schälte sich aus den Knoblauchdünsten eine zarte, ungesund grünliche Note hervor, die nicht zu den üblichen vorherrschenden Gerüchen passte und der Werwölfin vage vertraut vorkam. Vorsichtig trat sie nach vorn bis zu jener unsichtbaren Grenze, vor der die anderen nach ihrer Warnung stehen geblieben waren. Dort wiederholte sie ihr Vorgehen. Ja, sie hatte so etwas schon einmal gerochen. Vor ihrem inneren Auge erschien eine Erinnerung an Raistan, der im Schneidersitz vor ihr auf dem Boden ihrer Dachkammer saß und äußerst skeptisch einen Zettel durchlas, der an einer kleinen Phiole hing.
"Dir ist klar, dass wir mit der winzigen Menge, die wir hier haben, schon das halbe Wachhaus vergiften könnten?" hatte er gefragt.
Eben darum hatte Esther auch darauf bestanden, den kleinen Kasten, den sie Nyria vor einigen Tagen übergeben hatte, nach Ende der Mission vollständig wieder zurückzubekommen.
Nyria nahm noch eine letzte Nase voll, um ganz sicher zu gehen. Ja, das war es. Probe Nummer 7+1 aus Esthers Kasten der interessanten Tode. Ein ganz übles Zeug, dass zuerst Halluzinationen bescherte, um dann, wenn das Opfer völlig weggetreten war, nach und nach sämtliche Körperfunktionen zum Erliegen zu bringen. Eben sah man noch rosa Elefanten und bunte Farben und dann war man auch schon tot. Ein kalter Schauer lief Nyria das Rückgrat hinunter bis zur Schwanzspitze, als sie zu Rach trottete und ihn anstupste, damit er die von ihr sorgfältig vorbereitete Liste herausholte. Es war eine Sache, daheim allerlei Gerüche gefährlicher Substanzen auswendig zu lernen. Hier hätte jemand tatsächlich auf äußerst elende Weise sterben können, wenn sie nicht rechtzeitig reagiert hätte.
Der Inspektor breitete die Liste auf dem Boden aus und Nyria klopfte mit einer Vorderpfote auf die entsprechende Substanz.
"Wirklich?" hakte er noch einmal nach und zeigte ebenfalls.
Nyria nickte.
Jules, der das Vorgehen beobachtet hatte, pfiff anerkennend durch die Zähne.
"Das wäre zumindest für uns Menschen wirklich übel geworden." sprach er aus, was vermutlich alle dachten, und trat wieder an den Rand des als sicher definierten Bereichs, wo er mit seiner Fackel herumleuchtete.
Kurze Zeit später wies er auf die Decke und nun erkannte es auch Nyria: Zahlreiche, kaum sichtbare Löcher erstreckten sich mehrere Meter in den Gang hinein über die gesamte Breite. Ohne die Falle irgendwie zu entschärfen kamen sie hier auf keinen Fall weiter.
Ein Ausruf von Esther ließ sie alle aufmerken. Triumphierend wies die Assassinin auf einen schmalen Spalt, der eben noch nicht in der Gangwand geklafft hatte.
"Hier ist eine Art Geheimgang." erklärte sie. "Damit sollte sich die Falle umgehen lassen."
Vorsichtig näherte sich Nyria der Öffnung, die Nase dicht am Boden. War auch der Geheimgang noch zusätzlich mit einer Falle gesichert? Doch so sehr sie sich auch konzentrierte, sie konnte keine verdächtigen Substanzen wittern. Nicht einmal mehr die Spur des Minzvampirs war zu finden. Wahrscheinlich hatte der keine Lust, sich durch den sehr eng erscheinenden Gang zu quetschen, und machte lieber die Flederflatter.
"Gehen wir das Risiko ein." schlug Mina von Nachtschatten vor, nachdem auch sie einen gründlichen Blick in den Gang geworfen hatte, und Nyria stimmte gemeinsam mit den anderen zu. Die Zeit lief unerbittlich weiter und je eher sie Ophelia fanden, desto besser.
Die Passage durch den Gang verlief ohne Zwischenfall, doch um so größer war die Enttäuschung, als sie direkt hinter dem Ausgang eine Biegung umrundeten. Vor ihnen war der Gang vollständig mit Steinen und Geröll verschüttet.
Wie konnte das sein?
"Entweder gibt ef hier auch wieder einen Geheimgang oder wir müssen furück." stellte Rogi Feinstich fest. Während die Übrigen die Wände nach weiteren verborgenen Passagen absuchten, nahm sich Nyria das Gebiet mit ihrer Nase vor. Wenn sie herausfinden konnte, wohin der Minzvampir gegangen war, wussten sie, wo es weiter ging. Doch so sehr sie auch suchte, die Spur blieb verschwunden. Und auch der Geröllhaufen wirkte nicht, als sei er erst kürzlich durch einen ausgelösten Sicherheitsmechanismus entstanden.
Hätte Nyria zur Zeit einen menschlichen Mund besessen, hätte sie lauthals geflucht. Jetzt, wo sie darüber nachdachte, konnte sie nicht genau sagen, wo sie den Minzvampir zum letzten Mal gerochen hatte. Sie war so sehr damit beschäftigt gewesen, diesen verdammten Knoblauchgestank auszublenden, dass sie andere, nicht als gefährlich eingestufte Gerüche gleich mit ausgeblendet hatte. Das hatte sie ja wirklich toll hingekriegt.
"Tja, hier geht es wohl nicht weiter." sagte Kanndra mit einem letzten Blick auf die Wand die sich beharrlich geweigert hatte, eine Geheimtür preis zu geben. "Uns bleibt nichts anderes übrig, als umzukehren."
Nyria sah den verächtlichen Blick, den Esther ihr zuwarf, und streckte der Assassinin ihre lange Wolfszunge heraus. Sie mochte sich geirrt haben, aber es war nicht ihre Schuld, das sämtliche Menschen des Trupps genug Knoblauch gefressen hatten um halb Überwald zum Würgen zu bringen.
Nachdem sie die Falle erneut umgangen hatten, nahm Nyria sich den Boden des Gangs in aller Gründlichkeit vor. Wo genau hatte sie die Spur verloren? Komm schon, Minzvampir, sagte sie stumm zu sich selbst. Zeig dich! Wohin hast du dich verkrochen?
Schließlich stieg ihr ein Hauch von Pfefferminz in die Nase, gemischt mit dem Moder einer Gruft. Die Spur führte genau auf die erste Tür zu, die der Rettungszirkel beim Betreten des Gangs gefunden und beschlossen hatte, zu ignorieren. Na großartig. Aber wie hätte sie das auch riechen sollen, wenn zum betreffenden Zeitpunkt mehrere wandelnde Knoblauchplantagen direkt vor der Tür gestanden hatten und sie gleichzeitig auf Dinge konzentriert war, die sie alle hätten umbringen können? Egal was andere Spezies glauben mochten, auch eine Werwolfsnase hatte ihre Grenzen.
Wehe, wenn jetzt irgendein blöder Kommentar kommt, dachte Nyria bei sich als sie auf die Tür zulief und bellte. Dann ertränke ich die betreffende Person höchstpersönlich in einem Topf Knoblauchsuppe.

20.08.2017 23: 10

Kanndra

"Sieht so aus, als hätten wir uns das Durch-den-Gang-quetschen sparen können, wenn wir gleich gewusst hätten, dass diese Tür interessant ist", merkte Rach ein wenig spitz an.
"Naja, die Knoblauchwolke ist aber auch recht... ablenkend", gab Mina zu bedenken und erntete ein zustimmendes Wedeln.
Kanndra mahnte leise:"Konzentrieren wir uns lieber auf das vor uns Liegende", und gab Jules ein Zeichen, die Tür nach Fallen abzusuchen. Sie selbst hatte nichts Ungewöhnliches festgestellt und als auch der Assassine den Kopf schüttelte und die Werwölfin ruhig blieb, öffnete sie die Tür. Dahinter lag, wie es aussah eine gewöhnliche, wenn auch gut ausgestattete Werkzeugkammer. Sie enthielt an der gegenüberliegenden Wand ein deckenhohes Regal, sowie mehrere Haken, an denen allerlei Werkzeuge hingen. Er machte einen gut gepflegten und häufig genutzten Eindruck. Die übrigen Wände waren leer und es gab scheinbar keine weiteren Ausgänge.
Nyria drehte jedoch aufgeregte Kreise durch den Raum. Sie nahm den Minzgeruch jetzt sehr stark wahr und auch jede Menge Geruchsspuren anderer Personen konnte sie erschnüffeln. Dieser Raum musste mehr sein als er vorgab. Auch Rogi hatte ein unmissverständliches Gefühl.
"Hier gibt es eine Geheimtür. An diefer Wand!" Sie deutete nach rechts.
Sofort begannen Mina und Rogi die Wand abzuklopfen und Kanndra musterte auch die Decke und den Boden. Noch ehe jemand anders dazu kam, einzugreifen, hatte die Igorina den Senkmechanismus gefunden und die Geheimtür schwang gut geölt und lautlos komplett auf.
"Scheint häufig benutzt zu werden."
Kanndras Erfahrung sagte ihr, dass die Zeit langsam drängte, trotzdem zögerte die Gruppe. Vor ihnen lag eine dichte Finsternis, nur den Anfang einer Wendeltreppe, die noch weiter nach unten führte, konnten sie erkennen. Doch selbst wenn jetzt noch jemand hätte umkehren wollen - sie waren schon zu weit gekommen als das es noch einen Weg zurück gegeben hätte. Die übliche Überprüfung der Tür ergab auch hier kein Ergebnis und Kanndra führte die Gruppe entschlossen in die Tiefe.
"Wie lange halten diese Fackeln eigentlich noch?", wisperte Esther, während sie versuchten, die Treppe zügig hinter sich zu lassen, ohne unvorsichtig zu werden.
"Keine Angst, die brennen noch ein paar Stunden. Die Obergefreite hat gut eingekauft", beruhigte Rach sie sofort.
Am Fuß der Treppe erwartete sie ein leerer Raum, der in seiner Ausdehnung ungefähr der Werkzeugkammer entsprach - und eine offene Tür auf einen Gang hinaus.
Mina blickte sich misstrauisch um, das kam ihr irgendwie zu einladend vor. Doch die anderen waren schon auf den Gang hinaus gegangen.
"Okay, links scheint der Gang ziemlich schnell eine Biegung zu machen", berichtete Wilhelm, der sich von den Lichtquellen abgewandt hatte und mit seiner Nachtsicht in diese Richtung geschaut hatte.
"Und rechts ebenfalls, nur zweigt davor noch ein weiterer ab." Mina war dem Beispiel des Rekruten gefolgt.
Rogi hatte mit Senrays Paste eine Markierung angebracht. "Ich fpüre, dass linkf das Ziel liegt. Rechtf ist aber ein gangbarer Weg, der ebenfalls zum Ziel bringen könnte."
"Könnte?", Kanndra sah die Igorina an, die aber nur nickte. "Aha. Nyria?"
Die Werwölfin hatte bereits beide Richtungen abgeschnüffelt, schien aber ein wenig unsicher zu sein. Dann jedoch lief sie nach rechts und sah die anderen auffordernd an.
Rach hatte bereits ein paar Schritte in die linke Richtung gemacht, doch Jules zog ihn zurück. "Denk nicht mal dran."
"Dann gehorchen wir wohl der Vernunft."
Sie setzten sich wieder in Bewegung, mit Kanndra vorne weg. Nach kurzer Zeit erreichten sie die Abzweigung und die Späherin wollte gerade Halt machen, um das Terrain vor ihnen abzusichern, da traf sie etwas mit voller Wucht von der Seite.

21.08.2017 17: 38

Mina von Nachtschatten

Der brutale Stoß schleuderte sie gegen die nächste Wand. Kanndra verlor für den Bruchteil einer Sekunde den Boden unter den Füßen, dann machten Kopf und Gliedmaßen unangenehme Bekanntschaft mit hartem Stein. Der Aufprall presste ihr die Luft aus den Lungen, Schmerz flammt im ganzen Körper auf und ihr wurde kurzzeitig schwarz vor Augen. Kanndra hustete, tastete mit fahrigen Fingern um sich und es war beruhigend, dabei einen festen, wenngleich kühlen Untergrund zu spüren, welcher eine Orientierung möglich machte. Die Späherin blinzelte benommen und versuchte so, die Schlieren vor ihren Augen zu vertreiben. Im Gang selbst herrschte hektische Betriebsamkeit; überrascht von dem plötzlichen Angriff versuchte der Trupp noch, sich zu sortieren, auf die Situation einzustellen. Natürlich hatten sie mit so etwas rechnen müssen... aber wenn es dann passierte war alle Vorbereitung zwar schön und gut gewesen, überstand den Kontakt zum tatsächlichen Geschehen aber nur selten.
Die schlanke Gestalt in ihrer Mitte zumindest schien von ihren Bemühungen, sie zu umzingeln, wenig beeindruckt zu sein. Mit katzenhafter Leichtigkeit wich sie jedwedem Vorstoß aus und ließ nur wenig Zweifel aufkommen, wer hier der eigentliche Jäger war... und wer nichts anderes tun konnte, als auf eben jenen zu reagieren. Kanndra brauchte einen Moment, bevor ihr klar wurde, warum der Angreifer ihr vage bekannt vorkam. Sie hatte ihn bisher einmal gesehen - in Raistans Kristallkugel! Das war dieser Sebastian, vor dem Rogi sie gewarnt hatte.
Der Vampir bewegte sich nur schemenhaft, mittlerweile wieder viel zu schnell für das menschliche Auge und besonders in den diffusen Lichtverhältnissen war es schwer, seine genaue Position auszumachen. Neben ihr klackerte etwas auf dem Stein; ein länglicher hölzerner Gegenstand rollte an ihr vorbei, sie hörte Rogi fluchen. Kanndra sah Nyria, welche sich offensichtlich bemühte, hinter den Angreifer zu gelangen, während Rach immer weiter zurückwich, ebenfalls einen länglichen, aber weitaus dünneren Gegenstand in der Hand. Dann ein dumpfer Aufprall zu ihrer Linken. Kanndras Blick flackerte wie von selbst in die entsprechende Richtung und sie erkannte Mina, welche aber schon wieder halb auf den Beinen war. Anders als ihr selbst war es der vampirischen Kollegin wohl gelungen, den unfreiwilligen Flug halbwegs abzufangen. Die Späherin hatte überhaupt nicht gesehen, wie Mina dem anderen Vampir in die Quere gekommen war... Aber wenn es dieser schon nicht gelang, dem Angreifer länger beizukommen, die ihm an Geschwindigkeit zumindest ebenbürtig sein müsste... Die verdeckte Ermittlerin warf Kanndra nun einen schnellen Blick zu, der irgendwo zwischen fragend und besorgt schwankte und gleichzeitig spürte die FROG-Wächterin eine Hand auf der Schulter.
"Allef in Ordnung?"
Kanndra nickte und machte dann Anstalten, sich aufzurichten. Zeit, sich wieder ins Geschehen einzumischen, bevor noch irgendjemand annahm, sie sei ernsthaft verletzt. Derlei Ablenkungen konnten sie sich nicht leisten. Zumal ihre Sicht mittlerweile wieder frei und der Schmerz zu einem schwachen Dröhnen im Hintergrund abgeklungen war. Mit der einen Hand stützte sich die Späherin an der Wand ab und schob sich so nach oben. Sie bemerkte, dass sie mit der anderen noch immer die Fackel umklammert hielt. Und sie brannte noch. Feuer gegen Vampire! Das war einen Versuch wert. In diesem Moment ging auch Rach weiter hinten zu Boden und dass dieser Sebastian ihn noch nicht erreicht hatte war wohl nur den anderen beiden Assassinen zu verdanken, welche den Vampir einzukreisen versuchten. Das hielt ihn zwar nicht auf, verlangsamte aber sein Vorankommen um die vielleicht entscheidenden paar Sekunden.
Kanndra packte die Fackel fester, tat ein paar schnelle Schritte und schlug damit nach dem Angreifer. Fauchend durchschnitt die Flamme das Zwielicht - und verfehlte dessen Schulter knapp. Dennoch fluchte Sebastian wüst und wandte sich aus der Ausweichbewegung heraus Kanndra zu. Für einen Moment sah sie in die kalten Augen des Vampirs und die abgrundtiefe Wut und Bosheit, die darin funkelte, ließ sie unwillkürlich schaudern. Dann zwang sie ein Schlag auf das Handgelenk, die Fackel loszulassen und das Gesicht des Angereifers hüllte sich wieder in Schatten. Doch das war der Moment, den Nyria nutzte. Wie aus dem Nichts sprang der schlanke Werwolf den abgelenkten Vampir an und schnappte nach dessen Wade. Ein wütender Schmerzensschrei deutete darauf hin, dass ihre Zähne das Ziel gefunden hatten. Aber der Laut verstummte gleich darauf abrupt wieder und das nächste Geräusch war das von Krallen auf Stein sowie von ledrigen Schwingen in der Dunkelheit.
"Er haut ab!"
Im Licht der verbleibenden Fackeln konnte Kanndra einen fliegenden Schemen erkennen, welcher hastig in den rechten Gang abbog - gefolgt von einer weiteren, beinahe identischen Gestalt.
"Verdammt nochmal, Wilhelm!" Mina ergänzte den Satz durch ein paar weitere Worte in einer Sprache, die Kanndra nicht verstand, aber nett klang es nicht. Sie konnte es ihr nachfühlen.
"Das ist jetzt nicht sein Ernst, oder?", knurrte die Späherin. Sie hatten schon als Gruppe gegen den fremden Vampir kaum eine Chance gehabt - welche Aussichten malte sich der Rekrut dann in einer direkten Konfrontation allein aus? Das war Wahnsinn! Kopfschüttelnd klaubte Kanndra ihre Fackel wieder auf.
"Tja, wenn er gern als Held sterben möchte..." Esther trat auf ihren Bruder zu und wollte ihm aufhelfen. Dieser schob ihre Hand jedoch beiseite und suchte nach irgendetwas, was sich wohl auf dem Boden befand.
Nyria knurrte. Sie stand hocherhobenen Kopfes, einen Fetzen Stoff im Maul, welchen sie nun so verächtlich, wie es ihr eben möglich war, ausspuckte. Dann warf sie einen Blick in die Richtung, in welcher die Vampire verschwunden waren und sah dann zurück zu den anderen Wächtern. Die Frage war klar: Hinterher?
"Darauf kannft du aber wetten!" Rogi war schon drauf und dran, ebenfalls in den rechten Gang abzubiegen. Immerhin nahm sie sich noch die Zeit, die entsprechende Stelle mit der Leuchtpaste zu markieren. Dann wandte sie sich den anderen zu und runzelte ungeduldig die Stirn.
"Macht ihr hier Picknick? Fie einfuholen wird fo schon schwierig genug. Daf ift der richtige Weg, ich fpüre ef."
"Aber blindlings hinterherzustürmen, nur um dabei in die nächste Falle zu tappen, ist doch auch nicht... Rogi!"
Doch die Igorina war schon verschwunden.
Kanndra stöhnte entnervt. So war das alles nicht geplant gewesen! Genau so passierten Fehler, kamen Leute zu Schaden. Rogi sollte es eigentlich besser wissen. Aber jetzt gab es keine Wahl mehr. Gemeinsam mit Esther und Jules machte sich Kanndra an die Verfolgung der Kollegen, Nyria nur einige Schritte hinter sich, Mina ein klein wenig voraus. Sie liefen schnell, so schnell wie es die Vorsicht und die beengten Verhältnisse eben erlaubten und es die Eile gemahnte. Schritte und Schatten. Kratzen auf Stein, das Knistern von Feuer, Keuchen, all die kleinen Geräusche von einer seltsamen Tunnelakustik vervielfältigt. Irgendwann ging der Gang erneut in eine Rechtskurve und direkt dahinter hockte Rogi am Boden. Die Erleichterung, die Igorina eingeholt zu haben, schlug schnell in Besorgnis um, warum diese sich in eben jener Position befand. Aber dann erkannte Kanndra eine kleine, unkoordiniert mit den Flügeln flatternde Gestalt, welche die Kollegin gerade behutsam in die Hände nahm. Direkt voraus befand sich eine massiv wirkende Tür aus Metall, welche von Mina bereits aufmerksam untersucht wurde.
"Ich nehme nicht an, dass man aus Rücksicht auf uns aufgesperrt gelassen hat?", meinte Jules. Es war vielmehr eine Feststellung als eine Frage, doch Mina schüttelte trotzdem mit dem Kopf.
"Schön wär's."
"Er fieht in Ordnung auf", sagte Rogi und setze den Rekruten wieder auf dem Boden ab, wo er sich sogleich in seine humanoide Erscheinungsform zurückverwandelte. "Allef klar?"
Wilhelm blieb sitzen und hielt sich den Schädel.
"Ja...", murmelte er. "Es ist nur... zu schnell... Kopf... gegen Tür... dumme Sache...."
"Wir haben schon eine Tür geknackt." Rach trat nach vorn. "Kanndra möchtest du oder soll..."
Die Späherin hatte ihre Dietriche schon wieder in der Hand und machte sich ans Werk. Allerdings teilte sie Rachs Optimismus nur teilweise. Das hier war keine einfach Holztür in einem Keller, nein, dieses Hindernis war von einem ganz anderen Kaliber und gab Anlass zur Annahme, dass das, was sich dahinter befand, einen solchen Schutz verdiente. Sie mussten ganz nah dran sein. Nichtsdestotrotz, das konnte jetzt eine Weile dauern.

21.08.2017 19: 42

Ophelia Ziegenberger

Die Tür brach im Schloss und wurde aufgestoßen.
Ophelia blickte überrascht zu dem einzigen Ausgang ihres Raumes.
Im Rahmen stand Racul, die Stirn finster umwölkt mit deutlich schlechter Laune, seine Augen unverrückbar auf sie gerichtet.
"Steh auf! Sofort!"
Sie mühte sich darum, seinem Befehl Folge zu leisten, tat sich jedoch sichtlich schwer damit, es in der gewünschten Schnelligkeit zu vollbringen.
"Was ist geschehen?"
Statt einer Antwort verlor er die Geduld und pflügte durch das ausgelegte Messermeer Sebastians, als wenn es nicht existieren würde. Auf dem Weg zu ihrem Bett flogen die Klingen wie explosiv abgeschossene Schrapnelle unter seinen Füßen davon, schlitterten in die Ecken und kreiselten mit gefährlich leisem Sirren umeinander, zerteilten die Luft und blieben vibrierend in Dingen stecken. Er packte sie um den gefühllosen Oberarm und zog sie in die Höhe.
"Lauf!"
Und schon folgte sie ihm stolpernd zur nun unbrauchbar gewordenen Tür ihres Gefängnisses, mitgerissen und hinter ihm hergezogen. Ihre Gedanken rasten, während sie ihre Füße zu sortieren und den hin und her schlitternden Klingen auszuweichen versuchte, die ihm so gleichgültig zu sein schienen.
Das ist kein für ihn normales Verhalten. Und das Türschloss kann zwar sicherlich repariert werden. Aber für den Moment kann es mich nicht mehr aufhalten. Also, könnte es nicht, wenn ich besser zu Fuß wäre. Das heißt, er hat diesem Raum damit ungeeignet gemacht. Werde ich woanders untergebracht? So schnell, so voller Zorn? Was passiert hier? Was hat diese Stimmung bei ihm ausgelöst? Wo sind Igorina und Igor? Oder Sebastian?
Racul zog sie in rasender Wut hinter sich her. Sie wandten sich auf dem Gang nach links und eine Ahnung ließ sie sich instinktiv gegen ihn auflehnen. Sie schüttelte entsetzt den Kopf und stemmte sich gegen ihn, die Haken gegen den Boden gerichtet – was freilich nichts an der Geschwindigkeit änderte, mit der sie voran gerissen wurde. Ihre Stimme klang jämmerlich und brach fast, als sie flüsterte:
"Nein! Nein, Racul, bitte... bitte nicht! Nicht in den Käfig! Du weißt, dass ich das nicht noch mal überstehen würde. Willst du mich umbringen? Warum jetzt? Warum? Bitte nicht!"
Sie rechnete nicht wirklich mit einer Antwort – und sie erhielt auch keine. Aber eine Sekunde darauf wandten sie sich wie befürchtet in den kurzen Gang rechterhand und dort gab es nichts, außer eben jenem Zugang. Das Entsetzen und die Hilflosigkeit ob dieser Entwicklung verabreichten ihr einen emotionalen Schlag in den Magen. Ihre Beine gaben zitternd unter ihr nach und sie schluchzte leise auf.
Das ist ein langsames Todesurteil! Und ich habe nichts falsch gemacht! Warum tut er das?!
Der alte Vampir fluchte und blieb gerade lange genug stehen, um sie wieder in die Höhe zu ziehen und böse anzustarren.
"Reiß dich zusammen!"
Ophelia vermutete, dass die Durchblutung in dem tauben Arm langsam nicht mehr die beste war, so fest, wie er zupackte. Sie presste die Lippen aufeinander und atmete schnell hintereinander durch, um sich wieder in den Griff zu bekommen. Nicht aufgeben!
"Warum, Racul? Wir sind doch aneinander gebunden, wer wüsste das besser? Willst du diese Gefahr für dich wirklich eingehen? Ich habe alles so gemacht, wie du wolltest, keine Gedanken mehr nach außen. Der Tee wirkt auch. Wo liegt das Problem? Was kann ich tun, um diese Entscheidung zu revidieren? Bitte, sprich mit mir!"
Doch er ignorierte sie und stieß auch die nächste Tür auf. Hier hatte er kein Schloss ruinieren müssen, um seiner Eile gerecht zu werden. Sie war nicht abgeschlossen gewesen.
Ophelia konnte nicht verhindern, dass sie instinktiv reagierte, als er sie brutal in die Finsternis führte. Sie brauchte kein Licht, um diesen Raum zu fühlen aber das wenige Streulicht der Flurfackeln, das hier hinein fiel, genügte, um sie die Umrisse des herabgelassenen Käfigs auf dem Bohlenbrett über dem Abgrund erahnen zu lassen. Das schwarze Glimmen auf den Eisenstangen schien sie zu verspotten. Sie zog in die entgegengesetzte Richtung, griff mit ihrer freien Hand nach der seinen an ihrem Arm und versuchte mit aller ihrer verbliebenen Kraft, ihre Finger unter diesen Griff zu schieben und ihn zu lösen. Zwecklos. Sie hätte ebenso gut gegen blanken Fels vorgehen können. Er riss sie mit einem letzten Ruck voran, öffnete den Käfig und ihr Stolpern verwandelte sich in einen freien Fall auf die vertraute Strohmatte. Der Aufprall ihrer Knie schlug auf das Gitter darunter durch. Sie fing sich mit einer Hand ab und blieb mit hängendem Kopf auf den Knien sitzen.
Die Käfigtür schlug quietschend hinter ihr zu und der Schlüssel ließ den Mechanismus endgültig einrasten. Dann das Rasseln der Ketten, als der alte Vampir dieses Mal selber Hand anlegte, um den Käfig über das Gewinde langsam unter die Kammerdecke empor zu ziehen. Der Ruck, mit dem die Gitterbox sich vom Untergrund löste, entsprach zugleich dem inneren Ruck, mit welchem sie sich von einem Teil ihrer Hoffnungen löste. Ruhe überkam sie.
Dann soll es so sein. Wir werden sehen, wie lange das diesmal ausgehalten werden muss. Ich habe es zweimal überlebt. Ich habe mich inzwischen etwas erholen können. Dann war das wohl die Vorbereitung auf ein drittes Mal.
Sich selbst einzureden, dass sie auch dieses überstehen würde, das brachte sie jedoch nicht über sich.
Die Kettenglieder quietschten, als Racul die Gewindeblockade einrasten ließ und arretierte. Der Käfig schaukelte in fast heimeliger Manier mit ihr über dem Abgrund.
Alles war wieder da!
Stunden, ewige Nächte, tintenschwarze Monotonie, Eiseskälte, die immer tiefer in ihre Knochen und ihre Seele kroch, die Bilder überlagerten sich zu einem und Ophelia musste sich zu ruhigem Atmen zwingen. Sie verdrängte das Rauschen in ihren Ohren mit reiner Willenskraft.
Und... stutzte.
Racul war noch immer hier!
Sie öffnete die Augen und blickte zu ihm hinab. Ihrer beider Blicke trafen sich und gerade, als sie etwas sagen wollte, sank er in seiner Nebelgestalt in sich zusammen. Weißer Dunst ergoss sich über den Boden. Die Temperatur im Raum schien nochmals zu sinken. Ophelia fröstelte bereits jetzt, umfing sich jedoch selbst mit dem gesunden Arm. Sie rieb sich unbewusst die Stelle des tauben Arms, die nun mit blauen Flecken übersät war.
Ich muss Igorina rufen, sobald er fort ist, damit sie mir Decken bringt. Und eine Wasserschale. Wenn ich das nicht gleich mache, wird es vermutlich zu lange verdrängt, bis ich wieder zu wenig getrunken habe. Ob sie mir diesmal normales Essen bringen darf? Wenn ich wenigstens wüsste, was der Auslöser war, womit ich seiner Meinung nach diese Sanktion verdient habe? Vermutlich irgendeine Intrige Sebastians? Wie hat er das nur wieder geschafft? Racul müsste ihn doch inzwischen durchschaut haben und misstrauisch seinen Behauptungen und Plänen gegenüber sein. Oder passiert irgendetwas, das nichts mit Sebastian zu tun hat? Ist diesem vielleicht sogar etwas zugestoßen? Immerhin wäre es sonst er, der mich hierher bringen würde? Was passiert hier? Wenn er nur mit mir reden würde!
Die Tür fiel mit lautem Krachen zu, gestoßen wie von Geisterhand.
Sie konnte die Präsenz des Alten noch immer um sich herum spüren. Warum blieb er? Plante er, sie aus irgendeinem Grund zu erschrecken? Das war so lächerlich! Glaubte er wirklich, sie würde nicht wissen, dass er noch mit ihr in der Kammer war, selbst, wenn sie ihn nun nicht mehr sehen konnte? Als wenn ihr das möglich gewesen wäre – ihn auszublenden!
Ophelia griff nach den Käfigstangen vor sich und ließ ihren Kopf sacht gegen diese sinken.
Es nutzte nichts. Niemand würde sich die Mühe machen, ihre Fragen zu beantworten. Ab jetzt hieße es wieder, mit Zurückhaltung zu reagieren, gleichgültig, was geschehen würde. Ihre Emotionen in sich versiegeln, gegen Sebastian gewappnet sein, mit den Kräften haushalten.
Das hier konnte dauern.
Und für einen Moment kam ihr der flüchtige Gedanke, dass ihre Freundin zu optimistisch gewesen sein mochte. Die Welt im Schoße ihrer beiden Gefängniswärter, der Raum zwischen Racul und Sebastian, diese Welt war keine Welt, in der Hoffnung Bestand haben konnte.


21.08.2017 20: 25

Araghast Breguyar

Bisher war soweit alles nach Plan gelaufen.
Pünktlich um halb elf hatte Raistan an die Tür des Kommandeursbüros geklopft. Da er optisch das Bild einer wandelnden Leiche bot, hatte Araghast ihn auf die Püscho-Kautsch gebettet und ihm einen heißen Kakao mit einem Extraschuss Sahne aus der Kantine besorgt. Von Kanndra hatte der Kommandeur bereits gehört, wie der vorige Abend verlaufen war, und dass Raistan auch auf Kosten seiner Gesundheit vor einer magischen Barriere auf gar keinen Fall klein beigab, war mal wieder typisch. Aber immerhin wussten sie dank des Kleinen nun von einem Haufen Messer in Ophelias Gefängnis, und dass der Assistent namens Sebastian anscheinend im Kopf von Feldwebel Schneyderin herumstöberte. Angewidert verzog Araghast das Gesicht. Es war wirklich allerhöchste Zeit, dem widerlichen vampirischen Treiben unter dem Grüngansweg ein endgültiges Ende zu setzen.
Auch Senray Rattenfänger war auf die Minute pünktlich erschienen und nach einer kurzen Ansprache zugunsten etwaiger versteckter Lauscher hatte der Kommandeur sie und Raistan zur 'Magischen Analyse' in Ophelias ehemaliges Zimmer geschickt.
Um fünf vor zwölf hatte sich Araghast wieder in die Kantine begeben, sich ein belegtes Brot geholt und ein kurzes Gespräch mit Mamsell Piepenstengel über den Füllstand der Vorratskammer geführt. Gemeinsam hatten sie über die drohenden Büdschehkürzungen geflucht und waren dabei von Cim Bürstenkinn, Fynn Düstergut, Spica Virgo und Avalania von Gilgory sowie den beiden Tresenrekruten gesehen, beziehungsweise in letzterem Fall gehört worden. Irgendwie tat es ihm leid, die Köchin absichtlich gereizt zu haben, aber eine lauthals zeternde und auf die Palastbürokratie schimpfende Mamsell Piepenstengel zur Mittagsstunde blieb hoffentlich im Gedächtnis.
An Kanndra war der Befehl gegangen, erst den Einsatz-Eselskarren der FROGs zur längst fälligen Inspektion zu bringen und anschließend eine Villa in der Teekuchenstraße auf verdächtige Aktivitäten zu observieren. Araghast hatte für den Fall der Fälle eine Geschichte zusammengestrickt die mit dem Verdacht spielte, dass der neue Besitzer besagter Villa seinen Reichtum dem Schmuggel von Trolldrogen verdankte. Und Kanndra hatte versprochen, später einen ausführlichen, ziemlich langweiligen Bericht abzuliefern der minutiös auflistete, wann der Müll nach draußen gebracht wurde, wann der Postbote kam und so weiter.
Nyria wollte sich selbst um ein Alibi kümmern und Araghast vertraute ihr da völlig. Seine Kusine kannte genug zwielichtige Gestalten um im Zweifelsfall nachweisen zu können, dass sie sich zur Tatzeit in Klatsch befunden hatte.
Soweit es ihn anging befand sich Mina von Nachtschatten, falls sie nicht im Wachhaus anzutreffen war, auf irgendeiner verdeckten Ermittlung. Welcher genau? Keine Ahnung, wer es wissen wollte, sollte gefälligst Romulus fragen gehen, an welchen Fällen der Chief-Korporal gerade arbeitete. Auch wenn Araghast der Kommandeur war, er war verdammt noch mal nicht allwissend.
Rogi Feinstich war seines Wissens nach entweder im Wachhaus in der Kröselstraße oder scheuchte Rekruten durch die Gegend. Wo sie sich genau befand, wusste er nicht. Vielleicht zeigte sie gerade, wie man Verkehrskontrollen durchführte. Sie hatte bei der letzten Abteilungsleiterbesprechung erwähnt, dass das mal wieder geübt werden müsste. Wer sie unbedingt dringend sprechen wollte, möge sich gerne so frei fühlen, an den üblichen Hauptverkehrsknotenpunkten nach ihr zu suchen. Da wäre dann möglicherweise auch der Rekrut Wilhelm Schneider zu finden, falls sie ihn nicht mit einer anderen Aufgabe betraut hatte. Vielleicht musste er auch als Strafe für das unerlaubte Eindringen in Senray Rattenfängers Kopf die gesamte Übungsausrüstung putzen. Verdient hätte er es zumindest.
Der Inspektor tat vermutlich das, was er meistens tat und inspizierte etwas. Je weniger Araghast von ihm sah, desto lieber war es ihm und wenn er im Wachhaus gerade nicht anzutreffen war - um so besser.
Und was die beiden Assassinenkumpels des Inspektors trieben, war absolut nicht sein Problem. Was taten Assassinen schon den ganzen Tag? Sich um ihr Aussehen kümmern? Gifte mischen? Durch die Gegend stolzieren und sich für etwas besseres halten? Jemanden inhumieren?
Araghast öffnete die unterste Schreibtischschublade und nahm einen Schluck von seinem Seelentröster. Es war eine neue Flasche. Er war sich sicher, heute eine Menge Seelentrost zu brauchen bis der ganze Einsatz über die Bühne gegangen war. Wenn der Einsatz zu einem Desaster wurde, würde er sich irgendwohin zurückziehen und den Rest der Flasche auf seine gefallenen Freunde und Kameraden austrinken. Vielleicht eine zweite Flasche anbrechen. Und dann am nächsten Tag mit schwerem Herzen und dröhnendem Schädel sein sorgfältig vorbereitetes Lügennetz auswerfen.
Mina von Nachtschatten, Senray Rattenfänger und Nyria waren zu ihm gekommen und hatten ihn um einen Kurs in Infiltrationstaktiken gebeten, da sie als verdeckt ermittelnde Mitglieder anderer Abteilungen auch gern von vielen Jahren FROG-Erfahrung auf diesem Gebiet profitieren wollten. Er hatte eingewilligt und Kanndra hinzugezogen, da sie die unangefochtene Expertin in Spähtaktiken war. Rach Flanellfuß hatte von der Sache Wind bekommen und zu Araghasts Leidwesen beschlossen, diesen Kurs zu inspizieren und aus irgendwelchen Gründen, die nur er wusste, die beiden Assassinen angeschleppt, ebenso wie Rogi Feinstich der Meinung war, dass der Rekrut Schneider dringend Nachhilfe in Anschleichtaktik brauchte. Im Zuge des Kurses hielt Wilhelm Schneider es für eine gute Idee, im Kopf der Obergefreiten Rattenfänger herumzustöbern, und stellte auf die harte Tour fest, dass sich dort ein Dämon befand, der ihn auch gleich in einen Pakt zwang. Und dadurch kam Raistan Quetschkorn ins Spiel. Da die Obergefreite an ein Schweigegelübde gebunden war, lag es nun an ihm, herauszufinden, inwiefern dieser Dämon zu einer Gefahr für die Wache werden konnte. Nein, er hatte keinerlei Ahnung gehabt, dass ein Teil der Gruppe sein Wissen nur ausnutzen wollte um eine Vampirlauer zu stürmen und Ophelia Ziegenberger zu befreien, die anscheinend dort gefangen gehalten wurde. Er hatte wesentlich wichtigere Probleme am Hals als eine Wächterin von der er immer geglaubt hatte, dass sie einfach die Schnauze voll vom Wachhausarrest gehabt hatte und von allein abgehauen war. Die Büdschehkürzungen zum Beispiel. Die ständige Personalknappheit. Den Inspektor. Der Dämon, der in der Obergefreiten Senray Rattenfänger steckte. Und die Tatsache, dass die Abteilungsleiterin von SuSi entführt worden war und die diesbezüglichen Ermittlungen auf der Stelle traten.
Ein weiterer Schluck Rum rann die Kehle des Kommandeurs hinunter. Es würde ihm in der Seele weh tun, lieb gewonnene Freunde und ganz besonders seine eigene Kusine verleumden zu müssen, aber wenn es wirklich zum Schlimmsten kam, galt es, die Überlebenden zu schützen. Sie würden es sicher verstehen.
Aber noch war alles in der Schwebe. Wie er es hasste, dazu verurteilt zu sein, in seinem Büro zu sitzen, die Wände anzustarren und nichts zu tun, während im Untergrund von Ankh-Morpork ein Kampf um Leben und Tod stattfand! Aber der Kommandeur der Stadtwache von Ankh-Morpork durfte auf keinen Fall öffentlich mit einer illegalen Aktion seiner Leute in Verbindung gebracht werden. Lord Vetinari ließ ihm viel durchgehen, aber wenn er sich erwischen ließ, konnte das der sprichwörtliche Nagel auf seinem Sarg werden.
Nur zu gern hätte er mit irgendwem geredet. Aber Raistan war vollauf damit beschäftigt, auf Senray Rattenfänger aufzupassen und eine andere eingeweihte Person der er vertraute gab es derzeit nicht in der Nähe. Zwar saß Leonata zur Zeit oben in ihrem Büro im dritten Stock und versuchte, das Beste aus den Büdschehkürzungen zu machen, aber ihr gegenüber war er genauso vage geblieben wie bei Romulus. Sie wusste, dass irgendein gefährlicher Einsatz anstand, und dass es dabei um Politik und von höchster Stelle verordnete Geheimhaltung ging, mehr nicht. Zu ihrer eigenen Sicherheit. Das allerletzte was Araghast wollte war, seine Familie in Gefahr zu bringen. Deshalb war es, so sehr er es auch hasste, Geheimnisse vor seiner Frau zu haben, am besten, dass Leonata bisher nicht wusste, worum es ging.
Araghast gönnte sich einen weiteren Schluck Rum und beschwor sich, sich zusammenzureißen. Noch war nichts verloren. Zwei Assassinen mit einer bei Bedarf vorzeigbaren Inhumierungsquittung, der auf einen gewissen Sebastian ausgestellt war und vom Kommandeur während eines Inspektionsbesuchs bei DOG unauffällig gestohlen worden war, waren in das Verließ eines Vampirs eingedrungen um ihren Kontrakt zu erfüllen, und hatten des Stils wegen einen Profi-Mob aus Überwald angeheuert um sie zu unterstützen. Jemand der nicht wusste, dass es sich um eine lizenzierte Aktion handelte, alarmierte die Wache, die daraufhin pflichtbewusst einen Ermittlungstrupp losschickte und dabei feststellte, dass der eigentliche Hausherr, der nicht Ziel des Assassinenvertrags war, einen Haufen Dreck am Stecken hatte. Araghast kannte Romulus. Er würde äußerst gründlich sein und keinen Stein auf dem anderen lassen, selbst wenn er noch nicht wusste, worum es genau ging.
Araghast seufzte tief, tröstete ein letztes Mal seine Seele und stellte die Flasche zurück in die unterste Schreibtischschublade. Es war an der Zeit, sich wieder einmal für alle Anwesenden sichtbar im Wachhaus blicken zu lassen. Er griff nach der Liste mit den Ankündigungen für Sparmaßnahmen und machte sich auf den Weg zum Schwarzen Brett in der Eingangshalle. Hoffentlich blieb es in den Schädeln der diensthabenden Tresenrekruten hängen: Wenn sich jemand über die Büdschehkürzungen beschweren wollte, er wäre in seinem Büro zu finden.

21.08.2017 20: 31

Magane

Etwas ging vor im Haus. Magane wagte keine Prognose, ob dies ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Sie entschloss sich vorerst von einem schlechten Zeichen auszugehen. Andererseits hatte sie noch nie so viel Leben hier unten gespürt und das musste ein gutes Zeichen sein... das konnten unmöglich alles Opfer sein. Sie konzentrierte sich auf die Anderen. Nein, das waren keine Opfer, das waren Retter. Bei einer so gemischten Gruppe musste es sich um den Rettungstrupp handeln. Zwar waren die einzelnen Individuen nur schwer zu unterscheiden, weil sich ihre Energien überlagerten, aber die Mischung sprach für sich. Sie waren da, sie kamen um sie zu holen... endlich. Gut, jetzt hieß es also Ruhe bewahren, noch waren sie nicht hier, es würde noch einen Kampf geben müssen und mit den beiden Vampiren war nicht zu spaßen. Magane steckte nebenbei die wichtigsten Dinge in ihre Tasche und stecte sich die Haare hoch, während sie intensiv lauschte. Mit einem extrem leisen Klicken öffnete sich die Tür und sie sah auf, genau in dem Moment in dem Sebastian eintrat. Der Vampir sah aus als hätte er schon einen Kampf hinter sich, sein ansonsten immer perfektes Äußeres war leicht derangiert und im rechten Bein seiner schicken Anzughose klaffte ein Loch, das sie unwillkürlich an Nyria denken ließ. Er hatte keine sichtbaren Verletzungen, das war einerseits gut, weil er somit auch nicht seine Selbstheilung durch eine Portion frisches Blut ankurbeln musste. Andererseits sagte das auch nichts über den Zustand der Angreifer aus, oder warum die Konfrontation zwar stattgefunden, aber zu keinem Ergebnis geführt, hatte. Mit mehr Übung hätte sie vielleicht mehr Informationen auf geistiger Ebene bekommen, aber so konnte sie grade einmal erspüren, dass sie da waren und in Summe größtenteils lebendig. Also, wieso hatte er nicht weiter gegen sie gekämpft, waren sie ihm vielleicht doch überlegen gewesen? Oder war er sich seines Sieges so sicher, dass er sie vorher nur tiefer ins Labyrinth locken wollte? Sebastian sah jedenfalls nicht so aus, als wollte er irgendwelche Fragen beantworten.
"Röschen, wir haben nicht viel Zeit. Du erinnerst dich doch sicherlich noch an unser Abkommen?"
"Selbstverständlich, wie sollte ich das vergessen?"
"Dann erinnere dich bitte daran, dass du mir geschworen hast lebenslang bei mir zu bleiben", er warf einen nervösen Blick über die Schulter und schien Dinge zu hören, die ihm nicht sonderlich gefielen.
"Lebenslang, was auch immer das heißen mag."
"Das heißt, dass du, wenn du die Gelegenheit hättest zu gehen, auch an den Rückweg denken solltest."
"Wieso sollte ich gehen?"

Kanndra fluchte leise, dieses Schloss war deutlich komplizierter als die bisherigen. Aber das war noch lange kein Grund aufzugeben, auch wenn sie die Ungeduld der Anderen körperlich spüren konnte. Nach einiger Zeit gab das Schloss dann doch mit einem deutlich vernehmbaren Klicken nach, aber die Tür ließ sich trotzdem nicht öffnen. Nyria, die in ihrer gegenwärtigen Gestalt zum Öffnen von Türen nichts beizutragen hatte und auch ein wenig bedauerte, dass die Anzahl der Sprengladungen auf genau eine limitiert gewesen war, sorgte vorsorglich für Rückendeckung, indem sie den Gang aus dem sie gekommen waren im Auge behielt. Kanndra drehte sich zum Rest der Gruppe herum und sagte: "Die Tür scheint zusätzlich zum Schloss auch noch verriegelt zu sein. Da kommen wir wohl nur mit Gewalt weiter. Ideen?"
Wilhelm rappelte sich langsam wieder auf, er schüttelte den Kopf, dabei schien es sich allerdings nicht um eine Antwort zu handeln, sondern vielmehr um seine Bemühungen die letzten Fetzen der Benommenheit abzuschütteln.
"Wir hätten doch einen Mob-Rammbock mitbringen sollen...", sprach Mina etwas aus was in diesem Augenblick gleich mehreren durch den Kopf ging, während sich die Assassinen näher mit der Tür befassten. Sie klopften und lauschten und fanden die Stellen an denen die Angeln saßen und die genaue Platzierung des Riegels, was sie allerdings nicht fanden war eine Möglichkeit die Tür von dieser Seite aus zu öffnen.
"Nichts zu machen", lautete das Ergebnis, "da hilft wohl nur rohe Gewalt."
Ohne große Absprachen traten diejenigen mit übermenschlichen Kräften vor und Kanndra und Esther jeweils einen Schritt zur Seite, Rach und Jules waren noch einen Augenblick unentschlossen entschieden sich dann aber auch dafür ihr Gewicht mit in die metaphorische Waagschale zu werfen. Die Tür konnte unmöglich der geballten Wucht des Rettungstrupps standhalten, wenn sie sie mit mit Schwung und unbändiger Entschlossenheit stürmten.
Mina fragte: "Dann auf drei?"
"Eins - Zwei - Drei!" Als Wilhelm bei drei angekommen war warfen sich die beiden Vampire, die Igorina und die Menschen gegen die Metalltür. Sie merkten einen deutlichen Ruck gegen den Riegel, das Mauerwerk ächzte dezent. Aber ansonsten tat sich nichts.
Nyria bellte anfeuernd, sie begeisterte sich sehr für das traditionelle und einem Mob sehr würdige Verhalten. Der Weg war richtig... es war nur eine Frage der Zeit. Leider hatten sie davon nur einen sehr begrenzten Vorrat.
"Dann nochmal", Mina sah die Tür wütend an, ihre Worte enthielten den Hauch einer Drohung, Wilhelm zählte wieder an: "Eins - Zwei - Drei!"
Dieses mal wurde die Tür ein gutes Stück zurückgerammt und der Riegel gab ein Stückchen nach.
"Aller guten Dinge sind drei, oder so", ein Lebewesen wäre Mina freiwillig aus dem Weg gegangen, diese Wahl hatte die Tür nicht.
"Kaum fu glauben, daf daf alf gute Fache gilt."
"Eins - Zwei - Drei!"
Der Riegel zerbarst mit einem metallischen Knarzen, die Tür flog auf und krachte gegen die Wand, dieser Lärm hätte Tote wecken können... Nur gut, dass sie keinen Überraschungsangriff planten. Weitergetragen von ihrem Schwung stolperten sie unkoordiniert durch den Durchgang. Kanndra, Esther und Nyria folgten ihnen und sie fanden sich in einem weiteren Gang wieder. Sie sahen sich um und Rogi begann zu lächeln, sie kannte diesen Gangabschnitt, hier war sie schon gewesen.
"Da lang!"
Die Igorina übernahm die Führung und ging zielstrebig auf das Zimmer zu von dem sie wusste, dass Ophelia sich dort zuletzt aufgehalten hatte. Die Menschen folgten ihr relativ zügig, während die Vampire und Nyria sich vorher mit der Umgebung befassten, sie lauschten nach Lebenszeichen. Die Werwölfin schnupperte zusätzlich den Bereich ab, keine Erfahrung, die sie so bald wiederholen wollte, stank alles nach Vampir, ekelerregend und faulig. Sie nieste und beschloss flacher zu atmen und sich mehr auf ihre Ohren zu konzentrieren. Von weiter hinten im Gang konnten die drei Stimmen hören, dort war eine Debatte im Gange. Nyria knurrte, als sie Maganes Stimme erkannte, Mina nickte ihr zu.
"Ja, Maggie ist da hinten, hinter der Säule und es scheint ihr im Moment recht gut zu gehen."
Rogi und die Menschen waren vor der Tür des Roten Zimmers stehen geblieben. Die Tür stand offen, Ophelia war offensichtlich nicht mehr hier. Kanndra schaute entsetzt hinein und starrte die unzähligen Messer auf dem Boden an. Die Messer hatten sie alle in der Nacht schon in Raistans Kristallkugel gesehen, allerdings hatte es da noch keine durchgetrampelte Schneise darin gegeben. Rach rannte in den Raum und sah sich hektisch um, als konnte er nicht glauben, dass sie nicht mehr hier war.
"Der Käfig! Fie haben fie wieder dort hin gebracht. Wir müffen weiter!" Rogi drehte sich ruckartig um und machte ein paar Schritte in Richtung der Abzweigung, von der sie wusste, dass sie zur Käfigkammer führte. Die Geschwister Flanellfuß folgten ihr, wie auch Jules, Kanndra zögerte jedoch und sah zu den beiden Vampiren, die offenbar mehr hören konnten und zu Nyria, die knurrend auf die Säule zupirschte.

"Deine Freunde scheinen sich nicht entscheiden zu können, wen sie zuerst retten sollen, dich oder die wegen der sie eigentlich hier sind."
"Sie wissen ja nicht, dass ich nicht gerettet werden muss", doch ganz dringend musste sie gerettet werden, aber er durfte auf keinen Fall merken, wie weit sie sich inzwischen von ihm abgewandt hatte. Er musste weiterhin glauben, dass die Sache mit der Traumfalle und dem gedanklichen Pflock ein Reflex war und sie nicht wirklich vorgehabt hatte sich von ihm zu befreien. Das Letzte was sie wollte war, dass er sie einfach wieder bewusstlos schlug und danach ungehindert ihre Freunde beseitigte, sie wollte wenigstens die Chance haben in den unweigerlich kommenden Kampf einzugreifen. Magane wollte nicht einfach nur gerettet werden, sie wollte aktiv an der Rettung teilhaben und sie hatte einen Plan, der allerdings nur unter ganz bestimmten Umständen funktionieren konnte. Sollten diese Umstände nicht eintreten konnte sie ja immer noch das arme zurettende Opfer geben... dann würde ihr nichts anderes übrig bleiben. Wenn er sie wieder niederschlug, oder einfach ging und die Tür hinter sich abschloss... nun sie würden sehen. Sebastian lauschte immer wieder nach draußen, er war unruhig, amüsierte sich aber scheinbar köstlich über die Diskussion auf dem Gang.
"Vielleicht sollte ich ihnen die Entscheidung abnehmen und sie einfach gleich mit meiner Anwesenheit beglücken. Dann muss der Herr sich nicht persönlich mit den lästigen Eindringlingen befassen."
"Es wäre wohl zu viel verlangt, wenn ich dich um ihre Leben bitten würde?"
"Was könntest du mir schon noch bieten im Tausch für diese Leben dort draußen? Ich hab doch schon alles von dir", er strich über ihre Wange, was beinahe eine Abwehrreaktion ausgelöst hätte, aber es gelang ihr mühsam sich zu beherrschen. Jetzt bloß nicht zimperlich werden.
"Aber vielleicht verschone ich ein oder zwei. Weißt du, wir haben hier unten noch freie Zimmer und du hältst dich bestimmt auch besser, wenn ich zwischendurch mit anderen spiele."
Damit hatte er vermutlich sogar recht, aber das war nicht ganz das was Magane bezweckt hatte. Eigentlich hatte sie wissen wollen wie die Chancen der Angreifer standen, jetzt jedoch musste sie befürchten, dass manche von ihnen noch heute ihr Schicksal teilen würden.
"Lass mich nachdenken, die Werwölfin kommt dafür nicht in Frage, die machen nur Ärger und schmecken nicht, außerdem hat sie mich gebissen... und die Vampire kommen ebenfalls nicht in Frage. Vampire hat dieses Haus genug, die würden das Frischblutproblem nur verschärfen. Was hältst du vom Leben der beiden menschlichen Frauen und der Igorina?"
Verhandelte sie hier wirklich um das Leben ihrer Freunde? Konnte man das überhaupt Verhandlung nennen? Sie hatte doch nichts mehr anzubieten. Andererseits hatte sie auch nichts mehr zu verlieren. Das war die Rettung auf die sie gewartet hatte, sollte diese Gruppe scheitern gab es keine Geheimnisse mehr zu bewahren. Sie richtete sich hoch auf und sah ihn trotzig an.
"Das Einzige was ich dir anbieten kann, ist freier Zugang zu all meinen Gedanken und Erinnerungen."
"Gestern wäre das noch drei Leben wert gewesen, aber heute... ich weiß nicht."
Diese bemerkung hätte unter normalen Umständen eine Ohrfeige oder wenigstens eine sehr patzige Reaktion herausgefordert, aber sie schmiegte sich stattdessen an ihn und gurrte: "Glaubst du wirklich, dass du alles mit Gewalt erreichen kannst? Freiwillig kann ich dir so viel mehr geben."
"Ja, das kannst du wohl... na dann, beenden wir das da draußen mal", er ließ sie mit einem Grinsen stehen und schloss die Tür auf.

Sebastian kam in den Gang zurück gestürmt und griff den Rettungstrupp wieder an. Er stieß die erstbeste Person, die ihm in die Quere kam, gegen die Wand, damit hatte er erneut Kanndra erwischt, die sich zusammen mit Nyria auf das Blaue Zimmer konzentriert hatte. Sebastian hielt sich nicht damit auf die Tür wieder zu schließen, sondern konzentrierte sich auf die gegnerische Überzahl, die weitaus geringer ausfiel als er gedacht hatte. Anscheinend hatten sich die meisten noch nicht für den Angriff auf ihn entschieden.
Nyria war insgeheim froh, dass die Entscheidung ihnen damit abgenommen worden war. Sie fletschte die Zähne und griff wieder seine Beine an. Immerhin konnte er ihnen jetzt nicht mehr in den Rücken fallen. Die veränderte Geräuschkulisse rief nun auch den Rest der Gruppe auf den Plan. Sebastian schüttelte die Werwölfin schwungvoll ab, sodass sie ebenfalls gegen eine Wand flog und kurzfristig benommen liegen blieb, bemerkte dann aber, dass ihn die Assassinen inzwischen eingekreist hatten. Rach zielte schon wieder mit dem Blasrohr auf ihn. Was sollte das nur mit dem Blasrohr? Sebastian achtete zu sehr darauf, Rach auszuweichen und geriet dadurch etwas zu dicht an die beiden übrigen Assassinen.
Magane kam vorsichtig zur Tür und hielt sich am Türrahmen fest, ihr Plan konnte nur funktionieren wenn sie Sebastians Aufmerksamkeit wiedergewann, im Moment galt seine Aufmerksamkeit allerdings den Anderen. Er hielt inne und beobachtete alle so gut wie möglich und lachte dann amüsiert. Nyria pirschte noch einmal von hinten an ihn heran, sie zeigte dabei triumphierend das erbeutete Stück Hose zwischen den Zähnen.
Mina wahrte etwas Abstand und behielt den anderen Vampir genau im Auge, sie wollte unbedingt verhindern, dass er in Richtung Käfigraum durchkam. Aber er machte keine Anstalten die Position zu wechseln, dazu standen für seinen Geschmack noch zu viele Gegner. Er bemerkte Nyrias Annäherung und wirbelte blitzschnell herum, packte Nyria an der Kehle und würgte sie. Noch einmal würde er sich nicht von ihr beißen lassen. Sie wehrte sich nach Kräften kratzte mit den Krallen an ihm herum und zerfledderte seinen Anzug weiter. Er verlor schnell die Geduld mit ihr und schleuderte sie in Richtung der Assassinen. Esther wich reflexartig aus, während Jules versuchte Nyrias Fall abzubremsen. Rach wartete noch immer auf den richtigen Augenblick zum schießen. Mina griff nun doch aktiver in den Kampf ein indem sie versuchte ihm von hinten die Beine wegzutreten, was Sebastian zwar ins stolpern brachte, aber er fing sich sofort wieder. Das von Kanndra geworfene Messer traf ihn am linken Arm und blieb stecken, behinderte ihn aber nicht merklich. Nyria schüttelte sich erstmal ausgiebig und kam langsam wieder zu Atem. Sebastian wurde es zu bunt, er brauchte etwas Ruhe im Kampf und wollte auch nicht unbedingt von weiteren fliegenden Dingen getroffen werden, er sah sich schnell um. Sein Hexchen stand am Türrahmen und wurde von den Rettern nicht weiter beachtet. Er überbrückte die kurze Distanz in blitzartiger Geschwindigkeit und hielt sie wie einen Schutzschild vor sich.

Das war sein Fehler und gleichzeitig ihre Chance doch etwas sinnvolles beizutragen, sie als menschlichen Schutzschild gegen geworfene Messer und Blasrohrpfeile und weiß Om was noch einzusetzen. Hoffentlich gaben die Anderen dem nach, immerhin konnte er ihnen so ebenfalls nichts zuleide tun. Sebastian zog beiläufig Kanndras Messer aus seinem Arm und warf es achtlos hinter sich.
"Du entschuldigst doch sicher, hier fliegt einfach zu viel rum", raunte er in ihr Ohr. Sie schwankte kurz ob das eine Antwort wert war, entschied sich dann aber dagegen und griff nach seiner Hand. Hautkontakt... es funktionierte nicht ohne. Magane legte ihre rechte Hand auf seine Linke und blendete die Umgebung weitestgehend aus. Sie hörte nicht wie Sebastian seine Angreifer verspottete, weil sie zögerten ihn trotz des menschlichen Schutzschildes anzugreifen. Sie nahm auch nicht wahr, dass Rach das Blasrohr keineswegs hatte sinken lassen, er wartete nur auf seine Gelegenheit. Er war da, wenn sie versagte. Die Hexe hatte endlich die Verbindung zu seinem Nervensystem gefunden und begann geballt ihr Schmerzgedächtnis auf ihn zu übertragen. Der Vampir erstarrte beinahe augenblicklich, nur ein leichtes Zittern verriet seinen inneren Kampf gegen die Schmerzen. Es gelang Magane ihn um sie herum zu drehen, so dass er nun mit dem Rücken zu den Angreifern stand und ihr in die Augen sehen musste. Sie legte die linke Hand in seinen Nacken und ließ den Schmerz ungehindert fließen. Es tat ihr fast ein wenig leid, dass es so enden musste, es hatte gute Momente gegeben zwischen ihnen und so verraten zu werden hatte er eigentlich nicht verdient... wenn er nur ein wenig netter gewesen wäre, ein bisschen weniger grausam... Nein, auch dann hätte er nicht überleben dürfen!
Magane küsste den bewegungsunfähigen Sebastian und hoffte inständig, dass die Anderen endlich auf die Idee kamen sein Leiden zu beenden. Er schloss die Augen, vielleicht weil ihm klar geworden war, dass sie die Bilder des für sie geschaffenen Alptraums für ihn nachstellte. Vielleicht taten seine Augen auch nur zu weh um sie länger offen zu halten. Ihre Kräfte schwanden, er verstelle ihren Blick auf die Angreifergruppe, so dass sie nicht sehen konnte ob die Anderen begriffen hatten, dass sie nicht ewig durchhalten konnte, auch wenn sie ihm zusätzlich seine Lebensenergie stahl, was sie sowieso längst tat, sonst wäre sie bereits umgekippt.
Plötzlich löste sich der Vampir in eine Aschewolke auf, leider ohne Vorwarnung für Magane, die prompt genau im falschen Moment eingeatmet hatte. Hustend sackte sie gegen die Wand und sah ungläubig auf das Häufchen Asche, dass sich unmittelbar vor ihren aufhäufte. Letztendlich hatte Jules den Pflock geschwungen und die Welt von Sebastian erlöst. Er wischte den Pflock ab und steckte ihn grinsend wieder ein. Kanndra und Rogi kamen gleichzeitig auf sie zu und sahen sie besorgt an. Magane konnte sich gut vorstellen was sie für ein Bild bot, sie war blass, hatte tiefe Augenringe, war so dünn wie zuletzt vor fünfzehn Jahren und außerdem waren da noch die Narben, die von dem Ausschnitt des Kleides großzügig freigelassen wurden. Trotzdem durften sie sich nicht zu lange mit ihr beschäftigen, wie Sebastian so schön gesagt hatte, sie waren eigentlich nicht wegen ihr hier.
"Mir geht es gut, für ein gegebenes Maß an gut", sie lächelte die beiden an. "Ihr müsst euch um Ophelia kümmern, ich komm schon klar, lasst mich einfach hier. Helfen kann ich dabei ja doch nicht."

24.08.2017 8: 34

Wilhelm Schneider

Der Moment, als Sebastian sich gewandelt hatte und in Fledermausgestalt rasend schnell in den unbekannten Gang abgedreht war, würde ihm für immer als eine dieser seltenen Instinktreaktionen verbleiben, bei denen er eine spontane Entscheidung traf, die nichts mit bewusster Überlegung zu tun hatte. Das mächtige Gegenüber wechselte und flog – und er musste mitfliegen! Er hatte dabei keine Sekunde an die Gefahren gedacht, die damit einhergehen mochten oder ernsthaft ein Szenario vor Augen gehabt, in dem das Fliegen und Folgen auch irgendwann wieder enden musste. Und erst recht nicht hatte er darüber sinniert, was dann mit ihm geschehen mochte, so viel ungeübter und schwächer er war, als der Andere, in allem, was mit echter Konfrontation zu tun hatte. Und auch, wenn er später, bei eventuellen Nachfragen, das Argument vorschieben und betonen würde, dass er lediglich der eindeutigen Anweisung des Kommandeurs gefolgt war, der damals schon festgelegt hatte, dass seine Flugkünste ihn zum idealen Verfolger flüchtiger Vampire machten - falls er die Möglichkeit zu solch einer Verteidigung seiner eigenmächtigen Position denn überhaupt noch bekäme - im Grunde hatte sein Verhalten eben nichts mit diesen Überlegungen zu tun gehabt.
Bis dahin war er zu langsam gewesen.
Im Fliegen war er besser, fliegen konnte er! Und wenn der Andere dies vorgab und niemand sonst ihm zu folgen vermochte, dann war es erst recht an ihm, an der Spur festzuhalten!
So gesehen war es wohl besser gewesen, dass ihn nach der scharfen Rechtskurve die Metalltür aufgehalten hatte. Auch wenn diese Begegnung eine der schmerzhaften Sorte darstellte – besser die Tür, als der andere Vampir. Denn dieser hätte vermutlich Kleinholz aus ihm gemacht.
Wilhelm blickte auf Sebastians Ãœberreste. Er stand stockstill und war nicht imstande, sein Augenmerk auch nur eine Sekunde von dem Aschehaufen dort auf dem Boden abzuwenden.
Sie hatten ihn umgebracht. Endgültig. Ausgelöscht. Der mächtige Artgenosse, der es vor wenigen Minuten noch mit ihrem gesamten Trupp auf einmal aufgenommen hatte, der mitten unter ihnen gewütet hatte wie eine fröhliche junge Naturgewalt, der unbesiegbar schien mit seiner Kraft und seinem spöttischem Lachen, der Inbegriff des verführerisch-bösen Vampirtums... war ihnen letztlich zum Opfer gefallen. Der Assistent des Meistervampirs war an ihrer Ansammlung unterschiedlichster Stärken und an ihrer leicht unkoordinierten Thiemarbeit zu Grunde gegangen. Er hatte sie ausgelacht. Er hatte sie unterschätzt. Und nun lag er da!
Wilhelm sah zu der Hexe, die den Artgenossen offensichtlich für die entscheidenden Momente mit beängstigender Macht in Schach hatte halten können.
Was für eine Magie war das gewesen, die einen Vampir mithilfe eines Kusses lähmen und ihn kampfunfähig machen konnte, in einer Situation, in der jener zweifelsfrei gewusst haben musste, dass es um seine Existenz ging, dass er handeln musste, ob er wollte oder nicht? So richtig und gut ihr Eingreifen auch gewesen sein mochte, er konnte nicht verhindern, dass es ihm eisig den Nacken hinauf kroch.
Sein Blick sprang zu Jules, dem Assassinen.
Von diesen erwartete man natürlich nichts anderes, als dass sie jedwede Lebensform schnell und gründlich ihrem Ende zuführen konnten. Aber... das dann auch zu sehen! Er war Zeuge eines Mordes geworden. Oder?
Wie auch immer man es nennen mochte, es war doch gerechtfertigt gewesen, nicht wahr? Der Andere war ein Monster gewesen. Sie hatten von Rogi genug erfahren, um sich den Rest zusammenreimen zu können. Ophelias langes Leiden war dieser nicht versehentlich zugestoßen. Dazu die Ermittlungsergebnisse rund um Maganes Entführung, die manipulierten Gedächtnisse der Anwohner, als wenn der Assistent Raculs ein makaberes, respektloses Spiel mit diesen wehrlosen Menschen gespielt hätte - in ganz großem Maßstab. Und dann das weggeworfene Straßenkind...
Sein Blick verfinsterte sich unmerklich und sein Herz verhärtete sich.
Nein, das war eine gerechte Vergeltungsmaßnahme gewesen.
Und wenn er an das Bild der Kristallkugelszene zurückdachte... Es schien ihm offensichtlich, dass die Kollegin gezielt geistig manipuliert worden war. Die Folgen dessen mochten sich erst noch zeigen. Doch wer, wenn nicht sie, hätte damit mehr Anrecht auf solch einen Vergeltungsschlag gehabt? Denn in Anbetracht der vorliegenden Eindrücke zweifelte er keinen Moment daran, dass das, was dieser Sebastian dabei getan, ja, ihr an-getan haben mochte, vermutlich grausam war.
Trotzdem fiel es ihm unverhältnismäßig schwer, den Blick abzuwenden. Den Gedanken zu verdrängen, dass er sich inmitten einer regelrechten Vampirvernichtungsmaschinerie bewegte; als ebensolcher!
Seine Aufmerksamkeit schnellte für einen Sekundenbruchteil zu seiner Ausbilderin. Ob Rogi Feinstich diesen Dolch bei sich trug, den er in ihren Gedanken gesehen hatte?
Das Gewusel der Kollegen im Gang vor ihm versperrte ihm immer wieder die Sicht auf die Ãœberreste des anderen Vampirs.
Er trat noch einen weiteren Schritt zurück. Und spürte bei dieser Bewegung wieder das eisige Gewicht jener Aura, wie sie an seinen Sinnen entlangschrammte, gleich einer vereisten Wand, an der er anlehnen würde.
Sie waren wegen ihm hier. Nicht wegen seines Handlangers. Alles Bisherige wäre bedeutungslos, wenn sie nicht aus dieser anstehenden Konfrontation erfolgreich hervorgehen würden. Sie mussten dorthin, wo der Alte sich aufhielt. Einige Schritte zurück, zu dem abzweigenden Gang.
Wilhelm deutete mit einem Fingerzeig in die entsprechende Richtung. Für die Menschen der Einheit, auch wenn sie ihn nicht groß beachteten. Denn zumindest Mina von Nachtschatten würde diesen Hinweis vermutlich nicht benötigen, so sehr, wie alles Vampirische in ihm schrie, dass er vor dem Uralten vorstellig werden und sein Knie beugen müsse.
Er räusperte sich, um sich seiner Stimme einigermaßen sicher zu sein. "Wir sollten... da lang!" Und ohne noch mehr Zeit zu vertun, drehte er sich um und ging voran.
Der Weg war kurz und die Tür, die ihnen den letzten Zugang verwehrte, zwar massivstes Holz, dafür aber nicht verschlossen. Ein einziges Vorhängeschloss baumelte lose neben der Klinke.
Die Gruppe sammelte sich allmählich hinter ihm und schnell trat er beiseite. Rogi nickte grimmig, als sie die Tür wiedererkannte und seine eigene, geflüsterte Erklärung bestätigte nur noch, was alle längst ahnten.
"Er ist da drin! Und... auch Ophelia!"
Ihr Herzschlag war für ihn in den Wochen seiner Besuche am Pseudopolisplatz so charakteristisch geworden, dass er diesen stets wiedererkennen würde. Auch hier und jetzt, wo dieser durch Schwäche leicht verändert klang. Ein Blick zu Mina von Nachtschatten vermittelte ihm den unbestimmten Eindruck, dass es ihr ähnlich ginge. Obwohl sie zugleich die Stirn runzelte. Ja, das war wirklich irritierend. Ophelia so nahe zu wissen und dennoch auf mentaler Ebene auf dem Trockenen zu sitzen. Also ging es der Stellvertretenden Abteilungsleiterin anscheinend ähnlich, mit deren Empfang der Gefühlsebene. Der Alte hatte es geschafft, Ophelia wirklich und wahrhaftig vollständig abzuschirmen. Hoffentlich war sie nicht...
Wilhelm schalt sich einen Narren.
Selbstverständlich war sie in all der Zeit nachhaltig in Mitleidenschaft gezogen worden. Schon die Logik hätte es nahegelegt, davon auszugehen. Doch Rogis ernste Warnungen ihren körperlichen Zustand betreffend und Raistans Berichte über ihr panisches geistiges Senden, hatten dieses Wissen bereits vor Tagen unliebsam vervollständigt. Das Juwel, sie, hatte ihre Strahlkraft eingebüßt, lange vor ihrer Stimme. Und sie würden sehen müssen, wie viel von ihrer Persönlichkeit nach diesen Torturen verblieben wäre. So schrecklich der Gedanke auch war: Ophelia würde vermutlich nicht mehr die Selbe sein.
Sein Blick fiel zufällig auf den konzentrierten Gesichtsausdruck Rach Flanellfuß'. Hätte dieser Zugriff auf magische Kräfte gehabt, die Tür zwischen ihm und Ophelia wäre bereits weggesprengt gewesen.
Es hat von jeher einen nicht unwichtigen Teil ihres Zaubers ausgemacht, dass sie unter härtesten Prüfungen geschmiedet wurde. Ihre Persönlichkeit hatte auch vor ihrer Gefangenschaft schon so viel durchlitten und war trotzdem funkelnd und begehrenswert geblieben. Wie ein Diamant, der erst unter Druck vervollkommnet. Sie könnte es geschafft haben... vielleicht hat sie das Wunder gemeistert und ist im tiefsten Kern unversehrt geblieben?
Und wenn er sich den Rettungstrupp in diesem zeitlosen Augenblick vor ihrer Tür so betrachtete, dann schien ihm das nicht unmöglich zu sein. Es musste Wunder geben! Sonst wären sie niemals so weit gekommen.
Rogi und Rach verständigten sich mit einem stummen Nicken. Die Igorina griff nach der Klinke und der Assassine lockerte seine Schultern. Er hielt das Blasrohr einsatzbereit in seinen Händen. Alle anderen waren seitlich der Tür zurückgewichen, so dass sie beim Öffnen selbiger von drinnen nicht gesehen werden konnten. Der Preis dafür war natürlich, auch selber nichts sehen zu können.
Rogi zog schwungvoll und Wilhelm sah, wie Rach bei dem sich ihm bietenden Anblick kaum merklich zusammenzuckte. Sein Blick wirkte wie gebannt und seine Hände schienen kurzzeitig fester um die Waffe zu greifen.
Dann war da Ophelias Stimme, aus dem Inneren des Raumes, die ihrem Verlobten mit einem deutlich wahrnehmbaren Unterton tiefster Verachtung entgegenschlug.
"Was für ein krankes Spiel soll das werden, Racul? Denkst du, ich falle noch einmal darauf herein? Sage mir endlich, was los ist oder lass mich allein!"
Rachs fragender Blick wanderte fast ein wenig hilflos zur Wache-Igorina und diese schloss zu ihm auf.
"Daf ist kein Fpiel..."
Womit beide den Raum betraten.
Noch während Wilhelm überlegte, ihnen zu folgen, streifte Mina von Nachtschatten ihn, als sie an ihm vorbei eilte und zu den Kollegen aufschloss.
Die Aura! Der Alte ist immer noch in diesem Raum, haben sie das vergessen? Sie laufen ohne zu Zögern in ihr Verderben!
Und als wenn ein unsichtbarer Choreograph ihm in diesen Bedenken zustimmen wollte, gellte plötzlich wieder Ophelias Stimme durch die offen stehende Tür, diesmal jedoch angsterfüllt und panisch, kein Vergleich zu ihrer gelassenen Kälte nur wenige Sekunden zuvor.
"Vorsicht! Es ist eine Falle! Er greift an! Racul, nein! Nicht! Bitte, lass sie in Ruhe! Verschone sie!"
Wilhelm ging ihr Flehen durch Mark und Bein.
Für sie bin ich hier. Für ihre Sicherheit. Also...
Er trat in den offenen Zugang und erfasste mit einem Blick das beginnende Chaos in der vor ihm liegenden Kammer.
Es war jene Kammer! Ophelia hing emporgezogen in dem eisernen Käfig, den Raistan mit seinen Worten leise und drängend zugleich beschrieben hatte. Sie wirkte mager und blass, kaum mehr als über Knochen gespannte Haut. Ihre Finger krampften sich um die Käfigstäbe und ihre Augen blickten weit aufgerissen und dunkel auf das Geschehen hinab. Und unten, auf dem relativ knapp bemessenen Platz vor dem abgedeckten Abgrund, ließ der Alte soeben von seiner Nebelform ab und festigte sich zu einer grotesken Albtraumgestalt.
Wilhelm fühlte Trauer und Ekel, Widerwillen und Angst zugleich. Alles an diesem Bild war falsch! Racul der Dritte von Ankh, dessen Räumlichkeiten, Hilfsmittel... seine Überzeugungen! Der Greis mochte über unheimliche Kräfte gebieten. Doch er war alt. Alt im Sinne von rückständig und überholt, verkommen. Racul zelebrierte eine Ära und einen Status, die es so nicht mehr gab. Oder zumindest schon lange nicht mehr geben sollte. Menschen als Schlachtvieh? Leid und Zwang als akzeptable Umgangsvariabeln? Knechtschaft und oktruiertes Besitztum im Miteinander von Lebewesen?
Das völlig verschüchterte Gesicht des kleinen Vogelherzens tauchte vor seinem inneren Auge auf, Zeuge einer jahrelangen Unterdrückung, die in gewisser Weise all dem hier glich. Der Eindruck war nur kurz, aber er genügte, um ihm Übelkeit zu bescheren.
Das alles spiegelte sein Verständnis der vampirischen Traditionen - und es widerte ihn an!
Natürlich, es gab Momente, in denen auch er der Ansicht war, das seine Spezies in besonderem Maße gesegnet war, dass es keinen größeren Triumph geben konnte, als ihrer aller Spiel mit den Elementen, ihr elegantes Weiten der Begriffe von Denken und Fühlen, auch auf andere mentale Sphären bezogen, denn lediglich die eigene. Vampircharme eben, ein Flirten mit dem Möglichen, dem knapp außer Reichweite Befindlichen. Überzeugungsarbeit über die eng gesteckten Grenzen rein menschlicher Bemühungen hinaus.
Aber es war ganz etwas Anderes, wenn man dabei grundlegende Strömungen wie Respekt und Mitempfinden ausklammerte! Und wenn man anderer Wesen Gefühle mit Füßen trat und sich selbst soweit erhöhte, dass man dabei den Zugang zur Vernunft verlor!
Während die RUM-Kollegin noch nach unsichtbaren Persönlichkeitsschwaden zu schlagen schien, legte Rach Flanellfuß seine Waffe an und suchte mit huschendem Blick und bewundernswert ruhiger Haltung nach einer Lücke in all den hecktischen Bewegungen. Er wartete auf freies Schussfeld.
Wilhelm fasste einen Entschluss, löste sich vom Türrahmen...
...und sank unfreiwillig auf die Knie.
So wie alle anderen im Raum mit ihm.
Eine Welle unbezwingbar dominanter Macht überflutete sie und duldete keinen Widerstand.
Wilhelm fühlte sich unscheinbar und wehrlos. Das Gefühl war beschämend. Sein Blick klebte am Boden.
Nicht weit von sich entfernt konnte er aus dem Augenwinkel heraus die krampfhaft geballten Fäuste Rogi Feinstichs sehen. Wie grausam musste dies für sie sein! All die frischen Narben in ihrem Geist, die er gerade erst verbunden geglaubt hatte!
Er hob mühsam den Blick und sah Mina von Nachtschatten gegen den fremden Einfluss ankämpfen. Stolz hob jene ihr Kinn Milimeter um Milimeter.
Und über alle dem erhob sich das Gnadenersuchen der Gefangenen. Ophelia redete unablässig auf den Alten ein, flehte an ihrer Statt um Gnade.
Das Assassinenpärchen stürmte in den Raum, anscheinend unberührt von der waltenden Energieaufbietung. Sie trennten sich, liefen beidseitig von ihm weiter auf Racul zu und packten diesen an seinen hageren Armen. Sie versuchten, ihn zu Fall zu bringen, scheiterten aber an seiner felsenfest verwurzelten Unbeweglichkeit. Wie zwei exotische Fliegenfänger hingen sie einen Moment lang links und recht an seinen Seiten. Ehe sie wie Marionetten zusammenzuckten, an deren Fäden jemand unbeabsichtigt hängen geblieben war. Schmerzen zeichneten sich auf ihren Gesichtern ab und es war nicht erkennbar, ob es ihre Willensstärke war, die sie an ihm festhalten ließ, oder ob sie sich nur deswegen weiter an ihn klammerten, weil sich ihre Hände in den Stoffschichten seiner weiten Kleidung verkrampft hatten.
Racul jedoch ignorierte sie schlichtweg und zog sie mit sich, als er einen Schritt vor tat.
Das stumme Aufbegehren der Vampirkollegin war dem Alten offenbar ein Dorn im Auge. Denn plötzlich streckte er seine Hand in ihre Richtung und schleuderte sie mit nur einem Fingerzeig gegen die nächste Wand. Sie schlug hart auf und blieb benommen liegen.
Wilhelm wollte sich aus dem Zwang lösen, fand aber nicht genug Kraft dafür.
Hinter ihm trat jemand mit Fackel ein und brachte mehr Licht in die Kammer - Kanndra näherte sich mit gezücktem Wurfmesser. Ihre Haltung kündete davon, dass nahezu jeder Muskel in ihrem trainierten Körper unter Anspannung stand. Sie wandte sich zur einen Seite des Vampirs in ihrer Mitte, während Nyria ihn zur anderen Seite hin zu umschleichen suchte.
Womit die Werwölfin nicht weit kam. Der Alte deutete mit verächtlicher Mine und lediglich stumm zu seinen Füßen gesenktem Zeigefinger das universelle Herrchen-Kommando für jeden hündischen Vierbeiner an. Und sie setzte sich! Ohne die geringste Verzögerung. Mit geschlagenem Blick und leisem Winseln. Aber gehorsam!
Wilhelm war diesem entwürdigendem Schauspiel mit innerem Grauen gefolgt. Nyria war ein Freigeist, wie er im Buche stand. Er schauderte, wenn er sich auszumalen versuchte, was diese Behandlung in ihr auslösen mochte! Er selber war es gewohnt, unangenehme Erfahrungen bis zu einem gewissen Grad auszublenden. Sich nicht unnötig über vergossene Milch aufzuregen, wie man so sagte. Aber der kämpferischen Werwölfin solch ein widernatürliches Verhalten aufzuzwingen... ein Verhalten, welches deren Grundbedürfnisse entartet missbrauchte!
Er spürte Wut in sich aufsteigen, welche durch den Blick zum Käfig zusätzlich befeuert wurde.
Er war hierher gekommen um etwas zu bewirken, nicht dazu, sich irgendeiner weiteren bösartigen Macht zu unterwerfen und in eine Wartenische abgeschoben zu werden!
Wilhelm dachte an die Drohung der über ihm schwebenden Paktklausel, ebenso wie an all die Ungerechtigkeiten hier. Er hob seinen Kopf mit einem Ruck und bäumte sich gegen den Einfluss des Alten auf. Mit fest zusammengebissenen Zähnen und mahlenden Kiefermuskeln stemmte er sich mit aller ihm zur Verfügung stehenden natürlichen Stärke aus dem Kniefall heraus auf. Der fremde Befehl fiel von seinen Muskeln ab, wie gesprengte Ketten. Sein Wille klärte sich, als wenn er von einem tiefen Tauchgang nach Oben zurückgekehrt wäre und zum Atemholen die Wasseroberfläche durchbrochen hätte.
Er zögerte keine weitere Sekunde, verschwendete keinen Gedanken an etwaige Wenn und Aber. Er rannte auf den Uralten zu und griff ihn mit bloßen Händen an.
Für einen Moment noch, nahm er einige wenige Details seiner Umgebung mit seltsamer Klarheit wahr.
Mina von Nachtschatten stemmte sich in eine sitzende Position und schüttelte benommen ihren Kopf. Sie tastete nach dem Blut an ihrer Schläfe.
Und Rogi Feinstich eilte quer durch den Raum zu der Kurbel, mit deren Hilfe sie offenbar Ophelias Käfig hinab zu lassen gedachte. Sie wurde von niemandem aufgehalten.
Dann jedoch geriet er in Raculs Reichweite - und es war schlimmer, als befürchtet. Es war nicht die Kralle des Alten, die ihn aufhielt, als sie seinen Hals umfasste und sich dort um seine kaum geschützte Wirbelsäule schmiegte. Es war vielmehr, als wenn er gegen eine unsichtbare Mauer gerannt wäre, von welcher der Greis ihn gemächlich aus der Luft gepflückt hätte. Schmerz explodierte in ihm und jener war wie eine Widerholung dessen, was die Feuerkreatur ihm erst vor wenigen Tagen angetan hatte. Nur als Kehrseite, als Schwarz-Weiß-Negativ. Alles brannte und stand in Flammen, wenn auch in dem feurigen blau unermesslicher Kälte. Eisblumen wucherten in sein Inneres, reckten ihre kristallinen Strukturen wie ausblutende Senklote in die Nervenbahnen des Genicks. Sein Arm... wurde systematisch unbrauchbar gemacht. Muskel um Muskel gab auf, Sehnen rissen, Knochen brachen. Die zerschmetterten Splitter rissen weitere Schichten auf und Blutungen stauten sich im Inneren auf, gegen den weiter zunehmenden Druck dieser krallenbewährten Zwinge. Und doch! Er nahm kaum etwas davon wahr. Seine Welt schrumpfte auf die Finsternis der Augen ihm gegenüber zusammen, die ihn unverrückbar betrachteten, auf deren emotionslose Grausamkeit. Und auf das Inferno in seinem Inneren. Das war die wahre Macht der Ahnen, das Unsichtbare. So wie sie ihre besonderen Fähigkeiten per Blick oder Geste von Weitem wirken lassen konnten, ohne direkte Berührung, ohne nachweislichen Körperkontakt, wie von Geisterhand, so konnten sie ohne äußerlich erkennbare Mühen im Inneren schlachten, den Geist martern, die Sinne foltern. Und niemand war davor sicher, wenn ihnen danach war, erst recht kein lästiger Jungvampir, der althergebrachte Autorität in Zweifel zog und die Traditionen verachtete. Wilhelm litt. Und mit jeder verstreichenden Sekunde schwanden seine Sinne. Es war, als wenn Teile seines Wesens in Agonie zerflossen, um von dem Alten als wertlos abgeurteilt zu werden. Und dessen Urteil sickerte in jede heimliche Ecke, es fühlte sich so allgemeingültig und korrekt an, dass er die Ansicht des Ahnen schleichend zu teilen begann. Er hatte nichts zu bieten, war nutzlos und schwach! Racul schenkte ihm so viel Aufmerksamkeit. Er grub sich gemächlich in tiefere Schichten seines Bewusstsein, nur um alles, was er dabei berührte - seien es Erinnerungen oder Gefühle, Überzeugungen oder Wünsche - zu zerbrechen, es zu frostigem Eisbruch zu zerschlagen, den er unter schwarzem Vergessen begraben würde, bis nur noch die leere, widerstandslose Hülle eines Dienerwesens übrig bliebe. Wenn überhaupt.
Der Alte füllte ihn mit seinem kaltem Zorn aus. Alles wurde zu Zorn. Wilhelm fühlte nur noch Schmerz und Zorn, Verachtung und...
Der Schmerz stockte, zerfloss, versickerte... Verwirrung machte sich breit. Raculs Gedanken drifteten durch die seinen.
Der Assassine? Ihr Möchtegern-Partner? Aber wie...
Verwirrung. Schwindel.
Racul ließ ihn fallen und die gedankliche Verbindung riss unvermittelt ab.
Er wurde von einer Sekunde auf die andere aus einer grausam intimen Welt der Pein herausgeschleudert, zurück in eine Welt, die vergleichsweise leblos und taub wirkte. Bis zumindest sein Körperempfinden auf ihn eindrosch. Trotzdem kam er nur langsam wieder zu Sinnen, so dass es ihm möglich war, seine Umgebung wahrzunehmen und zu verstehen, was um ihn herum geschah. Er fand sich zu Füßen des Uralten wieder, ohne dass jener ihn beachtete. Wilhelm krümmte sich schützend über den geschundenen Arm. Die Schmerzen, die ihn durchtobten, waren mannigfach und bewegten sich gerade eben so an der Grenze des Ertragbaren. Er musste unverzüglich seine Selbstheilung vorantreiben, sie zu Höchstleistungen beschleunigen. Die Knochensplitter mussten in minutiöser Konzentration an ihren ursprünglichen Platz zusammengeschoben und die inneren Blutungen reguliert werden. Muskeln und Sehnen hätten Zeit bis später. Alles auf einmal konnte er nicht reparieren. Aber wenn er sich um diese beiden Punkte nicht sofort kümmerte, ganz gleich, was sonst um ihn herum passierte, dann würde er ernstere Probleme bekommen. Hannahs weiser Vorraussicht geschuldet, hatte er wenigstens genug Reserven zur Verfügung, aus denen er Kraft schöpfen konnte, für dieses anstrengende Unterfangen. Und solange der Schlächter ihn ignorierte...
Die Selbstheilung war kein schmerzfreier Prozess, so dass er immer wieder gefährlich an der Grenze zur Ohnmacht vorbeischlidderte, während er sich auf die Schäden in seinem Körper konzentrierte. Um diejenigen in seinem Geist würde er sich ohnehin erst sehr viel später kümmern können. Wenn er noch dazu käme.
Die Kollegen hatten zumindest noch nicht aufgegeben. Schritte eilten hin und her und er hörte das Kettenrasseln des Käfigs. Raculs gifttriefende Stimme krächzte ihnen entgegen, als er sie verspottete.
"Wollt ihr uns wirklich trennen? Dann nur zu! Bringt sie um! Seid wenigstens ehrlich genug und macht es jetzt, direkt, während ihr ihr in die Augen seht! Sagt ihr, dass es euch immer schon gleichgültig war, was aus ihr wird und es euch nie um etwas Anderes gegangen ist, als um kleinliche Rache und Zerstörung! Denn ansonsten..."
Und dann erhob jemand Einspruch. Leise, knapp, unbewegt. Doch laut genug für das Gehör eines Vampirs. Und mit sehr bedeutungsvollen Worten.
Racul erstarrte und die Zeit schien zum Stillstand zu kommen.
Wilhelm blickte zur Vampirkollegin und konnte es dem Alten nachempfinden. Hatte er richtig gehört? Oder waren seine Sinne bereits so zerrüttet, dass er unter Wahnvorstellungen zu leiden begann? Hatte sie wirklich...
Er sah zu dem Uralten empor und dessen Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass genau das geschah, was er vermutete.
Sein Blick schnellte zu der Kollegin zurück, die blass und verkrampft inmitten der verebbenden Bewegungen der Anderen stand.
Und dann wurde die Situation einfach zu absurd für ihn.
Wilhelm begann zu lachen.

24.08.2017 8: 48

Mina von Nachtschatten

"Ich erhebe Anspruch."
Es war, als habe jemand einen Hebel an der großen Uhr des Universums umgelegt und die Zeit angehalten. Eingefroren. Einfach so. Drei Worte, mehr hatte es dazu nicht gebraucht. Drei Worte und alles andere versank in eine Art Bedeutungslosigkeit. Nicht so, wie etwas vollkommen jede Relevanz einbüßt und zur Nebensächlichkeit gerät - die anderen, welche gerade noch um ihr Leben gekämpft hatten, waren schließlich nicht egal. Vielmehr war es ohne Belang für das, was damit in Bewegung gesetzt worden war; die Räder die sich in nur eine Richtung weiterdrehen konnten. Sie wusste, dass sie eine Tür durchschritten hatte, durch die es schon jetzt kein Zurück mehr gab. Aber um diese endgültig, sicher zu versiegeln bedurfte es doch noch etwas mehr, als nur dreier Worte.
"Ich erhebe offiziell Anspruch auf diesen Menschen."
Mina spürte die Blicke der Wächter und Assassinen auf sich ruhen, verwirrt, ungläubig, irritiert... Aus dem Augenwinkel sah sie Rach, welcher sie vollkommen entgeistert anstarrte. Sie musste das ignorieren, für den Moment zumindest. Keiner sagte etwas, lediglich das stetige Rasseln der Käfigketten störte die Stille. Sowie ein seltsam glucksendes Geräusch, welches sich irgendwo erhob. Jemand lachte. Auch das musste sie ausblenden, sie durfte sich nicht ablenken lassen. Nicht jetzt, in dem Moment, da alles auf Messers Schneide stand. Sie durfte sich keinen Fehler erlauben, sonst wäre dieses kurze Innehalten nichts als vollkommen sinnlos erkaufte Zeit gewesen.
Mina sah dem alten Vampir vor sich fest in die toten Augen und formulierte langsam und sorgfältig. Jetzt, da sie einmal angefangen hatte, war es sonderbar leicht; die richtigen Worte fügten sich nahezu von selbst aneinander und klangen klar und vernehmlich in der kalten Luft der Kammer. Vielleicht auch, weil es sich anfühlte, als sei das gar nicht sie selbst, sondern irgendjemand anders, der da ihre Stimme benutzte, während der Rest von Mina von Nachtschatten erstarrt und taub, bar jedes Begreifens oder Einschreitens, nichts anders tun konnte, als zuzusehen.
"So meine Forderung die erste ist, welche laut vorgetragen wurde, bestehe ich auf mein Recht und verlange, dass du sie mir überlässt. Du hast ab jetzt kein Anrecht mehr auf sie."
Erneut traf sie seine mächtige, uralte Aura und verwehrte ihr die Möglichkeit, sich weiter in den Raum hineinzubewegen, aber es war etwas ganz anderes als der Angriff vorhin. Das Gefühl unbedingten Gehorsames streifte die Grenzen ihres Bewusstseins nur leicht, war mehr Erinnerung und Mahnung zu was der Gegenüber fähig war, als eine ernst gemeinte Attacke. Vielmehr schien Raculs tastender Geist sie zu umkreisen, wie ein Raubtier, welches abschätzend einen vormals unterschätzen Gegner mustert und einen neuerlichen Punkt zum Angriff sucht. Abwartend. Unsicher? Wie auch immer, es war ein Fortschritt.
Der Alte als solcher ließ sich äußerlich jedoch nichts dergleichen anmerken. Er gab einen kehligen Laut von sich, der wohl Belustigung zum Ausdruck bringen sollte, und hob abschätzig die Augenbrauen.
"Und warum sollte ich dem zustimmen? Was bringt dich zu der Annahme, ich würde diese lächerliche Forderung anerkennen? Erst recht von einer... Paria wie dir?"
Im letzten Moment hielt sich Mina davon ab, abwehrend die Arme zu verschränken. Jetzt nur keine Schwäche zeigen! Er würde jedes derartige Signal sofort ausnutzen und die Situation zu seinen Gunsten zu verändern versuchen. Stark bleiben. Selbstbewusstsein und Bestimmtheit heucheln. Sie entschied sich dafür, die Hände provokant in die Seiten zu stemmen, auch wenn eine kleine Stimme in ihrem Hinterkopf schrie, dass das, was sie da gerade tat auch ohne diese Geste bereits selbstmörderischer Wahnsinn war. Aber jetzt war sie schon so weit gekommen, da konnte man auch alles auf eine Karte setzen. Gewinnen oder dabei zugrunde gehen, eine andere Möglichkeit gab es ohnehin nicht mehr.
"Weil du keine Wahl hast", meinte sie fest. "Weil du an die Übereinkünfte gebunden bist, welche unsere Spezies vor Jahrhunderten getroffen hat. Weil die Traditionen sich so tief in deinen alten Knochen eingefressen haben, dass dir nichts anderes als das mehr bleibt." Sie hielt einen kurzen Moment inne, um den folgenden Worten mehr Gewicht zu verleihen. "Und das weißt du ebenso gut wie ich."
Das Wunder, im nächsten Augenblick noch zu existierten, bestärkte Mina darin, mit dieser Einschätzung des Alten richtig gelegen zu haben. Eine Art verblüffter Zweifel malte sich auf Raculs Züge und es hätte komisch wirken können, wäre es nicht in der darauffolgenden Sekunde von tödlichem Zorn verdrängt worden. Er wusste es tatsächlich, erahnte seine Niederlage - aber das machte ihn nicht weniger gefährlich. Die Luft flimmerte leicht, als er seine Kräfte ein weiteres Mal ballte, um zuzuschlagen. Aber wie man bisweilen in der Lage ist, einen durch Wut und Trotz unkoordinierten Faustschlag mit der eigenen Hand abzufangen, so fehlte auch diesem Manöver die letzte Konsequenz, um ihr Ziel tatsächlich zu erreichen. Tief in seinem Innern begann Racul zu begreifen und das zeigte erste Wirkungen. Die Assassinen fielen von ihm ab und saßen einen Moment benommen auf dem Boden. Sogar Nyria, die noch immer gefährlich knurrend auf und ab ging, hätte wohl eine realistische Chance gehabt, ein weiteres Mal nach Raculs Bein zu schnappen. Irgendwo gab sich immer noch jemand seinem Heiterkeitsanfall hin.
Racul ignorierte sie alle.
"Du wagst das nicht!", zischte er in ohnmächtiger Wut, "Du unbedeutendes Staubkorn wirst dich nicht in dieser Weise gegen mich auflehnen! Ich werde..."
"Ich akzeptiere."
Der Einwurf kam so unvermittelt, dass sich der Alte tatsächlich aus dem Konzept bringen ließ. Er wandte sich ruckartig der Person zu, welche die Worte ausgesprochen hatte: Ophelia drückte das Gesicht an die Gitterstäbe als könne sie dadurch die Distanz zwischen ihnen verringern, ihr Blick klebte nahezu an dem alten Vampir, fiebrig, entschlossen. In diesem Moment kam ihr Gefängnis mit einem letzten Schwanken auf dem Boden auf. Sie hätte vielleicht selbst ihre hockende Position nicht aufrecht erhalten können, wären die Hände nicht derart um das Metall gekrampft gewesen.
"Ich stimme dem aus freien Stücken zu", sagte sie bestimmt.
Einen endlosen Moment lang blieben sie in einem stummen Austausch gefangen, dann ballte Racul die Fäuste.
"Niemals!", grollte er. "Ich gestatte das nicht."
"Ich brauche deine Erlaubnis nicht."
"Du weißt nicht, auf was du dich einlässt."
Ophelia schüttelte schwach den Kopf.
"Was könnte schlimmer werden, als das hier?"
"So ein Kitsch!" Ein Kichern zu Füßen des alten Vampirs. Mina wurde erst jetzt so richtig bewusst, dass es Wilhelm war, von dem das Lachen stammte. Er saß zu Füßen des Alten, hielt sich den Arm und grinste breit zu Racul hoch. "Aber sie hat recht." Er wies mit dem Daumen in Richtung seiner vampirischen Kollegin. "Da lässt sich jetzt nichts mehr machen. So rein traditionell. Ich habe da mal was gelesen. Und nun, da sogar Ophelia selbst zugesagt hat - das anzufechten würde in der Tat kompliziert. Das Geld für den Anwalt kannst du dir meiner unmaßgeblichen Meinung nach sparen."
"Als ob sie eine Rolle dabei spielen würde!" Der Alte mahlte mit dem Kiefer. Dann zeigte er mit einem dürren Zeigefinger auf Ophelia. "Du wirst hier bei mir bleiben, ich befehle es."
Doch er kämpfte auf verlorenem Posten. Das Nervengift, die Angriffe des Trupps, der Verlust seines Handlangers und die Demütigung auf eigenem Territorium... Ophelias Zustimmung zum Undenkbaren war dabei wohl nur das letzte Tröpfchen gewesen, welches den Damm brechen ließ.
Seine vormals noch so übermächtige Aura hatte sie mittlerweile wieder alle aus ihrem Bann entlassen und mochte er auch noch so wettern, es war nur ein Aufbegehren gegen etwas, was außerhalb seiner Macht lag. Zumindest solange er das glaubte hatten sie gewonnen. Jetzt galt es zu verschwinden, bevor sich Misstrauen in diese instinktive Überzeugung mischte.
Mina trat die letzten Schritte auf Racul zu und baute sich direkt vor ihm auf. Aus der Nähe betrachtet und ohne den Nimbus aus Einfluss und Herrschaftsanspruch war er eigentlich nicht mehr als eine kahle, dürre Gestalt - eine wandelnde Leiche in weiten Lagen aus Stoff, welche ihre Zeit auf der Scheibe über die Gebühr hatte ausdehnen können. Allem ledig, was an die Welt da draußen erinnert hätte und derart trunken vom eigenen Anspruch, dass ihm jede Verhältnismäßigkeit abhanden gekommen war. Lief es am Ende darauf hinaus? War das der unabänderliche Preis für tausend Jahre Existenz? Mina rief sich selbst innerlich zur Ordnung. Sie konnte es sich noch immer nicht leisten, in ihrer Konzentration nachzulassen, noch waren sie nicht entkommen. Und wer wusste schon, auf was für Ideen ihr Gegenüber in seiner Niederlage noch kommen mochte - Rechtmäßigkeit hin oder her?
"So du Einwände hast, dann bin ich die Person, mit welcher du diese ab sofort ausfechten wirst, nicht Ophelia", sagte sie. "Und wenn das alles war, dann nehme ich sie jetzt mit."
Racul bedachte sie mit einem Blick, der sämtlicher Verachtung spiegeln musste, zu der er im Stande war. Dann fuhr die Hand des alten Vampirs in seinen Umhang und er holte einen schweren Schlüssel hervor.
"Für's Erste", grollte er. "Aber nur unter einer Bedingung: Bis die Angelegenheit offiziell geklärt ist wird sie in der Nähe bleiben. Sie gehört dir noch nicht zur Gänze. Das hier ist noch nicht vorbei."
Sie nahm ihm kommentarlos den Schlüssel aus der Hand.
"Doch, es ist vorbei. Und wenn du sie noch einmal anrührst, wird das der letzte Fehler sein, den du je begangen hast."
Seine Pupillen weiteten sich kurz und ein heiseres, bösartiges Zischen entrang sich seiner Kehle - er hatte den an ihn gerichteten Gedanken wie erwartet gelesen. Den Bogen noch weiter zu überspannen wäre jedoch äußerst unklug gewesen. Also kehrte Mina dem Alten demonstrativ den Rücken zu und machte sich auf den Weg zum Käfig. Rach wartete bereits davor. Er wirkte ein wenig verloren.
"Was genau...", begann er, doch Mina schüttelte den Kopf.
"Später", meinte sie knapp und reichte den Schlüssel an ihn weiter.
Ohne weiteres Zögern machte sich der Inspektor am Schloss zu schaffen. Mit einem leisen Quietschen schwang die Käfigtür auf und Ophelia streckte ihm nachgerade die Hände entgegen, zu schwach, um von selbst auf die Beinen zu kommen. Rach nahm sie schnell auf die Arme und die junge Frau vergrub ihr Gesicht in seinem Hemd. Sie war tatsächlich in einem mitleiderregenden Zustand. Kaum vorstellbar, dass es ihr vor wenigen Tagen noch schlechter gegangen sein sollte.
"Magane", wisperte sie, "Ihr müsst sie finden. Sie wird auch hier gefangen gehalten."
"Schon erledigt", antwortete Rach sanft, "Mach dir keine Sorgen. Ich bin da. Jetzt wird alles gut."
Eine kleine Träne rann über Ophelias Wange.
"Ja...", hauchte sie.
Sie wandten sich dem Ausgang zu und verließen die Kammer ohne einen einzigen Blick zurück, den Rest des Trupps dicht hinter sich.
"Das ist nichts als gemeiner Diebstahl! Ihr werdet damit nicht durchkommen!", geiferte Racul im Hintergrund. "Ihr verdammten Sterblichen spielt mit Dingen, von denen ihr keine Ahnung habt. Mich kann man nicht besiegen!"
Niemand achtete auf ihn. Das Letzte, was sie vom Tausendjährigen von Ankh hörten, war ein zorniges "Ophelia!", dann schlug Rogi die Kammertür zu.
Im Gang saß Maggie und spielte mit einem Einmachglas, welches bis zur oberen Kante mit einem grauen Pulver gefüllt war. Sie lächelte versonnen, als sie die anderen bemerkte.
"Da seid ihr ja wieder."
Ophelia rührte sich in Rachs Armen und sah sich nach der Kollegin um. Sie seufzte erleichtert, als sie Maganes ansichtig wurde.
"Wie geht es dir?", war das erste, was sie herausbrachte.
Maggie lachte leise.
"Gut, und dir?"
"Ein bisschen schwindelig... aber... gut..." Sie lächelte... und verlor prompt das Bewusstsein.
Rach biss sich besorgt auf die Unterlippe und packte Ophelia fester.
"Rogi...", rief er leise.
Die Igorina warf Ophelia einen schnellen Blick zu.
"Kein Grund fur Aufregung", murmelte sie dann. "Du würdeft nach fo einem Tag auch nicht anderf reagieren." Rogi hatte gerade nach dem verletzten Wilhelm gesehen und ging nun zu Magane hinüber, um der Kollegin aufzuhelfen. "Und jetft, wie lautet der Plan?", erkundigte sie sich.

26.08.2017 23: 01

Rogi Feinstich

Kaum hatte sie ihre Worte ausgesprochen, lockerte sich ihr Griff um ihre Umhängetasche. Die anderen diskutierten über das weitere Vorgehen, doch sie hörte nur mit halben Ohr zu. Es war erstaunlich, wie glimpflich sie alle davongekommen waren. Nur ein paar Schrammen und blaue Flecken, nichts Lebensgefährliches oder etwas das bleibende Schäden hinterlassen würde. Zumindest was den Rettunstrupp selbst betraf.
Magane hingegen sah alles andere als gesund aus und die weiße Haarsträhne war noch ein harmloses Anzeichen, im Gegensatz zu der Blässe und den frischen Bisswunden. Die Hexe war allerdings nicht gewillt, sich weiter helfen zu lassen und solange sie sich auf ihren Beinen halten konnte, würde die Igorina keine Einwände erheben. Ophelias Zustand hatte sich immerhin gebessert. Doch sie war noch lange nicht über den Berg.
Die Igorina ließ den Blick schweifen und blieb wieder bei Wilhelms verletztem Arm hängen. Er hatte sich tatsächlich auf Racul gestürzt und sie wusste nicht, ob sie ihn für diese Dummheit schalten oder dazu beglückwünschen sollte. Es kam einem Wunder gleich, dass nur sein Arm verletzt war. Er war ein Vampir, er würde es überstehen, beruhigte sie sich insgeheim. Doch noch waren sie nicht hier raus und es war durchaus möglich, dass Wilhelms Fähigkeiten noch gebraucht wurden, wenn sie an die Fallen dachte, die sie noch auf dem Rückweg erwarteten. Denn so wie es derzeit aussah, würden sie zurück zum Institut gehen.
Sie winkte schließlich Wilhelm zu sich und führte ihn hinter die Säule, damit sie vor den Blicken der anderen abgeschottet waren. Als sie um die Ecke waren, krempelte sie ihren Ärmel hoch und drehte sich zu ihm um.
"Trink!", sagte Rogi und sah Wilhelm aufordernd an, während sie ihm ihren nackten Arm hinhielt. "Lof, bevor ich es mir anders überlege!"
Wilhelm war sichtlich verunsichert und die Igorina seufzte.
"Mit dem Arm bift du nicht von Nutzen und schon gar nicht unauffällig auf den Straßen unterwegf... etwaf Blut bringt deine Felbftheilung in Schwung, oder etwa nicht?"
Wilhelm nickte langsam und zog mit der gesunden Hand ihr Handgelenk zögerlich zu seinem Mund. Der Biss kribbelte nur kurz auf der Haut und er trank sehr vorsichtig, beinahe zärtlich. Während dessen konnte sie beobachten, wie seine Wunden vollständig verheilten. Rogi wollte ihm gerade mitteilen, dass er genug habe, da hatte er die Bisswunde schon wieder verschlossen. Doch statt ihren Arm wieder freizugeben, verbeugte er sich mit einer galanten Bewegung und erdreistete sich tatsächlich dazu, ihr einen Handkuss zu geben.
"Vielen Dank!", sagte er und schaute schelmisch zu ihr auf. "Auf das Angebot hätte ich vielleicht schon früher zurückkommen sollen, Ma'am..."
"Hätteft du..", entgegnete sie und entzog ihm schließlich ihre Hand. Sie richtete den Ärmel ihres Hemdes ohne ein weiteres Wort. Der Vampir richtete sich wieder auf und bot ihr tatsächlich den Arm an. Sie hätte ihm am liebsten sein Grinsen aus dem Gesicht gewischt. Er war wieder ganz der Alte. Einfach unmöglich.
Ohne ihn weiter zu beachten, ging sie zurück zu den anderen und Wilhelm folgte ihr, leise vor sich hin summend.

Als sie den Gang betreten hatten, schloss Rach kurz die Augen in der Hoffnung, den Horror der letzten Minuten ausblenden zu können. Doch Ophelia in seinen Armen machte ihm nur zu deutlich, dass das Ganze noch lange nicht vorbei war. Ihr zierlicher Körper wirkte so zerbrechlich und er spürte deutlich die Knochen unter ihrer Haut. Es würde noch Wochen dauern, bis sie wieder zu Kräften gekommen wäre.
Sie war so leicht!
Er unterdrückte seine Unruhe und versuchte, sich wieder zu konzentrieren. Es war noch nicht überstanden.
Er achtete nicht wirklich auf die letzten Worte, der Igorina. Es war leider klar, was nun passieren musste, doch er wagte es nicht, in diesem Moment auch nur ein Wort zu sagen.
"Wir müssen Ophelia, wohl oder übel, hier unterbringen", antworte Mina Rogis vorrausgegangener Frage und Rach knirschte leicht mit den Zähnen.
"Wie gut, dass hier eine Mädchenschule ist, nicht wahr?", hörte er Esther in ihrem typischen verächtlichen Tonfall einwerfen.
"Nun, hoffen wir, dass wir die Schulleitung zur Zusammenarbeit bekommen." Für Jules Verhältnisse eine durchaus eher pessimistische Aussage.
"Sie müssen", sagte Mina bestimmt und Nyria gab einen zustimmenden Laut von sich.
"Ist die Unterbringung im Internat, wirklich unumgänglich?", fragte er an Mina gewandt und sah letztlich in Ophelias Gesicht.
"Glaub mir, mir gefällt die Sache auch nicht. Aber willst du wirklich, dass er sein Recht geltend macht, weil wir uns nicht an die Vereinbarung halten?"
"Ophelia wird sicher sein, dafür sorgen wir schon", sagte die Späherin bestimmt. Irgendwie hatte er eine solche Aussage von der Igorina erwartet, doch diese schien sich mit dem Rekruten abgesetzt zu haben um sich um seine Verletzung zu kümmern.
Hoffte er zumindest. Ihm behagte nicht, dass er ihre Abwesenheit bisher nicht wahrgenommen hatte.
Konzentriere dich, verdammt!
"Alles wird gut, Bruderherz."
Rach seufzte resigniert. Ausgerechnet von seiner kleinen Schwester diese optimistische Aussage zu hören, war gerade wie ein Schlag ins Gesicht. Kurz darauf spürte er Jules Hand auf seiner Schulter ruhen. Er nickte seinem Freund schließlich zu, um ihm zu versichern, dass er trotz der Geschehnisse in Ordnung war. So sehr ihm die Vorstellung missfiel, Ophelia hier zurück zu lassen - noch immer in Reichweite des alten Vampirs - doch er hatte nicht vor, von ihrer Seite zu weichen.
"Der Weg zurück ins Institut wird auch am unauffälligsten sein", brachte die Späherin ihn aus den Gedanken. Genau dieser Weg bereite ihm eine weitere Sorge.
"Allerdings wird es auch nicht unbedingt der einfachste.", wandte Rach ein.
In dem Moment kamen Wilhelm und Rogi zurück. Und bei dem Anblick der Beiden runzelte er unwillkürlich die Stirn. Er konnte nicht benennen was es war. Der Rekrut war jedenfalls deutlich zu gut gelaunt, was die Situation betraf.
Als sich ihre Blicke trafen, gefror dessen Grinsen und der Vampir wurde wieder ernst.
Der Patrizier hatte Recht. Der Inspektor wurde nachlässig und es war an der Zeit, das wieder zu ändern.

04.09.2017 10: 25

Magane

Magane saß noch immer auf dem Boden. Sie hatte inzwischen Sebastians Überreste zusammen gekehrt und in einem der vom Mob mitgeführten Einmachgläser verstaut. Geistesabwesend ließ sie das Glas auf seiner Kante kreisen und bekam dabei ganz am Rande mit, wie die Anderen ihr weiteres Vorgehen diskutierten.
Sie waren gerettet. Alle Retter hatten überlebt. Sebastian war tot und sie damit frei, ihr altes Leben fortzusetzen. Ophelia lebte und lag in Rachs Armen. Was auch immer geschehen war am Käfig, sie hatten gesiegt. In diesem Licht erschien die Frage, auf welchem Weg sie wohin gehen sollten, so belanglos. Aber sie hörte immer wieder die Worte Falle und Labyrinth und auch ein paar Mal ihren Namen. Sie stand langsam aus, ohne dabei das Einmachglas loszulassen.
Sie würde ihn auf keinen Fall in Raculs Reichweite lassen. Der würde ihn sicherlich gleich wiedererwecken. Und sei es nur dazu, um ihn fur sein Versagen zu strafen.
Mit dem Glas in der Hand schloss sie sich der diskutierenden Gruppe an und versuchte den Gesprächsfaden aufzunehmen.
"Um durch die Falle zu kommen, müssen Ophelia und Maggie zwangsläufig von den Vampiren getragen werden. Das schafft selbst ein gesunder Mensch auch rennend kaum. Nur die Vampire sind stark und schnell genug."
"Dann werde ich wohl am Besten Ophelia nehmen." Mina brauchte nicht weiter auszuführen, warum das so war, es erhob sich kein Widerspruch seitens der Retter.
"Ich will nicht getragen werden, ich kann gehen." Magane hatte bei Weitem nicht alles mitbekommen aber gegen das Getragenwerden sträubte sich alles in ihr.
Ihr Einspruch wurde augenblicklich verworfen.
"Bis dahin kannst du gehen aber durch die Falle kämst du in deinem Zustand nicht durch, da kommt schon ein gesunder Mensch nur durch, wenn er sehr schnell rennt", erklärte Rach geduldig.
"...gut, wenns sein muss." Sie sah Wilhelm an, der dann ja wohl das Vergnügen haben würde, sie tragen zu dürfen. "Du?"
Er nickte und grinste unsicher.
"Du schaust damit aber auch nicht nur glücklich aus."
Der Rekrut senkte leicht den Kopf und vergrub die Hände tief in den Hosentaschen, während er antwortete: "Nichts für Ungut, Ma' am. Aber die bisherige Abendvorstellung enthielt einige gruselige Höhepunkte. Zu denen auch das eindrucksvolle Ende desjenigen zählt, der sich zuletzt... in deinen Händen befand... Nicht, dass ich in meinem Fall Ähnliches erwarten würde. Zumindest nicht absichtlich. Aber..."
"Ah... verstehe. Vertraust du mir genug, damit wir das nicht hier vor allen besprechen müssen?"
Er nickte und folgte ihr in den Blauen Raum, wo sie ihr Tasche vom Tisch nahm und das Einmachglas darin verstaute, bevor sie sie über die Schulter hängte und sich zu Wilhelm herum drehte.
"Erstens: Selbst wenn ich dir was tun wollte, wäre ich dazu nicht mehr in der Lage. Das war ein ziemlich großes Stück Magie, das nahezu alle Reserven aufgebraucht hat." Er nickte leicht, offenbar nicht völlig davon überzeugt, dass dies auch für die Zukunft galt.
"Zweitens: Wieso sollte ich dir etwas tun wollen? Noch kann ich zwischen Gut und Böse unterscheiden... wenigstens ein bisschen." Sie lachte, um ihre eigene Unsicherheit zu überspielen. Gut und Böse, weiß und schwarz... dabei war doch eigentlich alles grau oder bunt...
"Sehr beruhigend, Ma' am.", kommentierte der junge Vampir grinsend. Es mochte an den Kämpfen liegen, die er hinter sich hatte aber Wilhelm wirkte verändert. Vielleicht täuschte sie sich da auch? Sie hatte ja kaum Gelegenheit gehabt, ihn kennen zu lernen.
"Und drittens, braucht es sehr viel, um mich zu einer so heftigen negativen Reaktion zu treiben. Sebastian hatte sich seine Schmerzen verdient."
"Ich werde auch vermeiden, dich zu verärgern, Ma' am. Versprochen!" Der leicht provokante Unterton wäre Magane vielleicht bei anderer Gelegenheit entgangen, heute war sie versucht die unterschwellige Herausforderung anzunehmen. Sie verzichte allerdings im Bewusstsein ihrer Schwäche.
"Dann ist ja gut." Sie lachte ihn an und damit war das Thema für sie geklärt.
Wilhelm jedoch zögerte. Er musste unbedingt noch eine andere Befürchtung aussprechen, wollte ihr aber keineswegs zu nahe treten.
"Ma' am?"
"Ja?"
"Ich möchte nicht deinen Unmut heraufbeschwören, indem ich mir womöglich zu viel herausnehme mit dieser Frage. Aber... es war uns mit Raistans Hilfe möglich, auf magischem Wege ein kurzes Bild von dir in deiner Unterbringung zu erhaschen. Und es sah so aus, als wenn er, Sebastian, sich an deinen Gedanken zu schaffen gemacht hat, während du bewusstlos warst. Oder geschlafen hast. Wir haben bisher nicht einmal zu spekulieren gewagt darüber. Aber... etwas Ähnliches geschah mit Rogi Feinstich und es hätte unser Vorankommen im Bemühen der Suche vermutlich stark gefährdet, wenn wir das nicht bemerkt und ich ihr nicht auf mentalem Wege geholfen hätte, diesem Einfluss Raculs zu entgehen. Falls ich mit meiner Vermutung also richtig liege...", er räusperte sich. "Ich will sagen... bist du dir sicher, dass in deinem Inneren keine... wie soll ich sagen... zeitverzögerte Abwehrreaktion lauert, die nur darauf wartet, von einem Rettungsversuch ausgelöst zu werden? Denn das könnte extrem unangenehm für uns werden. Und in Anbetracht meiner großen Nähe zu dir beim Tragen, vermutlich vor allem für mich."
Die Befürchtung lag natürlich nahe. Sie dachte einen Augenblick nach, bevor sie antwortete.
"Sicher sein kann ich da natürlich nicht. Aber ich glaube, ziemlich genau zu wissen, was er mit meinen Gedanken und Erinnerungen gemacht hat."
Er sah sie ernst und forschend an, machte aber keinen Versuch, auf eigene Faust nachzusehen. Was sie ihm, nach dem mentalen Dauerdruck durch Sebastian, hoch anrechnete.
"Er hat mir Alptäume angehängt. Hauptsächlich um mich an der Flucht zu hindern... und ein strafender Faktor war wohl auch dabei."
Wilhelm runzelte die Stirn und sah sie mit wachsendem Mitgefühl an.
"Ich glaube nicht, dass er sich gegen eine Rettung zusätzlich abgesichert hat. Die Drohungen gegen meine Kinder waren effektiv genug, das wusste er."
Der Vampir nickte langsam und suchte nach den richtigen Worten.
"Es ist gut, dass es vorbei ist. Wir müssen euch beide jetzt vor allem schnellstmöglich raus bringen. Weg von ihm. Für alles Andere ist später Zeit."
Magane nickte und murmelte leise zu sich selbst "...vorbei ...ist es das?"
Wilhelm hatte das natürlich gehört. Seine Ohren waren fein genug, um jedes Flüstern und Murmeln zu hören.
"Ich nehme an, dass die vergangenen Tage eine Extremerfahrung waren. Ich will nicht behaupten, dass man so etwas spurlos abschüttelt. Nein. Dinge... verbleiben. Aber...", er lächelte sie vorsichtig an, "es wird immer neue Eindrücke geben, die dazu kommen. Wenn man das Leben und das soziale Miteinander nicht aufgibt. Dann kommen unweigerlich nach und nach wieder schöne Erfahrungen dazu, die das Schreckliche überdecken. Vielleicht hilft das ein bisschen?" Er räusperte sich schnell und wich ihrem Blick kurz aus. "Tut mir leid, Ma' am. Ich wollte nicht belehrend wirken."
Sie lachte. Der Rekrut war irgendwie niedlich in seiner Sorge um sie. Dabei waren es gar nicht die Schrecken der letzten Tage - oder waren es Wochen - die sie zu dieser Bemerkung verleitet hatten, sondern einzig die vergangene Nacht.
Er blickte sie wieder direkt an.
"Zurück zum Hier und Jetzt! Muss ich irgendwas beachten? Wenn ich dich trage?"
"Nein, ich gehe nicht so leicht kaputt."
"Gut. Dann bleibt mir nur noch eine Frage." Er sah sie vollkommen ernst an. "Nach all der Zeit in Vampirgefangenschaft und unter Sebastians Einfluss, vertraust du mir da als Kollege, obwohl ich ein Vampir bin? Ich möchte dich nicht ungebührlich unter Druck setzen mit so großer Nähe." Bei den letzten Worten wurde er leiser, als ob er sich ihrer unsicher wäre und sie lieber zurückhalten würde.
"Wenn du wüsstest... ich vertraue dir im Moment weiter, als den meisten anderen da draußen... Deine Spezies ist mir dabei egal, ich habe kein Problem mit Vampiren."
Sie grinste ihn an und er schien mit dieser Antwort sehr glücklich zu sein. Zumindest strahlte er über das ganze Gesicht, während sie das Blaue Zimmer verließen, um wieder zu den Anderen zu stoßen.

04.09.2017 10: 36

Rach Flanellfuß

Nicht nur er hatte Magane und Wilhelm verwundert hinterhergesehen. Auch die anderen sahen den beiden nachdenklich hinterher.
"Sie wird ihre Gründe haben", sagte Jules schließlich.
"Wer weiß, was sie die letzten Tage durchmachen musste", merkte die Späherin an und Nyria knurrte leise.

"Na endlich!", sagte seine Schweser, als Wilhelm und Magane zurück kamen. "Können wir jetzt endlich, ja?"
"Esther!" Die Art seiner Schwester, jede Situation noch weiter an ihre Grenzen zu treiben, war wirklich bemerkenswert.
"Sag bloss, du wolltest hier unten bleiben."
Er sagte nichts weiter dazu und auch die anderen wollten sich nicht in den Zwist der Geschwister einmischen. Nur Jules legte seine Hände sanft auf ihren Schultern ab und flüsterte ihr etwas zu. Ihre Haltung entspannte sich etwas. Und so auch die seine.
Natürlich wollte er hier weg! Ophelia in Sicherheit wissen und vor allem wollte er Zeit mit ihr verbringen. Mehr als ein Jahr hatten sie beide verloren und er würde alles versuchen, um diese Zeit wieder zurück zu holen, irgendwie.
"Sind alle soweit?", fragte Kanndra in die Runde und erntete allgemeine Zustimmung.

06.09.2017 11: 49

Magane

Jules, Esther und Kanndra übernahmen wortlos die Führung, dicht gefolgt von Rach, der die bewusstlose Ophelia trug und Mina, die ihren Menschen auf keinen Fall aus den Augen lassen würde. Ihnen folgten Magane und Wilhelm, die Hexe wild entschlossen, den größten Teil des Weges auf ihren eigenen Füßen hinter sich zu bringen. Sie redete sich ein, dass der Vampir nur zur Sicherheit in ihrer Nähe war, falls sie es doch nicht schaffte, sich aufrecht zu halten. Nyria und Rogi sicherten die Gruppe nach hinten ab.
Die Geschwindigkeit der Gruppe war recht gering, angepasst an die Höchstgeschwindigkeit der Verletzten und Geschwächten. Sie hielten sich mittig in den Gängen und gelangten ohne weitere Probleme durch einen langen Gang mit zwei Biegungen, durchquerten eine Tür, nur um sofort durch die daneben zu gehen. Magane verlor schon nach wenigen Schritten die Orientierung, wenn sie sie überhaupt gehabt hatte. Normalerweise hatte sie mit sowas keine größeren Probleme aber ihr aktueller Zustand trug wohl nicht zu ihrem Raumgefühl bei.
Sollte es dir gelingen hier herauszukommen, kommst du niemals lebend durch das Labyrinth!
Sebastians Worte gingen ihr immer wieder durch den Kopf. Er ließ sie nicht in Ruhe, selbst nach seinem Tod quälte er sie weiter...
Sie musste sich zusammenreißen, sich auf ihre Füße konzentrieren. Einen Fuß vor den anderen setzen, weitergehen, nicht straucheln. Sie hatte es nicht eilig damit, in die Arme des Vampirs neben ihr zu geraten.
Die Gruppe gelangte in einen rechteckigen Raum, der aber scheinbar auch nur als Durchgang fungierte.
"Jetzt wird es dann etwas enger", sagt Jules und öffnete einladend die Tür zur Wendeltreppe. Esther und Jules gingen weiterhin vor, Kanndra fiel etwas zurück und hielt sich verstohlen am Treppengeländer fest. Rach änderte Ophelias Position in seinen Armen. Er machte nicht den Eindruck, als wolle er sie früher als unbedingt nötig an Mina übergeben.
Magane hoffte dass die Treppe nicht allzu lang werden würde. Eigentlich war sie längst so weit eine Pause zu brauchen. Aber noch war sie zu stolz, um ihre aufrechte Haltung aufzugeben.
Wilhelm ging nur einen halben Schritt hinter ihr. Anscheinend schätzte er ihre Kräfte realistischer ein als sie. Vielleicht hatte er auch irgendwelche körperlichen Signale mit seinen zur Jagd bestimmten Sinnen aufgeschnappt, die ihren baldigen Zusammenbruch ankündigten?
Die Treppe zog sich endlos hin, so erschien es Magane. Sie wurde immer langsamer, stolperte über ihre eigenen Füße und zusätzlich über Treppenstufen.
"Ma' am, ich schau mir das nicht länger nur an. Niemandem ist geholfen, wenn du so kurz vor dem Ziel noch die Treppe runter fällst."
"Nenn mich nicht Ma' am..."
Weiter kam sie nicht, weil genau in diesem Moment ihre Knie nachgaben und sie in seinen blitzschnell ausgestreckten Armen landete.
"So gehts natürlich auch. Einverstanden, dass ich dich jetzt erstmal trage? Die Pause hast du dringend nötig", er sprach leise, war aber zu vorsichtig um nicht um Erlaubnis zu bitten, auch wenn sie ihm jene zumindest für die Atemnotfalle bereits gegeben hatte.
Magane nickte nur. Sie wusste längst, dass sie nicht weiter kommen würde. Vertrauensvoll legte sie den Kopf an seine Schulter und schloss die Augen, um das Schwindelgefühl niederzuringen. Jetzt, wo es einmal soweit war, gestattete sie sich, das Getragenwerden zu genießen. Morgen konnte sie wieder die unbesiegte aufrechte Hexe spielen. Jetzt und hier reichte es, Opfer zu sein. Sie hatte ihren Beitrag geleistet. Hatte dafür gesorgt, dass Sebastian weitestgehend die Finger von Ophelia ließ. Dass er jetzt, bei der Rettung, die Retter nicht auseinandergenommen hatte. Nur Kanndra hatte er erwischt. So wie diese lief, schien er ihr mindestens eine Rippe gebrochen zu haben. Die anderen waren alle unverletzt aus den beiden Konfrontationen mit Sebastian hervorgegangen und Racul hatte nur Wilhelm erwischt. Dessen Selbstheilung, von Igorblut angekurbelt, hatte das Problem aber scheinbar schnell gelöst.
Igorblut... eigentlich erstaunlich, dass Rogi dazu bereit gewesen war, nach dem, was Roger passiert war.
Aber was wusste sie schon? Sie hatte schließlich keine Ahnung, was in der letzten Zeit so vorgegangen war, wie sich die Beziehungen zwischen den Rettern entwickelt hatten.
Unterbewusst hatte Magane den Arm um Wilhelms Schulter gelegt und irgendwie berührten ihre Fingerspitzen seinen Nacken. Sie war so müde und sie fühlte sich sicher, bei diesem fast fremden Vampir. Freundlich, fürsorglich - ein Held im feinen Anzug, statt in glänzender Rüstung. Genau ihr Typ Held...
Sie fühlte sich schon wieder viel besser, als hätte sie ein paar Stunden geschlafen, dabei hatte sie höchstens ein paar Sekunden gedöst, wenn man das so nennen konnte.
Mag sah sich um.
Sie hatten die Treppe schnell hinter sich gelassen, waren wohl durch einen weiteren Raum gegangen, von dem sie aber nichts mitbekommen hatte und waren jetzt wieder an einer Gangkreuzung angekommen.
"Jetzt kommen wir zu der Atemnotfalle", kommentierte Wilhelm leise den Weg.
Rach übergab Ophelia an Mina, wortlos. Es war alles besprochen... für den Augenblick jedenfalls.
Mina und Wilhelm durchquerten den Gangabschnitt als erste, während sich die Anderen geistig und körperlich darauf vorbereiteten, sehr schnell durch den Gang zu rennen. Sie lockerten ihre Muskulatur, atmeten tief durch und fokussierten sich auf die entfernte Ecke.
Bei den Vorbereitungen, die die Anderen trafen, wurde Mag erst richtig klar, dass sie mit ihrer Einschätzung wohl recht gehabt hatten: Auf sich gestellt, hätte sie die andere Seite nicht sicher erreicht. Aber solange sie auf Wilhelms Arm war, war sie sicher.
Wahrscheinlich handelte es sich dabei nur um eine Illusion. Aber das Gefühl von Sicherheit war viel wert.
Sie verspürte ein leichtes Kribbeln in der linken Hand, die seit Sebastians Ableben merkwürdig taub gewesen war. Konnte es sein, dass die überforderten Nerven sich jetzt schon wieder erholten? Es gab keine Vergleichsdaten. Sie hatte so etwas nie zuvor getan. Und sie wusste auch von Niemandem, der Erfahrungen mit solcherlei Dingen hatte. Aber eigentlich fühlte es sich nicht so an, als sei dies eine Rückmeldung ihrer Nerven. Sie kannte dieses spezielle Kribbeln, sie hatte es in den letzten Tagen öfter gefühlt. Es rührte von fremder vampirischer Lebensenergie her.
Oh nein!
Sie bewegte so schnell wie möglich ihre Hand von seinem Nacken weg.
Sie wollte das nicht. Das durfte nicht sein, nicht gegen ihren Willen!
Das Kribbeln ließ nach, sobald ihre Finger auf seinem Hemdkragen ruhten.
Jetzt gerade fehlte ihr die Luft zum Sprechen. Aber sie würde sich entschuldigen müssen.
Und sie würde den Rest des Weges auf eigenen Füßen zurücklegen.

06.09.2017 13: 00

Mina von Nachtschatten

Die Falle selbst hatte kein Problem dargestellt - Mina war schnell genug gewesen, als dass auch Ophelia in keiner Weise von der Luftknappheit beeinträchtigt worden war. In ihrem Zustand wäre es wohl auch keine gute Idee gewesen, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Ophelia war nur noch ein Schatten ihrer selbst und wog wohl nicht viel mehr als ein Korb mit Federn, so kam es der Vampirin zumindest vor. Zwar war die Kollegin und Freundin schon immer von eher zierlicher Statur gewesen und dieser Umstand hatte sich durch die lange Zeit ihres Hausarrestes in der Wache noch stärker ausgeprägt. Aber jetzt befürchtete Mina beinahe, die andere könne zerbrechen, wenn sie zu fest zugreifen sollte. Ein rohes Ei - tatsächlich hatte dieser Vergleich selten besser gepasst. Hier war besondere Vorsicht angeraten.
Am Ende des fraglichen Gangabschnittes warteten sie gemeinsam mit Magane und Wilhelm, bis der Rest aufgeschlossen hatte. Für jemanden, dessen Organismus auf das Atmen angewiesen war, stellte die Strecke in der Tat eine ernstzunehmende Herausforderung dar. Und so verwunderte es auch nicht, den ein oder anderen mit letzter Not in den wieder luftgefüllten Raum stolpern zu sehen, hustend und darum kämpfend, bei Sinnen zu bleiben.
"Zweimal an einem Tag dasselbe Spiel, das muss doch eigentlich nicht sein", grollte Esther und stützte sich schwer atmend an der Tunnelwand ab.
"Einen automatischen Ausschalter, nur weil es jemand geschafft hat, eine meiner Fallen zu überwinden, würde ich allerdings auch nicht vorsehen." Jules schaffte es tatsächlich schon wieder, ein mattes Grinsen aufzusetzen. "Wer wäre ich denn, meinen Widersachern den Rückweg zu erleichtern und auch noch die letzte Chance auf einen unerwarteten Triumph meinerseits zu verschenken?"
Esther machte mit einer Geste sehr deutlich, was sie vom Humor ihres Freundes hielt.
Rach trat auf Mina zu und nickte.
"Ich könnte sie jetzt wieder nehmen." Er hob die Arme.
Kanndra, die direkt daneben stand, runzelte die Stirn.
"Hältst du das wirklich für eine gute Idee?",  wollte sie wissen, noch bevor Mina Anstalten gemacht hatte, die kostbare Fracht zu übergeben. "Verzeih mir, aber du siehst furchtbar aus."
Das stimmte: Der Inspektor war blass, er wirkte müde und abgekämpft und schwankte leicht beim Gehen.
"Nicht, dass du sie am Ende noch fallen lässt."
Ophelias Verlobter öffnete den Mund, um zu protestieren - doch dann ließ er die Schultern sinken und nickte widerwillig. Die Vorstellung eines Unfalls auf den letzten Metern schien ihm dann doch weniger zu behagen als der Umstand, Ophelia noch etwas länger aus der Hand geben zu müssen. Und im Grunde stimmte Mina mit der Späherin vollkommen überein. Bloß... sie war sich nicht sicher, ob sie Rach auf dessen ausdrückliche Bitte hin sein Privileg verweigert hätte. Denn auch wenn die Umstände sich in einer sehr... speziellen Art und Weise verschoben hatten, so wollte sie sich weder irgendwo dazwischen drängen, noch den Eindruck erwecken, darauf aus zu sein. Nichtsdestotrotz würden sich ein paar recht unangenehme Gespräche nicht vermeiden lassen, aber für diese war jetzt nicht unbedingt der richtige Augenblick. Insofern war es gut, dass ihr die Entscheidung dieses Mal noch abgenommen worden war.
"Es ist ja auch noch nicht offiziell", versuchte sie sich zu beruhigen. "Hör auf, dir Gedanken über Dinge zu machen, die im Moment von keinerlei Belang sind. Und später werden wir ein Einvernehmen finden, ganz sicher. So schwer kann das doch nicht sein, oder?"
"Sind alle soweit wieder bei Kräften?" Kanndra sah von einem zum anderen und erntete kollektives Nicken. "Dann los."
Wie um diese Worte zu unterstreichen begann sich Ophelia in diesem Moment in Minas Armen zu regen. Sie kam wieder zu Bewusstsein. Das Gewicht verlagerte sich leicht durch die Bewegung, als sie den Kopf wandte und sich zu orientieren versuchte.
"Sind wir immer noch... unten?", erklang dann ihre zaghafte Stimme.
"Es ist nicht mehr weit", beeilte sich Rach mit der Antwort und ergriff Ophelias Hand. Er ließ es sich nicht nehmen, diese auch während ihres weiteren Weges in der seinen zu halten, selbst wenn das in dem engen Gang etwas unpraktisch war. Doch wenigstens war der nun vor ihnen liegende Abschnitt weitestgehend gerade und führte leicht aufwärts. Und es dauerte tatsächlich nicht mehr lange, bis sich ein deutlicher grauer Punkt am Ende des Tunnels abzuzeichnen begann.
"Dort hinten", flüsterte Ophelia, "ist das Tageslicht?" Trotz ihrer Schwäche schwang eine hörbare Aufregung in ihrer Stimme mit und ihr Kreislauf reagierte parallel mit einer Beschleunigung des Herzschlages.
Rach nickte.
"Du hast es gleich geschafft."
Wenige Augenblicke später traten sie einer nach dem anderen durch die Öffnung in der Wand, welche der Trupp auf seinem Weg nach unten offen gelassen hatte. Es war nicht einmal sonderlich hell, denn noch immer verdeckten draußen dicke Wolken die Sonne und das Licht, welches durch die leichten Spitzenvorhänge fiel, war bestenfalls als dämmrig zu bezeichnen. Dennoch zuckte Ophelia scharf zusammen und verbarg reflexartig ihr Gesicht. Nach all der Zeit und der schwindenden Hoffnung, überhaupt jemals wieder so etwas wie Tageslicht zu sehen, musste dieser erste Kontakt wie ein Schock sein. Aber auch die anderen benötigten einen Moment, um sich von der langen Dunkelheit wieder auf natürliche Lichtverhältnisse umzustellen. Mina kniff die Augen zusammen und musste ein paar Mal blinzeln, um die vampirische Nachtsicht wieder vollkommen abzulegen. Erst dann wurde das Bild klar: Der Raum, in dem sie sich wiederfanden, war offensichtlich von einer Person ausgestattet worden, die eine besondere farbliche Vorliebe für Flieder sowie harmonisch aufeinander abgestimmte Dekorationselemente hegte. Dementsprechend stachen die Spuren, welche die Internatstruppe ihres Mobs hinterlassen hatten, deutlich heraus: Hier und da ein wenig abgefallener Putz, verbogene Metallteile, ein Geschirrschrank auf der gegenüberliegenden Seite, dessen Inventar schon deutlich bessere Tage gesehen hatte, es vermutlich aber nicht mehr würde. Die Tür auf der anderen Seite hing schief in ihren Angeln und diverse schmutzige Schuhabdrücke zeigten den Weg des Trupps deutlich an. Vielleicht war es Einbildung, aber Mina schien es, als läge sogar noch ein Hauch von Sprengstoff in der Luft, von heißem Metall, angekokeltem Holz...
Mitten im Raum hatte sich eine große schlanke Frau fortgeschrittenen Alters postiert. Ihr graugesträhntes Haar war zu einem strengen Dutt aufgesteckt und sie machte ein äußerst missvergnügtes Gesicht. Sie sprach schnell auf einen bulligen Mann ein, welcher ihr gegenüber stand und so wirkte, als suche er einzig und allein nach einer Möglichkeit, schleunigst die Flucht zu ergreifen. Als der Trupp nun nacheinander durch den Durchgang trat schien er darin seine Chance zu erkennen. Er wies anklagend mit dem Zeigefinger auf sie.
"Die da, das sind sie! Diese Personen haben das Chaos hier verursacht. Allerdings...", er runzelte die Stirn, "sind es jetzt irgendwie mehr als noch vorhin."
Die Dame ließ umgehend von ihrem ersten Opfer ab und wandte sich schwungvoll den Neuankömmlingen zu.
"Und Sie spazieren also einfach so in fremdes Besitztum und lassen Ihrer sinnlosen Zerstörungswut freien Lauf, ja?"
Sie vertrat ihnen entschlossen den Weg, als der Trupp Anstalten machte, sich kommentarlos an ihr vorbei zu schieben. Nyria knurrte verärgert und Rogi Feinstich trat nach vorn. Die Igorina hatte die Augen zu schmalen Schlitzen verengt und ihr war deutlich anzusehen, dass es mit ihrer Bereitschaft, zu diskutieren, nicht mehr sehr weit her war.
"Wir find ein offifieller Mob. Wir haben jedef Recht dafu. Alfo sparen Fie fich daf Gejammer und laffen Fie unf einfach durch."
"Ein Mob? Ah ja." Die Dame bedachte ihr abgekämpftes Grüppchen mit vielsagenden Blicken und machte gleichzeitig keinerlei Anstalten, der Aufforderung seitens der Igorina zu entsprechen. "Soweit ich weiß, neigen jene doch eher dazu, Schlosstüren einzuschlagen, oder? Nichts für ungut, aber das wäre für mein bescheidenes Institut doch ein wenig viel der Ehre." Sie hob das Kinn. "Aber ich sehe ja hier vor mir, wie es im Gegenzug um derartige... temporären Gruppierungen heutzutage bestellt ist. Woher nehmt ihr eigentlich die Dreistigkeit, in dieser Art und Weise..."
Rach schnitt ihr brüsk das Wort ab.
"Und woher nehmt ihr die Dreistigkeit, einen gewissen... Parasitenbefall in eurem Keller zu dulden? Wohl wissend, es hinnehmend, was der anrichtet?" Er legte beschützend eine Hand auf Ophelias Arm, welche Lady Deirdre anscheinend erst jetzt bemerkte. Ihre Augen weiteten sich erschrocken. Zugleich schien ihr zu dämmern, dass ein gewisses Arrangement von den falschen Personen entdeckt worden war. Personen, von denen man nicht mit Gewissheit sagen konnte, wie sie in Folge dessen reagieren würden, welche aber ganz offensichtlich zu viel gesehen hatten, um sich mit Ausflüchten oder Halbwahrheiten abspeisen zu lassen.
"Ich... nun..."
"Etwas anderes als ein wenig zerbrochenes Geschirr, hmm?", ließ sich Wilhelm vernehmen.
Die Leiterin des Institutes schüttelte wie in Trance den Kopf.
"Das... also das..." Sie kämpfte sichtlich um ihre Contenance. Es musste der eine Fall sein, für welchen Lady Deirdre keine adäquate Verteidigung parat hatte. "Ich musste doch an meine Mädchen denken... es..." Derweil starrte sie weiterhin Ophelia an, welche ihren Blick müde erwiderte.
"Dann ist heute wohl dein Glückstag." Rach schnaubte. "Denn wir haben ein Angebot zu machen, durch welches du mit einem Schlag aller diesbezüglicher Sorgen ledig wirst."
Rogi nickte.
"Wir forgen dafür, daff die... Schädlinge im Keller verschwinden. Dauerhaft. Im Gegenfug stellt ihr unf für die nächfte Feit ein ruhigef Fimmer fur Verfügung, in dem fich diefe beiden Frauen hier erholen können." Sie wies auf Maggie und Ophelia. "Und ihr werdet darüber abfolutef Stillschweigen bewahren. Ihr und fämtliche neugierigen Gänfe hier im Hauf, die ihr ihnen gefälligft vom Half halten werdet."
"Aber..." Die Lady schluckte und sah zögerlich von einem zum anderen. Ihr begegneten entschlossene Mienen. Daraufhin schien sie zu einer Entscheidung zu kommen. Sie straffte ihre Gestalt und etwas von dem alten Selbstvertrauen kehrte in ihre Stimme zurück. "Wir haben noch ein paar ungenutzte Räumlichkeiten im Westflügel", erklärte sie. "Die Zimmer sind recht einfach, aber für den Anfang... wie lange soll ich sie denn zu eurer Verfügung vormerken?"
Rach warf Mina einen fragenden Blick zu.
"Vorerst", sagte die Vampirin. "Wir kommen darauf zurück, sobald ein paar Dinge geklärt werden konnten."
"Ich bleibe hier nicht länger als zwingend notwendig, keine Sorge", ließ sich Magane leise vernehmen.
"Nun dann." Lady Deirdre nickte. "Wenn ihr noch kurz hier warten könntet?" Sie wandte sich um und eilte aus dem Zimmer. "Und du fängst an, hier aufzuräumen!", zischte sie jemandem auf dem Gang zu, bevor in lautem, befehlsgewohnten Tonfall Anweisungen durch das Haus hallten, welche, gemessen am emsigen Trappeln von Füßen auf Treppen, sogleich ausgeführt wurden.
Nun, da sich die aktuelle Situation ein wenig entspannt hatte, erlaubte es sich auch der Trupp, seine geschlossene Verteidigungshaltung aufzugeben. Kanndra ließ sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einen Sessel sinken; ihre Rippe musste ihr doch mehr zu schaffen machen, als angenommen. Nyria verschwand rasch hinter einem weiteren Sitzmöbel und trat kurz darauf in ihrer menschlichen Gestalt wieder hervor. Sorgsam verpackte sie zwei Stücken Stoff in ihrer Jackentasche.
"Tja...", meinte sie dann und sah in die Runde. "Das war’s dann schätze ich. Wenn keiner etwas dagegen hat, würde ich mich schonmal auf den Weg machen. Es dürfte keine gute Idee sein, zugleich im Wachhaus einzutreffen. Und mit allem anderen..." Sie musterte Maggie und Ophelia. "...kommt ihr wohl auch ohne mich klar."
"Wir gehen ebenfalls", verkündete Esther in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. "Es ist wirklich ganz entzückend, dass wir alle noch leben und dieses Himmelfahrtskommando entgegen jeder Wahrscheinlichkeit auch noch erfolgreich war. Aber ich brauche ein Bad." Sie sah angeekelt an sich hinab. Der Weg durch die Tunnel und die verschiedenen Konfrontationen im Untergrund hatten deutliche Spuren hinterlassen. "Komm, Jules."
Der Assassine sah Rach unsicher an.
"Wenn es dir lieber wäre..."
Doch dieser schüttelte mit dem Kopf.
"Das ist schon in Ordnung."
Dicht hinter Nyria verließen die beiden professionellen Meuchler den Raum.
Wilhelm schien unentschlossen.
"Ich gehe dann wohl besser auch?", erkundigte er sich, klang aber nicht so, als sei er selbst von diesem Vorschlag restlos überzeugt.
Wenn er allerdings auf eine Ermutigung zum Bleiben gehofft hatte, so wurde er enttäuscht.
"Du follteft dich noch ein wenig schonen", meinte Rogi schlicht. "Auferdem ift ef, wie schon angedeutet, eine gute Idee, wenn wir unf nun so gut alf möglich ferstreuen. Wenn wir allerdingf schon einmal beim Thema 'schonen' find..." Sie musterte Kanndra mit skeptischen Blicken. "Geht ef?", wollte sie wissen.
Die Späherin winkte ab.
"Ich komme schon zurecht", meinte sie, "zumal ich das dringende Bedürfnis habe, nach Hause zu kommen. Außerdem muss Schusi in seinen Stall zurück, nicht, dass noch jemand misstrauisch wird." Sie machte eine beschwichtigende Geste. "Und ja, ich lasse es ruhig angehen." Kanndra erhob sich ächzend. "Komm Rekrut Schneider, lass uns den Karren holen. Aber ich fahre."

Sie hatten Ophelia und Magane so komfortable wie unter den gegebenen Umständen möglich untergebracht und die Institutsleitung noch einmal darauf eingeschworen, niemanden aus eigener Entscheidung zu den beiden vorzulassen. Ein verärgerter Verlobter, einer entschlossene Vampirin und eine mürrische Igorina war dabei offenbar eine äußerst überzeugende Kombination gewesen. Sie hätten ihnen wohl alles durchgehen lassen, um nicht erneut den Zorn des Dreiergespanns zu riskieren. Für den Moment würden die beiden Befreiten also sicher sein. Dennoch, ein unterschwellig ungutes Gefühl blieb. Schließlich befanden sie sich damit noch immer direkt über dem Areal, welches so lange ihr Gefängnis gewesen war. So nah an einer zumindest potenziellen Gefahr... Das war wohl auch einer der Gründe für Rach, noch etwas an Ophelias Seite zu bleiben, als sich Rogi und Mina verabschiedet hatten. Es war nicht so, dass die Vampirin nicht auch über diese Möglichkeit nachgedacht hatte. Aber Ophelia brauchte zunächst vor allem Ruhe und es war nicht wirklich hilfreich, daneben zu sitzen, während sich die beiden Menschen gegenseitig ihr Herz ausschütteten. Nein, da konnte sie sich an anderer Stelle wesentlich nützlicher machen, denn im Hinblick auf die kommenden Tage gab es in der Tat einiges zu tun und vorzubereiten. Angefangen bei der Frage der Unterbringung: Natürlich, Racul hatte Bedingungen gestellt, große Töne gespuckt - aber bei Lichte betrachtet war überhaupt nichts vereinbart worden. Mina hatte seinen Forderungen weder ausdrücklich zugestimmt, noch sie abgelehnt und im Zweifelsfall hätte er wohl nur ohnmächtig dabei zusehen können, hätten sie Ophelia gleich an einer anderen Stelle untergebracht. Doch da war dieser kleine Restzweifel, die Sorge, irgendeine Feinheit im Prozedere ihrer eigenen Forderung übersehen zu haben. Einen Fallstrick, eine Ausnahme. So gut kannte sich Mina mit der Materie dann doch nicht aus. Und ein formaler Fehler zu diesem Zeitpunkt... Nein, dann lieber so. Zur Sicherheit. Allerdings würde es nicht ausbleiben, sich noch einmal eingehend mit den Details zu beschäftigen - oder jemanden zu fragen, der von Berufswegen damit zu tun hatte. Darüber hinaus brachte die Variante, die Befreiten vorerst im Institut unterzubringen, abgesehen vom rechtlichen Aspekt auch noch einen weiteren Vorteil mit sich: Gerade was Ophelias Transportfähigkeit anging hatte Rogi nicht übertrieben. Sie in diesem Zustand durch die halbe Stadt zu chauffieren würde kaum gelingen ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Und wer konnte schon sagen, ob es nach der Aufregung des Tages nicht auch einfach zu viel des Guten wäre? Überhaupt, wohin hätten sie sie bringen sollen? Das Wachhaus stand außer Frage. Ihre Familie? Dann wäre von Ruhe für Ophelia keine Rede mehr gewesen. Zu Rach? Die naheliegende Wahl. Aber jetzt galt es, in neuen Bahnen zu denken. Wenn sie die Sache konsequent durchspielen und dabei wenigstens den Anschein wahren wollte, als wäre es ihr in jedweder Hinsicht ernst - dann musste sie ihren Anspruch ebenso überzeugend untermauern. Dann musste Ophelia für die nächste Zeit bei ihr in der Teekuchenstraße untergebracht werden. Mina biss sich auf die Unterlippe. Auch so ein Punkt, den sie Rach würde schonend beibringen müssen - oder viel mehr, ihn vor vollendete Tatsachen stellen. Natürlich, am Ende des Tages geschah das alles zu Ophelias Besten... aber wie viel auf der Scheibe war schon durch eine derartige Floskel gerechtfertigt worden? Und wer war man, sich anzumaßen darüber zu befinden, was dieses Beste war? Derart über das Leben anderer Leute zu verfügen? Genau, Vampire taten das. Ständig. Noch ein Beweis dafür, dass diese Spezies moralisch so ziemlich das Letzte war. Es war das, was Mina nie gewollt hatte. Und nun saß sie mittendrin - aus eigener Entscheidung.
Noch immer türmten sich schwefelig gelbe Gewitterwolken am Himmel; in der Ferne wetterleuchtete es in unregelmäßigen Abständen und ein zu warmer Wind trug den Donner heran. Es musste geregnet haben, während sie sich im Labyrinth aufgehalten hatten: Das Kopfsteinpflaster glänzte feucht und Wasser tröpfelte in feinen Rinnsalen von den Dachtraufen. Schmutzig nasse Tauben starrten reglos von den Giebeln auf die Straße herunter. Kurios, wie das Wetter bisweilen genau zu spiegeln vermochte, wie es in einem selbst aussah. Denn das Dumme war, dass Minas Verstand mittlerweile Zeit gefunden hatte, vollständig zu den Geschehnissen aufzuschließen. Sich der Konsequenzen ihres Handelns in seiner ganzen Tragweite bewusst zu werden. Was sich da vor ihr ausbreitete war kein schönes Bild. Der erste sich daraus ergebende Reflex war eindeutig: Weglaufen! Weglaufen und hoffen, dass es einen nicht fand - das was man getan hatte. Feige und doch irgendwie nachvollziehbar. Natürlich, kein Impuls, dem Mina nachgegeben hätte. Aber der Gedanke drängte sich auf, war lästig, aber eben da.
Den Blick auf einen unbestimmten Punkt vor sich gerichtet ging die Vampirin mit schnellen festen Schritten die Straße hinunter - gerade so als könne sie aus der darin liegenden Entschlossenheit eine Bestätigung ziehen, eine Versicherung, wider dem nagenden Zweifel. Es war richtig gewesen, so zu handeln, keine Frage. Die einzige Möglichkeit. Racul hatte es nicht nötig gehabt, sich in leeren Drohungen zu ergehen und kein Flehen der Welt hätte ihn davon abgehalten, sie alle umzubringen. Das da unten in der Käfigkammer war tödlicher Ernst gewesen, ein Kampf, den sie mit roher Gewalt niemals hätten gewinnen können. Eine wirkliche Wahl hatte es eigentlich gar nicht gegeben. Und dennoch fühlte sie sich ob dieser Erkenntnis nicht weniger furchtbar. Rückblickend betrachtet schien es, als würde sich damit ein Kreis schließen. Als sei es die logische Folge so vieler kleiner Dinge, von Bemerkungen und Andeutungen, welche während der letzten Jahre gefallen waren. Etwas, was unterbewusst schon lange gelauert hatte, eine Notlösung die sich der Geist zurechtgelegt hatte, noch bevor das aktive Bewusstsein sich dessen überhaupt bewusst gewesen war.
"Das hier ist kein Spiel! Es geht um eine... Freundin." - "Erhebst du Anspruch auf sie?" - "Nein, ich..." - "Dann verstehe ich wiederum dein Problem nicht." --- "Vielleicht gefällt dir auch eher der Begriff 'Eigentum'?" --- "Ihr seid alle gleich! Ihr denkt, ihr hättet von Natur aus das Recht, zu entscheiden... über mich..." --- "Ich bin nicht nur das arme Opfer!" --- "Ihr seid alle gleich... alle gleich..."
Frustriert hieb Mina mit der Faust gegen einen Laternenmast, als könne sie damit die wild durcheinander flüsternden Stimmen in ihrem Kopf zum Schweigen bringen. Das Gusseisen zeigte sich unbeeindruckt und ein kurzer stechender Schmerz fuhr ihr den Arm hinauf. Nicht weiter dramatisch, aber es half, sich selbst zur Ordnung zu rufen. Die Dinge lagen, wie sie lagen. Auch wenn sich ihr die Erinnerung an Ophelias eigene Zustimmung immer noch eiskalt in den Magen bohrte - aber gleichzeitig war es ein Vertrauensbeweis gewesen, eine Akzeptanz bar jeden Zweifels in dem festen Glauben an die andere. Sie würde sich dem kaum würdig erweisen, indem sie jetzt die Nerven verlor.
Mina nahm sich einen Moment Zeit, lehnte sich gegen das Objekt, an welchem sie gerade noch ihren Frust abreagiert hatte, und massierte sich die immer noch pochenden Fingergelenke. Glücklicherweise befanden sich gerade keine weiteren Passanten auf der Straße, niemand, vor dem man den Schein der Normalität hätte aufrecht erhalten müssen.
Wenn es das Richtige gewesen war, wie konnte es sich dann gleichzeitig derart falsch anfühlen? Denn man durfte sich nichts vormachen - die getroffene Anspruchsäußerung hatte in diesem speziellen Kontext nichts anderes als die Klärung von Besitzverhältnissen zur Folge, egal wie man es drehte und wendete. Sich die Angelegenheit irgendwie schönzureden änderte nichts am Sachverhalt. Vielleicht waren sie irgendwo tatsächlich alle gleich... vielleicht hatte sie sich mit der Annahme, irgendetwas anders machen zu können nur selbst hinter's Licht geführt. All diese Prinzipien, die Distanz zu dem, was einen selbst von Natur aus ausmachte, was man nicht ändern konnte... im Endeffekt nur Selbstbetrug. Mina kam in den Sinn, was sie Racul entgegengehalten hatte, auf die Frage hin, warum er sich ihrer Forderung unterwerfen sollte: Weil er an die Übereinkünfte gebunden sei, welche ihre Spezies vor Jahrhunderten getroffen hatte. Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass sie sich mit der Äußerung ihres Anspruches nunmehr selbst an jene Konventionen band. An Gepflogenheiten, die anmaßend und verwerflich zugleich waren.
"Reiß dich zusammen!", schalt sie sich selbst. "Du bist aufgebracht, erschöpft und durcheinander. Du denkst nicht rational. Also schluck dein Selbstmitleid herunter und konzentrier dich auf die nächsten Schritte."
Die da wären? Nun, sie hatte zum Beispiel Dschosefien Kasta versprochen, sie über alle wichtigen neuen Entwicklungen zu unterrichten. Warum das also nicht gleich erledigen? Es wäre darüber hinaus ein zusätzlicher Weg, Zeit die verging. Und es würde sie aus Richtung eines ganz anderen Stadtviertels zum Wachhaus zurückbringen. An Details würde sie gegenüber Ophelias Schwester sparen müssen, natürlich. Aber ihr mitteilen, dass sie die Vermisste nicht nur gefunden hatten, sondern diese auch noch am Leben war - das war sie ihr wohl schuldig. Immerhin hatte auch Dschosefien ihr Wort gehalten.
Mina nickte sich selbst zu und schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Einen Plan zu haben half ihr, die Gedanken zu sortieren und ihre Selbstbeherrschung wiederzufinden. Sich auf's Wesentliche zu konzentrieren. Der Rest, das Besorgniserregende, Beunruhigende, aber auch Beängstigende an den Dingen, die bevorstanden... nun, das würde ganz gewiss auf sie warten. Auf die Momente lauern, in denen sie es sich gestattete inne zu halten und Luft zu holen. Aber mit ein wenig Glück würden diese nur vereinzelt auftreten. So einiges würde sich ändern in der nächsten Zeit. Dazu würde sie ebensolche benötigen. Es war kaum vorstellbar, nebenbei noch ihren Pflichten in der Wache nachzugehen und dabei so zu tun, als sei nichts passiert. Darum würde sie sich kümmern müssen. Noch ein Punkt für die Liste, einer nach dem anderen abzuarbeiten, bis sie am Ende bei einem Ergebnis herauskommen würde, welches... ja, welches vielleicht das ihm innewohnende Falsche zu etwas Anderem wandte. Denn schließlich konnte diese ganze verquere Angelegenheit, so verzweifelt sie im Moment auch erscheinen mochte... konnte diese doch nur das sein, was sie am Ende selbst daraus machte.

06.09.2017 17: 47

Senray Rattenfaenger

"Ich nehme an, wenn ich dich jetzt direkt um, naja, Papier bitten würde... das wäre gerade eher schlecht, oder?"
Senray spürte Raistans Blick auf sich und schaute leicht entschuldigend. Sie kannten beide die Antwort – nachdem es eben ein Papierschnitt gewesen war, der die Willkür von Refizlak gezeigt hatte, würde sie ausgerechnet jetzt sicher kein Papier bekommen.
Die junge Frau winkte selbst ab. "Schon gut. Es hat ja Zeit."
Also ging sie im Geiste mögliche Formulierungen für einen Brief an Ophelia durch.
Es war wirklich albern. Sie hatte sich so daran gewöhnt, mit Mistvieh Nachrichten zu schreiben... sie war nicht einmal auf die Idee gekommen! Dabei hatte der Zauberer Recht, ein Brief hatte viel mehr Platz, bot viel mehr Möglichkeiten als eine kleine Taubenbotschaft.
Allerdings war es doch unhöflich, wenn sie sich jetzt zu sehr ihren Gedanken hingab. Auch wenn Raistan nicht wirklich böse über Ruhe wirkte. Im Gegenteil, er sah erschöpft aus. Senray hätte am liebsten gefragt, ob es ihm gut ging oder ob sie ihm etwas bringen könnte, Tee vielleicht. Aber bei der einen Frage wusste sie nicht so recht, wie sie sie stellen konnte, ohne zu aufdringlich zu sein und bei der anderen kannte sie die Antwort. Sie würde hier sitzen bleiben müssen, bis das klare Signal kam, dass der Rest aus der direkten Gefahrenzone war. Wilhelm zuliebe.
Ob es ihm gut ging? Ob es ihnen allen gut ging? Hatten sie Ophelia und Maggie schon gefunden? Oder war das Labyrinth verzweigter als sie befürchtet hatten? Vielleicht hätte sie mehr Leuchtpaste von den Alchimisten mitbringen sollen?
Ihre Finger spielten bereits wieder mit einer der Kissentasseln und sie seufzte leise. Raistans Blick wanderte wieder von ihren Händen zu ihrem Gesicht und er wirkte unentschlossen, was er noch sagen könnte.
Senray kam ihm zuvor. "Wenn es nur irgendeinen Anhaltspunkt gäbe, wie lang-"
Genau in dem Moment erklang im Wachhaus der Ruf nach den RUMlern. Romulus Stimme halte gut hörbar durchs Wachhaus und verlangte seine Leute zusammen. Es war offensichtlich, dass etwas Größeres anstand.
Die DOG sah wieder zu Raistan. Es gab nur einen Einsatz, der jetzt anstand. Vor allem wenn Romulus seine Leute ausrief! Das hieß, der Rest war aus dem Vampirunterschlupf entkommen! Ophelia und Maggie gerettet. Das hieß es doch, oder? Das musste es heißen. Senrays Anspannung stieg und es fiel ihr immer schwieriger, ruhig auf dem Kissen sitzen zu bleiben. Raistan hingegen lauschte zwar gespannt auf die Geräusche von außen, er ließ sich aber nicht anmerken, ob er nun in irgendeiner Form angespannter war als davor.
Schließlich, nach vielem Fußgetrappel und einigen Rufen, verlagerte sich die Hauptgeräuschkulisse auf den Hof. Der Zauberer wartete noch einige Augenblicke, dann stand er behutsam auf und ging gemessenen Schrittes zum Fenster.
"Sie brechen auf. Es sieht nach einem guten Trupp Ermittler und Spurensicherer aus, wenn ich es richtig sehe. Es scheint also..."
Senray schluckte und sah immer noch sitzend zu ihm auf. "Sie sind zurück?"
"Zumindest raus dort." Raistan wandte sich ihr wieder voll zu.
Es klopfte kurz und harsch an der Tür, eher der Kommandeur eintrat. Beide drehten den Kopf zu ihm und er nickte ihnen zu.
"Danke, Raistan, aber ich denke, das war genug für heute. Die Obergefreite Rattenfaenger wird in ihrer Dienststelle zurückerwartet. Ich teile dir den nächsten Termin... mit."
Erneut folgte ein beredtes Nicken.
"Gut. Dann hebe ich den Bannkreis auf und du kannst gehen, Senray.", sagte Raistan an sie gewandt, während der Kommandeur noch in der Tür stand. Die junge Frau nickte und blieb weiterhin sitzen. Auch wenn der Kreis nicht echt war – er sah verdammt echt aus und es war ein sonderbares Gefühl, für Senray direkt in der Mitte zu sitzen. Außerdem durfte sie das so aufgebaute Alibi für Raistan und sich nicht gefährden, indem sie nun einfach hinausmarschierte.
Nur noch kurz warten. Dann würde sie zurück zum Boucherie gehen. Von dort aus konnte sie Mistvieh nutzen, um Wilhelm zu schreiben. Sicher war der schon auf dem Weg in seine Wohnung. Ob sie ihn nach Dienstschluss besuchen sollte?
Erst einmal abwarten und Mistvieh schicken. Die junge Frau merkte, wie die fast abgelegte Nervosität sie wieder übernahm, wenn auch anders diesmal. Es war wieder der Gedanke, was jetzt wäre. Jetzt, wo Wilhelm hoffentlich von Refizlaks Einfluss befreit war. Sie wünschte nur, sie wüsste um die genaue Formulierung, um einschätzen zu können, ob es jetzt wirklich schon vorbei war. Und ob es ein Schlupfloch oder irgendwelche Folgebedingungen gab. Was, wenn es eben doch noch nicht vorbei war, zumindest für den Vampir?
Senray atmete tief durch und versuchte, alle Gedanken zu verbannen. Kein Spekulieren. Einfach nur normal ins Boucherie gehen und die restliche Schicht hinter sich bringen. Nur noch wenige Stunden. Bis dahin würde sie mehr wissen. Und hoffentlich herausfinden, ob es allen gut ging. Und wo Ophelia und Maggie waren, damit sie mit den beiden Kontakt aufnehmen konnte.


Der Weg zum Boucherie schien um ein Vielfaches länger zu sein als an anderen Tagen. Dabei hielt das Wetter sogar, obwohl es immer noch gefährlich aussah. Gelblich-dunkel, die letzten Nachwehen des trockenen Gewitters davor. Dennoch: Senray kam trocken und sicher in ihrer Dienststelle an.
Doch das half alles nichts. Ihr Verstand hatte Extrarunden gedreht. Sie musste einfach dringend wissen, wie es den anderen ging. Ob sie es geschafft hatten, ob Ophelia und Maggie sicher waren. Vorher würde es ihr wohl nicht gut gehen.
Die junge Obergefreite wünschte, sie hätte der Mine des Kommandeurs etwas ablesen können. Aber natürlich hatte er ihr und Raistan schlecht sagen können, was er wusste. Der Zauberer hatte vielleicht etwas im Gesicht des anderen erkannt – aber falls das so war, hatte er Senray nichts gesagt. Aus denselben Gründen, natürlich.
Also hatte sie sich gefragt, wem sie was schreiben sollte. Senray wollte Wilhelm am liebsten direkt sprechen, aber selbstverständlich ging auch das nicht. Und sie war sich immer noch unsicher, ob sie nach Dienstschluss zu ihm gehen sollte oder nicht. Was, wenn er jetzt einfach etwas Zeit für sich wollte? Das wäre schließlich nur natürlich. Immerhin hatte sie seine Wohnung quasi für die letzten Tage belagert. Bedachte man dazu noch die Umstände... Dann war es geradezu wahrscheinlich, dass er erst einmal Abstand von ihr und dem in ihr lauernden Dämon wollte. Aber wäre es dann überhaupt Rechtens, ihm eine Nachricht zu schicken?
Andererseits musste sie einfach wissen, wie es ihm ging. Und sicher machte sie sich nur zu viele Gedanken. Oder nicht?
Und genau da lag das Problem. Senray fühlte sich verunsichert von ihren eigenen Gefühlen und Gedanken. Und es wurde nicht besser, desto länger sie darüber nachdachte, ganz im Gegenteil.
Dennoch wusste sie, welche Nachricht sie Mistvieh für Wilhelm mitgeben würde. Auch auf die Gefahr hin, das Glum sie erwischte, jetzt, wo es wirklich an den Vampir wäre... Es war ihr dennoch lieber, als eine Klacker Nachricht. Und die DOG war sich fast sicher, dass die Taube den Kollegen finden würde, zumindest dessen Wohnung. Dann hätte sie Gewissheit und könnte ruhig schlafen. Vielleicht sogar wieder in ihrer Wohnung? Nein, besser noch nicht darauf hoffen. Sie wusste einfach nicht, ob Wilhelm wirklich wieder sicher war, sollte ihr etwas passieren. Und wieder: Erst abwarten und eine Nachricht schicken. Dann weiter sehen.
Allerdings sollte es sowieso anders kommen.
Kaum war Senray im Boucherie angekommen und die Treppen zum ersten Stock emporgestiegen, trat Glum ihr entgegen.
"Da bist du ja endlich, Senray! Ich habe früher mit dir gerechnet."
Sie sah ihn überrascht und etwas nervös an. "Sör, es ist nur, also, wegen dem Feuer und Raistan..."
"Ja, ja, schon gut! Der Kommandeur hatte mich informiert. Allerdings haben wir keine Zeit zu verlieren. Geh dich umziehen und wir brechen auf. Ich gebe dir fünf Minuten, das muss reichen. Hast du verstanden, Senray?" Er sah sich mit zusammengekniffenen Augen an.
"Ja, Sör! Ich meine... Für was, Sör?"
"Unauffällig. Wir gehen auf eine kleine Exkursion. Du hast bei Weitem noch nicht alles von dieser schönen Stadt gesehen und gelernt, was du wissen musst." Er musterte sie noch einen Augenblick, dann drehte er sich wieder um.
"Fünf Minuten, Senray. Dann treffe ich dich hier."
Sie sah ihm einen Moment nach, dann eilte sie in ihr Büro. Seit ihre Ausbildung vorbei war kam es nicht mehr so häufig vor, dass Glum sie zu spontanen ‚Exkursionen‘, wie er es nannte, mitnahm. Es war allerdings auch nichts Ungewöhnliches oder nichts, weswegen sie sich Sorgen machen musste. Und normalerweise hieß das, dass irgendwo in der Stadt etwas Interessantes vor sich ging oder eine der Gilden eine Art ‚Tag der offenen Gilde‘ hatte. So etwas musste von den DOG ausgenutzt werden.
Während Senray auf einen Rock und eine Bluse wechselte, versuchte, ihr Haar halbwegs damenhaft wegzubinden und dabei einen der gut sortierten Aktenstapel zu Boden schickte, vergaß sie kurzfristig die Nachricht, die sie an Wilhelm schicken wollte. Kaum war sie wieder auf dem Gang, wo ihr zwergischer Vorgesetzter sie darauf hinwies, dass sie mehr als fünf Minuten gebraucht hatte und man in seiner Jugend man Wert auf Pünktlichkeit, gerade gegenüber den Vorgesetzten, gelegt hatte, fiel es ihr siedend heiß wieder ein. Doch sie schaffte es nicht, sich unauffällig wieder loszusagen.
Und auch wenn sie neugierig auf das war, was Glum ihr jetzt zeigen würde. Die nicht beruhigte Sorge um die Anderen und das Bedürfnis, mit Wilhelm zu reden, lagen ihr im Magen wie ein Haufen schwerer, kalter Steine.

06.09.2017 19: 08

Nyria Maior

Auch die dritte Zigarette am Stück konnte den widerlichen Geschmack nach uralter, verwester Leiche, den Raculs Knöchel auf ihrer Zunge hinterlassen hatte, nicht vertreiben. Und so fiel es Nyria trotz ihres innerlichen Triumphgefühls nicht sonderlich schwer, eine grimmige Miene aufzusetzen als sie auf das Wachhaus am Pseudopolisplatz zustapfte. Ihren Schal hatte sie sich eng um den Hals geschlungen um die bereits verblassenden Würgemale zu verdecken, die Sebastian auf ihrem Hals hinterlassen hatte. Mistkerl. Aber nun residierte er hoffentlich auf ewig in einem Einmachglas und sie hatte gleich zwei Stücke aus seiner Hose herausgerissen. Eins der Stücke würde in ihre Souvenirsammlung wandern. Das andere wollte sie Raistan schenken, damit er auch ein Erinnerungsstück an die ganze Rettungsaktion bekam.
Nyria steckte sich die vierte Zigarette an, betrat die Eingangshalle und knallte die Wachhaustür demonstrativ hinter sich zu. Die beiden Tresenrekruten beobachteten sie mit einer Mischung aus Nervosität und Neugier als sie zum Schwarzen Brett marschierte, Bregs' Aushang über die Spaßmaßnahmen durchlas und ausgiebig fluchte.
"Äh." sagte einer der beiden vorsichtig. "Falls es dir weiter hilft... Der Kommandeur hat gesagt, falls sich jemand beschweren will, er wäre in seinem Büro."
Nyria wandte sich um und schenkte ihm ein hinterhältiges Grinsen.
"Danke für die Info. Ich glaube, das werde ich tatsächlich tun. Mir einfach die Spesen zu streichen, der Witzkeks..."
Mit diesen Worten stapfte sie zur Treppe und ließ dabei auch die Tresenklappe kräftiger als nötig hinter sich zufallen.
"Ui, der ist aber ganz schön was über die Leber gelaufen." hörte sie auf ihrem Weg nach oben den einen Rekruten noch sagen.
"Ich habe gehört, dass sie ein Werwolf ist." antwortete der zweite. "Und übermorgen ist Vollmond..."
Weder Damien G. Bleicht noch Menélaos Schmelz waren im gemeinsam genutzten Büro, was Nyria nur recht war. Sie setzte sich hinter ihren Schreibtisch und schrieb einen knappen, aber präzisen Bericht über das, was in den Gängen unter dem Grüngansweg passiert war. Währenddessen rauchte sie Zigarette Nummer vier zu Ende und schaffte auch noch die gesamte Länge von Zigarette Nummer fünf. Langsam bekam sie das Gefühl, nicht mehr nur Gruftmuff zu schmecken und Knoblauch zu riechen.
Nchdem sie ihren Bericht beendet hatte, faltete sie das Blatt mehrfach zusammen und machte sich, immer noch mit Gewittermiene, auf den Weg zum Komandeursbüro.
Das 'Herein' auf ihr Anklopfen kam so prompt wie noch nie und Nyria schmiss die Tür auf.
"Bregs!" sagte sie so laut, dass sämtliche Wächter die sich zufällig auf diesem Flur befanden es deutlich hören konnten. "Was soll der Blödsinn mit den Spesenkürzungen? Ist dir nicht klar, dass ich mindestens die Hälfte meiner Informanten verliere, wenn ich sie nicht mehr anständig bestechen kann?" Mit diesen Worten warf sie die Tür hinter sich zu.
Araghast konnte die Erleichterung, als er sie sah, nicht ganz verbergen, doch innerhalb einer Sekunde hatte er sich wieder unter Kontrolle. Unauffällig nickte er mit dem Kinn in Richtung der Rohrpostklappe und Nyria verstand. Er glaubte, dass mindestens einer der Dämonen dort gerade auf Horchposten saß.
"Ich kann mir das Geld leider auch nicht aus den Rippen schneiden." brummte er. "Und wenn wir hier im Wachhaus sind, etwas mehr Respekt bitte, ja? Immerhin bin ich hier der Kommandeur."
"Entschuldigung." sagte Nyria und gab sich Mühe, zerknirscht zu klingen, während sie ihm zuzwinkerte. "Aber ich hatte heute einen absolut miesen Tag. Die Kerle, die mein Informant mit zeigen wollte, sind ums Verrecken nicht aufgetaucht. Wahrscheinlich haben sie Wind von der Sache bekommen. Jetzt habe ich drei Stunden in einem zugigen Lagerhaus auf der Lauer gelegen und bin immer noch so schlau wie vorher." Sie schnitt eine Grimasse. "Und zu allem Überfluss wurden da auch noch Wahoonies und Knoblauch gelagert. So viel wie ich bräuchte, um den Geruch wieder aus der Nase zu kriegen, kann ich gar nicht rauchen!"
Nyria trat an den Schreibtisch und legte den Bericht ab.
"Hier. Das ist eine genaue Auflistung meiner Spesen. Wenn du etwas daran drehen könntest, wäre ich dir sehr dankbar."
Araghast seufzte tief. "Ich werde sehen, was ich tun kann." Er sah sie an. "Und dir gebe ich lieber für den Rest des Tages frei. Mit deiner Laune sollte man dich heute nicht mehr auf irgendwelche Bürger loslassen."
Nyria salutierte lässig und wandte sich zum Gehen. Das letzte was sie sah, bevor sie die Bürotür hinter sich schloss war der Kommandeur, wie er hektisch ihre Nachricht auseinanderfaltete.

Sie fand Raistan in der Kantine, wo er eine Tasse Pfefferminztee von Mamsell Piepenstengel geschnorrt hatte und wirkte, als ob er gerade verzweifelt versuchte, nicht mit dem Kopf auf der Tischplatte einzuschlafen. Als sie eintrat, drehte er sich zu ihr um und lächelte müde, aber sichtlich erleichtert.
"Hey." grüßte sie und zwinkerte ihm zu. "Wie ist es gelaufen mit dem Dämon?"
Raistan zuckte mit den Schultern. "Wie zu erwarten. Es ist schwer, an ihn heranzukommen."
Nyria klopfte ihm auf die Schulter.
"Der Kommandeur hat mir den Rest des Tages frei gegeben und nachdem mir mehr als mein halbes Spesenbüdscheh gestrichen wurde, brauche ich dringend was zu trinken. Schaffst du es noch bis in die Trommel?"
Sie konnte förmlich spüren, wie sein Wunsch, sich endlich ausgiebig auszuruhen, von seiner Neugierde auf den Ausgang des Einsatzes gnadenlos ausgehebelt wurde. Schließlich nickte er.
"Ich denke, ich werde es überleben."
Nyria grinste breit, als sie ihren Freund behutsam beim Arm nahm und nach draußen führte. Ausnahmsweise wehrte er sich nicht dagegen, dass sie ihn stützte.
"Und? Was ist passiert?" fragte er, kaum dass sie außer Hörweite des Wachhauses waren.
Nyria steckte sich eine Zigarette an und sog den Rauch tief in ihre Lungen.
"In der Kurzfassung: Ophelia und Magane sind frei, Sebastian ist ein Haufen Asche und wir haben alle überlebt." erklärte sie nicht ohne Stolz. "In der Langfassung ist allerdings noch eine ganze Menge mehr passiert. Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass die beste Methode zur Vampirtötung eine Präzisionsfernwaffe ist. Aus dem Hinterhalt abgefeuert."
"War es so schlimm?"
"Es waren beide ziemlich harte Brocken." Nyria grinste schief. "Aber ich habe Sebastian seine edle Anzughose ziemlich zerfetzt. An beiden Beinen." Sie griff in ihre Manteltasche und holte die beiden Stofffetzen hervor. "Einer von den beiden ist für dich, damit du auch eine Erinnerung an die Rettungsmission hast. Der andere kommt in meine Sammlung, gleich neben den Liebesbrief."
"Ich werde ihn in Ehren halten." versprach Raistan halb im Scherz, halb ernst. "Aber nun erzähl. Wie lief es ab?"
Und während sie langsam durch die Stadt gingen, begann Nyria zu erzählen. Von dem triumphierenden Einmarsch des Wütenden Mobs im Internat, der schieren Freude, eine Tür zu sprengen und der penetrantesten Knoblauchwolke die sie je gerochen hatte. Von den Fallen, den Kämpfen gegen Sebastian und wie Magane irgendwelchen Hexenkram gemacht hatte um Sebastian zu lähmen, sodass die Assassinen ihn erfolgreich inhumieren konnten. Wie sie den Kerker mit dem Käfig betreten hatten...
"Es sah genauso aus wie du es beschrieben hattest." sagte sie. "Und Racul... Er sieht aus wie ein tezumanischer Schrumpfkopf, aber er ist geistig tatsächlich sehr mächtig. Er hat Mina von Nachtschatten einfach so mit seinen Gedanken an die Wand geschleudert. Und um mich aus dem Kampf zu halten, hat er mir befohlen, Sitz zu machen, und meine Hinterbeine haben schon gehorcht bevor ich überhaupt bewusst gemerkt habe, was da eigentlich passiert. Dieses Schwein wollte mir suggerieren, dass er mein Herrchen ist und für einen Moment war ich kurz davor, es wirklich zu glauben." Sie schüttelte sich vor Ekel bei dem Gedanken an die widerliche Präsenz des Alten. "Aber der Inspektor hat ihn mit dem Gift erwischt und danach ging es abwärts mit ihm. Und ich habe dem alten Grufthocker die Attacke ordentlich heimgezahlt und ihn ordentlich in den Knöchel gebissen. Im Nachhinein war das keine so gute Idee. Einen ekligeren Geschmack hatte ich noch nie zwischen den Zähnen. Als ob ich etwas fressen würde, was seit Jahrhunderten still vor sich hinrottet." Sie seufzte bedauernd. "Und in dem ganzen Trubel habe ich vergessen, mir auch ein Stück von seiner Hose mitzunehmen..."
Diese Aussage brachte Raistan zum Schmunzeln.
"Und wie seid ihr nun mit ihm fertig geworden?" hakte er nach.
"Es war alles ziemlich konfus." brachte Nyria ihre Erinnerung an das abrupte Ende des Kampfes auf den Punkt. "Wir haben zu mehreren versucht, ihn niederzuringen, er stieß diverse Drohungen aus und dann hat Chief-Korporal von Nachtschatten in einer ziemlich verschwurbelten Rede Anspruch darauf erhoben, dass Ophelia ihr gehört. Was Racul aus irgendwelchen Vampirgründen so aus dem Konzept gebracht hat, dass seine Drohungen auf absolutes Schundromanniveau herabgesunken sind. In dem Moment wusste ich, dass wir gewonnen hatten. Wer mit 'Ihr könnt mich nicht besiegen' und ähnlichem Blödsinn anfängt, ist in Wirklichkeit schon ganz unten angekommen. Jedenfalls stand er nur noch dumm herum und hat geglotzt, als wir mit Ophelia und Magane einfach gegangen sind."
"Das ist interessant." sagte Raistan nachdenklich. "Und falls es funktioniert, ist es in der Tat eine äußerst geschickte Lösung des Problems."
"Ich fand es gruselig." Nyria verzog das Gesicht. "Menschen einfach so als Besitz zu deklarieren..."
"Es ist schon etwas komplizierter als das." Raistan blieb stehen und wandte sich ihr zu. "Ich habe in letzter Zeit eine Menge über Vampire gelesen und bin da, als ich mich auf die Absprache mit Wilhelm vorbereitet habe, auf das Phänomen der so genannten Spenderverträge gestoßen. Vampir und Mensch schließen in beidseitigem Einverständnis einen Vertrag ab, in dem ihre Rechte und Pflichten jeweils genau festgelegt sind. Damit zählt der jeweilige Mensch nach einem Haufen uralter überwaldianischer Klauseln als das Eigentum des Vampirs und kein anderer Vampir darf sich an ihm vergreifen, sonst gibt es Ärger. Indem Mina von Nachtschatten eben diese Klauseln ins Spiel brachte, hat sie möglicherweise eine mächtige Waffe gegen Racul in der Hand. Nun ist noch wichtig, ob Ophelia dieser Forderung zustimmt."
"Das hat sie bereits." sagte Nyria. "Und zwar sehr deutlich."
Raistan nickte.
"Dann bleibt uns nur noch, zu hoffen, dass Racul sie während ihrer Gefangenschaft nicht dazu genötigt hat, für ihn einen solchen Vertrag zu unterzeichnen, in dem unter anderem steht, dass sie bei ihm bleiben muss." murmelte er.
"Das wäre sehr ungünstig." stimmte Nyria ihm zu und zündete sich die nächste Zigarette an. "Aber erstmal ist sie frei, hat ihren Inspektor zu Füßen liegen, Racul ist komplett von den Socken und ich habe mir den fiesesten, schärfsten Drink verdient, den Hibiskus Dunhelm auf der Karte hat." Sie spuckte in den Rinnstein. "Irgendwie muss ich mir den Geschmack von jahrhundertealtem Gruftmoder ja von der Zunge ätzen."

06.09.2017 19: 33

Kanndra

Atmen tat noch immer weh und das würde sich so bald auch nicht ändern. Rogi hatte eine gebrochene Rippe festgestellt und ihr von körperlichen Anstrengungen in nächster Zeit abgeraten. Sollte sie jemand darauf ansprechen, würde sie etwas von Anfängerfehler beim Observieren murmeln und dass sie nicht weiter darüber reden wolle. Aber es war auch der Grund, warum Kanndra nun mit dem runderneuerten Eselskarren im Stau stand und sich die nach dem Gewitter wieder heraus gekommene Sonne auf den Kopf scheinen ließ, statt den Weg zu Fuß zurück zu legen. Es hätte allerdings alles noch viel schlimmer kommen können und sie versuchte zu vermeiden, sich diese schlimmeren Szenarien auszumalen. Abgesehen von Wilhelm, dessen Selbstheilungskräfte ihr Werk schon wieder getan hatten, waren die anderen sogar fast ohne einen Kratzer davon gekommen. Im Gegensatz dazu waren die beiden befreiten Kolleginnen in deutlich schlechterer körperlicher Verfassung. Bei Ophelia war diese offensichtlich gewesen, aber auch keine Überraschung, nach allem, was sie über ihre Behandlung und die Krankheit im Vorfeld schon erfahren hatten. Magane hatte hingegen kräftiger gewirkt. Allerdings waren die zahlreichen Narben, die ihr zugefügt wurden an den nicht mit Kleidung bedeckten Stellen deutlich sichtbar. Darüber hinaus litt sie an den Auswirkungen des massiven Blutverlustes. Letzteres ließ sich mit Ruhe und der richtigen Ernährung bald wieder in den Griff kriegen und auch die Narben würden verblassen mit der Zeit. Nun, die äußerlichen Narben jedenfalls. Wie es mit ihren inneren aussah...
"Ey, Fräuleinchen! Machste vielleich' mal den Weg frei oder was?", klang eine genervt-wütende Stimme von hinten an ihr Ohr und Kanndra schnalzte mit den Zügeln, um die Eselsstute vor ihrem Karren zum Traben zu bewegen. Die Schlange hatte sich zwar nur um wenige Meter bewegt, aber auf einen Disput mit verärgerten Mitbürgern hatte die Wächterin nun wirklich keine Lust.
Während die Stute ein paar lustlose Schritte machte, nahm Kanndra ihren Gedanken wieder auf. Was davon sollte sie der Familie mitteilen? Denn genau dorthin war sie unterwegs. Sie sollten erfahren, dass der Rettungseinsatz erfolgreich verlaufen und Magane noch im Internat geblieben war, aber bald nach Hause kommen würde. Am besten, sie versuchte die unerfreulichen Details so gut wie möglich zu verschweigen, nahm sie sich vor.

Der Löffel klirrte leise in der Tasse mit dem angebotenen Tee, während Kanndra umrührte. Unter den Blicken der beiden Großeltern versuchte sie Bewegungen zu vermeiden, die sie vor Schmerz zusammen zucken ließen.
"Nun, ich kann euch mitteilen, dass eure Enkelin... gefunden wurde. Sie lebt, es geht ihr gut und sie wird bald wieder zu Hause sein."
Erleichterung breitete sich auf den beiden alten Gesichtern aus. Doch ehe sie dazu kamen, etwas zu sagen, meldete sich eine Stimme von der Tür aus.
"Und warum ist sie nicht gleich mitgekommen?"
"Hallo, Tom", der Leutnant drehte sich um, was sie nun doch zusammen zucken ließ. "Komm doch zu uns rüber."
Als der Junge sich am Tisch niedergelassen hatte, fuhr sie fort: "Weißt du, deine Mutter und unsere andere Kollegin wurden anscheinend ... zufällig von Leuten gefunden, die in das Haus eines mächtigen Vampirs eingedrungen sind. Der anderen Kollegin geht es nicht so gut und Magane will sich noch ein wenig um sie kümmern, bis wir sie woanders hinbringen können."
Das Augenbrauen von Richard Wechter hoben sich, als er verblüfft fragte: "Ein Vampir hat sie...?" Kanndra nickte schnell und warf einen bedeutungsvollen Blick auf Tom.
Der war jedoch noch mit einem anderen Gedanken beschäftigt. Im Gesicht des Jungen sah man es arbeiten, ehe er fragte: "Leute? So wie die in Überwald? Die mit den Fackeln und Mistgabeln?"
"Äh... ja, genau. Niemand weiß, wer die waren und... es wird wohl auch für immer geheim bleiben, verstehst du?"
Tom nickte, auch wenn man ihm ansah, dass er nicht so ganz verstand, warum die Wächter es geheim halten wollten, wenn sie Kolleginnen aus der Hand von bösen Vampiren befreiten. In seinen Augen leuchtete es aber auf. Wie alle Kinder liebte er Geheimnisse. "Wann kommt Mama denn wieder?"
"Morgen. Und dann wird sie euch auch alles erzählen." So blieb es der Gerichtsmedizinerin überlassen, wieviel sie ihrer Familie zumuten wollte.
Bei der Verabschiedung hielt Magitt Kanndras Hand ein wenig länger fest, denn ihr waren die Vermeidungshaltungen der Wächterin durchaus aufgefallen. "Ich empfehle Teufelskralle und eine Tinktur aus Wacholderbeeren und brindisianischer Stinkwurz."
Die Gennuanerin lächelte die alte Frau an. "Ich weiss." Sie war zwar teilweise andere Hausmittel aus ihrer Kindeheit gewohnt, hatte sich aber schon lange auch mit der Vegetation dieses Teils der Scheibe vertraut gemacht. "Sobald ich zuhause bin wird meine Schwester mich sowieso mit ihren Tees und Salben verwöhnen. Du solltest einmal in ihrem Laden vorbei schauen, wenn du in der Gegend bist. Er wird dir gefallen. "Kristers Hexenstübchen" in der Kinkerlitzchengasse 7a."
"Das mache ich. Und... pass gut auf meine Enkelin auf, ja?"
Magitt Wechter ließ sich nicht so schnell etwas vormachen. Kanndra nickte. "Das werde ich."

06.09.2017 20: 36

Araghast Breguyar

Schon als Romulus gestern Nachmittag in sein Büro gekommen war, vorgeblich um in Ruhe gemeinsam eine Pfeife zu rauchen, hatte Inspäctor Kolumbini geahnt, dass sich etwas anbahnte. Und er hatte recht behalten. Nach einigen Rauchringen war Romulus mit seinem Anliegen herausgerückt und lief es auf eines hinaus: Bregs drehte ein großes Ding. Etwas, über das er nicht offen reden konnte und bei dem er die Hilfe von Leuten brauchte, denen er vertraute. Zwar hatte der Kommandeur und alter Freund der beiden RUMler keinerlei konkrete Informationen gegeben, aber Romulus hatte verstohlen einen Namen fallen lassen, der Kolumbini nur allzu ertraut gewesen war. Ophelia Ziegenberger.
Nur zu gut erinnerte sich der Chief-Korporal an die rothaarige Kollegin aus gutem Hause, deren große Einsätze als verdeckte Ermittlerin meistens katastrophal geendet hatten. Die Tatsache, dass sie ständig gerettet werden musste, war in gewissen Kreisen schon zu einer Art Witz geworden. Aufgrund diverser gewaltsamer Vampirkontakte hatte sie im Laufe der Zeit eine Art mentales Leck entwickelt, das besonders für RUM ein schwerer Schlag gewesen war. Unter anderem hatten sie ihr gesamtes System aus Untoten Briefkästen erneuern müssen, weil ein geschäftstüchtiger Vampir diese Informationen einfach aus ihren herumwabernden Gedanken ausgelesen und meistbietend verkauft hatte. Aber wie hätte es auch anders kommen sollen. Schließlich war dies Ankh-Morpork.
Kolumbini gestand sich ein, nicht allzu traurig über ihr plötzliches Verschwinden gewesen zu sein. Bregs' Geschichten, wie sie ihn angelogen hatte, kannte er zur Genüge, und auch wenn er sich nicht so sicher wie sein Freund gewesen war, dass sie ihren Abschied wirklich selbst eingefädelt hatte - Sein Ehrgeiz, sie zu finden, hatte sich in Grenzen gehalten. Er war insgeheim davon ausgegangen, dass der Patrizier nach diversen Fehlschlägen seitens der Wache, das Problem in den Griff zu bekommen, letztendlich Maßnahmen ergriffen hatte. Und Bregs hatte auch endlich wieder eine Sorge weniger gehabt. Die ganze Gedankenleck-Geschichte hatte den Kommandeur an die Grenzen seiner Geduld gebracht. Kolumbini war froh gewesen, dass Ophelia Ziegenberger nun nicht mehr in Araghasts Zuständigkeitsbereich fiel und seinem Freund zumindest eine der vielen Lasten des ungewollten Kommandeurspostens genommen war.
Und so hatte der Chief-Korporal die ganze Angelegenheit in die hinteren Bereiche seines Gedächtnisses verbannt, sich an Mina von Nachtschatten als neue stellvertretende Abteilungsleiterin gewöhnt und einfach seine Arbeit gemacht wie immer - Bis Romulus gestern Nachmittag plötzlich das dringende Bedürfnis nach Gesellschaft beim Pfeife rauchen verspürt hatte.
Wenn alles vorbei ist hat Bregs versprochen, dass er in privater Runde auspackt und dazu einen guten Whisky auf den Tisch stellt, hatte sein langjähriger Freund und Abteilungsleiter gesagt. Ich gehe davon aus, dass du auch eingeladen bist.
Während er auf den Treppenstufen des Tatorts auf die angeforderte FROG-Verstärkung wartete, holte Kolumbini Tasse und Teekanne aus den Tiefen seines MANTELs und schenkte sich einen Tee ein. Romulus hatte bei der Zusammenstellung des Ermittlungstrupps, der derzeit das Haus auf den Kopf stellte, keinen Aufwand gescheut. Außer dem Abteilungsleiter und ihm selbst waren noch der Gefreite Fynn Düstergut als Ermittler und Dagomar von Omnien als Püschologe dabei. Weitere Unterstützung erhielten sie durch gleich drei erfahrene Tatortwächter: Sillybos, Charlie Holm und Olga-Maria Inös. Etwas verloren zwischen den großen Kontingenten von RUM und SuSi wirkte Jargon Schneidgut, der Rechtsexperte von SEALS, aber Kolumbini konnte sich gut vorstellen, weshalb er dabei war. Wenn Bregs etwas einfädelte, wollte er das Recht am Ende ganz klar auf seiner Seite wissen.
Aber was fädelte Bregs genau ein? Eines jedenfalls war klar. Egal wie er auch betont hatte, dass ihm Ophelia Ziegenbergers Verschwinden an den Vier Buchstaben vorbei ging, es war nicht die ganze Wahrheit gewesen. Wer ihn nicht sonderlich gut kannte, hielt Kolumbini für einen zerstreuten Trottel, der sich leicht übertölpeln ließ - Etwas, was er während seiner Ermittlungen oft zu seinem Vorteil ausspielte. Aber Bregs kannte ihn zu gut um auf diese Masche hereinzufallen. Er hatte garantiert damit gerechnet, dass Romulus sich an ihn wenden würde. Und wenn Bregs wirklich Informationen darüber zugespielt worden waren, was mit Ophelia Ziegenberger passiert war und er aus politischen Gründen offiziell nichts darüber wissen durfte - Irgendwie passte es alles zusammen. Bregs' immer noch vorhandenes Pflichtgefühl der Wächterin gegenüber, die ihn von vorne bis hinten belogen hatte. Eine komplizierte Situation die sich nur durch geschicktes Taktieren seinerseits lösen ließ. Der Kommandeur der Stadtwache, der offiziell lediglich auf einen anonymen Hinweis aus der Bevölkerung reagierte.
Kolumbini leerte seine Teetasse und schob sie zurück in den MANTEL. Auch wenn er dieses Mal den Umweg über Romulus und die Whiskyverkostung, die die beiden als Püschologentraining bezeichneten, gegangen war, Bregs hatte ihn noch nie angelogen. Selbst wenn er gerade nicht eingeweiht war - Araghast Breguyar mochte zwar sparsam mit Informationen umgehen, aber er bat seine Freunde nicht grundlos um einen Gefallen, der verdächtig nach einem Komplott roch. Im Laufe der Jahre hatte Kolumbini die Erfahrung gemacht, dass es sich immer lohnte, auf Bregs zu hören, egal wie abstrus die Umstände im ersten Moment erschienen.
Wenn Bregs darum bat, quasi auf Kommando dieses ganz bestimmte Haus im Grüngansweg von oben bis unten zu durchsuchen, dann erledigte er, Chief-Korporal Inspäctor Kolumbini, diese Aufgabe so gründlich wie er nur konnte.
Laut dem Gefreiten Düstergut, der sich um die Vernehmung der Nachbarschaft gekümmert hatte, war gegen zwölf Uhr ein klassischer überwaldianischer Wütender Mob mit wild geschwenkten Fackeln und Mistgabeln in das Anwesen eingedrungen. Der Beschreibung einer sehr gut informierten Nachbarin nach hatte es sich bei den Anführern um zwei klatschianische Assassinen gehandelt, einen Mann und eine Frau. Ebenso sollten eine Vampirin und eine Igorina dabei gewesen sein. Die Angaben über weitere Mob-Mitglieder schwankten und Kolumbini wurde das Gefühl nicht los, je mehr Zeugen Fynn verhörte, desto größer wurde der Mob. In einem Punkt waren sich sämtliche Zeugen jedoch einig: Niemand hatte gesehen, wie der Wütende Mob das Haus wieder verlassen hatte.
Etwa eine halbe Stunde nach der Stürmung hatte die gut informierte Nachbarin beobachtet, wie ein Igor-Ehepaar das Haus verließ. Beide sollten schwere Reisetaschen mit sich geführt haben. Kolumbini hatte diese Information mit einem Nicken zur Kenntnis genommen. Als gebürtiger Überwaldianer und Arbeitgeber eines Igors kannte er die Regeln. Wenn der Wütende Mob das Schloss stürmte, war für ein Mitglied der Igor-Familie der Vertrag mit dem Meister aufgehoben. Sehr geschickt von den Eindringlingen, auf diese Weise die Dienerschaft auszuschalten.
Besitzerin des Anwesens war eine gebrechliche, ältere Dame, die das Haus und das Igor-Ehepaar erst vor kurzem von einer verstorbenen Freundin geerbt hatte. Beim Betreten des Hauses hatten sie sich deshalb alle die Frage gestellt, was sie hier eigentlich wollten, wo es doch offensichtlich keinen Grund für ein Verbrechen gab. Aber Romulus war entschlossen vorausgeschritten und kaum, dass sie das Haus betreten hatten, waren die seltsamen Zweifel verflogen. Sie fanden die sichtlich verstörte Hausherrin in einem Schlafzimmer im Erdgeschoss und ließen sie in der Obhut des Gefreiten von Omnien zurück. Dann widmeten sie sich der ernsthaften Durchsuchung des Hauses. Und was sie hinter dieser nach außen so biederen, bürgerlichen Fassade des Anwesens innerhalb weniger Stunden bereits gefunden hatten, reichte vermutlich, um die Wache wochenlang zu beschäftigen.
Dazu kam noch der Vampir. Sie hatten keine Ahnung, wer er war. Irgendwann war er einfach aufgetaucht, ein faltiges, hässliches, nach jahrhundertealtem Gruftmoder stinkendes Exemplar seiner Art mit einer äußerst dominanten, unangenehmen Aura. Seitdem wanderte er wie ein Schlafwandler durch die Zimmer des Hauses, schimpfte unverständlich vor sich hin, reagierte auf keinerlei Ansprache und warf immer wieder Wächter aus den Zimmern oder starrte sie so lange böse an, bis sie sich wie der niedrigste, unwürdigste Wurm fühlten. Die Wächter waren dazu übergegangen, ihm so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen, um in Ruhe arbeiten zu können. Sie hatten Beweise dafür zu sichern, dass hier etwas nicht mir rechten Dingen zuging, und davon gab es bei genauerem Hinsehen eine Menge. Sowohl in dem geradezu dekadenten Arbeitszimmer, in dem sich Romulus und Korporal Schneidgut gerade durch Berge von Papieren wühlten, als auch im Keller.
Der Keller war auch der Grund, weshalb Kolumbini im schwindenden Tageslicht draußen vor der Tür stand und auf das Eintreffen eines FROG-Trupps wartete. Sillybos, der sich freiwillig zu einer gründlichen Durchsuchung des Weinkellers gemeldet hatte, war unvermittelt in der hintersten Ecke auf eine offen stehende Geheimtür gestoßen. Dahinter erstreckte sich ein unterirdischer Gang, der nach einer Biegung ein ziemlich absonderliches Szenario enthüllt hatte. Auf einem leicht abgesenkten Teilstück des Bodens lagen zahlreiche Konservendosen und es roch eindeutig angebrannt. Kolumbini hatte nicht lange gebraucht um eins und eins zusammenzuzählen: Hier hatte jemand absichtlich eine Falle ausgelöst. Das war der Moment in dem er beschlossen hatte, FROG anzufordern. Sich in einem mit Fallen gespickten Gangsystem mit angeblichen klatschianischen Assassinen anzulegen, war eindeutig ein Fall für die Haudrauf-Truppe.

Eine gute Stunde später befand sich Chief-Korporal Kolumbini kopfschüttelnd auf dem Weg ins Arbeitszimmer im zweiten Stock, um Bericht zu erstatten. Wer auch immer diese unterirdische Anlage gebaut hatte, musste nicht mehr ganz richtig im Oberstübchen gewesen sein. Mitglieder der Heldengilde hätte sicherlich ihre helle Freude daran gehabt.
FROG war schließlich in Form von Leutnant Mambosamba, Korporal Goldwart und der Hauptgefreiten Nyvania aufgetaucht und gemeinsam hatten sie sich an die Erkundung des Gangs hinter dem Keller gemacht. Auch wenn der Leutnant den Eindruck machte, als sei sie erst kürzlich von einem Dach gefallen - Die Frösche, musste Kolumbini zugeben, waren wirklich gut für diesen Einsatz vorbereitet. Korporal Goldwart hatte ein Gerät mit sich geführt, das auf den ersten Blick wie eine Rasenwalze aussah, und Nyvania trug ein Thaumometer bei sich, mit dem sie permanent die magische Hintergrundstrahlung maß.
Hinter dem Haufen Dosengemüse waren sie dem Gang vorsichtig um mehrere Biegungen gefolgt, vorbei an einigen Türen. Bei einer davon schlug das Thaumometer aus, weshalb sie vorerst die Finger davon gelassen hatten. Schließlich kam eine Vier-Wege-Kreuzung, an der mit einer leuchtenden Paste ein Zeichen angebracht worden war. Ein Weg endete schon sehr bald an einer massiven Steinplatte, ein zweiter ließ das Thaumometer erneut ausschlagen und als Leutnant Mambosamba neugierig ihre Fackel in den betreffenden Gang hielt, verlosch die Flamme fast augenblicklich aufgrund von Luftmangel. Der dritte Weg führte erneut an mehreren Türen vorbei. Dann entdeckte Braggasch Goldwart eine weitere Falle und eine halb offen stehende Geheimtür in der Wand, die offensichtlich drum herumführte. Allerdings erwies sich auch dieser Gang letztendlich als Sackgasse und sie hatten immer noch keine Spuren eines Wütenden Mobs oder klatschianischer Assassinen gefunden. Schließlich waren sie hinter einer der Türen fündig geworden. Hinter einer offen stehenden, falschen Wand in einer Werkzeugkammer führte eine enge Wendeltreppe weiter abwärts.
Das zweite Untergeschoss bescherte ihnen weitere verschüttete und zugemauerte Gänge sowie eine offen stehende Fallgrube. Neugierig hatten sie eine Laterne an einem Seil hinuntergelassen, doch der arme Teufel, dessen Skelett auf den Pfählen am Boden der Grube steckte, lag offensichtlich schon eine ganze Weile dort. Der einzige offene Gang, in dessen Wand noch eine von Korporal Goldwart offensichtlich für sehr faszinierend befundene Kreissägenfalle steckte, führte schließlich zum Ziel, das sich als unterirdische Wohnung der äußerst speziellen Art entpuppte. Mehrere Zimmer der Anlage waren offensichtlich als Gefängniszellen gedacht, zumindest ließ die Anzahl der Schlösser an den Türen das vermuten. Interessanterweise wirkten zwei davon, als wären sie erst kürzlich verlassen worden. Bei dem mit einer schäbigen, roten Tapete ausgestatteten Raum waren die Schlösser mit roher Gewalt herausgebrochen worden und ein Durcheinander von Messern verschiedenster Art bedeckte beinahe den gesamten Boden. Das zweite Zimmer enthielt unter anderem eine edle Frisierkommode mit Spiegel und ein großzügiges Sortiment an Kräutern und Alchimiezubehör. Hier war es auch, wo Leutnant Mambosamba die Quittung gefunden hatte. Eine Inhumierungsbescheinigung der Assassinengilde, ausgestellt auf einen gewissen Sebastian von und zu Perez, wer auch immer das war. Von einer zur Quittung gehörenden Leiche, die vielleicht Klarheit hätte bringen können, gab es jedoch keine Spur.
Die weiteren Zimmer trugen auch nicht dazu bei, Kolumbinis Meinung von der Hausbesitzerin in ein positives Licht zu rücken. Sie fanden eine Art Labor, das den Chief-Korporal verdächtig an die Gerichtsmedizin im Wachhaus erinnerte, eine mit Eis gefüllte Kammer, einen vornehmen Herrensalon sowie eine Vorrichtung, die offensichtlich zum langsamen mürbe machen von Gefangenen diente. Während die Wächter noch dabei waren, den Käfig und den darunter liegenden, derzeit abgedeckten Schacht genauer zu untersuchen, wehte plötzlich eine Welle von Kälte und Dominanz durch das Stockwerk. Kurz darauf erklang ein dumpfes, steinernes Scharren. Weitere Untersuchungen führten zur Entdeckung einer Gruft am hinteren Ende des Komplexes, doch niemand verspürte das Bedürfnis, sie zu betreten, während ihr Bewohner mit seiner Aura die Umgebung vergiftete. Kolumbini war das nur recht. Solange der alte Vampir in seiner Kiste lag und in Ruhe gelassen wurde, störte er die Ermittlungen nicht weiter. Ansonsten trafen sie jedoch auf niemanden. Wohin sich der Wütende Mob nach der anscheinend erfolgreichen Inhumierung mitsamt der Leiche abgesetzt hatte, blieb weiterhin unklar.

Als Kolumbini das Arbeitszimmer betrat, fand er Romulus dort allein zwischen mittlerweile stark angewachsenen Dokumentenstapeln vor.
"Fred." begrüßte ihn der RUM-Abteilungsleiter. "Gut, dass du kommst. Du kannst dir nicht vorstellen, was wir eben gefunden haben."
Mit diesen Worten hielt sein Freund und Abteilungsleiter ihm ein Dokument unter die Nase.
Kolumbini las mit gerunzelter Stirn. Es war ein Abkommen zwischen einem Mensch und einem Vampir, unterzeichnet von eben jener Person, deren Inhumierungsquittung sich in einer Beweistüte in seiner Hand befand. Der zweite Name unter dem Dokument ließ ihn jedoch erstaunt inne halten. Enaga Mim (gen. Magane) Schnitzer, geb. Drachenzüchtertochter, verw. Schneyderin stand dort geschrieben. An das Dokument angeheftet waren aus der Nähe aufgenommene Ikonographien mehrerer Kinder.
Romulus sah ihm über die Schulter.
"Lass uns Pause machen und eine Pfeife rauchen." schlug der Oberfeldwebel vor. "Ich denke, die Ermittlungen in diesem Fall werden noch sehr kompliziert werden."
Kolumbini stimmte mit einem Nicken zu.
"Bregs, der alter Fuchs." sagte er so leise, dass nur die Ohren des Werwolfs es hören konnten. "Über welche Kanäle auch immer er von dem geplanten Mob-Überfall Wind bekommen hat - er hatte mal wieder exakt den richtigen Riecher. Hier gibt es einiges ans Tageslicht zu zerren."
"Nur Wind bekommen?" antwortete ihm Romulus ebenso leise und hob vielsagend eine Augenbraue. "Ich bin mir ziemlich sicher, dass Bregs an dem Mob nicht ganz unschuldig ist. Er wusste, wo Magane steckte, konnte aber niemandem etwas nachweisen. Also hat er unter der Hand Maßnahmen ergriffen und ein Geschäft mit der Assassinengilde ausgehandelt. Sie bekommen ihre Inhumierung etwas stilvoller, er bekommt einen Vorwand, die Wache hier alles durchsuchen zu lassen." Er senkte die Stimme noch etwas weiter. "Und dabei vielleicht auch Hinweise über den Aufenthaltsort von Ophelia Ziegenberger zu finden."
"Und wie ich gesehen habe, lohnt es sich?"
"Und wie es sich lohnt." Romulus wies auf die Papierstapel. "Das Haus gehört in Wirklichkeit einem gewissen Racul Alexeij Sargolan Pada Ivanowitsch dem Dritten von Ankh. Ich nehme an, das ist der alte Vampir mit der üblen Aura, der hier vorhin herumschlich. Wo ist er eigentlich abgeblieben?"
"Besagter Herr hat sich in seine Gruft verkrochen und schmollt dort wahrscheinlich." erklärte Kolumbini knapp.
Romulus atmete erleichtert auf. "Sehr gut. Seine Präsenz war auf Dauer schwer zu ertragen. Jedenfalls scheint dieser Herr von Ankh eine ganze Abfolge von alten Damen hier im Haus einquartiert zu haben, die das Anwesen angeblich immer von der jeweils verstorbenen Vorgängerin geerbt haben."
Kolumbini nickte. "Eine effektive Tarnung. Der größte Teil der Gesellschaft hält nette, alte Damen immer noch für die harmlosesten Wesen auf der Scheibenwelt. Niemand vermutet da einen privaten Folterkeller mit Fallenlabyrinth unter ihrem Haus."
Jetzt war es an Romulus, erstaunt dreinzuschauen.
"Folterkeller?"
Kolumbini nickte. "Lass uns rauchen gehen. Dann erzähle ich dir alles."

06.09.2017 20: 46

Senray Rattenfaenger

Wilhelm lief mehr als nur gut gelaunt in Richtung der Dienstelle der DOG. Sie hatten es hinter sich, der Einsatz war geglückt. Ophelia war in Sicherheit. Damit würde er hoffentlich von dem Teil des Paktes befreit sein, der eine wirkliche Einschränkung dargestellt hatte. Solange der Dämon Wort hielt. Diese Sorge war noch wie eine dunkle Wolke in seinen Gedanken, allerdings war der Vampir gewillt, sie für den Augenblick zur Seite zu schieben.
Oberfeldwebel Feinstich hatte ihn von sich trinken lassen – und was für eine seltene Delikatesse sie doch gewesen war! Es steckte so viel mehr in ihr, als ein flüchtiger Blick vermuten ließ.
Einen kurzen Moment drifteten seine Gedanken erneut zu ihr im Bett. Es schien mittlerweile so lange her zu sein, sollte es Wirklichkeit sein, dass nicht mehr als ein Monat vergangen war?
Allerdings verweilte er nicht bei dieser Erinnerung, sondern kam sofort zu etwas frischerem. Hannas durchaus überschwängliche Begrüßung, als er nach Dienstschluss zu ihr in den Laden gegangen war. An einem anderen Tag wäre es fast etwas aufdringlich gewesen, heute jedoch war es ihm mehr als willkommen und passte zu seiner Hochstimmung. Fast war es bedauernswert, dass er nicht mehr Zeit für sie gehabt hatte. Allerdings würde sich Senray wahrscheinlich Sorgen machen.
Er gab einen leisen, glücklichen Seufzer von sich. Er hatte frisches Essen von einem guten Achaten auf dem Weg besorgt und wollte die junge Frau damit überraschen. Sicher hatte sie noch nicht zu Abend gegessen. Und er musste ihr so viel erzählen! Außerdem hatte sie sich garantiert selbst verrückt gemacht vor Sorgen. In dem Zustand wollte er sein kleines Vogelherz nicht länger als nötig allein lassen.
Zumal sie nicht wusste, dass er direkt zu ihr ins Boucherie kam! Er hatte beschlossen, es lieber als Überraschung zu belassen. So waren eventuelle Wartezeiten beim Achaten nichts, was ihn belasten mussten. Und er freute sich viel zu sehr auf ihre Reaktion, wenn er vor ihrer Bürotür stehen würde.
Ah, und das Gebäude war bereits in Sicht! Hm, noch konnte er Senrays Herzschlag nicht hören. Aber spätestens wenn er Innen war...
Mit einem lockeren Grinsen auf den Lippen betrat er diese sehr eigene Dienststelle der Wache und grüßte die Damen im Untergeschoss, ehe er schnellen Schrittes die Treppe erklomm. Erst auf dem Flur wurde er schließlich langsamer, das Grinsen verschwand von seinen Lippen und seine Stirn legte sich in Falten.
Immer noch kein Herzschlag. Im Gebäude, einige, sicherlich. Aus dem Untergeschoß von den Damen und ihren Kunden, hier und im zweiten Stock einige die wohl zu den restlichen Mitgliedern von DOG gehören mussten. Doch der Herzschlag seines Vogelherzens, diese Melodie, die er mittlerweile so gut kannte und sicher war, immer zu erkennen – ausgerechnet der fehlte! Mit einem nun fast mulmigen Gefühl trat er an ihre Tür. Nichts. Als er die Klinke herunterdrückte musste er feststellen, dass abgesperrt war.
Also war sie gegangen? Wohin? War sie am Ende gerade auf dem Weg zu seiner Wohnung? Oder... war etwas passiert? Sicher war sie nicht ausgerechnet jetzt in einem Einsatz.
Einen Moment länger betrachtete der Vampir die verschlossene Tür, dann platzierte er das frische Essen vom Achaten vorsichtig davor. Er würde schnell die Damen unten fragen, sicher hatten die etwas mitbekommen. Sollte er danach gleich auf die Suche nach seinem verschollenen Vogelherzen gehen, wollte er die Hände frei haben.
Auch dieses Mal nahm er die Stufen schneller und stellte sich dann bewusst entspannt vor den Tresen, hinter dem die beiden Zwillinge demonstrativ überrascht zu ihm aufsahen. Irgendwie schienen immer diese Beiden hier vorne zu sein, wenn er zu Senray kam.
Eine von ihnen beugte sich leicht vor. "Schon zurück, Süßer? Wolltest du heute wohl doch lieber jemand Erfahreneren als unser Zuckerstück dort oben, hm?"
Sie lächelte ihn anzüglich an und ihre Schwester kicherte. "Oder ist es eher, dass dein Vögelchen ausgeflogen ist, hm? Sind wir also heute deine zweite Wahl, Herzchen?"
Wilhelm fühlte sich einen Moment fast ertappt. Woher wussten die beiden, wie er Senray nur zu gern zumindest gedanklich nannte? Aber noch während ihm kam, dass es nichts weiter als die normale Redewendung war, war der wichtigere Teil der Botschaft sehr präsent angekommen. Sie war nicht im Haus – und die Damen vor ihm wussten wohl wirklich mehr darüber.
Er lächelte unverbindlich. "Ihr wisst nicht durch Zufall, wohin Senray unterwegs war. Oder? Und wann ist sie aufgebrochen?"
Die beiden sahen einander an und eine seufzte betont. "Er will uns nicht. Ãœberleg dir das Mal, Monique!"
Die Andere erwiderte ihren Blick. "Ich weiß, ich weiß. Und er hat nicht einmal die versprochene Schokolade dabei." Auch sie seufzte betont, dann wandte sie sich wieder Wilhelm zu. "Du hast sie knapp verpasst, Süßer. Sie ist vor... hm, ich denke zehn Minuten? Was denkst du, Tina?"
"Ja, das dürfte ungefähr hinkommen, vielleicht etwas mehr würde ich sagen."
Monique nickte leicht. "Nun, da ist sie an uns vorbei gekommen."
Der Vampir nickte. Er ging sicherheitshalber nicht auf die Sache mit den versprochenen Pralinen ein, machte sich aber eine geistige Notiz, sie beim nächsten Mal wirklich mit zu bringen. Er wollte es sich nicht mit den beiden Schwestern verscherzen, wo er doch so oft an sie geriet in letzter Zeit. "Und wisst ihr auch, wohin sie ist? Hat sie irgendetwas gesagt?"
Die Zwillinge schüttelten unisono den Kopf, ehe wieder Monique das Reden übernahm. "Nichts, außer, dass sie später wieder kommen wollte. Aber wie spät kann ich dir nicht sagen."
"Oh, schau nicht so, Herzchen!", rief da Tina aus. "Das kommt nun mal davon, wenn man zu spät kommt. Aber mach dir keine Sorgen, unsere Kleine ist eine treue Seele. Die sucht sich nicht so schnell einen Neuen." Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu und lachte.
Monique nickte zustimmend. "Wohl wahr. Wobei sie natürlich heute ihre Haare besonders zurückgesteckt hatte und ganz niedlich aussah, mit Rock und allem. Fast damenhaft. Wer weiß also, was der Abend bringen wird? Vielleicht solltest du sie doch besser suchen, Süßer. Bevor ein anderer charmanter Mann dir zuvorkommt, hm?" Sie lehnte sich auf ihren Ellbogen und auch sie zwinkerte ihm zu.
Wilhelm nickte und lies das Grinsen wieder auf seine Lippen, wobei er ein kleines bisschen Fangzahn erahnen ließ. Nur den Hauch der vampirischen Idee, aber genug, dass sie es wahrnehmen würden.
"Danke, meine Damen! Ich begebe mich dann mal auf die Jagd nach meiner verschollenen Herzensdame." Er wandte sich zum Gehen, dann hielt er nochmal inne. "Sollte Senray in der Zwischenzeit zurückkommen..."
"Geben wir ihr Bescheid, dass du da warst und wieder kommst.", beendeten die Schwestern seinen Satz.
Er nickte und trat durch die Tür.

Senray betrachtete leise seufzend die Wände der Häuser um sie herum. Nachdem sie und Glum zurückgekommen waren hatte sie noch einige weitere Informationen erhalten und dann versucht, sich hinzusetzen und sich weiter um ihren Papierkram zu kümmern. Allerdings hatte sie es Innen nicht ausgehalten. Sie hatte sich dennoch dazu gezwungen, selbst nach Dienstschluss noch etwas fertig zu machen. In der stillen Hoffnung, so vielleicht eine Nachricht zu erhalten.
Schließlich war es aber nicht mehr gegangen und sie hatte alles stehen und liegen lassen und war aufgebrochen. Die junge Frau hatte selbst nicht gewusst wohin. Es war nicht so, dass sie ein wirkliches Ziel hatte.
Solange sie sich nicht vollkommen sicher war, dass sie Wilhelm dadurch nicht gefährdete, konnte sie nicht in ihre Wohnung gehen. Und zu ihm...
Frustriert wandte sie sich ab. Nicht schon wieder! Ihre Gedanken kreisten schon wieder um genau das gleiche Thema! Bei den Göttern, war das wirklich alles? War sie wirklich schon so weit, dass sie sich so in Selbstmitleid ergeben wollte, weil sie heute Nacht im Büro schlafen würde? Nicht das erste Mal immerhin! Und es gab so viel anderes, so viel Wichtigeres!
Allerdings hatte Senray immer noch keine Nachricht über Ophelias oder Maggies Zustand oder überhaupt von irgendwem bekommen. Aber sie war nun mal auch wirklich kein wichtiges Mitglied der Truppe gewesen und sie versuchte sich selbst zu erklären, dass keine Nachrichten gute Nachrichten waren. Wäre jemand von den Anderen schwer verletzt worden oder gestorben hätte das sicher die Runde gemacht, selbst bis zum Boucherie. So jedoch hieß es, dass zumindest der Plan mit der Geheimhaltung der Aktion aufgegangen war. Und entsprechend musste sie sich einfach nur gedulden.
So weit, so gut - und letztlich doch nur einfach gesagt, nicht jedoch getan.
Die Obergefreite betrachtete die nächste Hauswand auf ihre Erkletterbarkeit. Eigentlich stand ihr der Sinn nach einer Herausforderung. Aber wenn sie abrutschte... nein. Sie würde nicht Wilhelm gefährden. Also noch etwas weiter gehen, es gab genug einfach zu besteigende Häuser. Und das sie auf eines der Dächer wollte und einfach ihre Ruhe, das war so ziemlich das Einzige, dessen sie sich für den Moment sicher war.
Senray holte ihre Hand aus der Jackentasche, um sich eine lose Haarstähne aus dem Gesicht zu streifen. Hatte sie vergessen, ihre Haare wieder normal zurück zu binden?
Plötzlich riss etwas kurz an ihrem Arm und sie spürte ein leichtes Gewicht daran hängen. Senray unterdrückte gerade so den Aufschrei und blieb stattdessen angewurzelt stehen. Vorsichtig streckte sie den Arm von sich und sah nach, was gerade gegen sie geflogen war.
Kleine, schwarze Knopfaugen blickten ihr entgegen und sie meinte ein begeistertes Funkeln in ihnen auszumachen. Die Fledermaus hing kopfüber an ihrem Arm herunter, betrachtete eingehend Senrays Gesicht und hangelte sich dann einen Schritt näher an ihrem Ärmel entlang.
Die junge Frau blinzelte erst überrascht, dann meinte sie die Fledermaus zu erkennen. "Wilhelm?"
Ein leichtes, erfreutes Flügelflattern. Sie atmete auf. "Was machst du hi-Wilhelm!"
Noch während sie ihn angesprochen hatte, hatte die Fledermaus plötzlich ihre Krallen gelöst und war zu Boden gestürzt. Senray streckte reflexartig die Arme nach vorne, um ihn aufzufangen. Doch anstatt einer fallenden Fledermaus kniete nach einem sekundenbruchteil verwirrenden Flimmerns Wilhelm vor ihr.
Der Vampir grinste sie an, sah aus seiner knienden Position zu ihr auf, auf ihre offenen, ausgestreckten Arme. Und schon nutze er ihre Haltung und schloss sie selbst in seine Arme, zog sie an sich. Senray war im ersten Moment zu überrascht, um zu reagieren. Und auch danach merkte sie selbst, dass sie sich nicht voll darauf einließ. Stattdessen fühlte sie sich starr, unsicher.
Wilhelm hielt sie vorsichtig von sich und sein Strahlen war immer noch ungebrochen. "Es ist alles gut gegangen! Wir sind alle heil rausgekommen! Auch Ophelia! Und Magane."
Erst jetzt, bei diesen erlösenden Worten, merkte Senray, wie viel sich über den Tag bei ihr angestaut hatte. Wie sehr sie sich wirklich nach genau diesen Worten gesehnt hatte. Wie viel Angst sie gehabt hatte, die ganze Zeit über.
Auf einen Schlag schien eben diese ganze Anspannung aus ihr zu weichen. Tränen liefen ungehindert ihr Gesicht hinab, ehe sie wirklich realisierte, dass sie weinte. Dann versuchte sie, sich darauf zu konzentrieren, es in den Griff zu bekommen. Bei den Göttern! Sie konnte doch nicht schon wieder, ausgerechnet vor Wilhelm... Aber alles was sie erreichte, war, dass sie Schluckauf bekam.
Verzweifelt hicksend sah sie ihn an. "Es tut mir –hicks- Leid! Ich,... ich..."
Wilhelm hatte sie die ganze Zeit über betrachtet und einen kurzen Moment hatte sie Sorge in seinen Augen aufflackern sehen. Nun nahm er vorsichtig seine Hände hoch und legte sie auf ihre Wangen, wischte ihr zärtlich die Tränen weg. Senray atmete tief ein, genoss seine sanfte und achtsame Berührung und errötete.
Er lächelte sie an. "Pscht. Ruhig."
Die junge Frau nickte zaghaft unter seinen Händen und er grinste wieder breiter.
Ein ziemlich eindeutiger Pfiff weckte Senrays Aufmerksamkeit und plötzlich wurde sie sich der kleinen Versammlung abendlicher Passanten bewusst, die um sie und Wilhelm herum standen. Wann waren die alle stehen geblieben? Und was...
"Sag ja, Mädel!", rief irgendwer hinter ihr. Senray spürte wie ihre Wangen noch heißer wurden, verborgen durch Wilhelms Hände musste sie jetzt tiefrot sein. Jemand anders zischte: "Pscht! So kann man ja gar nichts verstehen! Ich glaube er hat den Antrag noch nicht fertig! Ich sehe jedenfalls keinen Ring!"
Senrays Herz beschleunigte und sie sah hilfesuchend zu dem Vampir vor sich. Der sie nur angrinste. Natürlich. Er konnte so unmöglich sein! Der Schalk stand ihm deutlich in den Augen, als er sie seinerseits aufmerksam betrachtete. Dann stand er vorsichtig auf, wischte ihr die letzten Tränenspuren von den Wangen und beugte sich vor zu ihr.
Seine Lippen waren dicht an ihrem Ohr, als er flüsterte: "Im Boucherie wartet ein kleines Picknick auf dich. Möchtest du etwas essen? Du brauchst nur ‚Ja!‘ zu sagen."
Senray meinte, das leise, unterdrückte Lachen in seiner Stimme und zuhören und die junge Frau musste selbst leise lachen. "Ja, gerne! Das klingt sehr gut!"
Allgemeiner Applaus der Passanten ertönten zusammen mit einigen Glückwünschen und Senray errötete doch noch etwas mehr. Dabei wurde sie sich auch Wilhelms Nähe wieder bewusster und des warmen Gefühls in sich. Geborgenheit. Konnte man es so nennen? Oder... Glück? Zufriedenheit? Hoffnung.
Sie lächelte ihn verlegen an und er reichte ihr grinsend seinen Arm. Erneut entwich ihr ein leises Lachen, ehe sie sich bei ihm unterhackte und sich von ihm zurückführen ließ. "Sag mal, Senray... Seit wann trägst du eigentlich einen Rock?", fragte Wilhelm neckisch von der Seite, als sie losgingen.
Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie nicht nur ihre Haare nicht aus der Frisur gelöst hatte, sondern sich wirklich gar nicht umgezogen hatte.
"Ich... das...", stammelte sie und schüttelte leicht den Kopf.
Sie hatte eben noch auf ein Dach gewollt! Natürlich wäre es nicht das erste Mal gewesen, dass sie im Rock geklettert wäre – dennoch! Wo war nur ihr Kopf gewesen? Wie gut, dass sie jetzt für den Moment keine Klettertouren mehr brauchte, um zu sich zu kommen.

Das Essen vom Achaten war nur noch lauwarm. Doch allein der Duft reichte, um Senray das Wasser in den Mund zu treiben. Erst jetzt war ihr bewusst geworden, wie hungrig sie eigentlich war. Das wiederum war kein Wunder, sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr zu sich genommen.
Genüßlich sog sie noch eine Nase des Duftes ein, ehe sie weiter räumte. Ihr Büro war einfach nicht darauf ausgelegt, dass sie Besuch erhielt. Erst Recht nicht zum Essen!
Etwas verzweifelt blieb sie mitten im Raum stehen und sah sich um. Wilhelm lachte leise hinter ihr und sie drehte sich mit zusammengezogenen Augenbrauen um.
Der Vampir grinste sie an. "Meine Wohnung hat schon seine Vorzüge, nicht wahr?" Dann lachte er nochmal leise. Gerade als Senray etwas erwidern wollte, deutete er jedoch auf die Sitzkissen, die Maggie und sie sonst immer nahmen.
"Was spricht gegen die? Vielleicht mit dem Rücken zum Bett."
Einen Moment zögerte die Obergefreite, dann nickte sie und räumte eine Fläche vorm Bett frei. Wilhelm brachte die Kissen und das Essen und die beiden setzten sich nebeneinander.
Er grinste sie wieder an. "Deine Wahl!" Damit hielt er ihr die leicht geöffneten Packungen mit Nudeln, Gemüse und Huhn hin. Der Duft wurde immer verlockender.
Senray zögerte einen Moment und sah sich um, dann sah sie verlegen zu Wilhelm. "Und wo ist das..."
Er hielt ihr zwei Essstäbchen hin. "Suchst du die hier?"
Der Schalk war wieder so deutlich in seinen dunklen Augen ablesbar, dass sich die junge Frau automatisch fragte, was er ausgeheckt hatte. Oder spekulierte er nur darauf, dass sie nicht wusste, wie sie mit Stäbchen essen konnte? Während sie nach diesem Essbesteck griff, kam ihr ein Gedanke und Senray brach plötzlich in leises Lachen aus.
"Tut mir leid.", sagte sie auf Wilhelms neugierigen Blick hin. "Nur... das ausgerechnet du, ich meine... als Vampir, mir kleine Pflöcke zum Essen reichst." Sie musste immer noch kichern über die Absurdität und Wilhelm fiel mit in ihr Lachen ein.
"Daran habe ich in diesem Fall nicht einmal gedacht." Er grinste sie an. Einen kurzen Augenblick meinte sie ein Flackern in seinem gelösten Gesicht zu sehen, dann deutete er mit seinen Stäbchen auf ihr Essen und machte eine gespielt ernste Miene. "Aber weißt du denn überhaupt, wie du damit umgehen musst?"
Senray sah ihren Gegenüber herausfordernd an. "Aber natürlich weiß ich das!" Sie hielt die Stäbchen demonstrativ in ihrer Rechten und setzte dazu an, sich etwas Essen aus der Schachtel zu fischen. Blitzschnell waren Wilhelms eigene Stäbchen im Weg und einen Augenblick später sog er die Nudel genüsslich ein.
"Hmmm. Wie war das?" Er lehnte sich zurück und grinste.
"Du!" Wieder setzte die junge Frau an – und wieder kam ihr der Vampir zuvor.
Als er sie ein drittes Mal spielerisch so ihrer Nudeln beraubt hatte, knurrte ihr Magen laut und zeigte so viel zu deutlich, wie hungrig sie wirklich war. Wilhelm wurde sofort etwas ernster und reichte ihr die noch unangerührte Packung Nudeln.
"Senray." Sein Blick war eindringlich, während sie das Essen entgegen nahm und versuchte, sich nicht sofort darauf zu stürzen. "Wann hast du das letzte Mal gegessen?"
Sie fühlte sich ertappt und allein deswegen sah die Verdeckte Ermittlerin ihn fast trotzig an. "Ist das so wichtig?"
"Natürlich ist es das! Wenn du nicht isst dann-"
"Und wann hast du das letzte Mal gegessen? Ich meine..."
Wilhelm starrte sie für einen Moment überrascht an. Damit hatte er offensichtlich nicht gerechnet. Senray selbst war sich nicht vollkommen sicher, ob sie die Frage wirklich beantwortet haben wollte oder nicht. Allerdings hatte sie das Gespräch mit Raistan heute daran erinnert, dass es für Wilhelm wichtig war, dass er Blut trank. Es war wie für sie Essen. Ohne ging nun einmal nicht.[20] Und sie hatte sich plötzlich gefragt, ob er vielleicht ihr zu liebe die letzten Tage gefastet hatte. Sie waren so viel zusammen gewesen, dass keine echte Gelegenheit für ihn bestanden hatte, richtig zu ... essen. Trinken. Was er eben musste. Und er wusste, wie viel Angst sie eigentlich vor Vampiren hatte. Senray konnte sich also sicher sein, dass er dankenswerterweise nicht vor ihr seine eigentliche Mahlzeit einnehmen würde.
Der Mann neben ihr räusperte sich. "Das weißt du doch, Senray. Ich habe mit dir gefrühstückt und..."
"Du weißt, dass ich nicht das meine."
Er sah sie einen Moment nachdenklich an, dann nickte er. "Aber willst du das wirklich hören?"
"Ich...", sie zögerte. "Nicht ... In Details oder so. Ich will nur wissen... dass du, naja, versorgt bist. Und auf dich aufpasst. Du musst nicht... Ich weiß nicht, du musst nicht wegen mir auf irgendwas verzichten oder so."
Plötzlich kam ihr der Gedanke albern und abstrus vor und es war ihr geradezu peinlich, dass sie mit dem Thema angefangen hatte. Was dachte sie sich eigentlich?
Schnell schob sie hinter: "Ah, weißt du was, vergiss es einfach. Ich... Ich weiß gar nicht, warum ich..."
Aber Wilhelms Hand legte sich ganz vorsichtig auf ihren Arm und der Blick seiner braunen Augen suchte ihren. "Du meinst das ernst, nicht wahr, Senray? Es stört dich nicht? Das ich Blut trinke."
Sie sah ihn an und errötete etwas. Warum wurde ihr immer, wenn sie ihm in die Augen sah, bewusst, dass ihr Herz schneller schlug als sonst?
Die junge Frau schüttelte leicht den Kopf. "Nein, es... es stört mich nicht. Ich meine, ich will wirklich nicht... also, ich muss nicht wirklich... mehr darüber wissen. Ich weiß nicht. Es ist irgendwie... aber, ich weiß, dass es für dich wichtig ist. Und du würdest doch niemals gegen Jemands Willen sein Blut trinken, oder?"
Sein Unglaube wandelte sich langsam in ein erleichtertes Strahlen. "Nein, natürlich nicht! Da musst du dir keine Sorgen machen."
Senray nickte. "Dann ist es kein Problem für mich."
"Dann kann ich dich meinerseits ehrlich beruhigen.", sagte er mit einem fast feierlichen Grinsen. "Ich habe heute Morgen gut getrunken und nach dem Einsatz ebenfalls. Ich bin also mehr als versorgt."
Die DOG atmete auf. "Das ist gut." Dann zögerte sie. "Uhm... Zweimal? Brauchst du... ich meine, brauchst du so viel?"
Wilhelm spielte kurz nachdenklich mit seinen Essstäbchen, dann sah er wieder auf. "Nein, eigentlich nicht. Und ich brauche auch nicht jeden Tag frisches Blut."
"Aber warum dann heute? Ist bei dem Einsatz etwas passiert?" Sie konnte die neue Sorge nicht aus ihrer Stimme heraushalten.
Er lächelte sie an. "Es geht mir gut. Aber ja, du hast Recht."
Der Vampir hielt sie auf, ehe Senray nachhacken konnte. "Iss du und lass mich erzählen. Allerdings werde ich von vorne anfangen!" Er zwinkerte ihr zu und die junge Frau nickte errötend.
Wilhelm veränderte seine Sitzposition etwas, so dass er sie besser ansehen konnte, während er sprach. Auch Senray passte ihre Haltung an, jedoch eher unbewusst.
Während er erzählte, aß sie ihre Nudeln bis auf den letzten Rest komplett auf. Sie konnte sich einige Zwischenfragen nicht verkneifen. Doch diese unterband Wilhelm, indem er ihr eine Stäbchenladung Nachschub nach der Anderen verlockend dicht vor die Nase hielt. Und wartete, bis sie schließlich nicht mehr wiederstehen konnte und auch seinen Teil der Nudeln so mitaß. Sein Grinsen dabei war mehr als genug, um der jungen Frau die Röte ins Gesicht zu treiben und ihren Puls zu beschleunigen. Was er wiederum zu genießen schien. Ansonsten fesselten seine Worte sie zu sehr, als das sie ihn unterbrochen hätte. Etwas untypisch für Wilhelm war, wie gestenreich er erzählte. Doch die Verdeckte Ermittlerin vermutete, dass das mit der Aufregung zu tun hatte, die er an diesem Tag erlebt hatte. Und was alles gewesen war!
Als er zum finalen Kampf kam, vergaß Senray beinahe das Weiteressen. Und als er ihr erzählte, wie er wortwörtlich in Raculs Klauen geraten war und dieser ihm den Arm zerquetscht hatte, fühlte sich die Wächterin beinahe krank.
Der Vampir schaffte es sie effektiv abzulenken, in dem er zum einen darauf verwies, dass es ihm jetzt dank seiner Selbstheilungsfähigkeiten und der Blutspende durch Oberfeldwebel Feinstich blendend ginge. Und zum anderen in dem er den Nachtisch auspackte und Senray ein Honigbananenbällchen in den Mund schob.
Es war schwer, beunruhigenden Gedanken nachzuhängen, während sich der köstliche, süße Geschmack langsam ausbreitete und ihre Aufmerksamkeit forderte. Senray schloss die Augen und genoss jedes bisschen davon. Sie selbst gönnte sich fast nie einen Nachtisch, wenn sie einmal beim Achaten war. Auch sonst eigentlich nicht, wenn sie ehrlich zu sich selbst war.
Wilhelm lachte leise neben ihr. "Habe ich nicht gesagt, dass er gut ist? Nachher musst du die Mohnbällchen probieren."
"Hm.", machte sie und lies die Augen noch einen Moment geschlossen, um die letzten Reste des Honig-Bananen-Geschmacks wirklich zu genießen.
Wilhelm lachte wieder leise, ehe er damit fortfuhr, zu erzählen.
Von dem Kampf. Minas Einfall und was er bedeutete. Raculs so dargebrachter Niederlage. Und wie sie alle schließlich dort hinaus gekommen waren, einschließlich Ophelia und Magane. Sicher und nach einem kleinen Snack für ihn, auch alle wieder soweit wohlauf. Zumindest alle Mitglieder der Rettungseinheit. Er verheimlichte ihr nicht, dass es Ophelia nicht wirklich gut ging und auch Magane nicht mehr gesund aussah. Aber sie waren jetzt in Sicherheit und damit konnten Heilung und Genesung wirklich beginnen.
Er endete damit, dass er ihr von der zum Schein zu Ende gebrachten Streife erzählte.
"Und wie war dein Tag?" Lächelnd nahm er ihr die leere Nudelpackung ab und schob die Schachtel mit dem Nachtisch näher.
Senray betrachtete die süßen Köstlichkeiten und zog unbewusst die Unterlippe ein und begann, darauf herum zu kauen. Ehe Wilhelm ihr die Packung direkt hinhielt. "Na, na! Nimm lieber eines hiervon."
Errötend hörte sie auf und nahm sich wirklich noch eines der Bällchen. "Hm."
Der Vampir grinste und stellte die Packung wieder ab. "Du hattest wirklich Hunger, hm? Jetzt sei ehrlich – hast du seit dem Frühstück etwas gegessen, Senray?"
Sie zögerte nicht einmal, sondern schüttelte nur den Kopf.
Er sah sie an, Schalk und Ernsthaftigkeit schienen in seinen Zügen um die Vorherrschaft zu ringen. Der Schalk gewann. Deutlich.
"Nun, dann wäre das geklärt." Er sah sie mit weit hochgezogenen Brauen an.
"Da du offensichtlich nicht für dich allein sorgen kannst, wenn ich nicht da bin, bleibst du fürs Erste bei mir. Bis ich mir sicher sein kann, dass du mir nicht gleich verhungerst, ohne meine Kochkünste."

Wilhelm betrachtete Senray aufmerksam und neugierig. Ihre erste Reaktion war die noch vorhersehbare gewesen – sie war errötet und ihr Puls hatte sich beschleunigt. Eine köstliche Antwort, die ihm durchaus Freude bereitete!
Die daraufhin folgende verbale Version wartete er nun jedoch gespannt ab.
Senray schluckte und sah ihn mehr als nur etwas unsicher an. "Wilhelm, ich... Das..."
Er musste lachen und Senray brach ab.
"Tut mir Leid.", sagte der Vampir, immer noch leise lachend. "Nimm das eben nicht zu ernst. Du bist tatsächlich herzlich zum Abendessen zu mir eingeladen, so oft du willst und mein Dienstplan es zulässt. Auch wenn ich eine Vorankündigung brauche, um etwas vorbereiten zu können. Es wäre doch unschön, wenn du in der Hoffnung auf ein köstliches Mahl kommst, und ich bin abwesend. Aber..."
Er zögerte nur kurz und suchte Senrays Blick, ehe er fortfuhr. "Ich denke, wir sind beide erleichtert, wenn du nicht mehr darauf angewiesen bist, von mir in den Schlaf geschickt zu werden."
Sie nickte und ein trauriges Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Die junge Frau senkte den Blick und Wilhelm hätte beinahe geseufzt.
"Das ist kein...", er sucht kurz nach dem richtigen Wort, "kein Vorwurf oder irgendetwas an dich, Senray! Und das weißt du. Es ist nicht deine Schuld und ich habe dir das Angebot gemacht."
"Ich... Ich weiß, tut mir Leid.", sie schluckte und sah kurz auf ihre Hände, ehe sie ihn wieder direkt ansah. "Und ich bin wirklich froh, wenn ich dir nicht mehr zusätzliche Arbeit bereite und zur Last falle! Und ich bin dir wirklich dankbar für das, was du bisher für mich getan hast." Sie hielt kurz inne, ihr Blick hatte eben noch etwas Entschuldigendes gehabt. Nun lag wieder mehr Unsicherheit darin. "Aber ja, ich... ich hoffe, dass es nicht mehr nötig ist."
Nicht wirklich die Antwort, auf die Wilhelm gehofft hatte. Allerdings würde er das seinem Vogelherzen wohl so schnell nicht beibringen.
Also nickte er einfach. "Ich denke allerdings, heute wäre es noch gut. Nicht, dass du ansonsten noch aus dem, was ich dir gerade erzählt habe, schaurige Traumbilder bastelst."
Senray sah ihn einen Moment nachdenklich an, dann nickte sie. "Ja, ich denke... das wäre wohl wirklich das Beste. Und Morgen... probieren wir es dann ohne?"
Was sie unausgesprochen lies, Wilhelm aber an ihrer Anspannung und ihrem Gesicht ablesen konnte, war die Frage, ob es dann auch wieder sicher für sie war, in ihre Wohnung zurück zu gehen. Allerdings konnte der Vampir diese Frage noch nicht beantworten. Er hatte es noch nicht einmal gewagt, unter sein Hemd zu sehen, um zu prüfen, ob das Paktmal verblasst war oder nicht. Die Furcht davor, dass der Dämon sein Wort brach und Wilhelm weiterhin unter dessen Geisel war, war für den Moment zu groß.
Allerdings wollte er Senrays eigene Sorgen in dem Bereich nicht schüren. Nicht jetzt. Morgen würde noch genug Zeit sein, darüber zu reden. Also lenkte er wieder ab.
"Apropos Träume... Wird es nicht langsam etwas spät für dich? Du solltest vielleicht doch bald ins Bett gehen, Senray."
"Was? Nein! Und überhaupt, für dich war der Tag genauso lang wie für mich! Und du hattest sogar den Einsatz und alles. Also, wenn überhaupt, dann..." Sie brach ab, als sie sein immer breiter werdendes Grinsen sah.
"Du hast schon wieder vergessen, dass ich kein Mensch bin, nicht wahr? Aber wenn du mich gerne im Bett haben willst..." Amüsiert beobachtete Wilhelm ihre Reaktion auf seine Worte. Das entrüstete Kopfschütteln, die Röte. Das wundervolle Konzert, das ihm ihr flatterndes Vogelherz lieferte, unsichtbar, doch für ihn klar zu hören.
Senray rettete sich wieder zurück zu den letzten Resten des achatischen Nachtischs. "Du willst also keines mehr?" Sie räusperte sich leicht und er lachte in sich hinein.
"Nimm ruhig!"
Er betrachtete sie eine Weile lächelnd, während sie aß. Dann kam er zu dem Gesprächsfaden von zuvor zurück. "Wie war dein Tag, Senray? Ich hoffe, du musstest nicht zu lange auf die gute Nachricht warten?"
"Hm.", machte sie wieder und sah ihn dann an. "Ehrlich gesagt hatte ich, bevor du... aufgetaucht bist, gar nichts gehört. Deswegen war ich so, naja, so ... aufgelöst." Die junge Frau sah ihn wieder entschuldigend an und er merkte, wie er die Stirn in Falten zog.
"Kein Wort?"
Sie schüttelte den Kopf.
"Das tut mir Leid, Senray. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dir gleich eine kurze Nachricht geschickt. Aber ich bin davon ausgegangen, dass man dir Bescheid geben wird, sobald wir draußen sind und unsere Nachricht selbst angekommen ist."
Sie lächelte ihn etwas müde an. "Schon gut. Jetzt bis du ja da. Und ich bin so erleichtert, dass es dir und den anderen gut geht. Und das ihr es geschafft habt!" Ihre Augen leuchteten und Wilhelm spürte wieder die Euphorie von davor.
Die beiden redeten noch eine ganze Weile so, über Senrays ‚Exkursion‘ mit Glum sowie allgemein über die Arbeit. Über die Personen, die bei der Rettung beteiligt gewesen waren und darüber, wo Ophelia jetzt untergebracht war. Darüber, wie Magane auf Wilhelm gewirkt hatte. Er hielt sich damit zurück, seine Befürchtungen, was Sebastian ihr angetan hatte, mit Senray zu teilen. Allerdings hegte er keinen Zweifel, dass sie auch so wusste, dass es ihr in der Zeit nicht gut ergangen war. Wie Ophelia gewirkt hatte. Wobei er auch hier nicht zu deutlich beschrieb, welche Sorgen er sich um ihr einst so wundervolles Innerstes machte. Wie sehr hatte sie sich verändert? War unter den zu erwartenden Trümmern immer noch dieselbe Strahlkraft verborgen oder hatten der Alte und Sebastian sie verbrannt und nur noch ein schwaches Glimmen übrig gelassen?
Die ungewollte Assoziation zu Senrays Dämon lies Wilhelm für einige Augenblicke verstummen. Es bestand wirklich eine grausame Ähnlichkeit. Und doch war es ein verzerrtes Spiegelbild. Eiskalte Grausamkeit gegen feurigen Spaß an den Qualen des Gegenübers.
Senray fiel sein Schweigen nicht einmal auf. Zu diesem Zeitpunkt gähnte sie bereits immer öfter und ihre Augen fielen ihr zu.
Schließlich brachte Wilhelm sie dazu, sich zumindest fürs Bett fertig zu machen. Auch wenn sie ihm erklärte, dass sie noch nicht gedachte, wirklich zu schlafen. Nichts desto trotz kroch sie kaum, dass sie fertig war, unter die Decke.
Er lachte wieder leise und lies sich vorsichtig neben ihr auf dem Bett nieder. "Also heute das letzte Mal traumlosen Schlaf fürs Erste?"
Er korrigierte seine Position etwas und betrachtete ihre müden Züge. Eine lose Strähne war in ihr Gesicht gerutscht und er spürte den Impuls, sie ihr hinters Ohr zu schieben. Es war eine Sache, wenn er sie umarmte, nachdem sie es heute schon einmal von sich aus getan hatte. Allerdings war es eine andere Sache, wenn ihr hier näher kam. Darum widerstand er und lehnte sich stattdessen nach hinten auf seine Hände.
"Wilhelm?" Bei der Erwähnung seines Namens suchte er automatisch ihren Blick.
"Ich..." Die junge Frau errötete und senkte verlegen den Blick, ehe sie ihn wieder direkt ansah. Und zu seiner Überraschung erkannte Wilhelm Unsicherheit und fast so etwas wie Angst in ihren Augen.
"Du... wirst doch morgen früh noch da sein, wenn ich aufwache. Oder, Wilhelm?" Die ehrliche Sorge in ihrer Stimme ließ ihn aufhorchen. Was dachte sie wohl? Rechnete sie immer noch, trotz allem, damit, dass er einfach verschwinden würde? Dachte sie, er würde sie nun schlafen schicken und dann mit der nächsten Kutsche nach Überwald verschwinden? Oder wurde ihr seine Nähe viel eher zu viel und sie wusste nicht, wie sie sich ausdrücken sollte?
"Wenn du das willst, Senray, dann ja. Aber ich muss nicht bleiben, wenn du lieber..."
"Nein!"
Sie sah ihn mit großen Augen an. "Bitte, Wilhelm, ich... bitte, bleib."
Die junge Frau brach den Blickkontakt und sah verlegen vor sich. "Heute, nur noch. Mehr nicht, nur... heute noch." Sie murmelte das mehr in die Decke, denn das sie es wirklich an ihn gerichtet sagte.
Wilhelm zögerte. Er fühlte sich plötzlich... nervös. Er wollte dieses wunderbare Vertrauen nicht gefährden, in dem er zu aufdringlich wurde. Außerdem wusste er nicht, wie sehr er sich selbst trauen konnte. Denn er mochte Senray wirklich auf eine eigene Art und sie duftete in mehr als einer Hinsicht verführerisch für ihn. Er war nun einmal ein Vampir. Auch wenn sein Vogelherz eines der wenigen Tabus darstellte, dass er nicht brechen würde. Er traf einen Entschluss.
"Wenn du willst bleibe ich einfach genau hier sitzen und wache über deinen Schlaf."
Sie nickte und er entspannte seine Haltung etwas. Er hatte gerade die Schuhe abgestreift, so dass er seine Beine bequem aufs Bett ziehen konnte, da erklang ihre Stimme wieder neben ihm.
"Wenn du magst... Ich meine, du kannst dich auch hinlegen. Ich... das... ich meine, also... das Bett ist wirklich groß genug, nicht wahr?"
Senray brach wieder ab und als er nachsah, stellte er fest, dass sie diesmal ihr Gesicht beinahe in der Decke verborgen hatte. Ihr Herzschlag verriet ihm aber auch so schon viel und er merkte, wie er glücklich lächelte.
Wilhelm räusperte sich noch einmal leicht. "Sicher, Senray?" Er betrachtete sie neugierig. Die junge Frau sah einen Moment unsicher unter der Decke auf. Dann nickte sie, jedoch mit der Nase wieder tief im Bettzeug verborgen.
Wilhelm lachte leise in sich hinein. "Ich bleibe einfach hier sitzen. Mir macht das nichts aus. Und falls du dich erinnerst, das hatten wir schon mal." Er grinste sie etwas breiter an. "Das ich diese unangenehme Aufgabe übernehmen musste."
Senray blinzelte ihn einen Augenblick müde an, ehe sie verstand und sich an jenes erste Mal erinnerte. Sein erster Versuch, sie genau hier zu hypnotisieren, wegen der Albträume. Und sein Spötteln mit ihr danach. Allerdings war ihre Reaktion dieses Mal dennoch kaum der Rede wert. Es wurde wirklich höchste Zeit, dass er sie hypnotisierte, sonst schlief sie ihm noch so ein. Und ausgerechnet in dieser von allen Nächten wollte er nicht, dass sie aus Albträumen aufwachte. Gerade heute schienen sie zudem noch wahrscheinlich zu sein, bei all der Anspannung, unter der sie über den Tag gestanden hatte.
"Soll ich?" Wilhelm lächelte sie erneut an. "Ich verspreche dir, ich werde mich nicht von hier weg bewegen."
Die junge Frau lächelte nun auch und nickte.
Der Vampir sandte sie, wie die Abende zuvor, sanft über seine Hypnose in traumlosen Schlaf. Und wie die Abende zuvor war Senray sofort weg. Ihre Züge entspannten sich und sie sackte leicht in sich zusammen.
Wilhelm betrachtete ihre halb von der Decke verborgenen Züge. Er lauschte ihrem nun so viel ruhigeren Puls und ihrer Atmung. Alles schien ruhiger geworden zu sein, sanfter. Die Welt ließ die Zügel wieder lockerer. Jetzt, in diesem Augenblick, gab es keinen Grund mehr für Eile. Der Vampir lächelte beinahe versonnen.
Sein Vogelherz. Nein, er würde sie nicht allein lassen, solange sie seiner Gesellschaft nicht überdrüssig würde. Ganz sicher nicht.

06.09.2017 22: 15

Magane

Der Gedanke, nach der Befreiung nicht direkt heim zu gehen, hatte sich ihr nicht unbedingt aufgedrängt. Sie wollte nach Hause! Dringend! Zu ihrer Familie, ihren Kindern. Aber nachdem sie bemerkt hatte, dass sie unabsichtlich, während des Tragens, Wilhelms Lebensenergie abgesaugt hatte, konnte sie nicht sofort heim. Ihre Familie hätte dieser Kraft nichts entgegen zu setzen, auch wenn Vampire davon kaum etwas mitbekamen. Also war sie dort geblieben, in dem Internat... der Fächelschule, wie Nyria es nannte, um dem Rat zu folgen, sich vorher noch mal in Ruhe auszuschlafen.
So lautete zumindest der Plan. Aber jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, waren da wieder die Bilder aus den von Sebastian geschaffenen Alpträumen. Nach dem dritten Versuch gab sie vorerst auf. Schlaf war sowieso nicht unbedingt das, was sie jetzt brauchte... was sie brauchte war Flüssigkeit. Beim Packen hatte sie nicht alle Teekräuter in ihre kleine Tasche stecken können aber doch ein paar, die sie zu den wichtigsten Dingen gezählt hatte. Mit den Kräutern und dem Kessel im Kaminfeuer fühlte es sich fast wieder an wie unten im Keller, nur war diesmal die Tür offen.
Drei Wochen. Kurze drei Wochen. Die sich angefühlt hatten wie eine Ewigkeit. Wahrscheinlich lag es an der Gesellschaft.
Sie ließ das Einmachglas wieder auf seiner Kante kreisen.
Sadistischer Mistkerl! Aber auch irgendwie eine geschundene Seele, vielleicht hätte sie ihn doch retten können... Nein! Er war nicht zu retten gewesen. Er war eine Rettung nicht wert. Und sie durfte in ihm nicht den arroganten jungen Schnösel sehen, der er vielleicht einmal gewesen war, bevor ihn Racul in die Klauen bekam. Der Alte hatte ihn nicht besser gemacht aber ein Heiliger war er vorher auch nicht gewesen, da war sie sich sicher.
Wieso hatte sie Mitleid mit ihm? War das natürliches Mitleid, oder hatte er es ihr eingepflanzt? Vermutlich war es natürlich, es lag in ihrer Natur das Gute in Jedem zu sehen. Aber das Gute in ihm war sehr sorgfältig verborgen.
Magane schüttelte das Glas.
Vielleicht war das Gute in seiner Asche leichter zu entdecken? Wie verhinderte man, dass Vampire wieder auferstanden? Wer wusste sowas? Igors könnten sowas wissen. Sie musste mit Rogi reden...
Rogi kam mit breitem Grinsen und gezücktem Skalpell auf sie zu, sie blinzelte und versuchte, nicht mehr an die Traumbilder zu denken. Die Igorina war ihre Freundin! Wenn sie sie auseinander nähme, dann würde sie sicherlich vorher den letzten Herzschlag abwarten.
Sie würde mit ihnen allen reden müssen, mit einem nach dem anderen...
Aber vorher musste sie sich überlegen, was sie ihrer Familie erzählte. Auf keinen Fall alles, das stand außer Frage. Ihre Oma vertrug zwar so Einiges aber deswegen musste sie nicht alles wissen. Vielleicht würde sie ihr mehr erzählen. Wenn Probleme auftraten, mit denen sie nicht allein fertig wurde, Probleme, die einer erfahreneren Hexe bedurften. Die Kinder hingegen brauchten keine Details. Am liebsten würde sie alles von ihnen fern halten, nicht nur die Details, sondern auch die Narben, die Schwäche und die Dunkelheit in ihren Augen. Sie war entsetzt gewesen, als sie die Dunkelheit im Spiegel gesehen hatte. Im Keller war dazu nicht genug Licht gewesen aber hier oben, bei Tageslicht, war sie sehr deutlich zu sehen.
Bei Tageslicht sah sowieso alles viel schlimmer aus! Im Dunkeln hatte sie sich noch etwas vormachen können, aber im Licht wurden ihr die Schatten, in die sie diese Entführung gestoßen hatte, nur zu deutlich bewusst. Sie durfte nicht zulassen, dass diese Düsternis sich auch auf ihre Familie und Freunde legte! Das Ziel der kommenden Tage musste also sein, die Schatten in die Dunkelheit zurückzuschlagen und somit ein normales Leben wieder möglich zu machen.
Falls die Träume nicht nachließen, würde das Verhältnis zu den Kollegen das größte Problem darstellen. Vermutlich würde Bregs auf Püschositzungen bestehen, womöglich bei ihm... allein mit ihm in seinem Büro... mit seinem Entermesser an der Wand... das wäre keine große Hilfe. Dabei war es nie die vampirische Seite des Kommandeurs gewesen, mit der sie in der Vergangenheit Probleme gehabt hatte. Wie konnte sie den Kollegen nur erklären, dass sie plötzlich Angst vor ihnen hatte?
Ihre Gedanken wanderten zu Rogi zurück.
Sie hatte es kaum ausgehalten, mit ihr allein zu sein. Dabei war sie früher jederzeit bereit gewesen, dieser ihr Leben anzuvertrauen. Und jetzt witterte sie schon in Salbe und Verband eine Tötungsabsicht.
Die Salbe, mit der Rogi ihr Handgelenk behandelt hatte, tat wirklich gut. Ob sie das Rezept mit ihr teilen würde? Vielleicht. Sie musste nur den Mut aufbringen, zu ihr ins Büro zu gehen, für ein richtiges Gespräch...
Das letzte Gespräch unter vier Augen mit ihr war merkwürdig gewesen. Aber wenn sie Wilhelm richtig verstanden hatte, hatte das an Raculs Einfluss gelegen. Das war die eine Information, die es möglich gemacht hatte, ein Gesamtbild aus Rogis Verhalten am Tag des ersten Treffens und der Tatsache, dass sie bei Ophelia gewesen war und nichts gesagt hatte, zu konstruieren. Das Bild war zwar undeutlich und es fehlten Details. Aber sie vermutete, dass der Alte persönlich Rogis Geist manipuliert hatte, um zu verhindern, dass sie Ophelia befreite.
Und diese Manipulation war besiegt worden... ein sehr ermutigender Gedanke.
Nur war sie sehr sicher, dass der Alte ihren Geist nicht berührt hatte. Und auch was Manipulationen durch Sebastian anging, war sie sicher, die waren anderer Art.
Die Frage würde aufkommen, warum sie mit den Geiselnehmern kooperiert hatte. Beziehungsweise, warum sie nicht allein gegen diese angekämpft hatte. Dann könnte sie natürlich antworten, dass ihre Familie bedroht worden war. Aber sie zweifelte, dass das als Erklärung ausreichte. Oder wenn womöglich dieser unsägliche Vertrag auftauchte... Wer würde schon glauben, dass das alles nur zur Ablenkung diente? Nur um Sebastian von Ophelia abzulenken, hatte sie sich ihm an den Hals geworfen. Ohne den geringsten Zweifel daran, dass die Freundin das wert war. Und auch, wenn sie jetzt glaubte, dass die dunklen Schatten sie für diese fragwürdige Entscheidung auslachten, so war Ophelia dieses Opfer doch nach wie vor wert.

Ein Klopfen riss sie aus ihren Gedanken.
Magane stand auf, strich ihr Kleid glatt, ging zur Tür und öffnete. Es tat so gut, das wieder selbst tun zu können.
Rach lächelte sie an. Natürlich, wer wäre auch sonst für einen frühmorgendlichen Besuch hier in Frage gekommen?
"Ich hoffe ich störe nicht... konntest du dich etwas erholen?"
"Nicht wirklich. Aber das wird schon kommen mit der Zeit." Richtig überzeugt war sie davon nicht aber damit wollte sie ihn nun wirklich nicht belasten. Der Inspektor hatte sicherlich genug, was ihn beschäftigte. Er nickte, wie als Antwort auf ihren unausgesprochenen Gedanken und schaute dann zu dem Einmachglas mit der Asche - welches offen auf dem Tisch und gefährlich nah an der Kante stand.
"Wenn du gestattest, würde ich das mitnehmen."
Das traf sie vollkommen unvermittelt. Sie wollte ihn nicht hergeben, um keinen Preis. Er hätte sie auch nie wieder freigelassen. Lebenslang! Es war ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass er tot blieb. Aber andererseits hatte Rach sicherlich gute Gründe...
"Warum?"
Er hob beschwichtigend die Hände, als rechnete er mit einem Zornausbruch oder irgendeiner schrägen Hexenreaktion. Als Mag aber vollkommen ruhig blieb, setzte er zu einer Erklärung an: "Nur zur Sicherheit versteht sich. Und ich könnte ruhiger schlafen, mit der Gewissheit, dass er nicht in Ophelias oder deiner Nähe ist."
"Oh, ich pass schon auf ihn auf!" Sie ahnte, dass mehr hinter seinem Anliegen steckte, als der bloße Sicherheitsaspekt. Aber sie konnte das Argument durchaus nachvollziehen. Eine Unachtsamkeit würde ausreichen. Sie müsste das Glas nur fallen lassen und sich an einer der Scherben schneiden und schon...
Sein Blick wanderte nochmals zum Glas an der Tischkante.
"Sicher?"
"Sicher!" Magane stupste das Glas etwas von der Kante in Richtung Tischmitte, was er mit einem leisen Seufzen kommentierte.
"Ich versuche besser nicht, das nachzuvollziehen. Aber ich denke, ich kann es trotzdem verstehen. Dennoch. Zur Sicherheit", fügte er nachdrücklich hinzu, "könntest du mir die Hälfte der Asche überlassen? So hätten wir beide Gewissheit, dass er nicht so schnell wieder kommt."
"Na, hoffentlich nie wieder." Sie dachte einen Moment nach. Sie hatte wirklich keinerlei Interesse daran, Sebastian noch einmal gegenüber zu stehen. "Wieviel von seiner Asche braucht ein Vampir wohl zum Zurückkehren?"
"Nun, genau kann dir das vermutlich ein Igor sagen. Aber ich bin mir sicher, dass die Hälfte nicht ausreichen wird."
"Im Zweifel könnte man ihn ja auch weiter aufteilen... nachdem man einen Igor zu Rate gezogen hat." Vielleicht würde er ihr dieses Gespräch mit Rogi sogar abnehmen. Dann wäre es nicht mehr so dringend und sie könnte in aller Ruhe erst mal ihre Ängste loswerden.
Rach nickte zustimmend, wieder schien er ihre Gedanken zu erraten oder die seinen gingen wenigstens in die gleiche Richtung.
"Ich kann mir vorstellen, dass Rogi in der Hinsicht Erfahrung hat", er zwinkerte ihr zu.
"Außerdem wären dann die Kinder nicht in Gefahr. Die finden im Endeffekt alles, was nicht kaputt gehen sollte." Selbst, wenn sie das Glas wegschloss, war sie sich ganz sicher, dass es nicht lange unentdeckt bleiben würde. Verbote hatten für gewöhnlich nur beschleunigende Wirkung und Drohungen waren vollkommen zwecklos.
"Wir sind uns also einig", er lächelte charmant.
"Die Last verteilen und die Gefahr reduzieren. Von mir aus können wir das machen. Nur ganz geb' ich den Mistkerl nicht aus der Hand." Sie lächelte eine Spur wölfisch. Mal sehen, wie gut er sich auf dieses Gespräch vorbereitet hatte. "Hast du zufällig einen zweiten Behälter griffbereit?"
"Verständlich... und natürlich, einen Moment." Rach verließ kurz den Raum, um ein zweites Glas zu holen, das er offensichtlich draußen bei seinem Mantel stehen gehabt hatte.
Mag kam nicht umhin, sein praktisches Denken zu bewundern. Offensichtlich hatte er, trotz der Umstände, gleich die Alternative zu seinem eigentlichen Anliegen mitbedacht. Vermutlich lernte man das Planen mehrerer Spielzüge im Voraus zwangsläufig, wenn man die Assassinenausbildung überleben wollte.
Sie teilten die Asche vorsichtig auf die beiden Gläser auf und verschlossen diese danach wieder sicher. Magane ließ ihre Hälfte testweise auf der Glaskante kreisen und grinste etwas abwesend, als sie der sich mitbewegenden Asche zusah.
"Ich muss zur Wache zurück, den Schein wahren. Schließlich waren wir nie hier. Würde es dir etwas ausmachen, bei Ophelia zu bleiben? Sie schläft zwar aber ich will nicht, dass sie allein ist, wenn sie aufwacht."
"Selbstverständlich." Sie ignorierte die flüsternden Schatten, die sie fragten, wer eigentlich bei ihr geblieben sei und lächelte zurück. "Geh du nur! Ich kümmere mich schon um Ophelia."

07.09.2017 22: 13

Nyria Maior

Das war es also, das mittlerweile berühmte Gangsystem unter dem Grüngansweg.
Neugierig betrachtete Raistan im Licht des Kristalls auf der Spitze seines Zauberstabs die Konservendosen, die kreuz und quer im Gang lagen. Jemand hatte sich große Mühe gegeben, jede von ihnen mit einem nummerierten Schildchen zu versehen und diverse, mit dem Auge kaum sichtbare Löcher in der Wand mit Kreide einzukreisen. Hinter der Wand waren unregelmäßige kratzende Geräusche und leise Kommentare in zwergischer Sprache zu hören.
Fragend sah Raistan zu seinen beiden Begleitern.
"Braggasch Goldwart." erklärte Romulus von Grauhaar. "Unser Wachetüftler Nummer eins. Die ganzen Fallen hier unten scheinen seine Vorstellung von einem Paradies zu sein."
Als Paradies hätte Raistan die Vorstellung, bei einem Fehltritt bei lebendigem Leib von Flammen geröstet oder von Giftpfeilen getroffen zu werden nicht gerade bezeichnet, aber er konnte sich vorstellen, dass Zwerge die Sache durchaus anders sahen. Auch auf ihn wartete noch die Aufgabe, mehrere vermutete magische Fallen zu beseitigen, aber zuerst stand etwas weitaus Wichtigeres an. Es galt, Racul den Dritten von Ankh wirkungsvoll in Untersuchungshaft festzusetzen, und er war der einzige, der diesen Dschob zuverlässig erledigen konnte.
Er raffte den Saum seiner Robe, um nicht aus Versehen Beweisstücke beiseite zu wischen, und folgte dem RUM-Abteilungsleiter vorbei an der Dosengemüsesammlung tiefer in das Labyrinth. Insgeheim war er froh, dass es ausgerechnet Romulus von Grauhaar war, der ihn durch die Gänge führte. Der Oberfeldwebel gehörte zu den wenigen Personen in der Wache, denen Bregs vorbehaltlos vertraute. Und er war ein Werwolf. Irgendwie sorgte diese Tatsache automatisch dafür, dass sich Raistan etwas geborgener fühlte.
Der andere Wächter, der ihn begleitete, war ihm zumindest aus Nyrias Erzählungen recht geläufig. Jargon Schneidgut, seines Zeichens Rechtsexperte der Wache und seit einiger Zeit ebenfalls ein Werwolf. Nyria verbrachte regelmäßig Zeit mit ihm, um ihm beizubringen, was ein Werwolf in Ankh-Morpork wissen musste.
Der Gang führte an mehreren Türen vorbei, bei deren Passieren sich Raistans Nackenhaare unwillkürlich aufstellten. Es lag eindeutig Magie in der Luft. Der junge Zauberer dachte an den Abwehrzauber, der auf dem Anwesen lag. Ob er hier seinen Ankerpunkt hatte? Einige Treppenstufen führten abwärts und kurz darauf wieder aufwärts und dann standen sie auch schon auf einer Vier-Wege-Kreuzung. Erneut spürte Raistan das unmissverständliche Kribbeln aktiver Magie.
"Ich würde nicht empfehlen, weiter geradeaus zu gehen." sagte Oberfeldwebel von Grauhaar trocken. "Da hat jemand über eine lange Strecke sämtliche Atemluft weggezaubert."
Raistan nickte und dachte an Nyrias Bericht. Er hatte schon eine Vorstellung davon, um was für einen Zauber es sich handeln konnte. Spolts sofortiger Respirator, rückwärts und in einer Flächenvariante gewirkt. Aber das band er den Wächtern besser nicht auf die Nase.
"Ich werde es mir nachher gründlich ansehen." versprach er stattdessen.
Der Oberfeldwebel brummte etwas Zustimmendes und sie setzten ihren Weg fort.
Nyrias Beschreibung war eine Sache gewesen, aber jetzt selbst den gleichen Weg zu gehen, den der Rettungszirkel vor einem Tag und einer gefühlten Ewigkeit genommen hatte, war etwas ganz anderes. Auf eine gewisse Weise gab es Raistan das Gefühl, doch irgendwie dabei gewesen zu sein. Die Werkzeugkammer. Die geheime Wendeltreppe. Die scharfe Biegung nach rechts, wo Sebastian den Rettungstrupp zum ersten Mal angegriffen hatte. Der darauf folgende Gang.
"Vorsicht!" warnte Romulus von Grauhaar und wies auf die mit gelb-schwarzem Band abgesperrte erste Biegung des Korridors. "Fass dort die Wand auf keinen Fall an, wenn du deine Beine behalten willst."
Raistan machte vorsichtshalber einen großen Bogen um die fragliche Stelle. Nach Nyrias Erzählung hatte der Rettungstrupp zu jenem Zeitpunkt gerade mehr oder weniger planlos die Verfolgung einer feindlichen und einer freundlichen Fledermaus aufgenommen. Dass in der allgemeinen Hektik niemand die nun deutlich mit Kreidekreisen markierten Druckplatten an der Wand ausgelöst hatte, war reines Glück gewesen.
Nach einer weiteren Biegung durchquerten sie ein weit offen stehendes, äußerst massiv wirkendes Portal und betraten einen Bereich, der sich, wenn er sich nicht zwei Stockwerke tief in den Eingeweiden der Stadt befinden würde, durchaus als Wohngeschoss eines wohlhabenden Anwesens hätte durchgehen können. Vielleicht waren es tatsächlich sogar einmal Wohnräume gewesen, vor langer Zeit, als die Straßen Ankh-Morporks noch ein paar Stockwerke tiefer lagen als heute...
Ein mittig von einer Säule unterbrochener Flur führte geradeaus und leise Stimmen drangen aus einem Zimmer auf der rechten Seite. Im Vorbeigehen warf Raistan einen kurzen Blick in den Raum. Die schäbigen, blauen Tapeten sagten ihm, dass es sich dabei um das Gefängnis von Feldwebel Magane Schneyderin gehandelt hatte. Zwei Wächter in SuSi-Uniform waren dabei, zahlreiche Papiertüten in einer Kiste zu verstauen. Ein kräftiger Geruch nach Kräutern lag in der Luft.
An seinem Ende machte der Korridor eine abrupte Biegung nach halblinks. Ein Raistan unbekannter vampirischer Wächter stand dort Wache. Als er ihre Gruppe sah, salutierte er.
"Er hat sich die ganze Zeit nicht gerührt, Sör." erstatte er Bericht. Deutliche Anspannung war auf seinem Gesicht zu erkennen.
"Gut gemacht, Rekrut von Abendfels." Von Grauhaar bedachte den Vampir mit einem anerkennenden Nicken und wappnete sich sichtbar für das Kommende. Auch Raistan biss die Zähne zusammen. Am Rand seines Bewusstseins konnte er es fühlen. Etwas befand sich hier, am Ende des Gangs. Das uralte Monster, dessen Präsenz er bereits während des zweiten Experiments kennen gelernt hatte. Das nichts anderes als völlige Unterwerfung von all seinen Mitlebewesen akzeptierte.
Aber Racul von Ankh hatte eine empfindliche Niederlage einstecken müssen. Zur Zeit war er verunsichert und damit verwundbar. Dieser Zustand musste beibehalten werden. Und die Wache tat ihr Bestes, indem sie ihn ungeachtet des Status, den er für sich als selbstverständlich betrachtete, wie einen ganz gewöhnlichen Schwerverbrecher behandelte.
Raistan packte seinen Stab mit der rechten Hand fester und zog mit der Linken ein frisches Stück Kreide aus einer Tasche seiner Robe. Er war ein studierter Zauberer. Ein Äonen altes Ding aus den Kerkerdimensionen hatte trotz aller körperlichen und püschischen Grausamkeiten, mit denen es ihn bombardiert hatte, nicht geschafft, ihn in die Knie zu zwingen. Racul von Ankh würde sich an ihm noch die Zähne ausbeißen, falls er etwas versuchen sollte.
"Ich bin bereit." sagte Raistan entschlossen und stieß Schritt für Schritt in den Gang vor, mit seinem Zauberstab den Weg leuchtend.
Die Finsternis vor ihm besaß eine beinahe fühlbare Substanz. Nur widerwillig wich sie vor dem magischen Licht zurück. Schräg hinter dem jungen Zauberer verlosch Jargon Schneidguts Laterne.
Der Gang endete an einem gemauerten Torbogen und ein Hauch kalter, nach Moder und Verfall riechender Luft schlug dem Zauberer und den beiden Wächtern entgegen. Schneidgut fluchte unterdrückt und auch Raistan konzentrierte sich darauf, langsam und gleichmäßig zu atmen. Wenn Nyria das zwischen den Zähnen gehabt hatte, musste das wirklich der Gipfel des negativen Geschmackserlebnisses für einen Werwolf gewesen sein. Kein Wunder, dass sie sich gestern durch Hibiskus Dunhelms fiesestes Gesöff-Angebot getrunken hatte bis der Heimweg in Schlangenlinien stattfand.
Raistan hielt seinen Zauberstab in den Eingang der Gruft und fühlte sogleich die zunehmende Stärke des Sogs der Finsternis. Hauchdünne, rabenschwarze Tentakel schienen an dem leuchtenden Kristall auf der Spitze seines Zauberstabs zu zerren. Eisiger Bodennebel waberte über die uralten Steinplatten und konzentrierte sich um den massiven, steinernen Sarkophag, der exakt in der Mitte der kreisförmigen Kammer auf einem Podest stand. Da drin befand er sich also. Racul Alexeij Sargolan Pada Ivanowitsch der Dritte von Ankh. Seine Aura füllte die Kammer und strömte den Dreien entgegen. Du bist nichts wert, flüsterte eine Stimme am Rand von Raistans Bewusstsein. Niemand liebt dich. Du kannst nichts. Du bist nichts als schwaches, jämmerliches, sterbliches Gewürm, das Ich einfach unter Meinem Absatz zerquetschen könnte. Beuge dein Knie vor Mir und Ich werde dir vielleicht die Gnade erweisen, Mir dienen zu dürfen.
Raistan fing sich gerade noch, bevor seine Knie beinahe automatisch unter ihm nachgaben. Nein, beschwor er sich selbst. Auch die Dinge aus den Kerkerdimensionen hatten es auf diese Weise versucht. Ihm langsam den Wahnsinn einflüstern wollen. Aber er hatte standgehalten. Die Worte des Vampirs im Sarkopgag waren Lügen. Er war hier, weil er etwas konnte. Etwas, was sonst niemand tun konnte.
Entschlossen setzte er der Kreide an und begann mit dem Zeichnen des Integralen Schutzkreises gegen Untote. Rune reihte sich an Rune, während die Stimme ihm weiterhin weiszumachen versuchte, dass er der letzte Dreck war. Nichtswürdig. Nicht einmal wert, vor den Füßen seines zukünftigen Gebieters im Staub zu kriechen. Ob er denn wirklich glaubte, dass das lächerliche Gekritzel auf der Türschwelle ihn, einen Uralten Meister, aufhalten könnte. Er, diese jämmerliche, schwächliche Gestalt, die eh allen egal war. Deren Gesellschaft von anderen höchstens geduldet und ertragen wurde. Der langweiligste, uninteressanteste Mensch der Scheibenwelt. Dessen Schwäche für alle nur eine Last war. Niemand würde ihn vermissen, wenn er einfach verschwand. Eigentlich hatte sein nichtssagendes Leben nie existiert und es war eine unsägliche Schande, dass er lebte und derjenige, der das Leben so viel mehr verdient hatte, tot war...
Mittlerweile war der Kreis so gut wie geschlossen. Raistan saß auf dem Boden und zog die letzten Zeichen, aber jeder Strich fühlte sich schwerer und schwerer an, bis der Kreidestift schließlich unschlüssig über der letzten Rune hängen blieb. Etwas tief in seiner Seele sagte ihm, dass Racul recht hatte. Er war ein sterbenslangweiliger Versager ohne Freunde. Nyria gab sich lediglich mit ihm ab weil irgendein obskures Band geknüpft worden war. Für den Kommandeur war er ein lästiger Klotz am Bein. Wilhelm Schneider wollte lediglich sein Blut und auch Senray Rattenfänger amüsierte sich insgeheim über seinen lächerlichen Versuch, auf sie aufzupassen. Es gab so viele Dinge die er so gern tun wollte, aber nicht konnte, weil sein schwacher Körper ihn regelmäßig im Stich ließ. Warum war er nicht an Kameruns Stelle gestorben und lebte nun ein Leben, das er eigentlich nicht verdient hatte? Er sollte dankbar dafür sein, dass Racul es überhaupt in Betracht zog, ihn seine Ehrerbietung erweisen zu lassen, bevor er ihn in den Staub trat...
Das Stück Kreide fühlte sich unendlich schwer zwischen Raistans Fingern an. Das sah ihm mal wieder ähnlich. Er war sogar zu schwach, so einen winzigen Gegenstand festzuhalten. Er musste die Kreide nur fallen lassen. Dann bestand noch eine winzige Hoffnung darauf, von irgendwem vielleicht als mehr angesehen zu werden als eine nutzlose Amöbe die unter einem Stiefel klebte.
Eine nutzlose Amöbe...
Raistans Hand schloss sich fest um die Kreide. Die gesamte Scheibenwelt inklusive ihm selbst mochte ihn insgeheim verachten. Aber Racul hatte eines vergessen. Ein Zauberer besaß eine einzige Verbündete, die ihn niemals im Stich ließ. Die Magie, die ihm von Geburt an gegeben war. Wer brauchte schon Freunde, wenn die wahre Macht durch jede Ader seines Körpers strömte! Er würde es ihnen allen heimzahlen. Jeden mitleidigen Blick. Jeden abfälligen Kommentar. Angefangen bei Racul Alexeij Sargolan Pada Ivanowitsch dem Dritten von Ankh, der die Dreistigkeit besaß zu verlangen, dass der Achte Sohn eines Achten Sohnes vor ihm im Staub kroch!
Eine eisige Ruhe kam über Raistan, als er die letzte Rune zeichnete und das Stück Kreide hinter sich warf. Seine Finger fanden den äußeren Rand des Kreises. Die Akustik der Gruft verlieh seiner Stimme, deren Schwäche und Brüchigkeit er so hasste, eine beeindruckende Resonanz, als er in einem Tonfall, der keine Widerrede zuließ, die Zauberformel sprach und die geballte magische Macht, die in seinem Inneren sprudelte, zum Tragen kommen ließ. Genau in dem Moment, in dem der Deckel des Sarkophags beiseite gefegt wurde, schloss sich der Kreis mit einem Lichtblitz, und Racul der Dritte von Ankh prallte gegen eine unsichtbare Barriere als er feststellte, dass er unwiderruflich gefangen war.
Augenblicklich schwand die überwältigende Präsenz des Uralten Vampirs zu einem kaum noch wahrnehmbaren, unangenehmen Hintergrundrauschen. Eine erstickende Klaue löste sich von Raistans Bewusstsein und machte einem Gefühl des Triumphs Platz. Er hatte es geschafft. Trotz seiner Schwäche und der Tatsache, dass ihm schon wieder jeder Atemzug in der Brust schmerzte. Dinge, die angesichts dessen, wozu er fähig war, bedeutungslos wurden. Trotzig hob er das Kinn und betrachtete den Gefangenen, der in einer Mischung aus Wut und Unglauben auf den Torbogen starrte, der ihm nun den Weg versperrte. Sicher eingesperrt und hinter der mentalen Dämpfung der Hauptrichtung des Schutzkreises stehend, wirkte Racul der Dritte von Ankh erstaunlich unbeeindruckend. Ein kreidebleicher, faltiger Greis mit Reißzähnen, der in seiner schäbigen Kleidung geradezu wie die Parodie eines Klischeevampirs wirkte.
Die Augen des Alten fixierten ihn und selbst durch den dämpfenden Effekt des gerichteten Schutzkreises fühlte Raistan den lodernden Hass, der ihm entgegen geschleudert wurde. Der Rausch der magischen Macht brannte in seinen Sinnen, als der junge Zauberer dem Blick stand hielt.
Glotz du nur, Alter. dachte er und seine Lippen verzogen sich zu einem hämischen Grinsen. Du kannst mir jetzt gar nichts mehr...
Eine Hand legte sich auf seine Schulter.
"Ist alles in Ordnung mit dir?" Romulus von Grauhaars Stimme drang nur langsam zu Raistan durch.
Der junge Zauberer winkte ab. Was scherte es den RUM-Abteilungsleiter schon, wie es ihm ging. Auch für die Wache war er lediglich ein Mittel zum Zweck. Seine einzige wahre Verbündete befand sich in seinem Inneren. Seine Zauberkraft, die selbst einen Uralten Vampir in seine Schranken gewiesen hatte. Was konnte er mit ihr alles erreichen, wenn er nur endlich aufhörte, sich mit so lächerlichen Konzepten wie einem Gewissen selbst zu schwächen...
Die Bilder erschienen urplötzlich vor seinem inneren Auge.
Unbeschreibliche Schrecken, deren Schreie durch strömenden Regen hallten. Eine Pfütze, deren Wasser mit Blut vermischt war. Ein kreidebleiches, ausgemergeltes Gesicht, umrahmt von schneeweißem Haar, das gleichzeitig das seine war und doch nicht. Goldene Augen mit sanduhrförmigen Pupillen. Turisas Linistar, der Meistermagier von Überwald, der zu ihm sprach. "Ich bin du. In gewisser Weise. Ich bin das, was du hättest werden können."
"Und was ich gerade eben für kurze Zeit war." flüsterte Raistan dem Bild aus seiner Vergangenheit zu, als ihm langsam dämmerte, was soeben mit ihm passiert war. Er verbarg das Gesicht in den Händen und fühlte die Tränen, die seine Wangen heruntergelaufen waren. Racul hatte ihm für kurze Zeit systematisch alles genommen, was seine Menschlichkeit ausmachte, in der Hoffung, ihn dadurch zu brechen. Aber der Vampir hatte nicht damit gerechnet, dadurch ungefiltert das freizulegen, was im Kern eines jeden Magiebegabten lauerte. Der Zauberer, zu jeder Grausamkeit bereit war, um zum mächtigsten Magier der Welt zu werden. Die Hexe, die mit Gewalt ganzen Königreichen ihren Willen aufzwang. Um Raculs Einfluss abzuschütteln hatte Raistan genau das getan, was Turisas Linistar damals von ihm gewollt hatte und was er so kategorisch abgelehnt hatte. Alles andere für bedeutungslos erklärt und sich nur noch der Macht hingegeben die er besaß. Statt vor dem Uralten Vampir zu kriechen, war er für einen Moment selbst zum Monster geworden.
Der Griff um seine Schulter wurde stärker.
"Hat er dir... etwas getan?" die Stimme des Oberfeldwebels klang eindeutig besorgt.
Raistan wandte sich zu ihm um. Romulus von Grauhaars Gesicht war blass und er wirkte erschüttert.
"Nichts, was ich nicht überleben werde." sagte der junge Zauberer knapp und stand auf, wobei er seinen Zauberstab als Stütze benutzte. Seine persönlichen Dämonen gingen niemanden etwas an. "Habt ihr etwas gespürt?"
Die Miene des RUM-Abteilungsleiters verhärtete sich.
"Er hat uns genau die Befehle gegeben die ein Werwolf nicht hören will. Ich bin euer Herrchen. Mach Sitz. Aus. Mach Männchen. Braver Hund."
Raistan nickte nur. Genau das hatte Racul auch mit Nyria gemacht.
"Sör?" Jargon Schneidgut wies auf die Gruft.
Wo sich eben noch der Gefangene befunden hatte, waberte lediglich eine Wolke weißen Nebels. Suchend tasteten sich einzelne Fäden vor, nur um immer wieder von der magischen Barriere zurückgeworfen zu werden.
"Er sucht mit allen Mitteln nach einem Ausweg." stellte Raistan fest. "Aber er wird keinen finden." Eine triumphierende Befriedigung schwang trotz seiner brüchigen Stimme in seinen Worten mit.
Romulus von Grauhaar bedachte ihn mit einem seltsamen Seitenblick.
"Korporal Schneidgut, lies dem Gefangenen seine Rechte vor." befahl er.
Während der Rechtsexperte erst zögernd, dann mit immer festerer Stimme die Paragraphen vortrug, die Rechte und Pflichten eines Untersuchungshäftlings festhielten, trat Raistan einige Schritte zurück und ließ sich gegen die Wand sinken. Er fühlte sich nicht nur körperlich, sondern auch geistig wie ein zu stark ausgewrungener Waschlappen. Ohne ihn überhaupt zu kennen, hatte der Uralte Vampir zielsicher seine Schwachstellen gefunden und darauf gespielt wie auf einem Klavier. Für einen kurzen Moment hatte Raistan tatsächlich geglaubt, ohne die Eigenschaften, die ihn zu einem fühlenden Wesen machten, besser dran zu sein und sich wie ein Ertrinkender an das einzige geklammert, das Racul ihm nicht nehmen konnte. Und damit für einen kurzen Augenblick gespürt, wie unglaublich verlockend und berauschend sich uneingeschränkte Macht ohne die Fesseln von Moral und Anstand anfühlen konnte.
Aber der finsteren Wege des Turisas Linistar, die Pfade, auf denen Racul von Ankh wanderte, waren nicht die seinen. Er war er, wie er es Racul auch schon bei ihrer letzen mentalen Begegnung entgegengeschleudert hatte. Er war Raistan Adelmus Quetschkorn, Zauberer dritter Stufe, mit all seinen menschlichen Fehlern und Schwächen, die ihn zu dem machten was er war. Trotz alldem, was er in seinem Leben schon hatte einstecken müssen, ein Mensch mit Prinzipien, was die Nutzung seiner Kräfte betraf. Racul mochte ihn für einen nichtswürdigen Wurm halten, aber letztendlich war es nichts Persönliches. Raistan dachte an die Gehirnwäsche, die bei Rogi Feinstich vorgenommen worden war. Es war mit leichten Variationen in der Ausführung immer das gleiche Spiel. Racul hielt jeden, der nicht Racul der Dritte von Ankh hieß, für minderwertigen Dreck. Es war nach tausendjährigem Suhlen in der eigenen Überlegenheit wahrscheinlich die einzige Gefühlsregung, zu der der alte Vampir noch fähig war. Für einen Augenblick tat der eingesperrte Greis in der Gruft Raistan beinahe leid. Aber nur beinahe. Der kurze Einblick in die Abgründe seiner eigenen Seele hatte Raistan einen groben Eindruck verschafft, wie Racul dachte. Er hatte sich wirklich für unbesiegbar gehalten, und diese unerträgliche Arroganz hatte am Ende zu seinem Niedergang geführt. Genau wie es mit Turisas Linistar geschehen war, dem selbsternannten Meistermagier von Überwald, dem angeblichen Meister über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Nein, so wollte Raistan niemals enden. Auch wenn er in sozialer Interaktion ein Versager war und der einzige bleibende Eindruck den er bei anderen hinterließ aus einem guten Charakter und schönem Haar bestand. Auch wenn es ihm auf die Nerven ging, regelmäßig wie ein rohes Ei behandelt zu werden. Er mochte tatsächlich jemand sein, der allen egal war. Dass sein Bruder sein Leben so viel mehr verdient hätte. Aber hier, bei der Befreiung Ophelia Ziegenbergers, hatte er einen Unterschied gemacht. Es gab immer eine Wahl zwischen Richtig und Falsch, zwischen Menschlichkeit und sinnloser Grausamkeit. Die nichts damit zu tun hatte, ob man jemand war, dem das Glück im Leben einfach so zuflog. Und Racul der Dritte von Ankh hatte vor langer Zeit den falschen Weg gewählt.
Raistan strich sich das Haar aus dem Gesicht und sah ein letztes Mal zurück. Racul war zu fester Form zurückgekehrt. Mit vor Wut verzerrtem Gesicht schimpfte er auf die beiden Wächter ein und schüttelte drohend eine knochige Faust. Raistan wandte sich demonstrativ ab und verließ den Gang. Unwillkürlich musste er an Edwina Walerius und ihre Trophäensammlung denken. Wie hatte sie sich dem geistigen Einfluss ihrer Beute erwehrt? In der kurzen Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, hatte sie sich nie genauer über ihre Jagdtechniken geäußert, aber irgendeinen Schutz gegen die mentalen Kräfte ihrer Beute musste sie besitzen. Sonst wäre sie nicht mehr am Leben und bei geistiger Gesundheit. Dunkel erinnerte sich Raistan an die zahlreichen okkulten Amulette, die die Jägerin um den Hals getragen hatte. Könnte eines von ihnen ein Talisman gegen mentale Beeinflussung gewesen sein? Ein Jammer, dass Edwina Ankh-Morpork verlassen hatte. Sie hätten ihren Rat in einigen Fragen so gut gebrauchen können.
Als er den Flur des Wohntrakts betrat war ihm, als fiele eine große Last von ihm ab. Racul der Dritte von Ankh und das mentale Gift, das er ausströmte, konnten ihn nicht für immer verfolgen. Raistan ließ die Spitze seines Stabs hell aufleuchten, folgte dem Gang sowohl an Maganes als auch an Ophelias ehemaligem Gefängnis vorbei, und wandte sich dann nach rechts.
Die Tür zu dem Raum, der ihn in seinen Alpträumen seit Wochen verfolgt hatte, stand weit offen. Raistan zögerte kurz, bevor er eintrat. Zu oft hatte ihn das Bild in seinen Alpträumen und manchmal auch in seinen wachen Stunden verfolgt. Ophelia Ziegenberger, die hinter den angerosteten Gitterstäben kauerte, nur eine einzige trügerische Kerze als Gesellschaft, während ihre Gedanken ihre Einsamkeit und Verzweiflung in die Leere hinausschrien. Aber wenn er endlich mit der ganzen Geschichte abschließen wollte, musste er sich selbst überzeugen, dass der Käfig nun leer war.
Im hellen Licht seines Zauberstabs und mit mehreren Nummernschildchen der Spurensicherung versehen, wirkte der Raum, der ihm so viele grauenvolle Nächte beschert hatte, beinahe nüchtern. Der Käfig, den er nur zu gut kannte, stand mit offener Tür auf einer hölzernen Bodenplatte und nur einige Wachsreste verrieten, wo die flackernde Kerze gestanden haben musste. Nie wieder würde Ophelia Ziegenberger hier unter unendlicher Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit leiden müssen.
Trotzdem ballten sich Raistans Hände unwillkürlich zu Fäusten. Derjenige, der für all dieses Leid verantwortlich war, befand sich nur einige Meter entfernt. In diesem Moment konnte der junge Zauberer nachvollziehen, weshalb Bregs Vampire so abgrundtief hasste. Racul der Dritte von Ankh war geradezu ein Paradebeispiel dafür, was seine Spezies an verabscheuungswürdigen Eigenschaften zu bieten hatte. Hoffentlich gelang es Bregs, den Uralten Vampir so tief in den Ruin zu treiben, dass er sich bis zu Ophelia Ziegenbergers und damit auch seinem eigenen Ende nicht mehr davon erholte. Mit einem tief sitzenden Gefühl der Befriedigung rief sich Raistan den ungläubig-wütenden Gesichtsausdruck des Vampirs ins Gedächtnis, als dieser festgestellte, dass er ein Gefangener seiner eigenen Gruft war. Sollte der alte Sauger auch mal einen Geschmack davon bekommen, wie es sich anfühlte, eingesperrt und der Willkür seiner Gefängniswärter ausgeliefert zu sein.
Vorsichtig, um mit dem Saum seiner Gewänder keine Spurensicherungsschilder umzuwerfen, trat Raistan an den Käfig heran und umrundete ihn. Selbst durch die hölzerne Abdeckung war der eisige, muffige Hauch aus der Tiefe des Schachts zu spüren und er junge Zauberer zog fröstelnd seinen Umhang enger um sich. Es grenzte an ein Wunder, dass Ophelia unter diesen Bedingungen so lange überlebt hatte. Raistan dachte an seine eigenen schwachen, vernarbten Lungen, die schon wieder mit jedem Atemzug schmerzhaft stachen. Er hätte eine längere Gefangenschaft im Käfig und die darauf folgende schwere Lungenentzündung mit großer Wahrscheinlichkeit nicht überlebt. Aber irgendwie hatte sich Ophelia trotz alldem, was ihr hier unten angetan worden war, trotzig an das Leben geklammert. Wieder einmal wurde Raistan bewusst, wie falsch er sie bei ihren ersten Begegnungen eingeschätzt hatte. Er selbst hatte nur eine kurze Kostprobe davon bekommen, zu was Racul von Ankh fähig war. Ophelia von Ziegenberger hatte mehrere Jahre lang ungefilterten Kontakt mit ihm ertragen müssen und auch wenn ihr Körper nun befreit war, ihr Geist blieb nach wie vor an den Uralten Vampir gebunden.
Raistan warf einen letzten Blick zurück, bevor er die Kammer verließ und sich auf den Weg zurück ans Tageslicht machte. Wenigstens würde Racul sie nie wieder in diesen verfluchten Käfig stecken können. Der Uralte Vampir hatte zu spüren bekommen, dass diejenigen, die er als unterlegene Beute betrachtete, sehr schmerzhaft zurückbeißen konnten, wenn sie es darauf anlegten.

11.09.2017 22: 27

Mina von Nachtschatten

Mit einem Rumpeln fiel die schwere Eingangstür ins Schloss und das Echo hallte unheilverkündend im Vestibül des Hauses wider. So lasset alle Hoffnung fahren, die die ihr hier eintretet... Es war wie die akustische Bestätigung eines ersten Eindrucks, welchen man von der der Straße zugewandten Seite der Fassade gewinnen konnte, besonders in der Dämmerung oder bei Nebel, und zudem fester Bestandteil jeder einzelnen Nutzung dieser Tür. Denn egal, was sie auch versucht hatten - es war schlicht und einfach nicht möglich, das blöde Ding leise zu schließen. Nur ein Aspekt, der wohl auf einen gewissen Darstellungswunsch des vampirischen Vorbesitzers zurückzuführen war. Und an manchen Tagen war das einfach lästiger als an anderen.
Mina ließ den Blick durch den nur unzureichend beleuchteten Eingangsbereich schweifen und dann weiter in das sich direkt daran anschließende hohe Treppenhaus. Nach Jahrzehnten in einem überwalder Schloss sollte man eigentlich meinen, zugige Vorräume und eine Architektur gewohnt zu sein, welche nicht unbedingt als einladend zu bezeichnen war. Aber auch wenn das hier nicht annähernd die gleichen Dimensionen besaß - es war immer noch... irgendwie zu viel von allem. Das begann ja schon bei der Anzahl der Räumlichkeiten: In über der Hälfte war das Mobiliar von ehemals weißen, nunmehr schon durch Staub angegraute, Laken verhüllt und nie setzte irgendjemand einen Fuß hinein. Auch, weil viele der Zimmer offensichtlich nach rein dekorativen Maßstäben eingerichtet worden waren und weniger nach praktischen. Mit etwas Zeit und Arbeit hätte man vielleicht etwas daraus machen können - aber weder Mina, noch ihre Mitbewohnerin Tussnelda hatten bisher besonderes Interesse daran gezeigt. Einfach, weil sie den Platz selbst dann wohl kaum nutzen würden. Die Vampirin ertappte sich ab und an noch immer dabei, wie sie die Übersichtlichkeit ihrer Dachgeschosswohnung in der Quirmstraße vermisste. Das hier fühlte sich einfach immer noch nicht wie ein Zuhause an. Was aber vielleicht auch der schlichten Tatsache geschuldet war, dass sie eher wenig Zeit hier verbrachte. Nun, zumindest dieser letzte Punkt würde sich ab jetzt ändern. Ebenso wie sich das Überangebot an Wohnraum nun zum ersten Mal als echter Gewinn erwies.
"Bernadette?"
Eine weitete interessante Eigenart dieses Bereiches des Hauses war seine Akustik. Mühelos wurde das Gesagte in die höheren Stockwerke getragen, man musste nicht einmal sonderlich laut rufen. Das war bisweilen nicht ganz unpraktisch. Und so herrschte auch jetzt nur für einen kurzen Moment Stille, bevor eilig polternde Schritte auf der Treppe erklangen. Ein dunkelblonder Lockenschopf äugte über das Geländer.
"Oh, Mä'm... du bist fon da? Damit hatte if... Verfeihung..." Eine junge, etwas mollige Frau stieg die Stufen ins Erdgeschoss herab, hastig einige Bissen hinunterschluckend. "Ich bin noch nich ganz fertig oben", verkündete sie dann in einem Tonfall, der deutlich machte, dass sie selbst an diesem Umstand keinerlei Schuld trug. Dabei wischte sie sich verstohlen einige Krümel von der Schürze.
Wenn man an Bernadette Schurig unbedingt etwas auszusetzen haben wollte, dann war das höchstens ihre Liebe zu Gebäck und allem Süßen - worunter gelegentlich Tussneldas privater Keksvorrat zu leiden hatte. Aber das war eine Angelegenheit zwischen den beiden, die sich im Ersinnen und Aufspüren immer ausgefallenerer Verstecke für Keksdosen niederschlug. Ach ja, und dann war da noch das, was Minas Großmutter wahrscheinlich als "ungeschliffene Manieren" betitelt hätte. Doch das störte in diesem Haushalt keinen. Denn Bernadette war ein echter Glücksfall: Zuverlässig besorgte sie ein- bis zweimal in der Woche den Haushalt in der Teekuchenstraße 21 und kümmerte sich darum, dass nicht alles in Staub und Spinnweben versank. Und dabei war es ihr wiederum vollkommen egal, dass sie "nur" von zwei Wächterinnen angestellt war, die durch irgendwelche ominösen Umstände dieses Anwesen geerbt hatten. Das stets etwas ironisch vorgetragene "Mä'äm" hatte sie sich gleich am ersten Tag als Anrede für die beiden zurechtgelegt. Die junge Frau war pragmatisch, meist gut gelaunt und von einer absolut entwaffnenden Ehrlichkeit, welche in den Häusern der Nachbarschaft wohl bestenfalls als Impertinenz erachtet worden wäre. Hier... passte sie einfach dazu. Im Nachhinein betrachtet erschien Bernadette wie die einzig denkbare Wahl, eine logische Ergänzung, welche das Dreiergespann komplettierte.
Nun stand sie mit vollkommen unschuldigen Augen vor Mina und wartete.
"Das ist jetzt erst einmal egal, es gibt Wichtigeres", erwiderte diese auf die Erklärung der Haushälterin.
"Und das wäre?"
Mina überlegte kurz.
"Bernadette, kannst du mir einen Gefallen tun und den... ich denke den hinteren randwärtigen Flügel im ersten Stock vorbereiten? Ich möchte dort für die nächste Zeit eine Freundin unterbringen, der es nicht besonders gut geht. Und da sie wohl regelmäßig Besuch bekommen wird, der häufig etwas länger bleibt... rechne für zwei Personen, ja?"
Bernadette hob die Augenbrauen.
"Ah ja...", meinte sie nur, dann wurde ihr Ton geschäftsmäßig. "Welche Spezies?"
"Mensch. Beide."
"Irgendwas besonderes, was ich beachten muss?"
"Sie braucht Licht. Zumindest die Möglichkeit dazu, für den Anfang sollten wir an ein paar Vorhänge zum Abdunkeln nach Bedarf denken. Ansonsten soll sie es einfach so bequem und ruhig wie möglich haben."
"Verstanden, Mä'äm." Bernadette machte ein nachdenkliches Gesicht. "Dann müssen wir aber den Flügel aus dem Eckzimmer räumen, da kann ja sonst kein Mensch treten."
"Beim Möbelrücken helfe ich dir natürlich, ich habe nur jetzt noch eine Kleinigkeit zu erledigen und dann", Mina hob leicht die Schultern, "dann werde ich in der nächsten Zeit wohl ohnehin meist hier sein. Zumindest sobald Ophelia eingezogen ist." Dann fiel ihr noch etwas ein. "In diesem Zusammenhang gibt es eine Angelegenheit, welche ich dich bitte strikt einzuhalten: Es wird keiner ins Haus oder zu ihr gelassen, zu dem ich nicht ausdrücklich meine Zustimmung gegeben habe. Die Umstände sind gerade noch ein wenig speziell."
Bernadette nickte. Sie hatte den ernsten Unterton in der Stimme der Vampirin zur Kenntnis genommen.
"Was sagt denn Tussnelda zu all dem?", erkundigte sie sich anstatt eines Kommentars.
"Sie weiß es noch nicht." Mina seufzte. "Aber zum einen ist sie ohnehin so gut wie nie hier und zum anderen bleiben ihr in diesem Fall keine anderen Optionen, als es zu akzeptieren. Ich rede mit ihr - sie wird es verstehen."
Bernadette kratzte sich an der Nase.
"Bekomm ich irgendwann die ganze Geschichte zu hören?"
Unwillkürlich hoben sich Minas Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln. Keine Gefühlsregung, die sie an diesem Tag von sich erwartet hätte.
"Denkst du wirklich, ich würde auch nur eine Sekunde annehmen, du hättest dir die groben Zusammenhänge nicht nach spätestens zwei Tagen selbst zusammengereimt?"
Die junge Frau ihr gegenüber wiegte den Kopf.
"Unter Umständen..."
"Aber das ein oder andere wirst du bestimmt auch aus erster Hand erfahren. Zum richtigen Zeitpunkt."
Bernadette grinste zufrieden.
"Na dann schnapp ich mir jetzt den Staubwedel und lüfte schon mal gut durch!"
"Bernadette, eine Frage noch", hielt Mina die andere in ihrem Enthusiasmus zurück. "Kannst du eigentlich kochen?"
Die Haushälterin blies die Backen auf.
"Hmm... das kommt drauf an. Was soll es denn sein?"
"Nun... was man kranken Menschen am besten anbietet?", antwortete die Vampirin vage und stellte einmal mehr fest, dass sie hinsichtlich derlei grundlegender menschlicher Gepflogenheiten immer noch ein wenig Nachholbedarf hatte. Klar war nur, dass Ophelia schleunigst etwas Vernünftiges zu Essen brauchte, um wieder zu Kräften zu kommen. Aber Mina hatte auch gehört, dass man es in solchen Fällen eher langsam angehen lassen musste.
Bernadette streckte den Zeigefinger in die Luft.
"Meine Schwester Essie macht großartige Suppen. Unsere Frau Mama sagt immer "Eine ordentliche Suppe, das ist wie Medizin, das baut auf." Und außerdem kocht unsere Essie gelegentlich für Lady Sybils Gratishospital, da kennt sie sich auf jeden Fall aus. Ich frag sie mal."
"Danke Bernadette."
"Immer gern, Mä'äm."
Während die einen davoneilte und eifrig Putzutensilien zusammensuchte, um ihren Aufgaben nachzugehen, wandte sich die andere erneut der Haustür zu und verließ unfreiwillig lautstark das Anwesen. Denn die Sache mit dem Zeit haben - das musste als nächstes geklärt werden.


Manchmal, wenn etwas irgendwie Bedeutsames oder Ungewöhnliches geschehen ist, etwas, was für einen selbst alles zu ändern scheint - dann erwartet man unwillkürlich, dass sich auch etwas an der Welt geändert haben muss. Eine spürbare Reaktion im Gefüge um einen herum, in dem was untrennbar zusammenhängt und verflochten ist. Wie das Wasser, in das der Stein geworfen wird, immer weiterläufigere Wellen schlägt. Aber dem ist meist nicht so. Alles bleibt beim Alten und die Welt als solche zeigt sich ziemlich unbeeindruckt von den Stürmen, die anderswo toben. Und so lag auch der zweite Stock des Wachhauses am Pseudopolisplatz noch ebenso da, wie er es immer getan hatte. Genauso, wie sie ihn verlassen hatte. Dem ganzen Wachhaus wohnte an sich eine Vertrautheit inne, eine Unerschütterlichkeit und die Gewissheit, dass alles am nächsten Tag ebenso weitergehen würde. Doch wenn dies zu anderen Gelegenheiten eine eher beruhigende Wirkung hatte, so war es jetzt irgendwie irritierend. Wenngleich dieser Zustand wohl höchstens so lange anhalten würde, bis ersten Einzelheiten des "Angriffs des Profimobs" sowie die sensationellen Ergebnisse der damit zusammenhängenden Untersuchung die Runde machten und die Gerüchteküche überzukochen begann. Für die Rohrpostdämonen würde es wie Schneevaterfest und Seelenkuchendienstag zugleich sein. Mina legte wenig Wert darauf, dann vor Ort zu sein. Aber wenn alles glatt lief, würde ihr das wohl erspart bleiben.
Die Vampirin klopfte an der Tür zum Büro ihres Abteilungsleiters.
"Ja, was denn noch?", erklang die entnervte Antwort.
Sie trat ein.
"Sör."
Der Werwolf lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
"Ach, Chief-Korporal, schön, dass du uns auch einmal wieder mit deiner Anwesenheit beehrst", schnaubte er. "Du hast den ganzen Spaß verpasst."
Auf seinem Schreibtisch türmten sich die Papierstapel, zahllose Ikonografien lugten zwischen den Seiten von Berichten hervor, hier und da erkannte man Grundrisszeichnungen. Mina brauchte all das gar nicht erst näher in Augenschein zu nehmen, um zu wissen, welcher Einsatz ihrem Vorgesetzten hier graue Haare bescherte.
Dennoch ließ sie scheinbar interessiert ihren Blick über die Dokumente gleiten.
"Ich habe schon gehört", meinte sie mit neutraler Miene. "Beinahe ein wenig ernüchternd, wie ein einziger Mob innerhalb eines Tages das ans Tageslicht bringen konnte, was wir in über einem Jahr Ermittlungsarbeit nicht geschafft haben."
"Du sprichst von eurem kleinen Rettungszirkel?"
"Ja." Jetzt nur nichts anmerken lassen! Mina schaute auf. "Aber es ist gut, dass es so gekommen ist."
Der Werwolf ließ sich einen Moment Zeit mit seiner Antwort und maß seine Stellvertreterin mit abschätzenden Blicken.
"Dann weißt du schon von Ophelia?"
"Natürlich." Sie sah ihm fest in die Augen. "Und das ist auch der Grund, aus dem ich Urlaub beantrage, Sör. Ab sofort."
Kurz legte sich so etwas wie ehrliche Überraschung auf das Gesicht des Abteilungsleiters, wurde aber umgehend von Argwohn verdrängt.
"Auf den Zusammenhang bin ich jetzt wirklich gespannt", sagte er langsam.
Mina nickte ernst. Ihre Ausbildung als verdeckte Ermittlerin gereichte ihr nun zum Vorteil - lügen ohne rot zu werden. Auch, wenn ihr der Gedanke nicht ganz behagte, diese Fähigkeit hier und jetzt anwenden zu müssen. Gegenüber ihrem Vorgesetzten. In einer Sache, in der er eigentlich etwas mehr als nur eine halbe Wahrheit verdiente. Aber solange sie sich nicht sicher sein konnte, was Breguyar seinen vertrautesten Kollegen erzählt hatte, war es wohl besser so. Auch wenn eine hinterhältige kleine Stimme in ihrem Hinterkopf flüsterte, dass es damals mit Ophelia auch so angefangen hatte. Eine kleine Lüge am Anfang war leicht, aber dann... Mina verbot sich, weiter darüber nachzudenken. Das hier war etwas vollkommen anderes! Sie konzentrierte sich wieder auf ihre nächsten Worte. Von deren Glaubhaftigkeit hing schließlich einiges ab.
"Wie du ja weißt, hatte Ophelia bereits in der Vergangenheit unter dem Einfluss diverser Vampire zu leiden. Auch dort, wo sie das letzte Jahr verbracht hat... nun, nachdem was ich bisher gehört habe, ist man dort mit ihr auch nicht eben zimperlich umgegangen."
Das Stocken in der Stimme war sogar echt gewesen. Ungefragt drängten sich Bilder der Käfigkammer und des Alten auf, der Ophelia so lange gefangen gehalten hatte. Mina schluckte schwer.
"Daher bin ich mit Rach übereingekommen, dass es das Beste wäre, wenn sie für eine Zeit bei mir zu Hause untergebracht wird. Damit ich mich um sie kümmern kann. Damit sie jemanden hat, der in der Lage ist, das alles nachzuvollziehen, weil er der gleichen Spezies angehört, wie der Kerl, den ihr festgesetzt habt. Weil ich ihr helfen kann."
"Hmm." Romulus schien nicht glücklich mit dieser Antwort - auch, weil ihm die darin liegende Logik wohl einleuchtete. "Das hast du dir aber recht schnell überlegt."
"Es gab keinen Grund zu zögern, nachdem Rach mich informiert hatte. Ich habe zudem den Platz und, wenn du es gestattest, auch die Zeit. Außerdem kenne ich Ophelia schon lange. Sie vertraut mir." Hoffentlich noch immer..."
Der Abteilungsleiter rang mit sich.
"Versteh mich nicht falsch, Chief-Korporal, ich kann das alles nachvollziehen", sagte er dann. "Aber gerade jetzt wäre es doch ein wenig ungünstig, wenn die halbe Abteilungsleitung indisponiert ist und das für... wie lange soll dieser Urlaub eigentlich dauern?"
Mina biss sich auf die Unterlippe.
"Das... kann ich noch nicht so genau sagen, Sör."
Er starrte sie ungläubig an.
"Du erwartest allen Ernstes von mir, dass ich dir jetzt unbefristeten Urlaub bewillige, jetzt wo wir diesen Fall auf dem Tisch haben", er schlug mit der Hand auf die Papiere vor sich, "der garantiert noch einen endlosen Rattenschwanz nach sich ziehen wird, irgendwelche Verknüpfungen zu alten Fällen, die dann neu aufgerollt werden müssen, und was weiß ich nicht noch alles?"
"In Anbetracht meiner noch nicht genommenen Urlaubstage wäre zumindest formal ein gewisser Zeitraum möglich."
Der Abteilungsleiter rieb sich frustriert die Augen.
"Du hast vielleicht Nerven", knurrte er.
"Sör, zumindest diese Fälle hier habe ich abschließend bearbeitet und gesichtet." Sie legte einen kleinen Stapel Mappen auf einen der wenigen freien Plätze im Raum. "Rabbe hat den Grießelitz-Fall abgeschlossen, die fehlenden Unterlagen zum Doppelmord in der Spielhölle sind eingetroffen und die Sache mit den ephebischen Kameen muss uns nicht mehr interessieren, da man eine Quittung gefunden hat."
"Geschnittene Steine, um die sich ohnehin nur ein paar reiche Snobs scheren, sind gerade mein geringstes Problem", seufzte Romulus. Er starrte noch einen Moment lang vor sich hin, dann nickte er widerstrebend. "Also gut. Aber halte diese... Auszeit so kurz wie möglich. Außerdem will ich, dass Bregs das absegnet. Schließlich fällt es sonst im Zweifelsfall auf mich zurück, wenn sich ein Rückstau bildet."
Mina musste an sich halten, um nicht erleichtert aufzuatmen. Jetzt war es kein Problem mehr. Natürlich würde der Kommandeur offiziell nicht gerade begeistert sein und sie würde pro forma das ein oder andere zu hören bekommen - aber schlussendlich würde er, nach außen hin zähneknirschend, zustimmen.
"In Ordnung, Sör. Danke, Sör."
"Ja ja ja ja", er machte eine wegwerfende Handbewegung. "Wegtreten, bevor ich es mir anders überlege."
Sie war schon an der Tür, als Romulus sie noch einmal aufhielt.
"Chief-Korporal, nur so aus Neugier..."
Sie drehte sich erneut um.
Der Abteilungsleiter sah sie nachdenklich an. Abschätzend, prüfend.
"War das alles?", wollte er dann mit einem seltsamen Unterton in der Stimme wissen.
Er ahnte es... wenn nicht mehr. Natürlich. Der Mann war nicht umsonst Abteilungsleiter und hatte gewiss schon längst bestimmte Schlüsse gezogen. Aber zwischen ahnen, vermuten und etwas mit Sicherheit wissen... da lag ein gutes Stück, welches die eigenen Handlungen zwang, in gewissen Bahnen zu bleiben.
"Ja, Sör, das war alles. Für den Moment."
Er verstand. Und nickte. Manchmal war es besser, von ein paar Details gar keine Kenntnis haben zu wollen. Irgendwann würde sie ihn vielleicht wissen lassen, dass sie ihm dafür etwas schuldig war.
"Dann richte Ophelia meine Genesungswünsche aus", brummte Romulus abschließend. "Und die Bewilligung von Bregs will ich übrigens schriftlich."

15.09.2017 21: 30

Wilhelm Schneider

Rogi beobachtete das Verhalten der jungen Frau vor ihr mit gemischten Gefühlen. Einerseits verstand sie deren zitternde Hände, als jene das langärmelige Kleidungsstück auszog. Auf ihre Anweisung hin. Die kleine DOG hatte nicht damit gerechnet gehabt, den ganzen Arm freilegen zu müssen. Und die engen Ärmel ließen sich für ihren Geschmack einfach nicht komplikationsfrei genug hochkrempeln. Sie wollte schließlich keine Kompresse basteln! Dadurch wurden jedoch unzählige Narben sichtbar, die den gut gebauten Oberkörper überall dort reichlich bedeckten, wo weder Hemdchen noch Halstuch sie verbargen.
Die Wächterin zog beide Brauen in die Höhe und suchte den Blick der Jüngeren. Die diesem Versuch allerdings auswich. Senrays Augenmerk schien am Boden zu kleben.
Rogi runzelte die Stirn, beließ den Anblick jedoch unkommentiert. Die Wunden waren alt und lange schon verheilt. Wenn die Kollegin nicht darüber sprechen wollte, dann sollte es eben so sein. Heute ging es um etwas Anderes.
Sie tränkte ein sauberes Baumwolltuch mit dem hochprozentigen Alkoholgemisch aus dem kleinen Apothekerfläschchen, indem sie das Tuch auf der Flaschenöffnung auflegte und diese dann umdrehte.
Der scharfe Geruch des Desinfektionsmittels durchzog sofort den Raum.
"Hier alfo, ja?"
Sie deutete auf die freigelegte Stelle des Oberarms und als Senray schüchtern nickte, rieb sie dort mit dem Tuch über.
Wenn es nach ihr gegangen wäre, nach ihrem Verständnis dieses Paktes mit seinen eher unberechenbaren Rückkopplungen, so hätte das Anpieksen einer Fingerkuppe mit spitzer Nadel vermutlich ausgereicht. Man musste schließlich nur bedenken, was ein winziger Papierschnitt bereits zu bewirken imstande gewesen war! Der Einwand der Außenstellenwächterin barg jedoch eine unangreifbare Logik: Falls die Platzierung der Wunde einen Effekt darauf hätte, wo sich die Folgen dazu an Wilhelms Körper zeigen würden – so er eben wirklich noch vollumfänglich unter dem Fluch stünde – sollten sie tunlichst die Hände aus dem Spiel lassen. Sowohl ihre, als auch, eben dadurch, die seinen. Der Rekrut war nicht nur Wächter, sondern auch Schneider, eine Tätigkeit, die Fingerspitzengefühl abverlangte. Oder zumindest die Fähigkeit, eine Nähnadel noch halten zu können! Seine Hände hatten bereits zu viel einstecken müssen.
Rogi war sich sowieso nicht sicher, ob das hier wirklich eine gute Idee war. Natürlich konnte sie die beiden verstehen, Wilhelm und Senray. Oder zumindest deren Motive.
Als der Rekrut in gewohnt nonchalanter Art mit der unerwarteten Bitte an sie herangetreten war, hatte sie ihm diese aus einem ersten Impuls heraus rundweg abschlagen wollen. Ob er jetzt endgültig übergeschnappt sei? Wolle er etwa mit aller Gewalt das Schicksal herausfordern? Dann aber hatte er zu erklären begonnen und alles an ihm hatte dabei klar und deutlich signalisiert: Wir machen es auf jeden Fall, so oder so. Wir müssen uns absichern. Bescheid wissen. Über Beistand jedoch, egal welcher Art, wären wir froh.
Und dass ihr Beistand, als qualifizierteste Person des Rettungszirkels in Sachen medizinischer Erstversorgung, dabei wirklich sinnvoll wäre, konnte auch sie nicht bestreiten.
Was aber nichts daran änderte, dass das permanente, ängstliche Verzögern der Kollegin ihr allmählich an die Nerven ging. Und auch nichts daran, dass ihr immer häufiger der Gedanke aufstieg, ob es nicht doch besser gewesen wäre, auch Kanndra zu diesem Versuch hinzuzuziehen. Sei es nur, als beratende Instanz. Immerhin ging es hier um nicht weniger, als darum, gezielt die Reaktion eines Dämons zu provozieren!
Sie griff nach der bereit gelegten langen Metallnadel und fuhr auch über diese noch einmal mit dem Tuch. Dann setzte sie mit der Spitze über der Haut an.
Senray zuckte deutlich zusammen. Sie wich zwar nicht vor dem Werkzeug zurück, sondern schien im Gegensatz regelrecht zu versteinern. Aber es fehlte auch nicht viel. Ihre Unterlippe verschwand nahezu, eingesogen, um von knabbernden Zähnen in höchster Nervosität bearbeitet zu werden.
Rogi lehnte sich wieder mit tiefem Seufzer auf dem Stuhl zurück, der ihr vom Schreibtisch herangezogen worden war.
Auf der anderen Seite des Bettes, hinter dem Sichtschutz des zugezogenen Baldachinvorhangs, machte sich der geduldig wartende Rekrut bemerkbar.
"Senray? Ist alles in Ordnung?"
Diese machte hastig nickend ein bejahendes Geräusch. Sie krallte sich regelrecht in das bereits völlig zerknitterte Bettzeug, auf dem sie saß, und rang um Fassung.
Rogi brauchte keine Vampirsinne, um deren rasenden Herzschlag zu erahnen. Genervt ließ sie die Nadel in ihrer freien Hand wippen, welche locker auf ihrem Bein auflag.
"Nichtf Dramatisches bifher, Wilhelm. Fie ziert fich nur."
Senray bemühte sich sichtlich darum, ihren Atem zu beruhigen. Sie warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. Mit kläglichem Tonfall antwortete sie dem verborgen hinter ihr sitzenden Vampir.
"Es tut mir leid, Wilhelm! Ich weiß, ich mache es noch schlimmer und gehe dir damit bestimmt auf die Nerven... aber... ich weiß nicht, ob ich das schaffe? Ich will auf keinen Fall daran Schuld sein, also, noch mehr, als sowieso schon, wenn er dir etwas tut!"
Wilhelms Antwort klang gleichzeitig angespannt und resigniert.
"Du sollst dir doch nicht immerzu solche Sorgen machen. Dieser Test ist eine wichtige Sache. Für uns beide. Ich möchte die Ungewissheit nicht länger mit mir herumtragen müssen. Und du möchtest doch auch wieder nach Hause können. Zu deiner Katze. Nicht wahr?"
Senrays Antwort war kaum mehr als ein Flüstern, der Vampir hörte sie aber natürlich dennoch.
"Trotzdem..."
"Senray... bitte!"
Rogi beobachtete, wie die junge Frau tief durchatmete, ehe sie sich bewusst aufrechter setzte, die Schultern straffte und ihr mit entschlossenem Blick den Arm hinhielt. Sie setzte die Nadel erneut an.
"Dann wollen wir mal! Wilhelm, fallf was ift... dann schrei!"
Seine Antwort klang nur vom Wortlaut her so sorglos wie üblich. Der Tonfall, der mitschwang, strafte den Versuch Lügen, Zuversicht zu heucheln.
"Wie du wünschst, Ma' am!"
Senray presste ihre Lippen zusammen und mit leichtem Zittern der eigenen Hand stach Rogi zu. Leicht, nicht tief!
Die Kollegin sah gehetzt zu ihr auf, ihre Blicke trafen sich und sogar sie selber kam nicht umhin, vor Anspannung die Luft anzuhalten.
Senrays Blick flog zu der Nadel zurück, als diese ganz vorsichtig zurückgezogen wurde und sich wieder aus ihr löste. Sie drehte sich im Sitzen schnell zum Vorhang hinter ihr um, deutlich den Drang niederkämpfend, den Stoff einfach beiseite zu zerren.
"Wilhelm? Alles in Ordnung bei dir?"
"Ihr habt bereits begonnen, nicht wahr? Ja, alles gut. Bis jetzt spüre ich nichts Besonderes. Das darf man dann wohl bereits als Verbesserung ansehen, oder?"
Ein winziger roter Tropfen bildete sich langsam an Senrays Oberarm.
Rogi blickte fragend zu der Kollegin.
"Und wie foll ef jetzt weitergehen?"
Eine kurze Stille füllte den Raum, ehe Wilhelms Stimme mit deutlicher Zurückhaltung ausführte: "Ich nehme an, dass der Dämon bis zu einem gewissen Grad frei darüber entscheiden kann, ob und in welchem Maße ein... Paktbruch geahndet werden muss? Und wenn dann eine Reaktion ausbleibt, heißt das im Grunde nichts? Allerdings... wenn man berücksichtigt, dass er mich wirklich, wirklich nicht leiden zu können scheint... und die Situation zuletzt nur zu gerne dazu nutzte, mich unverhältnismäßig hart mit den Folgen des aktivierten Paktes zu... beschenken... dann liegt der Schluss nahe, dass er sehr wohl reagieren würde... insoweit es sich nur lohnt. Sehe ich das richtig? Denn dann ist der nächste Schritt nahe liegend. Zumindest, wenn wir wirklich auf Nummer Sicher gehen wollen. Nicht wahr, Senray?"
Der Blick der jungen Frau huschte unwillkürlich zu der auseinander gerollten Instrumententasche auf der Bettkante seitlich von ihr.
Die Stimme des Rekruten nahm einen erstaunlich warmen Klang an.
"Senray... keine Angst! Ich werde es überstehen. Und für dich wird es keine schlimme Wunde sein. Außerdem ist doch Rogi bei dir, sie kann den winzigen Schnitt sofort versorgen, dann ist es, als wenn er nie da gewesen wäre. Sie ist wirklich gut. Vertraue mir! Ich habe ihre Hilfe bereits mehrmals in Anspruch nehmen dürfen. Kompetent, geübt, hilfsbereit, professionell... ich meine... jedenfalls, sehr geeignet."
Sie wusste augenblicklich, welches Bild ihm in diesem Moment gedanklich in die Quere gekommen sein musste.
"Feeehr hilfreich, Rekrut" Zu Senray gewandt sagte sie: "Dann alfo doch etwaf mehr. Aber daf follte kein Problem fein. Mach dir keinen Kopf!"
Sie stand von ihrem Stuhl auf und nahm die Instrumentenrolle vorsichtig von der Bettkante, um sie stattdessen dort abzulegen. Dann trat sie näher ans Bett und wölbte den Vorhang hinter der Kollegin aus.
"Leg dich hin!"
"Was? Wieso, ich meine...?"
"Nun mach fon! Wir wollen hier fließlich nicht wegen fo einer kleinen Fache bif morgen sitzen. Und fo wie du dich haft, wird ef wohl besser sein, wenn du nicht hinschaust. Alfo gibt ef nun ein Abdecktuch."
Die junge Frau begab sich in die Waagerechte. Kaum lag sie an der Kante, die Arme dicht an ihre Seiten gedrückt und den Blick so ängstlich zu ihr aufgerichtet, wie ein Kaninchen vor der Schlange, da ließ Rogi den zurück gehaltenen Vorhang wieder los. Der Stoff floss zurück und bildete fast so etwas wie eine gewölbte Höhlenwand, entlang des zierlichen Körpers.
Sie zog ihre Behandlungstasche näher und begann systematisch damit, eine Operation vorzubereiten. Gewissermaßen. Der kleine Schnitt würde den Aufwand zwar kaum rechtfertigen. Aber zum einen gab solch ein Arrangement der Kollegin vielleicht wirklich die Chance, emotional etwas geschützter damit umzugehen. Und zum anderen...
Sie runzelte unwissentlich die Stirn, bei dem Gedanken daran, dass das Zittern ihrer Hände gleich zu einem Problem werden könnte. Bisher ging es noch. Aber sobald sie zum Skalpell greifen und es ruhig zu halten versuchen würde... es gab einen guten Grund dafür, warum sie Araghast nach ihrer Widererweckung davon in Kenntnis gesetzt hatte, nicht mehr als Sanitäterin arbeiten zu können. Jedenfalls nicht so – mit der Klinge.
Dementsprechend zogen die Vorbereitungen sich womöglich etwas mehr in die Länge, als sie es rein objektiv betrachtet gemusst hätten. Das große weiße Tuch entfaltete sich und sie strich es über die ihr zugewandte Körperseite der kleinen DOG glatt. Sogar deren Gesicht bedeckte sie damit zur Hälfte, so dass diese nicht sehen können würde, was hier mit ihrem Körper geschah.
Rogi wandte sich kurz dem Stuhl zu, nahm die Instrumentenrolle auf, drehte sich wieder um und legte diese auf den sauber in weiß abgedeckten Beinen der Liegenden ab.
Senrays Augen folgten jeder ihrer Bewegungen soweit dies möglich war.
Rogi zog den Stuhl wieder heran und setzte sich. Die Tasche am Boden zog sie mit dem Fuß näher, dann bückte sie sich zu deren Inhalt herab und holte eine Glasampulle, ein Spritzbesteck, eine bauchige dunkle Flasche und weitere Abtupftücher heraus. Soweit möglich arrangierte sie die Sachen, außer der schweren Flasche, ebenfalls auf Senrays Beinen, fein säuberlich aufgereiht neben den übrigen Dingen. Dann breitete sie ein letztes weißes Tuch auf ihrem Schoß aus.
"Arm aufftrecken!"
Senray gehorchte fast mechanisch und der dünne Arm tauchte unter seiner Abdeckung auf.
Rogi nahm ihn in Empfang und drapierte ihn locker quer über ihren Schoß. Dann öffnete sie die große Jodflasche und schmierte den Arm großzügig und großflächig mit der dunklen Suppe ein.
Senrays Blick wanderte zu dem gebeult hängenden Stoff über ihr. Ihre Gedanken wanderten offensichtlich zur anderen Seite der dünnen Barriere. Und in einer gänzlich unbedachten, spontanen Geste streckte sie ihre Hand wie sehnsüchtig in seine Richtung. Sie berührte den Vorhang und ihre Finger verharrten dort eine Sekunde, ehe sie wie kraftlos daran herunter glitten und sich dann in den Stoff krampften.
Rogi kam nicht umhin, dieses aussagekräftige Verhalten zu registrieren, sei es auch bloß aus dem Augenwinkel, denn die schlanke Hand leuchtete regelrecht blass vor dem dunklen Hintergrund der tiefroten Stoffbahn.
Was auch immer das zwischen euch beiden ist, Rekrut... würde mich fast wundern, wenn ihr es selber wüsstet.
Sie bereitete das Spritzbesteck vor und zog einen Teil der klaren Flüssigkeit aus der Ampulle auf, ehe sie die Luftbläschen ausklopfte.
"Für deinen Kreiflauf, quasi. Betäubt die Ftelle, wo der Fnitt hin soll. Und da die Nadel eben kein Problem darftellte, follte daf auch gehen."
Senrays Lippen pressten sich dünn aufeinander, doch sonst zeigte sie keine weitere Reaktion, als Rogi ihr die Spritze setzte.
Und dann war es soweit.
Oder fast.
Als sie die Klinge des Skalpells zum dritten Mal desinfizierte, räusperte der Vampir hinter dem Vorhang sich dezent.
"Ma 'am? Hat es einen Grund, dass du... eher zögerlich zur Sache kommst?"
Natürlich, du weisst, dass ich längst so weit wäre... und du kannst meinen angespannten Herzschlag ebenso hören, wie ihren.
Sie seufzte schwer und brummte unwillig zur Antwort.
"Nicht jetft!"
Sie blickte auf das Skalpell und das bereits einsetzende Zittern ihre Hände. Dann wanderte ihr Blick in Richtung der Tasche auf dem Boden. Sie atmete tief durch, legte das Instrument umsichtig auf die ausgebreitete Rolle und griff in ihr Reisegepäck. Mit resoluter Bewegung zog sie nochmal die Flasche mit dem reinen Desinfektionsalkohol heraus, schraubte ihn auf... und nahm einen kräftigen Schluck.
Was soll's! Besser noch einen zweiten.
"Ähm... Ma' am? Hälst du das wirklich für eine gute Idee? Wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege... mal abgesehen davon, dass es nicht gesund sein kann..."
Wieder die Stimme des Rekruten. Senray hingegen beobachtete sie lediglich stumm und mit dem einen sichtbaren Auge über den Rand des Abdecktuches hinweg. Und dieses Auge war sichtlich geweitet vor Erstaunen.
Sie verschloss die Flasche fast trotzig und konterte den Blick.
"Waf! Ef ift kein Geheimnis, dass ich nicht mehr alf Fani arbeiten wollte. Und ef in beftimmten Bereichen auch nicht mehr tue. Ift wohl kaum ein Versehen, fo eine Entfeidung! Trotzdem habt ihr euch für mich entfieden, bei eurer Bitte. Alfo tut nicht fo, alf wenn daf jetft völlig überrafend käme! Foll ich weitermachen oder foll ich gehen?"
Wilhelm schien verunsichert, denn nach einem Moment des Schweigens überließ er die Entscheidung seiner Komplizin in dieser Angelegenheit.
"Senray? Wenn du damit einverstanden bist... ich meine, es ist dein Körper."
Die Obergefreite nickte nur kurz, dann sah sie wieder fort.
Rogi schüttelte ein letztes Mal ihre Hände aus und atmete tief durch. Dann griff sie endgültig zum Skalpell. Und bevor sie es sich anders überlegen oder großartig zu zittern beginnen konnte, richtete sie die extrem geschärfte Klinge gen den Körper vor ihr und setzte zum Schnitt an.
Senray hatte die Augen zusammengekniffen, dennoch wurde sie kreidebleich. Keinen Schmerz zu spüren hieß nicht, dass sie den Moment völlig verpasst hätte, indem etwas ihren Arm berührte oder zu ahnen, dass die Bewegungen der Igorina nur den Schluss zulassen konnten, dass sie bereits damit beschäftigt war, dass Skalpell schnell zu säubern und es in der selben Bewegung bereits in den Einschub der Instrumentenrolle zu verstauen.
Von der anderen Seite des Vorhangs hörten sie leise Wilhelms Stimme.
"Uhm..."
Senray riss panisch ihre Augen auf und starrte in seine Richtung.
"Wilhelm? Wilhelm, was ist?! Sag doch was!"
Auch Rogis Aufmerksamkeit löste sich sofort von den nun heftig zitternden Händen. Sie war allarmiert. Sie war allerdings nicht schnell genug, um Senrays Reaktion aufzuhalten, als Wilhelm es versäumte, der kleinen Kollegin umgehend zu antworten.

Wilhelms Nervenkostüm war angespannt bis zum Zerreissen. Die Frage, inwiefern dem Dämon laut Paktformulierung noch ein Zugriffsrecht auf ihn zustünde, hatte für seinen Geschmack viel zu lange ungeklärt im Raum gestanden. Sicher, da war er selber dran Schuld gewesen. Was das anging, war Senrays Zögern gewissermaßen entschuldbarer als sein eigenes. Immerhin hätte er die Angelegenheit ja auch schon viel früher von sich aus ansprechen können. Aber nein, auch hier war er fehlbar und weit entfernt von jeglichen Attributen, die man einem Helden zuschreiben mochte. Er hatte schlicht und ergreifend Angst gehabt, vor der Macht der Feuerkreatur. Hatte es immer noch! Und diese Angst reichte tief hinab. Er würde sie niemandem so freimütig eingestehen, dass das offensichtlich würde. Selbst seinem kleinen Vogelherzen gegenüber nicht, dem er in allen Dingen mit Ehrlichkeit entgegentrat. Wozu sollte es auch gut sein, den Augenblick seiner Knechtung wieder und wieder zu durchleben? Sich die Schande seiner Reaktionen nicht nur selber vor Augen zu führen, sondern sie womöglich anderen ebenfalls preis zu geben? Nein, es genügte, dass sie darum wusste, dass er Furcht verspürt und die Knie gebeugt hatte. Sie brauchte nicht zu wissen, wie sehr.
Dementsprechend hatten ihn aber direkt vor dem Beginn dieses Experimentes Sorgen und Befürchtungen im Griff gehabt, die nur wenig Raum für Gedanken anderer Art ließen.
Was ihn in dieser Sekunde mit Wucht eingeholt und schlichtweg überfordert hatte!
Ihr Herzschlag hinter dem Vorhang schien zu explodieren, ein Eindruck, der das anderweitige Feuerwerk der Sinne perfekt unterstrich, untermalt von einem Wirbeln der Luft und einem herzhaften Fluch der Igorina, der dennoch wie von weit, weit weg an seine Ohren drang.
"Verdammt nochmal!"
Irgendwo fielen Dinge zu Boden und das köstliche Parfum, das den Raum seit einigen Sekunden geflutet hatte, ergoss sich hemmungslos um ihn.
Er atmete langsam und tief ein. Und öffnete die Augen. Nur um direkt in die ihren zu sehen.
Senray musste sich in einer einzigen Bewegung aufgesetzt und den Vorhang zwischen ihnen beiseite gezerrt haben, um nach ihm zu sehen. Ihr Blick riss sich mit einem kaum merklichen Zögern von seinen Pupillen los und huschte ängstlich über seinen Körper, seinen Arm.
Sie... ist... atemberaubend!
Hinter Senray sammelte Rogi Feinstich ihre Instrumente vom Boden auf und warf ihnen immer wieder böse Blicke zu. Aber das verblasste zur Bedeutungslosigkeit.
Die junge DOG konnte keine Verletzungen an ihm sehen und sackte erleichtert in sich zusammen. Sie murmelte in einem Stoßgebet:
"Den Göttern sei Dank!" Sie strich sich in einer fahrigen Geste das Haar aus dem Gesicht und sah ihn nachdrücklich an. "Aber warum hast du nichts gesagt?"
Er konnte seinen Blick kaum von ihr lassen, auch wenn dieser nun unaufhaltsam zu ihrem noch nicht versorgten Arm wanderte. Und wirklich, was sich ihm auf anderen Wege längst offenbart hatte, schmeichelte nun auch dem Auge.
"Ich war zu sehr darauf gefasst gewesen, ziemliche Schmerzen aushalten zu müssen. Ich hatte nicht daran gedacht, dass... dass ja zugleich auch etwas... Positives geschehen müsste... Senray, du... du bist wundervoll! Und du duftest köstlich!"
Er sah sie wieder direkt an und alle Gedanken und Gefühle, die ihr durch den Kopf schossen, schienen gleichzeitig zu geschehen.
Sie erkannte den Zusammenhang zwischen seinen Worten und ihrer Wunde und der Gedanke daran, welcher Spezies sie in dieser Sekunde nur Zentimeter entfernt gegenüber saß, ließ ihren Atem stocken und ihr Herz stolpern.
Sie wurde sich ihrer relativ dürftigen Bekleidung gewahr, die ihn völlig unabhängig seiner Spezies lockte - und errötete.
Sie dachte an die gut sichtbaren Narben ihres weit zurück liegenden Todeskampfes und auch, wenn sie ihm diese ansatzweise bereits eingestanden hatte, dieserart präsentiert... sie wurde wieder blass.
Und riss den Vorhang zwischen ihnen wieder zu.
Ihr Duft und das eilige Konzert ihres Herzens umnebelten Wilhelm regelrecht. Der Gedanke erstrahlte in seinem Kopf, dass es keine boshafte Rückkopplung gegeben hatte, trotzdem der Schnitt, den Rogi ihr versetzt hatte, tief genug dafür gewesen sein musste.
"Kann ich mich da jetft endlich drum kümmern oder muff vorher noch irgendwaf runtergeworfen werden?"
"Entschuldige bitte, das... ähm... es tut mir... ich wollte das nicht... kann ich irgendwie... na ja..."
Die Igorina nahm sich seines kleinen Vogelherzens bereits an, was eine weitere Sorge in Luft auflöste.
Wilhelm schloss wieder die Augen und atmete in tiefen Zügen ihren Duft ein. Das einzige, was er in diesem Moment gewissermaßen etwas bedauerte war, dass dieser bestimmte Genuss in seiner vollendeten Gänze auf ewig ein Tabu für ihn bleiben würde. Gleichgültig, wie lange sie einander kennen würden und wie sehr sie sich noch an ihn gewöhnen mochte, daran ließ der Pakt keinen Zweifel. Aber das war in Ordnung. Sie war einfach unberührbar, so wie es Schätze von allergrößtem Wert waren. Wenn man gesegnet war, dann erhielt man irgendwann die Ehre, sie zu betrachten und das genügte dann.
Er musste glücklich lachen.
"Wilhelm! Warum... lass das, du unmöglicher Kerl!"
"Hörft du wohl auf, fo zu zappeln, Obergefreite? Fonft kann ich den Verband nicht ordentlich anlegen."
Er konnte sich ihren Gesichtsausdruck regelrecht vorstellen. Ihre hochroten Wangen, das zutiefst verlegene Kauen auf ihrer Unterlippe...
Seine Erleichterung brach sich in Form eines dezent schadenfrohen Kicherns Bahn, als er sich auf seine Arme gestützt nach hinten sinken ließ und grinsend an den Betthimmel sah.
"Wirklich! Diese unerhörte Fledermaus! Wilhelm!"
Und die Stimme der Möchtegern-Nicht-Sanitäterin, welche mit deutlich hörbarem Seufzer kommentierte:
"Und da haben wir ef wieder! Nicht fonderlich hilfreich, Rekrut."

16.09.2017 20: 00

Nyria Maior

Wie immer begann Raistan den Tag mit einer Kanne Kräutertee.
Während er zusah, wie der aromatische Dampf zur Zimmerdecke aufstieg, dachte er an die Alpträume, die ihn heute Nacht wieder einmal heimgesucht hatten. Dieses Mal war es nicht nur Ophelia im Käfig gewesen. Auch Racul von Ahkhs hässliche Fratze war durch seine Träume gegeistert und hatte ihn verhöhnt.
Raistan biss die Zähne zusammen. Sollte der Alte nur. Der war bloß wütend darüber, von seiner Meinung nach minderwertigen Kreaturen aufs Kreuz gelegt worden zu sein. Und die Mühlen des Gesetzes, die seinen Untergang besiegelten, mahlten bereits mit voller Leistung.
Mit einem Topflappen griff Raistan den noch heißen Henkel seiner treuen Teekanne und schenkte sich die erste Tasse des Tages ein. Gestern, nachdem er Racul in seiner Gruft eingesperrt hatte, hatte er ein ausführliches Gespräch mit Bregs geführt. Der Integrale Schutzkreis, der die Gruft versiegelte, benötigte alle zwei Tage eine neue Aufladung, wenn er langfristig zuverlässig funktionieren sollte. Und dann war da noch die Sache mit der Bewachung des Gefangenen. Bregs hatte die nicht von der Hand zu weisende Befürchtung, das jemand von außen versuchen könnte, Racul zu befreien. Ein Scherge unter Vampireinfluss, auf den die Ermittlungen bisher noch nicht gestoßen waren. Nachdem er selbst Raculs Macht zu spüren bekommen hatte, hielt Raistan es nicht für unwahrscheinlich, dass dort draußen noch jemand herumlief, der gleich einer mentalen Lochkarte für HEX darauf programmiert war, Racul in jeder erdenklichen Weise zu helfen. Deshalb musste Raculs Gefängnis in den Nächten, in denen sich niemand im Anwesen aufhielt, bewacht werden. Die erste logische Wahl des Kommandeurs war Wilhelm Schneider gewesen, aber auch andere Wächter hatten sich freiwillig gemeldet. Senray Rattenfänger hatte zum Beispiel keinen Augenblick gezögert. Aber Bregs würde lieber öffentlich die Wahrheit über den Fall 'Dreimal Glücklicher Fischimbiss' verkünden als den Feuerdämon auch nur in die Nähe Racul von Ankhs zu lassen. Und damit hatte er recht. Ebenfalls freiwillig gemeldet hatten sich Ettark Bergig, der behauptete, immun gegen Vampireinfluss zu sein, und Rogi Feinstich. Raistan wurde das Gefühl nicht los, dass die Meldung der Igorina etwas damit zu tun hatte, wegen der Manipulation ihres Geistes noch eine offene Rechnung mit dem Uralten Vampir offen zu haben. Und war es nicht möglich, dass ein einmal beschrittener Pfad, auch wenn er verschüttet worden war, sich nicht doch leicht wieder öffnen ließ?
Deshalb hatte Raistan nach seinem Gespräch mit dem Kommandeur das Wachhaus in der Kröselstraße aufgesucht und Rogi auf die Möglichkeit eines weiteren Schutzkreises für ihre Wache angesprochen. Zum Glück hatte sich der Feldwebel von der Idee angetan gezeigt und sie waren überein gekommen, sich am entsprechenden Abend im Keller des Anwesens im Grüngansweg zu treffen. Raistan seufzte leise. Auch wenn sie die eigentliche Rettungsaktion erfolgreich durchgeführt hatten - Es sah so aus, als dass für ihn, Wilhelm und Rogi die unmittelbare Beteiligung noch lange nicht vorbei war.
Die beispiellose Rettungsaktion hatte bei ihnen allen Spuren hinterlassen, selbst bei denjenigen, die ihm nie persönlich begegnet waren. Manche von ihnen, wie Feldwebel Magane Schneyderin, waren sowohl körperlich als auch püschisch für ihr Leben gezeichnet. Und auch ihn selbst würden die vier runden Brandnarben auf seinem rechten Unterarm immer an Ophelia Ziegenberger erinnern.
Der Klonk-Abend am Küchentisch der Breguyars, an dem alles begonnen hatte, schien mittlerweile so viel länger her zu sein als die knapp zwei Monate, die seitdem vergangen waren. Die Wette, die Nyria damals aus reinem Spaß vorgeschlagen hatte, weil sie irgendwas tun wollte um Araghasts Laune auf Vordermann zu bringen. Und wie Nyria nun einmal war - wenn ein Gedanke erstmal in ihrem oft chaotischen Kopf Fuß gefasst hatte, ließ sie nicht mehr locker, bis sie der Sache auf den Grund gegangen war. Vor allem, wenn es sich um ein ungelöstes Rätsel handelte. Viele Leute, die sie nicht so gut kannten, hielten Nyria grundsätzlich für faul und träge. Dabei fehlte ihr meistens lediglich die nötige Herausforderung die sie benötigte um sich ernsthaft in eine Sache hineinzuknien. Die Wette um das anscheinend unlösbare Verschwinden Ophelia Ziegenbergers hatte ihren Ehrgeiz angestachelt, die Sache nicht einfach passiv auf sich beruhen zu lassen. Und Raistan gestand sich ein, dass es ihm genauso ergangen war, nachdem Nyria ihm ihre Gedanken zum Thema mitgeteilt hatte. Wie hatte er Ophelia Ziegenbergers Zustand noch einmal für sich benannt als er damals nach dem Experiment die Ergebnisse zusammengestellt hatte? Das Ophelia-Syndrom? Nun, sie hatten sich beide in ihrer Neugierde und dem Bedürfnis, Bregs endlich Seelenfrieden zu verschaffen, gründlich damit infiziert und gemeinsam den endgültigen Beweis dafür erbracht, dass Ophelia noch lebte.
Und dann hatte sich Raistan urplötzlich mitten in einer geheimen Ermittlungstruppe innerhalb der Wache wiedergefunden. Plötzlich war er Teil eines Großen Ganzen gewesen, eine Erfahrung, die für ihn völlig neu war. Zauberer bastelten meistens allein vor sich hin und berieten sich untereinander nur, wenn es sein musste. Aber trotz all seiner zwischenzeitlichen Differenzen war der Rettungszirkel eine Einheit gewesen, die im Zweifelsfall aufeinander hörte und Entscheidungen in einer allgemeinen Aussprache traf.
Nachdenklich trank Raistan einen Schluck Tee. Irgendwie vermisste er den Rettungszirkel jetzt schon. Die Zusammenkünfte. Den Austausch von Ergebnissen und das gemeinsame Diskutieren von Möglichkeiten. Das Gefühl, seine Zauberei endlich einmal sinnvoll für einen guten Zweck einzusetzen und als Teil einer Gruppe akzeptiert zu werden, auch wenn es immer noch ein wenig stach, dass der finale Einsatz ohne ihn stattgefunden hatte.
Aber zumindest was Wilhelm Schneider betraf, war die Angelegenheit noch nicht beendet. Zu einem für sie beide günstigen Zeitpunkt schuldete Raistan ihm immer noch fünfzig Milliliter seines Blutes. Eine Spritze zur Entnahme hatte er bereits organisiert, nur um sich kurz darauf eingestehen zu müssen, dass er keinerlei Erfahrung im Umgang damit hatte. Vielleicht konnte Rogi da helfen, wenn es so weit war? Er machte sich eine geistige Notiz, die Igorina darauf anzusprechen.
Überhaupt, Wilhelm Schneider. Raistan wurde immer noch nicht schlau aus seinem Verhalten. Senray Rattenfänger schien zu glauben, dass er in Raistan mehr als nur eine schmackhafte Mahlzeit sah. Aber Senray erweckte den Eindruck, die vampirischen Eigenschaften des Rekruten so gut wie möglich zu ignorieren und umzuinterpretieren. Der Schal blieb in Wilhelms Nähe jedenfalls vorerst sicherheitshalber immer um den Hals.
Was die Obergefreite Rattenfänger betraf - Nun, wo Feldwebel Schneyderin frei war, fiel die Betreuung des Dämonenproblems wieder in ihren Zuständigkeitsbereich. Wenn er die Zeit dazu fand, wollte Raistan ihr Abschriften seiner diesbezüglichen Notizen zur Verfügung stellen. Vielleicht half es der Hexe ja weiter. Außerdem wollte er sie noch mal auf diesen Kräutertee ansprechen, der ihm so gut getan hatte. Ob sie die Mischung wohl auch verkaufte?
Mina von Nachtschatten hatte Urlaub eingereicht um die Angelegenheit mit ihrem Anspruch auf Ophelia in Ruhe zu regeln. Ebenso wie Leutnant Mambosamba und den Inspektor würde Raistan sie vermutlich vorerst nicht wiedersehen. Er wünschte ihr aber aus ganzem Herzen alles Gute und starke Nerven für das, was ihr noch bevorstand.
Der junge Zauberer stellte seine Teetasse auf dem Schreibtisch ab und nahm sich ein Stück Schmierpapier und einen Bleistift. Wenn er schon gerade über den Rettungszirkel sinnierte, konnte er sich auch gleich schon ein paar Notizen für den Brief machen, den er Ophelia Ziegenberger schreiben wollte. Er schuldete ihr auf jeden Fall eine Entschuldigung für seine rabiate mentale Stippvisite und eventuelle Strafen die sie deshalb von ihren Kerkermeistern bekommen haben mochte. Und Ophelia freute sich sicher über Post, nachdem sie so lange von sämtlichen sozialen Kontakten abgeschnitten worden war.
Heute Nacht war Vollmond. Das hieß, dass er, wie immer, vierpfötigen Übernachtungsbesuch bekommen würde und die Alpträume ihn zumindest für eine Nacht in Ruhe ließen. Er konnte den ungestörten Schlaf dringend gebrauchen. Die kommenden Wochen wurden noch einmal hart.
Aber die Tatsache, dass sie einem der wohl schlimmsten Schurken Ankh-Morporks das Handwerk legen konnten, war jede Anstrengung wert.

19.09.2017 16: 14

Senray Rattenfaenger

Senray kraulte nachdenklich Miezie’s Kopf, während das kätzische Ungetüm auf ihrem Schoss wohlig schnurrte. Das geschah wirklich nicht oft. Eigentlich nie.
Doch seit gestern... Seit Senray das erste Mal seit Wochen wieder in ihre Wohnung gekommen war...
Die junge Frau kraulte weiterhin den Kater.
Gestern. Gestern noch hatte sie den ersten Brief an Ophelia aufgesetzt und abgegeben. Oder eher die ersten. Was waren es letztendlich gewesen? Sechs? Sieben? Die sie alle zerknüllt und neu angefangen hatte. Geradezu albern. Schließlich hatte sie aufgehört sich über die Worte Gedanken zu machen und einfach genau das geschrieben, was sie fühlte und schreiben wollte. Wie sehr sie den Austausch mit Ophelia vermisst hatte. Ihre mehr als berechtigten Sorgen um das Wohlergehen der Kollegin. Der Freundin. Dass sie hoffte, dass die Andere bald wieder auf den Beinen wäre. Aber auch, dass mittlerweile eindeutig klar war, dass die damalige Reaktion nur zum Teil mit Ophelia zusammenhing. Die Quelle war in dem Fall sie selbst. Ophelia war nur so etwas wie ein Leiter. Dass sie deswegen leider nicht einfach so vorbei kommen konnte, das war schlichtweg zu gefährlich.
Dieser letzte Teil war der jungen Frau besonders schwer gefallen und gleichzeitig besonders wichtig gewesen. Denn sie wollte so gerne zu Ophelia gehen! Wollte sie sehen, mit ihr sprechen, ihre Hand halten. Sie wollte für sie da sein, wenn sie denn konnte, wenn die Andere es denn wollte. Nicht nur...
Miezie stupste ihre Hand auffordernd und Senray kam wieder ins Jetzt zurück. Sie lachte und seufzte gleichzeitig und fuhr fort, den Kater zu kraulen. Echtes morporkianisches Straßengemisch, eindeutig. Bist du nicht aufmerksam, bist du tot. Oder wirst angestupst. Meistens gekrallt. Oder gebissen.
Mit ein wenig schlechtem Gewissen kam der DOG Wilhelm in den Sinn. Der Vampir hatte nach ihrem gestrigen Experiment darauf bestanden, sie heimzubringen. Nicht ins Boucherie, sondern hierher, in ihre Wohnung. Zu diesem Monster von einer Katze, wegen dem sie sich während der Gültigkeit des Paktes nicht her getraut hatte. Senray selbst hatte erst abgelehnt, dann realisiert, dass es sie eigentlich freuen würde und zugestimmt. Und kurz vorm Haus wäre sie beinahe umgekehrt und hätte Wilhelm mit sich geschliffen, wenn er das denn zugelassen hätte. Sie hatte Rosmalia vergessen! Nicht wirklich vergessen natürlich. Aber... Bei den Göttern, ihre Freundin würde sofort hören wenn jemand die Treppen zu ihrer kleinen Dachgeschosswohnung hinaufging. Und nachsehen. Es konnte ja nur Senray sein – oder jemand, der dort nichts zu suchen hatte. Und wenn sie selbst mit einem Mann dort auf den Stufen wäre... Es war nicht so, dass Rosmalia einfach die falschen Schlüsse ziehen würde. Nein, sie würde die vollkommen falschen Schlüsse ziehen und sie würde sie jedem, der sich nicht erfolgreich wehrte, erzählen! Ganz sicher! Es gab einen Grund, warum Senray Rosmalia nichts vom Fratzenbuch erzählt hatte. Die Freundin würde noch einen privaten Klacker am Haus anbringen lassen, nur um über jeden Klatsch auf dem Laufenden zu sein und selbst noch viel mehr zu verbreiten!
Also hatte die junge Frau gezögert und Wilhelm aufgehalten. Ihr Versuch, ihm zu erklären, warum er sie nur wenige Meter vor dem Haus nun doch nicht mehr Heim bringen konnte, hatten in einem herzhaften Lachkrampf seinerseits geendet. Typisch. Aber immerhin. Der Vampir hatte sich dazu überreden lassen, sich in eine Fledermaus zu verwandeln und sich flach auf Senrays Schulter festgehalten. Die junge Frau war sich sicher, dass er ihr das in scherzhafter Form ewig vorhalten würde. Aber immer noch besser, als unzählige Verhöre durch Rosmalia zu jenem Mann im Treppenhaus.
Es war schon beinahe erleichternd gewesen, dass die Freundin wirklich aus ihrem Laden kam und nachsah, wer da die Stufen erklomm.
"Senray! Dass du noch weißt, wo deine Wohnung ist! Soll ich dir sagen, was dein Flohfänger alles zerstört hat, während du fort warst? Oder reicht es, dir die Rechnung hinzulegen? Ah, da ist noch ein Kunde. Ich muss wieder vor – allerdings denk nicht, das es damit vorbei ist! Hörst du? Nach Ladenschluss erscheinst du pünktlich bei mir zum Essen, keine Widerrede!"
Und damit war sie auch schon wieder verschwunden. Senray kam nicht einmal dazu, etwas zu erwidern und ging schwach lächelnd die Treppen hinauf. Kaum suchte sie ihren Schlüssel, verschwand das leichte Gewicht von ihren Schultern und der Vampir erschien hinter ihr und kicherte in ihr Ohr.
"So, so. Das war also deine Vermieterin, hm?"
Sie nickte und schloss die Tür auf. Sie wollte nicht auf dem Flur reden, falls Rosmalia das hörte – immerhin ergäbe es wenig Sinn, wenn sie 'mit sich selbst' über Rosmalia spräche. Statt dessen öffnete die DOG also ihre Wohnungstür – und ein haariges, knurrendes Etwas schoss auf sie zu.
Doch, entgegen ihrer Erwartungen, rannte Miezie nicht gegen sie, sondern durch ihre Beine durch und dann vergrub er seine Klauen in Wilhelms Unterschenkeln.
Senray seufzte und suchte den Blick der Katze auf ihrem Schoss. "Du weißt, dass du wirklich froh sein kannst, dass er das mit Humor genommen hat, hm?"
Die gelblichen Augen des Katers blickten ihr fast spöttisch entgegen.
"Schau nicht so! Wäre er kein Vampir, wären das wirklich üble Kratzer gewesen! Und überhaupt, du kannst nicht meine Gäste aufschlitzen, du unmöglicher Kater!" Während sie das sagte struwelte sie Miezie etwas durch. Der sträubte sich, wand sich aus ihren Armen. Und sprang auf ihre Schulter, nur um auf ihren Kopf klettern zu können. Senray kämpfte darum, nicht die Balance zu verlieren und beugte sich vor, so dass auch ihr krallenbewährter kleiner Mitbewohner nicht abstürzte.
"Na toll.", brummte sie zu ihren Knien. "Weißt du, du müsstest dich eigentlich super mit Wilhelm verstehen. Unmögliche Fledermaus, unmögliches Katzentier. Und –AU!"
Miezie war abgesprungen. Um das zu tun, hatte er seine Krallen erst einmal in Senrays Schulter geschlagen. Seufzend und sich die Stelle reibend stand sie auf. Bald musste sie sowieso los.
Heute hatte sie eine der späteren Schichten, es gab neue Hinweise auf die Diebe. Zum Glück nicht in dem Gebiet in dem Ophelia war, weswegen sich Senray wieder an ihre Fersen heften würde. Oder viel eher, wieder ein abendliches Opfer geben würde. Vielleicht lizensierte Diebe zu einem Überfall verführen. Eine Aufgabe, die sie gestern noch, Wilhelm zuliebe, hätte ablehnen müssen. Doch heute konnte sie ihren Dschob wieder ganz normal erfüllen.
Vorher würde sie allerdings noch einmal bei Maggie vorbeischauen. Diesmal bei dieser daheim.
Es war beinahe etwas albern aber Senray war am Tag davor tatsächlich erst zu Maggies Büro gegangen, bevor sie sich mit Wilhelm getroffen hatte, um zu Rogi zu gehen. Natürlich war niemand da gewesen. Was hatte sie auch erwartet? Dass die Andere einen Tag nach dem sie befreit worden war wieder im Dienst war und arbeitete, als wäre nichts gewesen?
Ja, es war albern. Die junge Frau konnte sich selbst nicht wirklich erklären, was sie sich dabei gedacht hatte. Ob sie überhaupt gedacht hatte. Oder ob es nicht viel eher das dringende Bedürfnis gewesen war, die Vertraute zu sehen, sich mit eigenen Augen zu vergewissern, dass sie wenigstens am Leben und noch sie selbst war, wenn es ihr schon für den Moment nicht gut gehen konnte.
Etwas, das sie bei Ophelia nicht konnte.
Aber bei Maggie konnte sie vorbei sehen! Also würde sie das heute noch tun. Vor ihrer eigentlichen Schicht. Dann hatte sie zwar leider nicht unendlich Zeit, doch zumindest Gewissheit.
Senray ließ ihren Blick noch einmal durch die Wohnung streifen. Rosmalia hatte sich gut um Alles gekümmert, während sie nur noch im Wachhaus und bei Wilhelm gewesen war. Tatsächlich hatte Senray den vergangenen Abend dann ein Stockwerk tiefer in der Küche der Freundin ausklingen lassen. Bo war auch gekommen und auch, wenn die Wächterin nicht wirklich etwas erzählt hatte, warum sie so lange nicht wieder zurück nach Hause gekommen war, die beiden schienen einfach nur glücklich zu sein, dass sie jetzt wieder hier zusammen saßen. Und wohl auch darüber, dass die junge Frau versprochen hatte, von jetzt an wieder hauptsächlich in ihrer Wohnung zu schlafen.
Alles andere hatte sich erledigt. Sollte es ein Fall einmal nötig machen – natürlich, das war etwas anderes. Doch es brauchte weder ihre abendlichen Triangulationsversuche, noch musste sie sich Sorgen um Wilhelm machen.
Es war irgendwie schade, dass es für sie keinen Grund mehr gab, zu Wilhelm zu gehen. Außer seiner Gesellschaft natürlich. Was für sie bei weitem Grund genug war! Das zu leugnen wäre unsinnig gewesen. Doch konnte sie sich ihm in Zukunft kaum einfach aufdrängen. Vielleicht lud er sie einmal zu einem Abendessen zu sich ein? Oder sie könnte ihn an das Versprechen erinnern, dass sie ihm backen beibringen wollte. Zu... gegebener Zeit. Erst mal sollte sie ihm wohl Ruhe gönnen. Außerdem hatte er erwähnt, dass er in nächster Zeit viele Nachtschichten hatte. Das schloss ein gemeinsames Abendessen sowieso aus, vor allem wenn er kochen sollte. Was ihr nur zu Recht wäre, wenn sie ehrlich war. Oh, sie hatte wirklich zu viel seiner Zeit beansprucht! Und mit einer Selbstverständlichkeit! Sie hatte sich geradezu daran gewöhnt, von ihm mit Essen verwöhnt zu werden! Daran, das er um sie herum war und sie zum Lachen brachte! Was war nur in sie gefahren? Wären die Umstände nicht so besonders gewesen und hätte er nicht darauf bestanden...
Nein, das konnte sie nicht einfach so wieder tun. Wenn man es genau nahm schuldete sie ihm so viel für all die Hilfe, die er ihr zu Teil hatte werden lassen! Allein schon die Sache mit ihren Träumen...
Ihre Augen verweilten bei der Kerze auf ihrem Nachttisch.
Gestern Nacht war auch die erste Nacht seit einer ganzen Weile gewesen, in der sie eben ohne Wilhelms Hypnose geschlafen hatte. Nicht... sonderlich gut. Aber immerhin keine Albträume. Nicht... in dem Sinn, zumindest.
Doch es hatte sie vor eine überraschend harte Entscheidung gestellt.
Lies sie die Kerze aus – oder zündete sie wie zuvor ungezählte Male an?
Die angezündete Kerze erinnerte sie an ihre neuesten, viel zu lebhaften Albträume. An die Angst, die sie vor sich selbst hatte, vor dem, was in ihr schlummerte. Vor dem Kontrollverlust. Davor, wie viel Schaden sie anrichten konnte. An das, was Refizlak Wilhelm angetan hatte. An die Sorge, die sie sich noch am Vortag um den Freund gemacht hatte, dass ihre Wunde im Vielfachen auf ihn übertragen werden würde. Dass auch andere noch unter ihr Leiden würden.
Lies sie die Kerze jedoch aus... warteten andere Albträume auf sie. Ältere. Die sie immer und immer wieder eben durch jene kleine Flamme ferngehalten hatte.
Alte Ängste oder Neue? Nur ein Übel gegen das Andere. Eine Wahl, die überraschend schwer gefallen war, dafür, dass es letztendlich eben doch egal war. Es lief aufs Gleiche hinaus und war, da es um Träume ging und um Schatten, doch so ungewiss. Und wahrscheinlich beschwor sie mit diesen Gedanken die alten Geister nur wieder herauf.
Senray wandte sich mit einem Schaudern ab. Eine andere Redewendung kam ihr in den Sinn. Demnach müsste sie sich ihren Dämonen stellen.
Doch es war nur einer.
Und dazu war sie bei Weitem noch nicht bereit. Das wusste die junge Frau.
Wenn sie überhaupt eine Chance dazu haben wollte... dann brauchte sie die Hilfe einer ganz bestimmten Hexe.
Senray wandte sich ab, nahm ihre Tasche auf und verließ ihre Wohnung.
Auf zu Maggie.

19.09.2017 16: 30

Rogi Feinstich

Der Igor in der Geschäftsstelle hatte sie zwar reingelassen, doch weder eine Begrüßung, noch sonst ein Wort herausgebracht. Und auf ihre Frage hin, wo Igor und Igorina seien, hatte er Rogi nur wortlos vor eine Tür im oberen Stockwerk geführt. Bei seinem Verhalten konnte sie nicht mal abschätzen, ob er ihre Anwesenheit missbilligte oder ob er zu viel Ehrfurcht vor ihr hatte. So oder so erinnerte es sie nur wieder an ihren Status in der Familie. Dass sie in ihrer Uniform geblieben war, machte es wohl oder übel nicht besser. Dennoch, es war höchste Zeit, nach den beiden zu sehen. Es waren kaum zwei Tage seit Ophelias Rettung vergangen. Und auch, wenn sie in dem kurzen Zeitraum darauf gehofft hatte, dass ihre Verwandtschaft wieder nach Überwald zu einer neuen Anstellung zurückkehrte, so war sie es zumindest ihrer Großtante schuldig, sie über den Verbleib ihres alten Meisters aufzuklären.
Rogi wollte gerade anklopfen, da öffnete der Igor auch schon die Tür. Natürlich hatten die beiden sie schon erwartet und sie ließ ihre Hand wieder sinken.
"Du haft vielleicht Nerven, jetft erft auftfukreutfen!"
"Igor, bitte, ef ift schon flimm genug!"
"Macht dich diefe Warterei nicht verrückt?", erwiderte er an seine Frau gewandt, trat allerdings beiseite und gab den Blick in die schmale Kammer frei.
Igorina saß an der Bettkante und deutete auf den einzigen Stuhl im Raum und Rogi kam der Einladung verwundert nach. Sie hatte fest mit Protest seitens ihres Großonkels gerechnet, doch dieser brummte nur kurz vor sich hin und schloss die Tür, als sie eingetreten war.
"Nun, waf haft du uns zu fagen?", fragte ihre Großtante sie direkt, während ihr Mann sich zu ihr aufs Bett setzte.
Kein Wort zum Vorfall und ihre Anwesenheit beim Mob, nicht ein Vorwurf.
Nachdem sie ganz ohne Widerstand eingeladen wurde, wusste sie tatsächlich nicht, wie sie anfangen sollte. Es wäre ihr im Wortgefecht leichter gefallen, die beiden vor vollendete Tatsachen zu stellen. Doch vor sich hatte sie auch nur Opfer der Umstände. Rogi hoffte wirklich, dass die beiden bald eine neue Anstellung finden würden, die sie glücklich machte.
"Ihr wollt ficher wiffen, wie ef um euren alten Meifter fteht. Doch erftmal liegt mir etwaf anderef am Herzen", sagte die Wächterin und ihre Großtante ergriff die Hand ihres Mannes.
"Ich will mich bedanken, vor allem bei dir, Igorina, für deinen Dienst an Ophelia. Fie hätte es ohne dich nicht überftanden."
"Der Meifter flieflich auch nicht", entgegnete der Igor schnippisch und seine Frau drückte nur seine Hand um ihn wieder zum Schweigen zu bringen.
"Natürlich", sagte sie beschwichtigend, allerdings war Rogi sich sicher, dass die Beweggründe der Igorina nicht nur dem Kodex geschuldet waren. "Nun, jedenfallf bin ich mir sicher, daff Ophelia es genaufo sieht."
Sicher war Rogi sich nicht wirklich. Doch die alte Igorina war für über ein Jahr die einzige Person gewesen, die Ophelia nicht schaden wollte, die ihr das Überleben sicherte. Rogi hatte genug eigene Erfahrung sammeln können und wusste durchaus, was dies für Ophelia bedeutete.
"Daf ift doch die Höhe! Diefe Frau war von Anfang an ein einziges Ärgernif!"
"Igor, wir waren unf doch einig!"
"Ef tut mir leid", entschuldigte er sich schnell und sah zu Boden.
Die Ältere war kaum lauter geworden, doch die Wächterin konnte sich langsam ein Bild davon machen, wie es ihrer Verwandtschaft, die letzten zwei Tage ergangen war. Ihre Großtante sah sie beinahe flehentlich an und Rogi nickte ihr verstehend zu. Der Igor wollte wissen wie es um Racul bestellt war und sie sollte die beiden nicht weiter auf die Folter spannen.
"Racul der Taufendjährige ist unter Haufarrest. Er hat keinen Anfpruch mehr auf Ophelia. Und feine Verbrechen werden derzeit von der Wache anf Licht geholt."
Der Igor seufzte und sie meinte ein leises Wimmern zu hören. Ihm war schon klar was dies bedeutete, doch sie fühlte sich dennoch verpflichtet es auszusprechen: "Eine Rückkehr in feine Dienste ift ausgeschlossen. Und selbst, wenn er nach einem Jahrhundert wieder frei sein follte, würde ich fehr davon abraten."
Der Igor funkelte sie bei ihren letzten Worten böse an und stand schließlich ruckartig auf.
"Wenn ihr geftattet..." Er stapfte wütend aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
"Er hatte bif eben noch Hoffnung gehabt", sagte die Igorina ihr gegenüber resignierend und faltete ihre Hände ineinander.
"Und er ift wütend, wegen def Mobs, nehme ich an?"
"Oh, fang blof nicht damit an, jungef Fräulein, denn ich bin geneigt, dir diefe Tatfache zu verzeihen, wenn du mir etwaf beantworten kannft."
Rogi nickte nur schnell und bereute, das Thema überhaupt angeschnitten zu haben.
"Der Meifter... Racul", korrigierte sie sich schnell und sprach zögerlich weiter. "Er hat dich beeinflusst, oder?"
Rogi nickte ein weiteres Mal.
Ihre Großtante stützte die Ellenbogen auf ihren Knien ab und vergrub das Gesicht in ihren Händen.
Die Wächterin saß still da und wagte nicht, einen Laut von sich zu geben. Von sich aus hätte sie Raculs Manipulation nur zu gerne verdrängt. Auch wenn dies der beste Beweis dafür war, dass der alte Vampir nicht jener grandiose Meister war, für den die beiden ihn gerne ausgaben.
"Ich ahnte ef... oh, ef tut mir fo leid."
Rogi stand auf und setzte sich neben ihre Großtante, um diese von der Seite zu umarmen.
"Dich trifft keine Fuld!"
"Du haft gut reden, Kind", entgegnete ihre Verwandte sofort und lies die Arme wieder in ihren Schoss sinken. "Ich war fo verblendet! Er fpielt nicht fair und ich habe ef zu fpät erkannt."
"Beffer spät, alf nie", sagte Rogi und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
"Fpotte nicht!" Ihre Großtante war aufgestanden und sah sichtlich aufgebracht auf sie hinab. "Haft du eine Ahnung wie fich daf..."
Die Ältere brach ihren Satz ab als Rogi nur nickte.
Natürlich wusste sie, wie es sich anfühlte. Vermutlich sogar besser, als ihre Verwandte selber das nachvollziehen konnte. Der Kodex war noch immer ein wichtiger Bestandteil ihres Denkens und Handelns, selbst wenn sie ihm kaum noch gerecht werden konnte. So wusste sie nur zu gut, was in der alten Igorina nun vorging. Ihre eigenen Erfahrungen waren nicht vergleichbar. Doch sie kannte ihre eigenen Verfehlungen, sowie die Selbstzweifel, die sie deswegen plagten. Der Pakttest zwischen Wilhelm und Senray hatte es ihr erst gestern Abend wieder vor Augen geführt. Und nicht nur das! Ihre eigene Erleichterung nach dem eigentlichen Rettungseinsatz, dass niemand zu ernsthaftem Schaden gekommen war, war rein egoistischer Natur gewesen! Allein der Gedanke, sie hätte um das Leben ihrer Kollegen ringen müssen, reichte aus, um das Zittern ihrer Hände wieder zu verstärken. Die Wächterin stand schnell auf.
"Ich sollte beffer gehen", sagte sie zu ihrer Großtante und trat an die Tür. "Ich wünfe euch allef gute für die Zukunft."
"Warte, bitte", sagte die Igorina ehe sie die Tür öffnete und Rogi drehte sich wieder um.
Die Ältere schien durchaus mit sich und ihren nächsten Worten zu ringen, allerdings schienen sie ihr wichtig zu sein.
Rogi sah sie fragend an.
"Nun", begann sie zögerlich und knetete ihre Hände, "Wie geht ef Ophelia?"
Die Wächterin war nicht sonderlich überrascht, dass die Igorina nach dem Wohlergehen ihrer Patientin fragte. Doch es war auch ein Zeichen dafür, wie nah sich die beiden gekommen waren.
"Sie fläft derzeit viel, waf vermutlich gut ist. Und fie wird von Rach, ihrem Verlobten, kaum auf den Augen gelassen. Fie wird wieder genefen. Und daf verdankt fie auch dir."
Ihren letzten Worten verlieh sie mehr Nachdruck und die Ältere rang sich zu einem Lächeln durch.
"Danke, Igorina, ich weiß daf zu schätzen."
"Wie gefagt, allef Gute für euch und wenn...", sagte Rogi um sich zu verabschieden und hielt ihre nächsten Worte zurück. Sie hatte in Betracht gezogen, ihre Hilfe anzubieten. Doch ihre Verwandtschaft hätte solch ein Angebot in ihrem Fall sogar als Beleidigung auffassen können. Sie wandte sich schnell der Tür zu, ehe sie weitersprach. "Wenn noch etwaf ist, du weift, wo ich zu finden bin."
Die Ältere kam zu ihr an die Tür und verabschiedete sich mit einer Umarmung. Flüchtig zwar aber dennoch eine Geste, die Rogi verblüffte.
Die Wächterin verließ die Geschäftsstelle tatsächlich mit so etwas wie guter Laune. Das Gespräch war besser gelaufen, als sie sich je erträumt hätte. Sie war erleichtert, dass sie es nicht weiter aufgeschoben hatte. Und in dem Moment fiel ihr auf, dass es vorbei war.
Eine merkwürdige Leere machte sich breit, die ihre Gedanken zu füllen versuchte.
Die Rettung und all die Anstrengungen davor, die Suche und die Angst um die Kollegen, bis hin zu Wilhelms Hilfe, um Raculs Manipulation aufzudecken... das alles war vorbei. Und sobald feststehen würde, was mit Racul geschähe, war klar, dass ihr Alltag sich wieder normalisieren würde. Für jeden im Rettungszirkel.
Nun, nicht ganz jeden.
Die neue Dreieckskonstellation zwischen Ophelia, Rach und Mina hatte ihre ganz eigenen Schrecken. Und die Beziehung zwischen Senray und Wilhelm war, nun... was auch immer es war, die beiden schienen nicht mehr voneinander zu trennen zu sein. Und daran schien nicht nur der Feuerdämon Schuld zu sein. Vermutlich war ihr Rekrut gerade jetzt bei der Verdeckten Ermittlerin. Nach einer Nachtwache in Raculs Gruft hatte er jedes Recht auf seinen freien Tag! Dennoch, sie wurde das Gefühl nicht los, dass die beiden sich in etwas verrannten, das sie selbst nicht verstanden. Und sie fürchtete, dass dieses Etwas kein glückliches Ende nehmen würde. Allein der Speziesunterschied... dazu noch der Dämon! Auch, wenn der Pakt, wie gestern Abend bewiesen wurde, keine Auswirkungen mehr auf Wilhelm hatte. Doch wer wusste schon, was bei einer schlimmeren Verletzung passieren mochte? Oder was, wenn Wilhelm ein Missgeschick passieren würde?
Sie seufzte leise auf ihrem weiteren Weg zum Wachhaus in der Kröselstrasse, während ihre Gedanken weiter kreisten.
Wie lange war es her gewesen, dass sie ein Skalpell geführt hatte? Viel zu lange. Das hatte die gestrige Aufregung gezeigt. Und selbst, wenn der pure Alkohol geholfen hatte, so konnte diese Vorgehensweise unmöglich die Lösung sein. Der stille Vorwurf, dass sie nicht mehr als vollwertige Sanitäterin zu Verfügung stand, stand für sie immer im Raum - irgendwie zumindest. Auch, wenn keiner etwas sagte oder sie drängte. Ihr Wunsch wurde respektiert und damit hatte es sich. Und die einzige Alternative, die ihr in den Sinn kam, stand nicht zur Diskussion. Sie würde ihr Beruhigungsmittel nicht mehr anrühren. Zumindest nicht freiwillig.
Der Gedanke an Rachs Eingreifen kam ihr wieder in den Sinn. Es hatte keine weiteren Folgen gehabt. Er hatte sich entschuldigt und damit war die Sache für sie tatsächlich erledigt. Allerdings war es beunruhigend, wie weit der Inspektor bereit war zu gehen. Und sie fragte sich, ob Ophelia auch nur ansatzweise ahnte, zu was ihr Verlobter fähig war.
Sie schüttelte den Gedanken schnell wieder ab, als sie das Wachhaus betrat.
Der Rekrut Abendfels saß hinter dem Tresen und salutierte sofort. Rogi grüßte zurück, hielt sich allerdings nicht weiter mit ihm auf.
Sie musste mit Breguyar darüber reden, ob der Vampir auch zur Nachtwache eingeteilt werden konnte. Derzeit hatten sie nicht viele, die dafür in Frage kamen. Allein schon, um sicher zu gehen, dass nichts weiter an die Öffentlichkeit ging und sich der alte Vampir plötzlich auf irgendeinen Unsinn, wie Willkür der Wache, berufen konnte. Die Anwaltsgilde würde sich mit Freuden auf den Fall stürzen. Wilhelm hatte die erste Schicht übernommen, heute Nacht würde der Hauptgefreite Bergig Wache stehen und morgen sie, mit Hilfe von Raistan.
Der Besuch des Zauberers hatte sie tatsächlich überrascht. Aber sie hatte sein Angebot des Schutzkreises nur zu gerne angenommen. Auch, wenn sie befürchtete, dass er sich zu viel zumutete. Sie war schwer in Versuchung gewesen, ihm direkt Bettruhe zu verordnen. Doch sie wusste auch um seinen Sturkopf. Dass er nach der Rettung eine so wichtige Aufgabe übernehmen konnte, bedeutete ihm viel. Sie war sich zwar ziemlich sicher, dass sie merken würde, wenn Racul einen erneuten Versuch wagen sollte, in ihren Kopf vorzudringen. Doch mit einem Zauberer an der Seite, konnte nichts schiefgehen.
Und... der Gedanke, dem alten Vampir noch mal gegenüber zu treten, ohne, dass er ihr etwas anhaben konnte, war so etwas wie stille Genugtuung für das, was er ihr angetan hatte.

20.09.2017 20: 56

Wilhelm Schneider

Der Sonnenflecken, der durch die nicht ganz ordentlich geschlossenen Vorhänge in das Dachgeschoss fiel, war inzwischen ein ganzes Stück gewandert. Wilhelms Blick folgte ihm dabei träge durch die halb geschlossenen Lider. Natürlich hätte er aufstehen und den großzügigen Raum vollständig verdunkeln können. Aber wozu? Er schlief schließlich nicht "richtig", sondern driftete lediglich durch seinen Gedankenkosmos.
Und darüber hinaus... verdunkeln...
Etwa acht Stunden war es her, seit er aus der Finsternis aufgestiegen und Raculs Präsenz entkommen war. Und auch, wenn er in der kommenden Nacht durch einen dienstälteren Kollegen abgelöst werden sollte... das Wissen, nur zu bald wieder dort hinabsteigen zu müssen... nichts, worauf er sich freute. Aber er sah natürlich ein, dass es notwendig war. Niemandem wäre damit gedient, wenn dem Alten zu diesem Zeitpunkt ein Ausbruch gelingen würde. Die Situation um Ophelia war fragil. Sie brauchten einfach Zeit, um Dinge zu klären und zu festigen. Ohne, dass der giftige Greis dabei mitreden konnte.
Der Kommandeur hatte in dem kurzen Gespräch mit ihm angedeutet, dass sie nach einer Lösung für das Lichtproblem suchten. Er hatte abgewunken und etwas überzogen selbstsicher argumentiert, dass die Dunkelheit an der Gruft für ihn kein Problem sei. Und theoretisch war dem auch so. Er hatte niemals Angst vor dem Fehlen von Licht verspürt, fühlte sich teilweise auch sehr wohl im Dunkeln. Und er konnte sich trotzdem gut orientieren. Aber wenn er ehrlich sich selbst gegenüber war, nach dieser ersten Nachtschicht als Wache vor der "Einzelhaftzelle" dieses Schwerverbrechers... er war eben kein... vollwertiger Vampir? Durfte man das so sagen? Andere, klassischer aufgezogene Artgenossen, liebten die Dunkelheit regelrecht. Er hingegen...
Der Alte jedenfalls hatte ihn dafür verspottet.
Unter anderem dafür.
Wilhelm lag in einem seiner Pyjama ausgestreckt auf dem ungewöhnlich großen Bett. Er fröstelte bei seinen Gedanken und zog die sonst kaum genutzte Decke bis zu seinen Schultern hoch.
Racul...
Der Ältere hatte so zielsicher seine wunden Punkte aufgespürt. Sicherlich auch, aufgrund des Vorwissens, dass er sich in jener Nacht, vorgestern erst, so gemächlich und brutal aus ihm heraus gezogen hatte. Während des Angriffs. Zwischen seinen Klauen...

Du bist eine Schande! Dein gesamtes Dasein ist eine Schande für jeden echten Vertreter unserer stolzen Rasse! Nutzlos und degeneriert, verspielt wie ein schwachsinniges Kind, niemals von einem würdigen Mentor geschult, niemals mit der echten Härte eines Überlebenskampfes konfrontiert worden. Du bist ein Schmarotzer! Eine Made, die aus dem Tod der eigenen Eltern nutznießend hervorgekrochen kam. Was, wenn sie dir kein Erbe hinterlassen hätten? Du wärest rettungslos untergegangen im Getriebe dieser Stadt, zertreten in der Gosse, so hilflos, wie du dich aufführst! Kein Wunder, dass du zu Futter für diese Dämonenkreatur verkommen bist. Man muss sich für dich schämen, wirklich! Wer dir zu nahe kommt, der sollte aufpassen, dass er sich nicht an dir beschmutzt. Hat es dir Freude gemacht, vor ihr auf dem Boden zu kauern, Befehle zu bekommen, die es nur noch zu befolgen gilt wie ein dümmlicher Wachhund? Du wagst es, dich als einen von uns zu sehen, als Vampir? Pah! Ein echter Vampir würde sich nicht beugen! Ein echter Vampir hätte Selbstachtung! Du hingegen... rennst den Menschen hinterher, um zu ihnen dazuzugehören! Du buckelst und machst Kratzfüße, bist 'hilfreich'... du bietest dich ihnen an wie eine billige Hure!

Es hatte nicht mehr des Geräusches in der physischen Welt bedurft, um ihm zu verdeutlichen, dass der Alte dem Drang nachgegeben hatte, auf der anderen Seite des magischen Siegels vor ihm auf dem Boden zu spucken.
So viel Verachtung.
Wilhelm wickelte sich fest in die Decke ein und rollte sich zusammengekrümmt auf die Seite.
Wie lange die Nachtschichten wohl gehen würden? Der Kommandeur hatte von "erst einmal" gesprochen. Davon, dass die Vampire, die für diese Sonderschichten in Frage kamen, momentan rar gesät waren in der Wache. Andere Kollegen würden ihn ablösen, passende Kandidaten wurden jedoch noch gesucht. Immerhin war es absehbar, dass der Alte vor allem nachtaktiv war und dass er Dinge versuchen würde. Dinge, die einen ungeschützten Geist zerstören konnten.
Eine Vermutung, die Wilhelm schon jetzt bestätigen könnte.
Und ihm war nur zu bewusst, dass es schlecht für ihn stand. Er war bisher noch die geeignetste Person, da obendrein involviert. Denn dieser Aspekt kam ja noch hinzu. Der Kommandeur wollte, wenn irgend möglich, vermeiden, dem Insassen die Möglichkeit einzuräumen, mit irgendeinem Wächter oder gar Zivilisten ins Plaudern zu kommen, der nicht dem Rettungszirkel angehörte! Nur ein Wort zu viel - und ihre Verschwörung zugunsten Ophelias wäre in Gefahr, publik zu werden. Und was das für alle Beteiligten bedeuten mochte, war nicht mal absehbar. Im Falle von öffentlichen Anschuldigungen gegen die Wache, wären vielleicht sogar personelle Konsequenzen zu befürchten. Etwas, das außer Frage stand, wenn man bedachte, wie eindeutig die Schuldzuweisungen im Falle Raculs zu sein haben mussten! Vom moralischen Standtpunkt her. Theoretisch. Wenn man den Standtpunkt des Angeklagten selber ignorierte, dem man immerhin vielleicht zugute halten könnte, dass...
Wilhelm presste die Lippen aufeinander und verweigerte sich bewusst diesem Gedankengang.
Das fühlte sich nicht richtig an. So würde er normalerweise nicht von sich aus denken.
Oder doch?
Konnte es sein, dass er in der Nacht nicht vorsichtig genug gewesen war? Aber er hatte sich doch so sehr auf jede kleinste, täuschend unauffällige Regung an den Rändern seines Bewusstseins konzentriert gehabt! Er war so vielen Versuchen des Alten, ihn auszutricksen, sich in seine Gedanken zu schleichen, ausgewichen! Er hatte unzählige Frontalangriffe, die aufgrund der magischen Barriere zwischen ihnen wenigstens abgeschwächt genug waren, um dies überhaupt zu ermöglichen, abgewehrt! Hatte er etwas übersehen?
Wilhelm schloss die Augen gänzlich und blendete damit das wenige verbliebene Licht aus.
Der Kommandeur hatte das Zugeständnis gemacht, dass diese Nachtwachen nicht direkt an der Kammer abgeleistet werden müssten. Es würde auch genügen, am Zugang der entsprechenden Korridorpassage zu stehen. Dort, wo auch die Kerzen und Laternen noch brannten. Aber Wilhelm hatte es nicht über sich gebracht, der Gefahr den Rücken zuzuwenden. Das Gefühl, den Alten wie eine eisige Hand im Genick zu haben, die tastenden Schatten immer hinter sich wissend und im Augenwinkel vermutend... er hatte sich dazu entschlossen, ihm lieber entgegenzublicken. Selbst, wenn er in der aktuell vorherrschenden Finsternis seines Postens nicht wirklich etwas sehen konnte. Wenigstens spürte er die frostig bösartige Gegenwart des Anderen damit von vorne, bot ihm sozusagen die Stirn.
Es war ihm unbegreiflich, wie Ophelia den Alten so lange ertragen haben konnte. Wie sie es trotz dessen ständiger, zumindest unterschwelliger Präsenz geschafft hatte, so lange ihrer täglichen Arbeit nachzugehen, andere Menschen zu bemerken, mit ihnen ganz normal zu reden. Überhaupt Tag für Tag von Neuem aufzustehen und sich dem zu stellen! Er spürte schon nach dieser einen Nacht der andauernden Sticheleien und Angriffe auf mentaler Ebene, wie sehr ihn dieser Umgang erschöpfte. Und das, wo er den Greis nicht einmal innerhalb der eigenen Gedanken abwehren musste. Er musste ja nur aufpassen, ihn nicht dorthin passieren zu lassen. Ophelia hingegen... sie musste sich irgendeine Art von Strategie im Umgang mit dem Alten angewöhnt haben, anders war es nicht möglich. Ob er sich wohl irgendwie etwas von ihr abgucken könnte?
Wilhelm drückte sein Gesicht ins Bettzeug und ächzte laut auf, bei der frustrierenden Erkenntnis dessen, was er eben im Begriff gewesen war, ernsthaft zu erwägen.
Was war er nur für ein Versager? Dachte er jetzt wirklich darüber nach, sich ausgerechnet heimlichen Rat von einer halb toten Menschenfrau zu erschnorren? In Vampirangelegenheiten? Von denen genau diese Frau gar keine Ahnung hatte?! So weit war es also bereits mit ihm gekommen...
Vielleicht hatte Racul zumindest in der Hinsicht Recht? Er war zu lange und zu viel inmitten der Menschen gewandelt. Er hatte sich mit ihren Interessen identifiziert, regelrecht infiziert! Er hatte ihre Sorgen und Ängste angehört, sogar damit begonnen, ihnen auf persönlicher Ebene helfen zu wollen! Das konnte nicht gut gehen. Er war eben kein Mensch! Selbst, wenn das noch nicht bedeutete, deswegen gleich ein Vampir zu sein, der stolz auf sein kulturelles Erbe wäre...
Noch so eine Sache... wollte er nun ein "moderner" Vampir sein? Er wollte zumindest kein traditioneller sein, oder? Er mochte Blut und würde nicht mehr darauf verzichten wollen. Aber er hatte keinerlei Interesse an dunklem Interieur oder einem buckligen Bedienstetem, der ihm zum Munde redete. Andererseits wieder... er hatte auch eine Zeitlang als Schwarzbandler gelebt. Was man halt so unter "leben" verstand... Beides zugleich schien ihm jedenfalls nicht gegeben. Dieses Ernsthafte, Seriöse, Ruhige... Abstinente. Und das Lebenshungrige, Kokettierende. Er konnte seine Wünsche nicht dieserart auf einen Nenner bringen! Er wollte beides - und keines von beidem! Er wollte niemanden zwingen... aber er hatte auch schon aus seinen Einflussmöglichkeiten auf geistiger Ebene Nutzen gezogen, wenn ihm ein Zieren und Zögern zu zeitaufwändig geworden war. Etwas, das ihm in letzter Zeit unangenehm war, wenn er daran gedacht hatte. Das Bild des kleinen Vogelherzens erschien dann vor seinem inneren Auge. Und der Blick, den sie ihm zuwerfen würde, wenn sie von diesen Fehltritten wüsste...
Andererseits...
Sie konnte mit keinem der Aspekte seines Daseins etwas anfangen. Sie sah nicht mehr den Vampir in ihm, vergaß immer wieder seine Spezies, wenn sie mit ihm zusammen Zeit verbrachte. Und wenn sie sich doch daran erinnerte, dann schien sie diesen Gedanken so schnell wie möglich beiseite zu drängen. So gesehen, wäre sie kein neutral oder objektiv Urteilender.
Um einen Vampir zu beurteilen, musste man ihn schon als ganzheitliches Geschöpf wahrnehmen. Die Jagd gehörte zu ihrem Wesen. Ihre Gaben bezeugten dies nachdrücklich. Das durfte man naturgegeben nicht einfach leugnen. Auch der Jäger musste für sich und die Seinen sorgen dürfen, nicht nur das Opfer. Eben dafür hatten sie diese Fähigkeiten, nicht wahr? Und was schadete es schon, wenn man zugleich Erinnerungen löschen und Wunden versiegeln konnte...
Wilhelm runzelte die Stirn.
Um der Götter Willen! Wenn er nur schlafen könnte, wie die Menschen es taten! Selbst ungute Träume nähme er in Kauf, im Tausch gegen diese fehlgeleiteten, finsteren Gedankenstrudel bezüglich seines persönlichen Lebensentwurfes! Erst recht, wenn es ihn immer zu den gleichen Fragen zurück schleuderte...
Natürlich, die Fragestellung war ursprünglich seitens des Alten aufgekommen und ganz sicher nicht freundlich gemeint gewesen. Aber... konnte er eigentlich überhaupt irgendwas richtig und zur Gänze? Und sei es nur, zu einer Überzeugung stehen?
Wie lachhaft er auf den Alten mit seinen felsenfesten Meinungen und Erfahrungswerten wirken musste! Wie ein Blatt im Wind, haltlos, flatterhaft, unreif und kindisch. Es war so gesehen kein Wunder, dass dieser es nun mit bohrenden Fragen und herausfordernden Vorwürfen auf ihn abgesehen hatte.
Zumal ihm auch keine andere Ablenkung mehr geblieben war, in den sonst ereignislosen Nächten seiner Gefangenschaft.
In der eigenen Gruft! Diese Ironie hatte schon etwas Boshaftes. Ein Seitenhieb, der den Kollegen zu gefallen schien. Wobei diese natürlich keine Vampire waren. Wie sollten sie da die unausweichliche Bedeutung einer Zuflucht zur Gänze erfassen können? Eine Lauer war Rückzugsort, Sicherheit... Privatsphäre.
Zumindest für echte Vampire.
Wilhelm rieb sich mit dem Handballen über die Stirn, die gestreckten Finger zitterten ihm unmerklich dabei.
Er musste dringend auf andere Gedanken kommen! Unbedingt! Das, was er hier tat, war nicht ungefährlich. Wenn er so weitermachte, würde er dem unbarmherzigen Gefangenen in die Hände spielen. Andere Gedanken! Irgendwas!
Senray...
Er ließ ihr Bild in seinem Sinn zu und atmete tief durch.
Senray... schüchtern und ängstlich, besorgt, lächelnd, errötend... wie sie unwiderstehlich gegrinst hatte, als Jules ihr verschwörerisch anriet, nur weiter hinter "ihrem" Vampir hinterherzujagen, weil es eben auch Männer gäbe, die die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer bevorzugten Gegenspielerin mögen würden. Ihr zu Beginn so zaghaftes, dann aber umso intensiver erstrahlendes Lächeln, als er sie nach der ersten traumlosen Nacht aus der Hypnose zurückholte und das, was sie sah, ein Frühstück war, das er ihr ans Bett gebracht hatte. Ihr absolut rührender Anblick inmitten seiner Schlafstatt, während sie hilflos unter seiner vampirgegebenen Macht ruhte. Sie hatte so friedlich und entspannt gewirkt. So...
Wilhelm stockte innerlich und etwas verkrampfte sich in ihm.
Warum war ihm das nicht schon vorher aufgefallen?
Sie war seinem Drängen gefolgt. Sie hatte sich in sein Bett begeben. Es war seine Hypnose gewesen, der sie fortan immer und immer wieder zugestimmt hatte. Notgedrungen. Aus den Umständen heraus. Seine Laken, in denen er sie wohlbehütet wissen wollte, während er sie bewachte. Und ihr Anblick... er hatte sie beschützen wollen, richtig. Aber man konnte es auch anders ausdrücken.
Racul würde es anders ausdrücken.
Er würde nicht mit ausweichenden, weichgespülten Begrifflichkeiten drumherum reden. Er würde sagen, wie es in Wirklichkeit war... Wilhelm hatte lange vor Mina von Nachtschatten getan, was in ihrer beider Spezies tief verwurzelt schien: Anspruch erhoben. Auf Eigentum. Die junge Frau als etwas betrachtet, bei dem es ihm zustand, sie zu bewachen... zu besitzen.
Er warf sich frustriert auf den Rücken und starrte mit schwerem Schlucken an die Decke.
So wollte er nicht sein! Mochte es auch noch so viele Themen und Dinge geben, die ihn schwanken und zweifeln ließen. Aber das wollte er nicht! Da war er sich absolut sicher! Er würde sich nicht in die Idee hineinsteigern, Senray besitzen zu wollen! In keiner Hinsicht! Sie sollte frei und glücklich sein! Frei wie ein Vögelchen unter weitem Himmel.
Das Bild eines weiß leuchtenden Taubenschwarms flog wie auf einen lauten Schlag hin aufgeschreckt in seinem Sinn auf. Reines, unschuldiges weiß vor einem tiefblauen, wolkenlosen Himmel. Die Wachetauben aus dem hauseigenen Taubenschlag. Der Schwarm flatterte aufgeregt, ehe er sich beruhigte, sich am Himmel formierte und gemeinsam sanfte Kreise zu ziehen begann. Und über allem schwebte eine sehnsüchtige Melodie, durchscheinend und unfassbar. Ophelias Gedankenstimme, der er bis zu diesem Moment versunken gelauscht hatte.
Wilhelm blinzelte die Erinnerung weg.
Sie hatte sich damals immer wieder selber abzulenken versucht, vom Einfluss des Alten. Indem sie sich auf andere Dinge konzentriert hatte. Lieder, Gedichte, unverfängliche und ältere Erinnerungen aus ihrer Kindheit...
Er rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht, ehe er diese wieder seitlich von sich auf das Bett fallen ließ.
Es war lächerlich, ihr Beispiel zu meiden - nur weil sie ein Mensch war! So etwas hatte ihn doch bisher auch nicht gestört; man nahm Wissen von dort, wo man es fand und gut. Sie war immerhin auch ein Mensch, der dem Alten jahrelang kontra geboten hatte. So schwach und unbedeutend, wie Racul sie zu sehen beschlossen hatte, konnte sie also gar nicht sein. Was auch viel mehr zu seiner eigenen Bewunderung der Wächterin passte. Sie war mehr, als nur Fleisch und Knochen und Blut. Mehr als das Gedankenleck, auf welches der Uralte sie reduzieren wollte. Mehr, als die bloße Summe ihrer Bestandteile. Sie war eben keine mathematische Problemstellung. Sie war... ein Mensch!
Der junge Vampir im halb verdunkelten Zimmer grinste schief.
Das war vielleicht genau der Punkt. Menschen wollten genauso wenig auf Klischees reduziert werden, wie er selber das für sich ausstehen konnte. Menschen waren alle so unterschiedlich, obwohl sie zur gleichen Spezies gehörten! Allein wenn man die Menschen des Rettungstrupps miteinander verglich, wurde das mehr als deutlich. Raistan, Senray, Kanndra, Magane, Rach, Jules, Esther... wie die unterschiedlichen Juwelen eines Schatzkästchens. Und dazu die Kameen und Perlen, in Form der Werwölfin und der Vampirin.
Ein kostbarer Stoff wurde auch nur selten aus einem Garn gewoben.
Ausgerechnet das Boteh-Muster entstand vor seinem inneren Auge bei diesem Gedanken, das Symbol, bei dem sich selbst klatschianische Kollegen der Schneidergilde nicht sicher waren, ob es ein überliefertes florales Grundmotiv darstellte - oder eben die stillisierte Flamme eines archaischen Feuerkultes...
Dennoch, der Grundgedanke hatte Bestand. Es war gleichgültig, mit wie viel Verachtung der Alte von ihnen dachte.
Es gab unzählige andere Vampire in Ankh Morpork und kein einziger von denen, die Wilhelm kannte, glich einem anderen. Unterschiede wohin das Auge blickte. Und sie koexistierten! Niemand musste sich dafür gleichschalten lassen, niemand musste sich in dieser Stadt dem Willen der Ahnen beugen und nach überkommenen Verhaltensmustern handeln. So viel unterschied sie gar nicht von den Menschen. Sie alle suchten, wenn nicht nach dem "richtigen", so doch nach einem "guten" Weg, um mit ihren Zweifeln und Widersprüchlichkeiten zurecht zu kommen.
Unter ihnen allen, schien es nur einen einzigen zu geben, der gar nicht mehr an sich zweifelte...
Lieber unsicher und unreif in seinen Augen, als dermaßen... brutal selbstsicher.
Wilhelm hatte sich inmitten der Kollegen wohl gefühlt! Auch wenn sie ihn nicht besonders herzlich willkommen geheißen hatten. Er hatte mit ihnen zusammengearbeitet. Ja, er hatte sich auch... untergeordnet. Eines wichtigen Ziels wegen! Er hatte eben alles daran setzen müssen, Ophelia zu retten! Einerseits, weil ihm nichts anderes übrig geblieben war, richtig.
Und, nein! Es hatte ihm ganz sicher keine Freude oder irgendeinen Genuss bereitet, sich dem Dämon zu unterwerfen.
Der Gedanke an die Schmerzen ließ ihn unwillkürlich seine Kiefermuskeln anspannen und seine Finger krampften sich in das Pyjama-Oberteil, dort, wo das Brandmal von ihrer Oberhoheit an ihm kündete. Es existierte noch und erinnerte ihn an die beiden letzten Klauseln, an die er wohl für den Rest seiner Existenz gebunden wäre.
Nach dem Antesten der Paktwirksamkeit, dem gemeinsamen Provozieren des Dämons, hatte er Senray heim gebracht. Er hatte die "Zuneigung" ihres Katzenbiestes ertragen und war dann letztlich auch selber heim gegangen. Und hatte zögerlich nachgesehen.
Die unnatürliche Wunde würde demnach wohl niemals gänzlich verschwinden. Die Haut spannte dort rot und wie geschmolzen, frisch geheiltem menschlichen Narbengewebe sehr ähnlich. Der zierliche Handabdruck prangte also für immer mittig seiner Brust. Aber die Wunde war immerhin nicht mehr offen oder verkohlt und krustig, wie zuvor. Wilhelm würde die zu wechselnden Verbände endlich weglassen können. Lediglich an Hannahs Reaktion mochte er noch nicht denken, wenn sie das Mal sähe. Oder die Reaktionen und Fragen, die bei anderen Damen entstehen mochten. Es war immerhin weder sonderlich kleidsam, noch normal. Vampire heilten gefälligst sofort alle Wunden, die ihnen zustießen. Oder die man ihnen antat. Spätestens ein Umtrunk sollte hartnäckigen Verletzungen wirksam entgegenwirken. So war es üblich. Dieser Handabdruck kennzeichnete ihn somit in mehr als nur einer Hinsicht als Außenseiter. Insofern er ihn nicht verbergen würde...
Sinnlos! Nicht länger darüber nachdenken! Ich kann es nicht ändern. Was auch immer die verbleibende Bindung zu der Kreatur für die Zukunft bedeuten mag... vorerst bin ich von direkten Konsequenzen befreit. Das muss genügen, um wieder zu einem normalen Alltag zurück zu finden. Zumindest, sobald die nächtlichen Sonderschichten vorüber sind.
Er fiel auf den vorangegangenen Gedanken zurück. Knechtung... Unterordnung... die Zeit inmitten einer Gemeinschaft, in der jeder andere über ihm stand, sei es vom offiziellen Rang her, von eigener Überzeugung sanktioniert... oder eben durch sein Beugen vor der Notwendigkeit... und doch! Es gab gute Erinnerungen. Gute... Gefühle, wenn er an die Anderen dachte.
Vielleicht war es wirklich diese vermaledeite Sache mit dem Besitzdenken... er hatte sie alle nahe bei sich wissen und sie im Auge behalten wollen. Es wäre ihm schwer gefallen, zu akzeptieren, wenn irgendeinem von ihnen etwas zugestoßen wäre. Allein die Gefahr, dass Raistan beispielsweise inmitten des Labyrinths...
Es hielt ihn nicht länger auf dem Bett. Wilhelm riss wirsch die Decke von sich und warf sie zu Boden. Er sprang auf und tigerte in dem Raum umher, wobei er immer wieder die niedrigen Dachschrägen meiden musste.
Es half nichts! Er konnte aus seinem widersprüchlichen Dasein kein perfektes Abbild puzzlen. Er musste nehmen, was er hatte und dazu gehörten nun mal auch seine paradoxen Überzeugungen und Wünsche. Bisher war er damit einigermaßen gut gefahren. Er war nicht perfekt, beileibe nicht! Und er hatte nie von sich als von jemandem gedacht, der in einer Art permanentem Glückstaumel lebte, auch das nicht. Aber er war schließlich vor Raculs Auftauchen auch nicht totunglücklich gewesen, richtig? Das hieß, dass er sich jetzt einfach zusammenreißen musste. Niemandem wäre geholfen, wenn er sich völlig überfordert einer Sinnkrise hingäbe, nur weil ein bösartiger Gefangener ihn dazu provozierte. Denn wenn er sich nicht täuschte, dann hatte ganz gewiss nicht unwesentlich der Alte daran Mitschuld, dass es ihm in diesem Moment so dreckig ging. Und diese Genugtuung wollte er dem Greis nicht geben! Dann lieber nach jedem noch so kleinen Strohhalm greifen und sich selber an den Haaren aus diesem emotionalen Sumpf ziehen. Er würde den Kampf wohl verlagern müssen. Fort von den physischen Möglichkeiten, wie sie sich ihm in der Gruft für einen Moment geboten hatten. Hin zu dem geistigen Schlachtfeld.
Er wusste nicht viel über Kriegsstrategien. Die Schlacht vom Koomtal war legendär. Und es gab einige Scharmützel in umliegenden Staaten, wie Borogravien oder Klatsch, bei denen viel Unheil geschehen war. Aber kaum etwas davon strahlte weiter in ihrer aller Alltag in der Stadt, als bis zu den Schlagzeilen der Zeitungen. Dennoch... er wusste, dass man nur selten mit Angriffsstrategie den Sieg errang. Die meisten "Sieger" zogen schwer verwundet aus den Gräben eines Stellungskampfes heim. Langwierige Kämpfe, die darauf abzielten, die Unvorsichtigen der Gegenseite auszuschalten, einen nach dem anderen. Kämpfe, die mit Geduld und Ausdauer ausgetragen wurden, die darauf vertrauten, dass einer Seite irgendwann die Kraft zum Weitermachen fehlte...
Überdauern aus reinem Durchhaltevermogen heraus, Trotz und Ausdauer als Gefährten...
Den Straßenkindern in den Gossen der Schatten nicht unähnlich... denen, bei denen er gelandet wäre, wenn seine Eltern nicht damals das Erbe hinterlassen hätten, aus dem er 'wie eine Made' hervorgekrochen war...
Etwas in seinem Brustkorb tat weh bei diesem Gedanken. Etwas in seinem Kopf wehrte sich gegen den Vorwurf.
Sie haben mir tatsächlich ein Erbe hinterlassen. Und ich kann nicht leugnen, dass ich daraus Nutzen gezogen habe. Dafür war es gedacht! Das Erbe war schließlich nur deswegen für mich da, weil sie Vorsorge getroffen hatten! Sie wollten, dass ich in Sicherheit wäre, soweit möglich, dass ich versorgt wäre und eben nicht auf mich allein gestellt unterging! Und es ist verdammt nochmal keine Schande, dieses Geschenk, dieses letzte mögliche Geschenk, anzunehmen. Liebende Eltern dürfen sowas hinterlassen! Und... hinterbliebene... Kinder... dürfen es... annehmen... Es steht ihm nicht zu, über etwas so... etwas mit so viel Zuneigung darin... zu urteilen... es zu verurteilen. Er weiß nicht mal, worüber er dabei redet! Es geht nicht um das Geld. Ich meine, doch, natürlich auch... aber... es geht um... um... sie wollten nicht, dass ich...
Wilhelm blieb ruckartig stehen und es fiel ihm unsagbar schwer, zu schlucken. Auf der niedrigen Kommode vor ihm, stand die zuletzt gemachte Ikonographie seiner Familie. Das Bild seiner Eltern und Geschwister, welches sie ihm schadenfroh aus dem gemeinsamen Urlaub geschickt hatten, den er wegen seiner Prüfungen damals nicht hatte begleiten können. Sie hatten es direkt nach der Ankunft in Überwald anfertigen lassen, zu Beginn der Reise. Oder besser gesagt, zu ihrem Ende hin, auch wenn sie das damals noch nicht wussten.
Der Vampir ging langsam auf die Knie und hockte vor den ihn anstrahlenden Gesichtern in schwarz-weiß. Er streckte seine Hand nach dem Bilderrahmen aus, fuhr mit seinen Fingerspitzen sacht über die Ikonographie.
Da war etwas...
Etwas Wichtiges.
Es fiel ihm nur gerade nicht ein...
Die dunklen Augen der Frau in der Mitte des Bildes schienen ihn anzufunkeln und ihm etwas sagen zu wollen. Für einen Sekundenbruchteil sah er eine Erinnerung an sie in sich aufblitzen, wie sie lachend auf ihn hinabsah und den Kopf schüttelte. Er musste damals wirklich noch jung gewesen sein. Heutzutage kam es selten vor, dass er zu irgendwem aufblicken musste, die meisten waren kleiner als er.
Er kam einfach nicht drauf, was es war! Irgendwas mit... etwas das... da war was mit...
Er ließ seine Hand in den Schoß fallen und blieb dort knien.
Erst war er in Versuchung, der Erinnerung hinterherzuspüren. Immerhin würde ihn das vielleicht vor den anderen Gedankenketten bewahren und ablenken. Dann aber entschied er sich dagegen. Es würde ihm schon wieder einfallen. Und was das Ablenken anbetraf... da gab es auch noch andere Möglickeiten. Solche, die er auch damals schon zu schätzen gelernt hatte, nachdem ihn die Nachricht aus Überwald erreicht und seine Jugend für lange Zeit in Finsternis getaucht hatte.
Wilhelm stand entschlossen auf. Er wechselte seinen Pyjama gegen Hemd und Hose ein, brachte sein Bett wieder in Ordnung, zog die Vorhänge auf und ließ Licht ein... und machte sich barfüßig auf den Weg in die Werkstatt, ins untere Geschoss.
Es gab genug zu tun, mit dem er zumindest die Hände beschäftigen konnte. Und die Erfahrung hatte gezeigt, dass die Gedanken die Tendenz hatten, den Händen zu folgen. Wenn man sie nur ließ. Und dass selbst die tollwütigsten und schmerzhaftesten Gedanken dabei ihre Bissigkeit verloren und handzahm wurden.
Er würde einfach weitermachen wie bisher.
Und vielleicht heute Abend nach Senray sehen? Nur um sicher zu gehen, dass sie ohne ihn nicht leichtsinnig würde? Aber er sollte sich ihr nicht wieder aufdrängen. Er musste ihr mehr Freiraum zugestehen. Sie konnte so schlecht nein sagen. Vielleicht, wenn er einfach nur von der Straße aus nach ihr sah? Ganz kurz? Um ihren Herzschlag zu hören und etwas beruhigter zu sein? Er musste sie ja nicht stören. Und wenn er ganz schnell wieder ginge, dann wäre es auch kein Ausspionieren, kein Ausdruck einer verwerflichen Anspruchshaltung seinerseits, keine Anmaßung, sondern nur... Sorge?
Er seufzte leise, trat an den Tisch mit den Auftragsunterlagen heran und begann damit, diese zu sichten.

20.09.2017 21: 19

Rach Flanellfuß

Rach mochte den Gedanken gar nicht, sich von Ophelia zu trennen. Mochte die Zeit auch noch so kurz sein. Solange Ophelia in Raculs Nähe war, durfte sie nicht allein sein.
Allerdings gab es Termine, die waren unausweichlich. Gerade jene, bei seiner Lordschaft.
Rach versuchte, es positiv zu sehen: Die Skorpiongrube würde ihm sehr wahrscheinlich erspart bleiben. Schließlich hatten sie den Auftrag erfolgreich abgeschlossen. Ohne Verluste wohlgemerkt! Und dadurch, dass die Wache offiziell involviert worden war, konnte Raculs Vermögen beschlagnahmt werden. Ein Punkt, der dem Patrizier kurz vor dem Einsatz besonders wichtig gewesen war. Dass Racul noch am Leben war, würde eventuell noch problematisch werden. Der Patritzier wusste von der Verbindung zwischen Rachs Verlobter und dem alten Vampir. Allerdings war das genau der Knackpunkt in der ganzen Angelegenheit. Was war einfacher: Einen uralten Vampir gefangen zu halten? Oder ihn endgültig zu beseitigen, sogar ohne diesem zu nahe kommen zu müssen? Einen Menschen zu beseitigen, um einen Schwerverbrecher seiner gerechten Strafe zuzuführen, war in den Augen des Patriziers sicherlich ganz weit oben in den Überlegungen.
Der Inspektor fürchtete die Quote. Es war sehr wahrscheinlich, dass Ophelias Tod, als Lösung des Problems, auf Platz Nummer eins rangierte. In dem Gespräch in der Kutsche hatte seine Lordschaft verlauten lassen, dass Racul von Ankh auf Dauer beseitigt gehörte. Und als der Inspektor darauf hingewiesen hatte, dass dies nicht möglich sei, weil die Verbindung zwischen Ophelia und dem alten Vampir tiefer reichte, als bisher gedacht, war die Reaktion Vetinaris sehr kalkuliert gewesen. Da war Rach sich sicher. Das Bild des Patritziers mit hochgezogener Augenbraue und dessen Worte "Wie bedauerlich!", verfolgten ihn noch immer. Zudem war er sich sicher, dass seine Lordschaft in irgendeiner Form schon vorher Bescheid gewusst hatte. Es galt also vor allem, Lord Vetinari von den Alternativen zu überzeugen.
Er hatte Jules gebeten, sich umzuhören, was im Palast so vor sich ging. Denn Rach fürchtete, in der Angelegenheit der Letzte zu sein, der irgendetwas erfahren würde.
Der dunkle Sekretär strich seinen Anzug glatt, bevor er den Warteraum betrat. Drumknott stand schon an der Tür und geleitete ihn sofort in das rechteckige Büro.
Er betrat das Büro, wie so oft, während seine Lordschaft dabei war, Akten zu sichten und die Berichte seiner Kollegen durchzugehen.
Drumknott verwies ihn auf den Stuhl gegenüber des Schreibtisches, bevor der Sekretär sich neben seine Lordschaft stellte und ein weiteres Dokument zur Sichtung ablegte.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit bis Havelock Vetinari sich von den Dokumenten vor ihm abwandte und schließlich etwas zurücklehnte.
"Herr Flanellfuß", sagte der Patritzier, auf seine Art freundlich. Was Rachs derzeitige Anspannung nur verschärfte. "Ist alles zu deiner Zufriedenheit verlaufen?"
"Ja, Herr. Nein, Herr.", sagte er schnell und war sich selbst nicht ganz sicher. Alle hatten überlebt, sie hatten den Auftrag ausgeführt. Doch Minas Anspruch und die Kopplung zwischen Racul und Ophelia verkomplizierten die Lage.
Lord Vetinari hob kurz die Brauen ob der widersprüchlichen Antwort. Dann kam er sofort zum Wesentlichen.
"Racul von Ankh verbraucht mehr Ressourcen der Stadt, als mir lieb ist. Doch wie wir beide wissen, ist seine Hinrichtung - bis auf Weiteres - aufgeschoben."
"Herr", sagte Rach monoton und ohne Regung in seinem Gesicht, doch er hatte das Gefühl, als würde ein Troll seinen Brustkorb zerquetschen wollen. Er wusste genau, worauf die Andeutungen des Patriziers hinaus liefen.
"Denke nicht, dass ich die Alternative nicht bedacht habe. Noch sehe ich einen Nutzen in der Angelegenheit aber wenn es sein muss, bin ich bereit, auf deine Mitarbeit zu verzichten, Herr Flanellfuß."
Rach schluckte schwer, als ihm die volle Bedeutung der Worte bewusst wurde. Der Patrizier nahm sehr wohl noch die vertraglichen Regelungen zu seinen Mitarbeitern ernst und als Rachs Verlobte, sowie hoffentlich auch baldige Frau, genoss Ophelia eine gewisse Sicherheit. Würde er jedoch gekündigt, sah dies ganz anders aus. Und wenn er den Gedanken richtig weiterdachte, so stand nicht nur Ophelias Leben dabei auf dem Spiel, sondern auch seines. Wenn der alte Vampir nicht endgültig in seine Schranken verwiesen werden konnte, war dieses Szenario immer wahrscheinlicher.
"Wir verstehen uns, Herr Flanellfuß?"
Der Inspektor wagte nicht, etwas zu sagen. Allerdings konnte er nicht verhindern, dass sein Mund sich im ersten Moment öffnete. Er schloss ihn schnell wieder. Die Enge, die sich um seinen Brustkorb geschlungen hatte, wurde unerträglich und er hatte das Gefühl, kaum Luft zu bekommen. Er hatte sich all das schon gedacht. Jedoch nicht vermutet, dass Lord Vetinari ihm dies genau so mitteilen würde!
"Verzeihung, Herr Flanellfuß", sagte da sein Arbeitgeber und erhob sich vom Stuhl. "War das zu direkt?"
Rach war sich der ironischen Tendenzen des Patritziers bewusst aber er konnte nicht mehr an sich halten.
"Herr, ich verstehe. Doch ich bin mir sicher, dass die Wache all seine Verbrechen aufdecken wird und es gibt Alternativen..."
"Die da wären?", erwiderte seine Lordschaft provokativ. "Kein Gefängnis kann ihn halten! Das aktuelle Arrangement ist nur mit Hilfe eines Zauberers möglich, der mit dem Kommandeur befreundet ist. Und komme mir ja nicht mit der absurden Idee, den Erzkanzler deswegen um Hilfe zu bitten! Das ist so oder so nicht von Dauer möglich. Und gehe nicht davon aus, dass die Wachhabenden ohne Schaden bleiben werden. Racul wird sicher alles in seiner Macht stehende tun, um seinem Gefängnis zu entkommen. Nicht zu vergessen, dass er schlichtweg absurde Bedürfnisse hat, die ich in meiner Stadt nicht weiter dulde."
Während seiner Worte war seine Lordschaft an das Fenster getreten und sah auf besagte Stadt hinab.
"Herr, das Exil ist durchaus eine Erwägung wert", sagte der Inspektor schnell, um nicht den Boden unter den Füssen zu verlieren. Der Patrizier machte eine Geste, die ihm zu verstehen gab, weiter zu reden. "Die Verbannung aus der Stadt ohne sein Vermögen und mit einer veralteten Weltanschauung, wird Racul dazu zwingen, im Verborgenen zu bleiben und mit Verlaub, Herr, eure Ansicht bezüglich Ophelia wird Racul an dieses Urteil binden."
"Ein sehr hohes Risiko, wenn du mich fragst”, entgegnete der Patritzier schon beinahe amüsiert. "Nicht für mich wohlgemerkt. Ein alter Vampir auf freiem Fuße? Was, wenn ein wütender Mob oder Vampirjäger ihn in die Finger bekommen? Oder schlimmer noch, jemand seiner eigenen Spezies?"
"Ihr werdet ihn beobachten lassen, Herr?" Er konnte seine Worte gerade noch so in einer Frage enden lassen, statt einer Forderung. Am Rande nahm er den missbilligenden Blick von Rufus Drumknott wahr.
"Natürlich!", sagte Lord Vetinari und wandte sich wieder vom Fenster ab.
Lord Vetinari setzte sich und klatschte in die Hände, ehe er weitersprach.
"Nun, da diese Angelegenheit auch erledigt ist, gehe ich davon aus, dass die Inspektion der Wache wieder deine volle Aufmerksamkeit hat?"
Rach blinzelte.
War das gerade wirklich passiert?
Er nickte schließlich, obwohl er sich in dem Moment nicht sicher war, ob die Spitze gegen ihn gerechtfertigt war. Er hatte seine wöchentlichen Berichte abgeliefert. Zugegebenermaßen waren sie immer kürzer geworden mit der Zeit. Und seine Recherchen im Archiv der Wache waren seltener geworden. Die letzten Wochen, und vor allem die letzten Tage, hatte er andere Prioritäten gehabt; noch immer sogar. Zu seiner Verteidigung konnte er derzeit nur anführen, dass ein Großteil des Vermögens des alten Vampirs in die Stadtkasse fließen würde. Dank der Wache.
"Gut, ich erwarte ebenfalls einen Bericht, sobald die offizielle Fallakte abgeschlossen ist. Mich interessieren, wie du weißt, die inoffiziellen Informationen. Etwas, in dem du, Herr Flanellfuß, noch mal deine Expertise zum Besten geben kannst.”
Sagte es und begann damit, sich wieder seinem Dokumentstapel zuzuwenden.
Ein eindeutiges Zeichen zu gehen. Dennoch überlegte der Inspektor, etwas hinzuzufügen. Zum Beispiel, wie schwer diese Inspektion als einfacher Gefreiter war und wie sehr sich alle gegen eine Zusammenarbeit mit ihm wehrten. Wenn die Wache in etwas wirklich effizient war, dann im Behindern seiner Arbeit.
Stattdessen stand Rach auf, richtete seinen Anzug und verließ das rechteckige Büro mit gemischten Gefühlen.
Eines stand für ihn nun fest: Egal, welches Spiel der Patritzier gerade mit ihm gespielt hatte, es durfte niemand davon erfahren. Nicht einmal Jules würde er in diese Unterhaltung einweihen. Und erst recht nicht Ophelia.

24.09.2017 14: 29

Nyria Maior

Das Leben, beziehungsweise in ihrem Fall das Unleben, ging weiter, und sorgte dafür, dass Nyria an diesem Abend wieder einmal gezwungenerweise auf vier Pfoten unterwegs war. Von ihrem Stammplatz am Fußende von Raistans Bett betrachtete sie den Vollmond, der hoch am Himmel stand. War es wirklich erst zwei Tage her, dass sie Ophelia Ziegenberger und Magane aus den Klauen eines Püschopathen in Vampirgestalt befreit hatten? Da es für sie vorerst nichts weiteres zu tun gab, hatte Nyria sich voll darauf konzentriert, ihre liegen gebliebenen Aufgaben bei SEALS aufzuarbeiten. Ihr Ruf, Berichte gerne mal erst nach mehrfacher Mahnung der Hexe abzugeben, erwies sich in dieser Angelegenheit als sehr nützlich. Niemand würde vermuten, dass so mancher Bericht dieses Mal ausnahmsweise nicht wegen akuter Faulheit verspätet eintrudelte.
Insgeheim bedauerte Nyria ein wenig, dass niemand ihrer unmittelbaren Vorgesetzten je von ihren Erfolgen bei den Rettungszirkel-Ermittlungen erfahren würde. Ihrer Meinung nach war das Ausspionieren der Fächelschule eines der Meisterstücke ihrer bisherigen Wache-Karriere gewesen. Fast wie in dem Lehrbuch, das Damien G. Bleicht ihr zu Anfang ihrer Ausbildung zur Szenekennerin gelangweilt in die Hand gedrückt hatte. Sich in einer Szene auskennen. Die passende Kontaktperson danach aussuchen, Vertrautheit erzeugen und die Person dann dazu bringen, das zu tun, was man von ihr wollte.
Raistan bewegte sich im Schlaf und Nyria änderte ihre Position, damit seine Füße auch weiterhin warm unter ihrem Bauchfell verpackt blieben. Auf seinem Schreibtisch lag ein Flugblatt, auf dem die Küche der UU neues Hilfspersonal suchte. Morgen Abend, wenn sie wieder die Kontrolle über ihre Form hatte, wollte Nyria der Grünen Gans einen Besuch abstatten. Gerti hatte sich als sehr hilfreich erwiesen und war außerdem wirklich sympathisch. Ihr einen Schubs in Richtung ihrer erhofften Stellung zu geben war das geringste, was Nyria für sie tun konnte. Vielleicht sollte sie sie auch mal fragen, ob sie mit zum nächsten Spiel der Unsichtbaren Akademiker kommen wollte.
Träge von der reichlichen Mahlzeit, die sie am Abend wie immer unter dem Tisch des Großen Saals abgestaubt hatte, leckte sich Nyria die Schnauze. Das Huhn in Weißweinsoße war wieder einmal besonders lecker gewesen. Mittlerweile wussten auch die anderen Zauberer am Tisch, was der angebliche Hund von Raistans Schwester besonders gern mochte, und die zugesteckten Leckerbissen flossen reichlich. Der Genuss einer Mahlzeit aus der Küche der UU war es wert, dafür das zeitweilige Tragen eines Halsbands in Kauf zu nehmen. Manchmal musste ein Werwolf Prioritäten setzen.
Während die silberne Spur des Mondlichts langsam durch das Zimmer wanderte und Raistan weiter tief und fest schlief, dachte Nyria über die Mitglieder des Rettungszirkels nach, die nun nach und nach wieder ihre eigenen Wege gingen. Der Fall Ziegenberger war eine unerwartete Gelegenheit gewesen, einige Kolleginnen und Kollegen, die sie bisher höchstens flüchtig gekannt hatte, mal näher in Augenschein zu nehmen und teilweise auch ganz neue, unerwartete Seiten von ihnen zu entdecken. Bevor sie Mitglied des Rettungszirkels wurde, hatte Nyria Mina von Nachtschatten immer als extrem korrekte Unteroffizierin mit einem Stock im Hintern betrachtet. Es hatte sie positiv überrascht, zu sehen, dass der so dienstbeflissene Chief-Korporal durchaus auch krumme Dinger drehen konnte, wenn es sein musste. Die Sache mit dem Liebesbrief, der nun sicher in ihrer Erinnerungssammlung verstaut war, würde Nyria nie vergessen. Ebenso hatte der so untadelige Inspektor Flanellfuß bewiesen, dass er doch eine menschliche Seite hatte. Er liebte Ophelia Ziegenberger mit allem, was sein Herz hergab, und war bereit, alles für sie zu tun, und das hatte Nyria nachhaltig beeindruckt. Im Laufe der Arbeit des Rettungszirkels hatte sie sogar eine gewisse Sympathie für ihn entwickelt, etwas, was sie vorher nie für möglich gehalten hätte. Vielleicht, wenn Gras über die ganze Geschichte gewachsen war und er sich wieder von Ophelia trennen konnte, ließe sich dort ja bei einem passenden Getränk, das kein schales Bier aus einer billigen Schenke am Steifenweg war, anknüpfen? Seine Schwester allerdings war eine unausstehliche, arrogante Ziege, auch wenn sie vom Fechten beneidenswert viel verstand. Nyria fand es erstaunlich, dass der so fröhliche, unbeschwerte Jules Ledoux, der ein netter Kerl zu sein schien, es mit ihr aushielt.
Als extrem interessante Person hatte sich der Rekrut Wilhelm Schneider erwiesen, dessen Gesicht Nyria bisher nur hin und wieder hinter dem Wachetresen gesehen hatte und der ihr dort nicht in besonderer Erinnerung geblieben war. Während der Aktivität des Rettungszirkels hatte sich herausgestellt, dass der Vampir an chronischer Neugierde litt und Regeln in manchen Fällen eher als optionale Richtlinien betrachtete. Eigenschaften, die Nyria per se absolut nicht verwerflich fand. Ein paar Regeln zu brechen, wenn es niemand merkte, war jedoch eine Sache. Ungefragt in den Köpfen anderer Leute herumzustöbern, eine andere. Nachdem sie selbst gespürt hatte, was Racul mit seinen mentalen Kräften anrichten konnte, war Nyria sich nicht mehr sicher, wie weit sie Vampiren noch vertrauen konnte, die sich am Bewusstsein anderer Leute zu schaffen machten. Eines war jedenfalls klar. Falls sie Wilhelm jemals dabei erwischen sollte, wie er ungefragt in ihrem Kopf herumstöberte, konnte er sich auf eine Tracht Prügel gefasst machen, die sich gewaschen hatte.
Immerhin hatte sie erfolgreich klar gestellt, dass er gefälligst die Reißzähne von Raistan ließ, wenn er nicht wie Sebastian in einem Einmachglas enden wollte. Dass der Rekrut ein Auge auf den Kleinen geworfen hatte, war nicht zu übersehen gewesen, und es hatte für eine Weile Spaß gemacht, Raistan damit aufzuziehen, dass sein Aussehen auf Vampire sehr schmackhaft wirkte. Aber irgendwie war der Witz schal geworden nachdem Nyria Sebastian und Racul im Kampf gegenüber gestanden und die Narben von Feldwebel Magane gesehen hatte, und insgeheim begann sie sich zu wünschen, dass Raistan weniger wie die männliche Version der Jungfer im Nachthemd aussehen würde. Vor dem Rettungseinsatz hatte sie nie darüber nachgedacht, aber was Wilhelm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ, wirkte vermutlich auch appetitanregend auf andere Vampire. Zwar Nyria sich sicher, dass Raistan mit dem durchschnittlichen hungrigen Stadtvampir fertig wurde, aber der Gedanke war da und weigerte sich hartnäckig, zu verschwinden.
Nyria war selbst eine Jägerin der Nacht und das instinktive Betrachten einer Person als mögliche Beute war ihr nicht fremd. Aber es gab einen entscheidenden Unterschied zwischen Werwölfen und Vampiren. Werwölfe jagten ehrlich, nur unter Einsatz ihrer Nase, Zähne und Krallen. Ein Vampir war in der Lage, sein Opfer subtil mental zu manipulieren, sodass ihm nicht einmal bewusst wurde, dass es zur Beute geworden war. Das war nach den ungeschriebenen Gesetzen der Jagd ein ganz klares Foulspiel, das eine Rote Karte verdient hatte.
Nu zu gern hätte Nyria mit ihrer vampirischen Freundin Nastja über ihre Gedanken und Bedenken geredet, doch die befand sich gerade mit ihrer Band auf Tournee kreuz und quer durch die Sto-Ebene und würde es auch noch einige Wochen sein. Mit Wilhelm darüber zu reden war jedenfalls keine gute Idee. Sie kannte ihn zu wenig um nicht ausschließen zu können, dass er das, was sie bei einem solchen Gespräch von sich preis gab, nicht irgendwann zu seinem Vorteil nutzen würde.
Ein Jammer, dass Wilhelm ausgerechnet ein Vampir sein musste. Ansonsten hätten sie sich möglicherweise prächtig verstanden. Andererseits - wenn sie als allererstes klar stellte, dass der Versuch, in ihren Kopf einzudringen, für ihn mit einigen gebrochenen Knochen enden würde, würde er höchstwahrscheinlich kapieren, woran er war, und es mochte doch noch eine interessante Unterhaltung werden. Zumal er jetzt, nach dem erfolgreichen Rettungseinsatz, auch nicht mehr wie eine Napfschnecke an der Obergefreiten Rattenfänger kleben musste und die Chancen auf ein langes, ungestörtes Gespräch damit wesentlich höher standen.
Nyria konnte immer noch nicht nachvollziehen, was jemand an diesem chronisch ängstlichen, stotternden Mädchen finden konnte. Abgesehen von der Triangulierung von Ophelias Aufenthaltsort, den Feldwebel Magane mit ihrem Pendel ebenfalls genauso gut und mit weitaus weniger Risiko eingegrenzt hatte, hatte Senray wenig Nützliches zur Rettung beigetragen, und selbst dieser eine Verdienst gebührte eigentlich ihrem Feuerdämon. Letztendlich war Senray für den Rettungstrupp sogar ein Klotz am Bein gewesen, der ihnen allen nichts als zusätzliche Scherereien eingebracht hatte. Raistan hatte gewisse Sympathien für die Kleine und ihre Probleme entwickelt, aber das war seine Sache. Wenn es irgendwann mal wieder hart auf hart kam, wollte Nyria sich niemals auf Senray Rattenfänger verlassen müssen.
Leutnant Mambosamba und Chief-Korporal von Nachtschatten hingegen würde Nyria jederzeit wieder volles Vertrauen entgegen bringen, falls das Schicksal und der Dienstplan ihnen irgendwann einen weiteren gemeinsamen Einsatz bescheren sollten. Das Gleiche galt für Oberfeldwebel Rogi Feinstich. Nyria konnte nur erahnen, über wie viele Schatten der Überzeugungen ihres Familienclans die Igorina gesprungen sein musste um zu tun, was sie am Ende getan hatte.
Aber nun blieb ihnen nur noch übrig zuzusehen, wie die volle Wucht der Gesetze der Städte Ankh und Morpork auf Raculs uralten, hässlichen Schädel hinabsauste. Wenn alles nach Bregs' Plänen lief, würde sich Racul in wenigen Wochen mittellos und aus seinem Revier ausgestoßen in einer Welt wiederfinden, die ihm mit aller Deutlichkeit mitteilte, dass er ein unbrauchbares Modell von Vorgestern war. Unwillkürlich musste Nyria an ihre eigene Familie denken, die sich ebenso trotzig an hoffnungslos veralteten Idealen von Überlegenheit festgeklammert hatte und deshalb verdienterweise untergegangen war. Am Ende hatte die Ironie des Schicksals dafür gesorgt, dass ihre hochgradig speziesistische Familie genau das bekam, was sie verdiente - das, was sie am meisten verachtete, als letzten Erben.
Nyria bleckte ihr Gebiss zu einer wölfischen Version ihres unnachahmlichen Grinsens, als sie an Bregs dachte. Letztendlich war es sein latent schlechte Gewissen Ophelia Ziegenberger und ihrem ungewissen Schicksal gegenüber gewesen, das sie dazu gebracht hatte, die so schicksalshafte Wette abzuschließen und daraufhin tätig zu werden. Was das betraf, hatte sie ihr Ziel erreicht, auch wenn die Erkenntnis, dass er sich geirrt hatte, sehr schmerzhaft für Bregs gewesen war. Aber da hatte er durchgemusst und war im Zuge dessen, seinen Fehler wieder gut zu machen, zur Höchstform aufgelaufen. Ohne ihn und seine heimlichen Strategiesitzungen und Trainingseinheiten wären sie sicher nicht so erfolgreich gewesen. Insgeheim vermutete Nyria, dass Bregs das Spinnen von Intrigen und Verschwörungen mindestens genauso sehr liebte wie das Lesen von selbigen. Und Racul mit allen Tricks, die er ausspielen konnte, ans Messer der Justiz zu liefern, musste für ihn das gefundenste Fressen seit Jahren sein. Eine Gelegenheit, zwischen all der Bürokratie und Papierkramschaufelei die der Kommandeursposten so mit sich brachte zu zeigen, was er wirklich drauf hatte. Trotz Chief-Korporal von Nachtschattens Vorsitz - Bregs war in der entscheidenden Phase die Graue Eminenz des Rettungszirkels gewesen. Derjenige, der im Hintergrund die Strippen gezogen hatte, die dafür gesorgt hatten, dass sie letztendlich nicht offiziell aufgeflogen waren. Und Nyria verwettete das öffentliche Verspeisen einer Wagenladung von Schnappers Würstchen darauf, dass er zumindest ein gewisses Vergnügen daran gefunden hatte, Teile der eigenen Truppe an der Nase herumzuführen - ganz besonders den IA-Zwerg.
Der dünne Streifen des Mondlichts, der zwischen den beiden zugezogenen Vorhängen hindurchschien, war ein weiteres Stück durch das Zimmer gewandert. Wenn der nächste Vollmond am Himmel über Ankh-Morpork stand, kroch Racul hoffentlich bereits metaphorisch winselnd und mit eingezogenem Schwanz in Richtung Überwald. Und bis es so weit war, gab es für sie nur noch zwei Dinge zu tun. Erstens, für Raistan da zu sein, während er sich weiter um Raculs Gefängnis und Oberfeldwebel Feinstichs Sicherheit während ihrer Nachtwachen im Gängelabyrinth kümmerte. Und zweitens - Eigentlich brauchten die Mitglieder des Rettungszirkels noch etwas, was ihnen so richtig klar machte, dass sie erfolgreich gewesen waren. Ein würdiger Abschluss eines spektakulären Einsatzes, der offiziell niemals gefeiert werden würde. Eine standesgemäße Siegesfeier. Mit den Zähnen zupfte Nyria das untere Ende der Bettdecke über sich zurecht, prüfte nach, ob Raistans Füße immer noch warm unter ihrem Bauchfell verstaut waren, und legte den Kopf auf die Vorderpfoten. Ja. Es war definitiv eine gute Idee, eine ordentliche Party zu schmeißen, wenn alles vorbei war.

25.09.2017 0: 09

Rach Flanellfuß

Jules hatte es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht und las ein Buch, um den Abend entspannt ausklingen zu lassen. Esther hatte sich schon vor einer Weile für ihren nächsten Auftrag verabschiedet und würde vermutlich morgen früh zum Frühstück wieder auftauchen, um ihn anschließend zum Palast zu begleiten. Bei dem Gedanken war es kaum zu glauben, was sie erst vor Kurzem durchmachen mussten. Und für die Wache war das Ganze noch nicht durchgestanden. Ebenso wenig, wie für Rach und seine Verlobte. Ophelia würde wahrscheinlich noch sehr lange nicht nur körperlich gezeichnet sein.
Er seufzte leise bei dem Gedanken und legte das Buch beiseite.
Sein Freund verbrachte derzeit jede freie Minute bei ihr und deren Liebe zueinander schien ungetrübt. Allerdings, so glücklich Rach auch darüber sein mochte, dass er wieder vereint war mit ihr... eine perfekte Welt sah anders aus. Ein Sie-lebten-glücklich-bis-ans-Ende-ihrer-Tage war noch lange nicht in Sicht. Jules konnte nur hoffen, daß er sich in diesem Fall irrte.
Der Assassasine schreckte auf, als das Schloss zum Eingang knackte und Rach mit schnellen Handgriffen die Falle über der Tür deaktivierte. Kurz darauf war sein Freund, ohne ihn zu grüßen, an ihm vorbei und trat hinaus auf die Terrasse.
Jules erhob sich langsam, schlang seinen Schal um sich und trat zu Rach ans Geländer. Der Glimmstängel qualmte schon und sein Freund nahm einen tiefen Zug.
"Weißt du", setzte Jules an, "Ich traue mich inzwischen nicht mal mehr zu fragen..."
Sein Kommentar brachte leider nicht die gewünschte Wirkung, stattdessen drückte Rach die Zigarette grob am Geländer aus und schnippte die Überreste auf den Weg unter ihnen.
Jules sah dem Glimmstängel mit einem Kopfschütteln hinterher, als dieser in einer Pfütze landete. Ein Straßenjunge hätte den restlichen Tabak vermutlich noch gut verkaufen können. Er folgte seinem Freund schnell wieder in die Wohnung.
Rach raufte sich die Haare und tigerte rastlos durch die Wohnung.
"Ok. Beruhige dich und sag mir, was passiert ist!"
Kaum hatte er das gesagt, drehte Rach sich abprupt zu ihm um.
"Ich soll mich beruhigen? Ophelia wird von einem Vampir zum nächsten weiter gereicht und ich soll mich beruhigen?"
"Wir reden hier von Mina. Sie hat uns allen den Arsch gerettet, indem sie diese Forderung stellte, dass ist dir klar oder?"
Mit nur diesem einen Satz schien Rach entwaffnet. Die Schultern seines Freundes sackten herab und er ließ sich in den Sessel fallen.
"Der Termin steht fest", sagte Rach schließlich und machte eine wegwerfende Handbewegung. "Und ich darf nicht dabei sein."
Jules runzelte kurz nachdenklich die Stirn. Wenn das Rachs einziges Problem war, verstand er die ganze Aufregung gerade nicht.
"Rach, ich kann mir nicht vorstellen, dass sie selber davon begeistert ist. Du etwa?"
"Sie hat es mir jedenfalls nicht gesagt!", sagte sein Freund nun wieder aufgebracht. "Du hättest Ophelia sehen sollen! Wie sie es mir sagte... sie nimmt es einfach hin! Ich ertrage den Gedanken kaum, nicht bei ihr zu sein, wenn ein Haufen Vampire über die Rechtmäßigkeit diskutiert, wem Sie gehört... es ist einfach nicht richtig!"
Das war also das eigentliche Problem. Und nicht wirklich was Neues. Dass Rach bei einem solchen Termin nicht anwesend sein durfte, war absehbar gewesen. Etwas, was dieser bis jetzt nicht wahrhaben hatte wollen. Dass er es ausgerechnet von seiner Verlobten, statt von Mina erfahren musste, war natürlich unglücklich.
"Du solltest vielleicht einfach mit Mina reden...", setzte er an, doch weiter kam Jules nicht.
"Da kannst du drauf wetten!"
"Oh, das werde ich", sagte Jules und lachte wieder vergnügt. Denn ernst nehmen, konnte er seinen Freund in solchen Situationen nie.

31.10.2017 16: 32

Mina von Nachtschatten

Sie hatte ein mieses Gefühl bei der Sache. Ob immer noch oder schon wieder war dabei nicht von Belang. Und auch die Tatsache, dass sich nun ohnehin nichts mehr am einmal gefassten Plan ändern würde und ihre Bedenken schon allein deswegen vollkommen unnütz waren, trug nicht zur Entspannung der Situation bei. Dass es nicht nur ihr so erging war dabei ein eher schwacher Trost: Die Nervosität im Innern der Kutsche hatte beinahe schon so etwas wie Substanz angenommen und stieg immer noch, von Minute zu Minute. Wenn sie noch eine Weile das Gebäude da draußen anstarrten, dann würde man sie wohl bald riechen können, schmecken oder gleich mit Händen greifen. Oder sie würde ganz einfach direkt in Angst umschlagen und diese Duftnote wäre alles andere als hilfreich. Besonders dort, wo sie vorhatten hinzugehen. Trotzdem vergingen noch einige weitere Augenblicke, während derer sie schweigend aus den Fenstern sahen, zu dem irgendwie unscheinbaren Gebäude auf der anderen Straßenseite. Schwer vorstellbar, dass sich dort in wenigen Minuten Lebensveränderndes abspielen sollte. Dabei ebenso unspektakulär im Vorgang wie einschneidend in der Wirkung. Unwillkürlich freiwillig. Bindend. Bisher war es immer nur Theorie gewesen, ein vages Etwas, welches irgendwann einmal stattfinden würde. Jetzt war es soweit und obwohl sie in den letzten beiden Wochen viel darüber gesprochen hatten, fühlte es sich dennoch seltsam unwirklich an, wie einer dieser surrealen Träume, in denen alles in einem Nein! schreit und man trotzdem wie in Trance einfach immer weiter geht. Wenn man in diesem Zusammenhang nun einmal bei der Theorie blieb: Rein theoretisch hätte man die Sache durchaus noch abblasen können... doch da die sich daraus ergebenden Konsequenzen das weitaus größere Übel wären...
Mina räusperte sich und brach damit bewusst die angespannte Stille. Egal, wie oft man es sich durch den Kopf gehen ließ, das Ergebnis blieb dasselbe. Außerdem - es wurde langsam Zeit. Zu spät kommen schien ihr unter diesen speziellen Umständen keine sonderlich gute Idee zu sein.
Sie warf einen Blick zur gegenüberliegenden Sitzbank.
"Bereit?"
Ihr Gegenüber nickte zaghaft und strich sich mit der gesunden Hand über das graue Tageskleid.
"Ob es so geht?", wollte sie zum wiederholten Male wissen. "Ich möchte nur keinen Fehler machen..."
Sie hätte ihr sagen können, dass es vollkommen egal war. Dass es zwar um sie ging, sie aber im Grunde keine große Rolle spielte. Dass es auch dann niemanden interessiert hätte, wäre sie barfuß, in Sack und Asche erschienen. Aber Mina beschied sich ebenfalls mit einem Nicken, bevor sie die Hand nach dem Türgriff ausstreckte. Kein Grund, gewisse unschöne Einzelheiten noch einmal zu thematisieren.
"Du siehst wunderbar aus", murmelte Rach und drückte Ophelia einen sanften Kuss auf die Wange. Verglichen mit dem Zustand, in dem sie sie gefunden hatten, mochte sogar ein Fünkchen Wahrheit in seinen Worten liegen. Aber tatsächlich wirkte Ophelia noch immer abgehärmt, kränklich und müde, mehr ein Schatten als ein menschliches Wesen. Sie versuchte es zu verbergen, die ständigen kurzen Schwächeanfälle mit einem Lächeln zu überspielen, war damit aber wenig überzeugend. Jeder Schritt bereitete ihr Mühe, alles was sie tat folgte dem langsamen, bedachten Rhythmus welchem ihr momentanes Leben unterworfen war und Mina rechnete eigentlich ständig damit, dass die Andere einfach zusammenbrach. Unter normalen Umständen hätte sie mindestens noch einmal so viel Zeit zur Erholung gebraucht, wie ihr bis jetzt geblieben war. Aber Ophelia wollte es hinter sich bringen - daran hatte sie keinerlei Zweifel gelassen.
"Ich muss doch nur ein paar Minuten lang nicht ohnmächtig werden und dabei auf meine Schuhspitzen starren", hatte sie schwach gewitzelt. "Das sollte selbst ich zu Stande bringen, ohne in allzu große Schwierigkeiten zu geraten."
Jetzt ließ sie sich von Rach aus der Kutsche helfen und wäre dabei beinahe von der letzten Trittstufe gerutscht. Es vergingen einige Augenblicke, bis sie ihren eigenen Füßen wieder traute und ihm signalisierte, dass sie sich nun auf den Weg zur Tür machen konnten. Langsam, Schrittchen für Schrittchen, gestützt von ihrem Verlobten. Diesem ging das alles sichtlich nahe. Nervös flog sein Blick zwischen Ophelia und ihrem Ziel hin und her, dann kurz zu Mina auf ihrer anderen Seite, während er gleichzeitig zu versuchen schien, die gesamte Umgebung auf einmal im Auge zu behalten.
"Bist du dir sicher?", fragte er leise. "Also, wirklich sicher, dass du das tun willst?"
Ophelia holte tief Luft.
"Ich will, dass es vorbei ist", meinte sie dann fest.
"Wir könnten noch warten, bis du wieder..."
"Nein, Rach."
"Aber..."
"Es ist gut so."
Auch wenn sie diesen Austausch nicht zum ersten Mal mit anhörte, so konnte Mina einen leichten Schauder ob Ophelias letzter Worte nicht unterdrücken. Da war sie wieder, diese Ergebenheit, dieses sich fügen, bei dem man nicht so ganz einschätzen konnte, ob es zur Gänze ihrer eigenen Überzeugung entsprach oder nur dem Wunsch, es anderen Recht zu machen und möglichst wenig Mühe zu bereiten. Die alte Opferhaltung. Auch nach ihrer Befreiung hatte Ophelia zu keiner Gelegenheit gegen ihren Plan protestiert: Sie hatte zugehört, Fragen gestellt, sich den Ablauf erklären lassen. Und genickt. Es hingenommen, im festen Vertrauen darauf, dass es die einzige Möglichkeit war. Kein Widerstand, kein Aufbegehren. Kannte man ihre Geschichte, so war die Ruhe, mit der sie das alles akzeptierte, schon beinahe unheimlich. Nun ja, zumindest wenn man von der Haltung ausging, die sie nach außen hin zeigte. Denn auf emotionaler Ebene - da schwieg Ophelia. Es war anzunehmen, dass es sich mit der gedanklichen ähnlich verhielt. Mina hatte erwartet, dass die alte Verbindung sich in irgendeiner Weise bemerkbar machen würde, schließlich war das mentale Problem an sich ja noch immer nicht gelöst. Aber da war gar nichts. Die Vampirin war sich nicht ganz sicher, wie genau Ophelia das anstellte, aber was auch immer sie tat - sie war ausnehmend gut darin. Die junge Frau hatte offenbar gelernt, sich vollständig abzuschotten und was sie das gekostet haben mochte... das war eines der Themen, welches zwischen ihnen noch nicht angeschnitten worden war. Und Mina hatte sich mit entsprechenden Fragen zurückgehalten, da sie keine Erinnerungen aufwühlen wollte, denen Ophelia sich vielleicht noch nicht in dieser Form zu stellen bereit war. Nein, wenn sie über das vergangene Jahr reden wollte, dann würde sie von selbst damit beginnen. Ophelia allein musste das Tempo bestimmen, in dem sie sich mit dem Vergangenen auseinandersetzte, auch wenn weder Mina noch Rach je Zweifel daran gelassen hatten, dass sie zuhören würden, wenn es soweit war.
Mittlerweile hatten sie den Eingang erreicht, eine schlichte, doppelflügelige Holztür mit dunklen Beschlägen. Lediglich ein kleines messingfarbenes Schild direkt daneben verriet, was sich dahinter befand: Überwaldische Registraturbehörde, Außenstelle Ankh-Morpork [21]. Ansonsten hätte es sich um ein beliebiges Haus in einer beliebigen Straße handeln können. Für eine Spezies, welche es sich sonst bei keiner Gelegenheit nehmen ließ deutlich zu machen, dass sie sich vom Rest der Bevölkerung abhob, war das geradezu dröge. Allerdings handelte es sich hierbei auch um jenen Zweig des öffentlichen Lebens, welcher nicht gerade für seine kreative Ader oder einen ungewöhnlichen Gestaltungswillen bekannt war: Die Bürokratie. Leute, die zufrieden damit waren, wenn alles in wohl geordneten und schriftlich festgehaltenen Bahnen ablief, streng nach Protokoll und ohne Überraschungen, sich aber gleichzeitig ihrer Stellung und der damit verbundenen Überlegenheit gewiss waren. Wenn man wusste, wer man war, dann hatte man es einfach nicht nötig, groß damit hausieren zu gehen. Zumal es eine Ablenkung dargestellt und womöglich unnötiges Interesse geweckt hätte, was wiederum den Arbeitsablauf störte und Unruhe brachte. Insofern passte es schon ganz gut ins Bild.
Ophelia ließ einen langen Blick über die Fassade schweifen. Auch wenn sie jene Art der Diskussion mit ihrem Verlobten, wie sie eben noch stattgefunden hatte, stets mit bewundernswerter Langmut führte, so schien sie diesmal ehrlich erleichtert, von den Umständen nunmehr davon entbunden zu werden.
"Können wir gleich hinein?", fragte sie.
Rach biss sich auf die Unterlippe, enthielt sich aber eines Kommentars. Stattdessen löste er vorsichtig den Arm der Verlobten von seiner Schulter und übergab sie umsichtig an die wartende Mina. Ophelia schauderte kurz, als die menschliche Körperwärme von der Kühle der Vampirin abgelöst wurde.
"Ich warte dann hier auf euch", murmelte er unglücklich. "Es sei denn..." Er warf Mina einen fragenden Blick zu.
Es war das Thema, mit welchem Rach erst kürzlich an sie herangetreten war. Dass er nicht dabei sein durfte, bei dem, was bevorstand. Kein Gespräch, auf welches Mina besonders erpicht gewesen war, doch gleichzeitig hatte sie stets um dessen Unvermeidlichkeit gewusst. Es betraf ihn so direkt und ihn auszuschließen war alles andere als fair. Doch darum ging es in diesem Fall nicht. Sie waren gezwungen, sich in einem eng festgesetzten Rahmen zu bewegen und irgendwelche Extravaganzen würden wahrscheinlich bestenfalls als solche wahrgenommen und auch dann noch zu ihren Ungunsten ausgelegt werden. Wenn man selbst noch damit beschäftigt war, mit den eigenen Zweifeln zu kämpfen, fiel es mitunter schwer, Derartiges halbwegs einfühlsam zu vermitteln. Sie hatte sich die Regeln nicht ausgedacht und wäre es nach ihr gegangen... Aber es war müssig, darüber zu spekulieren. Manche Dinge waren einfach so wie sie waren. Rach hatte es niedergeschlagen zur Kenntnis genommen. Aber ein letzter Versuch, jetzt und hier, war ihm natürlich nicht zu verdenken.
"Es wird nicht lange dauern." Mina versuchte sich in einem aufmunternden Lächeln. "Und ich gebe gut auf sie Acht. Es wird ihr nichts passieren."
Davon war zumindest auszugehen. Dennoch war Rachs Sorge nachvollziehbar, betraten sie doch nunmehr ein Haus voller Vampire und Ophelias mitunter spezielle Wirkung auf solche war ja ein Teil des Problems. Trotzdem, wie wahrscheinlich war es, dass etwas Unvorhergesehenes geschah? Das einzige Interesse der hier Arbeitenden an Ophelia war schließlich deren Name auf Papier in der richtigen Spalte eines Formblattes. Sie würden sie kaum eines Blickes würdigen. Zumindest war es das, wovon sich Mina selbst zu überzeugen versuchte: Es gab keinen vernünftigen Grund zu übersteigerter Besorgnis. Warum war sie dann aber speziell im Hinblick darauf so nervös? Und Rach entging das natürlich nicht. Er sah sie lange an.
"Dein Wort in Oms Ohr", meinte er dann langsam, bevor er sich abwandte und zur Kutsche zurückging.

Hieronymus Allerfred der Dritte von und zu Wendelstein war in gespannter Erwartung. Normalerweise schätze er die unaufgeregte Eintönigkeit seiner Arbeit, den immer gleichen Ablauf während der hellen Stunden des Tages und die Sicherheit, nach Sonnenuntergang noch genug Zeit zu haben, um seinen persönlichen Interessen nachzugehen. Ein ideales Arrangement. Doch als ihm sein Vorgesetzter heute morgen eröffnet hatte, er brauche ihn als Protokollanten für eine Übereignung - da hatte das seine Neugier geweckt. Eine Übereignung, soso. Das machte heutzutage kaum noch jemand und die wenigen Traditionalisten in der Stadt, denen man so etwas am ehesten zutrauen würde, befanden den Vorgang der Mühe üblicherweise nicht für wert. Immerhin waren die Zeiten der altehrwürdigen nächtlichen Rituale, mit Mondlicht, Kerzenschein und Blut, schon lange vorbei und wenn Hieronymus ehrlich war, dann war er nicht besonders unglücklich darüber. Solche Praktiken waren antiquiert und unangenehm und verstaubten zurecht in der großen Truhe namens Geschichte. Der moderne Verwaltungsakt jedoch, mit dem so etwas nun abgehandelt wurde - nun, der lockte erst recht keinen mehr aus der Gruft hervor. Entsprechend hatte die letzte Übereignung lange vor Hieronymus' Zeit in der Registraturbehörde stattgefunden und auch wenn der Vorgang an sich vollkommen simpel war, so würde es doch interessant sein, wer eine solche Maßnahme für notwenig erachtete. Das Warum ergab sich dann für gewöhnlich aus wiederum diesen Beteiligten, zumindest wenn man einen wachen Blick auf die Vampirgesellschaft der Stadt hatte. Ein kleines Logikspiel, ein paar Deduktionen, als Abwechslung zum sonstigen Einerlei - das war doch nett. Ob er mit seinen Vermutungen dann auch richtig lag, war irrelevant. Er würde es ohnehin nie mit absoluter Sicherheit erfahren. Diskretion war schließlich eine der Hauptvoraussetzungen für seine Arbeit hier. Man fragte nicht nach und erzählte erst recht nichts weiter. Sonst hätten sie sich das alles hier auch gleich sparen können. Zudem war es überaus befriedigend zu wissen, dass man über Informationen verfügte, die dem normalen Pöbel auf den Friedhöfen nicht zugänglich waren.
Hieronymus lehnte sich in seinem Stuhl zurück und ließ den Blick durch den dämmrigen Raum schweifen. Drei hohe Pulte, in Form eines Vierecks mit einer offenen Seite angeordnet. Ihm gegenüber - niemand. An der Stirnseite, der Platz des ersten Beauftragen - ebenfalls noch leer. Der alte Mack verspätete sich, wie üblich. Aber wahrscheinlich war er immer noch damit beschäftigt, einen vorgeschriebenen dritten Anwesenden für den heutigen Termin zu verpflichten. So stand es in den Regularien: Ein Vorsitzender, ein Protokollant, ein Zeuge. Wurde dieser nicht vom Antragsteller gestellt, so stand es dem Gremium zu, letzteren zu benennen. Ein Detail, welches ihnen beklagenswerter Weise erst vor wenigen Stunden aufgefallen war. Nun ja, man konnte nicht alles im Kopf haben. Dafür wurde es schließlich aufgeschrieben. Aber dass das ausgerechnet dem Chef entgangen war, würde für die nächste Zeit zur Erheiterung des Kollegiums beitragen.
Der junge Vampir erlaubte sich ein kurzes Grinsen, dann griff er nach seinen Unterlagen, um sie ein letztes Mal durchzugehen. Viel war es nicht, aber da der ewig grummelige Mack aufgrund der Umstände wohl besonders schlechte Laune haben dürfte, wollte er ihm keinen Grund geben, diese an ihm auszulassen. Aber es war alles in bester Ordnung: Die Formulare entsprachen der aktuellen Fassung, Durchschlagpapier war vorhanden und der benötigte Paragraph lag griffbereit, um im Fall der Fälle etwas nachschlagen zu können. Hieronymus Blick verweilte für einen Moment auf den Namen in der Kopfzeile. Von Nachtschatten... natürlich hatte er von der Familie gehört, das war schließlich alter überwalder Adel. Aber seine Kenntnisse waren bestenfalls vage und dass sich deren Mitglieder mittlerweile auch in Ankh-Morpork aufhielten, das hatte ihn dann doch überrascht. Doch auf der anderen Seite - die Große Wahoonie war schon immer ein Auffangbecken für all jene gewesen, die sich unsichtbar machen oder diversen Konflikten mit ihrer Vergangenheit entgehen wollten. Es war nicht undenkbar, dass es sich hier um einen weiteren Adelsspross handelte, der auf das ewige Intrigieren und Ränke schmieden in Überwald schlicht keine Lust mehr gehabt hatte. Was aber wirklich irritierte war der Eintrag hinsichtlich des anderen Subjekts: Ziegenberger. Das sagte Hieronymus absolut nichts. Ihm war niemand dieses Namens bekannt, der auch nur ein annähernd wichtiges Amt bekleidete oder sonst wie von sich Reden gemacht hatte, dass es relevant sein könnte. Die Sache war also nicht politisch motiviert. Seltsam. Hätte er mehr Zeit gehabt, so wäre es wohl möglich gewesen über eine kleine Recherche etwas Licht ins Dunkel...
Die Tür flog auf und Mackularius Emerich Most von Moorschwarm rauschte ins Zimmer. Er würdigte Hieronymus keines Blickes, ließ ein dickes Register auf das Pult an der Stirnseite fallen, während er etwas von den "unfähigen Blagen im Archiv" murmelte. Dann setzte er sich und blätterte einen Moment in dem dicken Wälzer, bis er offenbar die richtige Seite gefunden hatte.
"Nun denn", meinte er dann mit einer Stimme, die an ein rostiges Scharnier erinnerte. "Die Herren sind vollständig anwesend?"
Er sah kurz zum Protokollantenpult hinüber und dann zu dem anderen Vampir, welcher kurz hinter ihm eingetreten, jedoch an der Tür stehen geblieben war. Hieronymus musste sich sein entnervtes Stöhnen verkneifen. Er mochte Alistair nicht besonders - diesen unverbesserlichen Idealisten, der zu viel redete und alles hinterfragen musste, auch wenn es seit hunderten von Jahren vollkommen zufriedenstellend funktionierte. Er wusste, dass auch Mack ihn für wenig mehr hielt als einen Störenfried, dessen Beamtenlaufbahn wohl nicht von langer Dauer sein würde. Aber offenbar hatte sich in der Kürze der Zeit kein anderer für die heutige Aufgabe finden lassen. Doch er musste ihm bereits wegen irgendeiner Angelegenheit die Leviten gelesen haben, denn Alistair nickte nur vorsichtig und versuchte dabei, den Vorgesetzten nicht direkt anzusehen - Macks Blick machte mehr als deutlich, dass er durchaus in der Stimmung war, dem Untergebenen bei nur einem Wort an der falschen Stelle den Kopf abzureißen.
"Gut." Mack schnaufte. "Dann bringen wir diese Angelegenheit jetzt hinter uns."
Auf sein Nicken hin öffnete Alistair diensteifrig die Tür und trat dann beiseite, doch es dauerte noch einige Augenblicke, bis sich die leisen Schritte aus dem Vorraum soweit genähert hatten, dass man auch jemanden erkennen konnte. Was dann erschien war ein... ungewöhnliches Paar. Auch wenn es ihm durch seine Ausbildung eigentlich in Fleisch und Blut übergegangen war, bei jedwedem Termin in fremder Angelegenheit keine Miene zu verziehen, so spürte Hieronymus, wie seine rechte Augenbraue unwillkürlich nach oben wanderte. Und erneut kam er nicht umhin, sich im Stillen nach den genauen Umständen zu fragen, welche hierzu geführt hatten.
Die Vampirin war augenscheinlich noch vergleichsweise jung, gemessen an den Maßstäben ihrer Spezies zumindest. Sie wirkte äußerlich ruhig und gefasst. Gleichzeitig lag in ihrer ganzen Haltung, dem hoch erhobenen Kopf und der Art, wie sie bestimmt einen Schritt nach dem anderen setzte, eine Art unverhohlener Trotz, beinahe schon eine Herausforderung. Selbst wenn sie nur sehr langsam voran kam, denn die etwa gleich große, rothaarige Menschenfrau, welche sie auf ihrem Weg stützen musste... herrje. Das war kein Mensch, das war vielmehr eine wandelnde Leiche, welche nur zufällig noch atmete. Der ganze Organismus schien kurz vor dem Kollaps, jede Bewegung fiel ihr schwer und der trommelnde Herzschlag hob sich unangenehm laut vor der Stille des Raumes ab.
Mack grunzte abfällig, während Alistair sich auf die Unterlippe biss.
"Herr Vorsitzender... vielleicht... ein Stuhl?", wagte er einzuwerfen.
Ihn traf ein eiskalter Blick seitens des Angesprochenen.
"Setzen Sie sich gefälligst hin!", zischte Mack und der junge Vampir kam dieser Aufforderung eilends nach.
"Chapeau, Kollege", dachte Hieronymus, allerdings ohne besonderes Mitgefühl. "Dem Alten so etwas vorzuschlagen hätte selbst ich an einem besseren Tag nicht gewagt."
Die kleine Prozession in der Mitte war derweil einige Schritte vor dem Pult des Vorsitzenden zum Stehen gekommen. Die junge von Nachtschatten sagte ein paar Worte, aber so leise, dass es beim besten Willen nicht zu verstehen war und lächelte der Menschenfrau beruhigend zu. Nachdem sie sich zudem versichert hatte, die Rothaarige würde nicht gleich umfallen, wenn sie den Arm von ihrem löste, wandte sie sich dem Gremium zu. Es war wohl kein Zufall, dass sie die andere dabei zugleich vor dem Ausdruck unverhohlener Missbilligung auf dem Gesicht des alten Mack abschirmte.
"So", schnarrte dieser und kräuselte herablassend die Oberlippe. "Fräulein Mina von Nachtschatten. Sie sprechen hier in der Angelegenheit der Übereignung einer menschlichen Person vor, einer..." Er warf einen Blick auf seine Aufzeichnungen. "Ophelia Ziegenberger. Darf ich das soweit als korrekt vermerken?"
Sie sah ihn vollkommen unbeeindruckt an.
"Ja."
"Ich nehme an, die mit einer derartigen Vereinbarung einhergehenden Rechte und Verpflichtungen sind Ihnen bereits von offizieller Stelle dargelegt worden, dennoch gebietet es mir der Ablauf dieser heutigen Eintragung den entsprechenden Sachverhalt noch einmal zusammenzufassen. So Sie sich danach immer noch sicher sind, die anwesende menschliche Person auf sich übereignen lassen zu wollen, können wir fortfahren."
"Selbstverständlich."
Den Meisten war es nicht vergönnt, sich ihre Selbstsicherheit während einer offiziellen Begegnung mit dem alten Mack zu erhalten, besonders wenn es um eine Sache ging, zu der er mit jedem Wort, jeder Geste deutlich machte, dass er sie für Zeitverschwendung und groben Unfug hielt. Manche begannen mit der Zeit nervös zu werden und irgendwelche Marotten zu zeigen, anderen erging es wie Alistair, der hinter seinem Pult noch immer versuchte, möglichst unsichtbar zu sein. Das war dann immer sehr amüsant zu beobachten, zumindest wenn man auf der gleichen Ebene agierte wie derjenige, der es auslöste. Mina von Nachtschatten jedoch gehörte zu keiner dieser Kategorien. Während der Vorsitzende nun seine juristische Litanei verlas, ließen sie der verächtliche Tonfall und die nur leicht verschleierten sarkastischen Bemerkungen unbeeindruckt, ja, sie verschränkte nicht einmal abwehrend die Arme. Weder stellte sie offen Überlegenheit zur Schau, noch ordnete sie sich unter. Entweder war das sehr sorgsam antrainiertes Einsetzen von Körpersprache und somit eine durchaus überzeugende Fassade. Oder aber sie hatte schon ganz andere Sachen erlebt, zu denen dies hier im Vergleich gar nichts war. Vielleicht war ihr aber auch das Urteil anderer einfach vollkommen egal. Wie auch immer: Sie lieferte eine gute Vorstellung. Zumal es denn alten Mack zunehmend zu frustrieren schien: Er war es nicht gewohnt, dass seine üblichen Methoden nicht fruchteten. Beinahe ruppig brachte er den letzten Satz zu Ende und funkelte sein Gegenüber nun böse an.
"So dies alles in Ihrem Sinne war, dann bitte ich Sie, dies abzuzeichnen." Er schob das Register nach vorn. "Eine Signatur zweiter Stufe ist in diesem Fall ausreichend."
Zweite Stufe. Das bedeutete mindestens fünf Vornamen. Doch bei Anzahl der Namen, welche manche Vampire führten, war es eine enorme verwaltungstechnische Erleichterung. All die Zeit und das Papier, welches volle Unterschriften sonst gekostet hätten!
Die von Nachtschatten griff nach der bereitgelegten Feder und es war tatsächlich nur der Bruchteil einer Sekunde, den sie zögerte, bevor sie der Aufforderung nachkam. Doch ein klein wenig Unsicherheit, was?
Mack nickte widerstrebend.
"In Ordnung. Dann zum letzten Teil. Wenn Sie ein Stück zur Seite treten würden?"
Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf Ophelia Ziegenberger.
Diese hatte die ganze Zeit am gleichen Platz gestanden, mit höflich vor dem Bauch verschränkten Händen, den Blick zu Boden gerichtet. Aber selbst das schien bereits über ihre Kräfte zu gehen. Lange würde sie wohl nicht mehr in der Lage sein, sich auf den Beinen zu halten. Doch was nun noch folgte würde schnell vorbei sein. Der Vorsitzende musste die abgeschlossene Übereignung nur noch offiziell machen. Hieronymus wusste nicht zur Gänze, wie das genau vonstatten ging, lediglich, dass im Geist des Menschen eine Art, nun, Siegel hinterlassen wurde, ein Zeichen der Zugehörigkeit. Das beeinflusste ihn nicht und konnte im Zweifel andere Vampire auch nicht daran hindern, dort einzudringen oder Unruhe zu stiften. Es war mehr ein Hinweis, der allgemein anerkannt und geachtet wurde. Eine Gesellschaftsgruppe, die über derartige mentale Möglichkeiten verfügte, musste sich zu einem gewissen Grad auf Selbstregulation verlassen können und meist funktionierte das auch recht gut. Natürlich berechtigte ein solches offizielles Mal auch zur formellen Vorgehensweise gegen jeden, der es dennoch gewagt hatte, dem fremden Eigentum Schaden zuzufügen - nur in solchen Fällen war der Knoblauch dann ja meist schon vergoren, wie man so schön sagte. Aber derartigen Unannehmlichkeiten setzte sich für gewöhnlich niemand aus freien Stücken aus. Es gab schließlich genug andere Menschen da draußen.
Nach außen hin geschah nun also erst einmal gar nichts. Und das eine ganze Weile. Der alte Mack fixierte die Rothaarige und je länger er das tat, umso finsterer wurde seine Miene. Mina von Nachtschatten begann nun doch gewisse Anzeichen von Nervosität zu zeigen. Besorgt sah sie zwischen den beiden hin und her.
"Was soll dieses kindische Gebaren?", blaffte der alte Vampir schließlich. "Soll das ein Scherz sein? Dann lassen Sie sich gesagt sein, dass dieses Gremium das nicht komisch findet!" Er wandte sich ruckartig der Vampirin zu. "Wenn Sie vielleicht die Güte hätten, diese, wenn ich sagen darf, vollkommen übertriebene mentale Barriere um diesen sterblichen Geist aufzuheben! Selbstredend können wir aber auch an dieser Stelle abbrechen, nur verstehe ich dann nicht den Aufwand, der bis hier hin getrieben wurde."
Mina von Nachtschatten schloss für einen Moment wie erschöpft die Augen und biss die Zähne zusammen.
"Das bin ich nicht", erwiderte die dann langsam. "Das ist sie selbst."
Überraschung malte sich auf Macks Gesicht, während die Vampirin sich an die Menschenfrau wandte.
"Ophelia?"
Diese hob ruckartig den Blick, wie ein kleiner verschreckter Vogel, und suchte den der Anderen, welche nun mit dem Kopf schüttelte.
"Lass ihn rein", meinte sie in sanftem Tonfall. "Nur noch dieses eine Mal."
Die Frau atmete mühsam ein und aus und die Anstrengung stand ihr ins Gesicht geschrieben, als sie sich auf das konzentrierte, was dem alten Mack offenbar ein paar Probleme bereitete. Sie schwankte leicht und ballte die Hände zu Fäusten.
"Das ist doch lächerlich!", knurrte Hieronymus' Vorgesetzter. "Wendelstein, helfen Sie mir mal."
Aus seiner halb faszinierten, halb perplexen Beobachtung des Vorgangs gerissen benötigte der Angesprochene zunächst einen Moment, um sich darüber klar zu werden, was nun eigentlich von ihm erwartet wurde. Offenbar gelang es seinem Vorgesetzter nicht, sich Zugang zum Geist der Frau zu verschaffen. Nicht weniger seltsam als der Rest dieser Veranstaltung. Nun gut, dann wollte er doch mal sehen... Hieronymus streckte seine mentalen Fühler aus und fand schnell wonach der suchte. Nun, von außen betrachtet schien es ein ganz normaler menschlicher Geist zu sein, also sollte man doch eigentlich an beliebiger Stelle ansetzen und eine eventuell vorhandene Barriere einfach niederreißen... Es war, als habe ihn ein Pflasterstein am Kopf getroffen, der von einem Troll oder etwas in der Art geworfen worden war. Der junge Vampir prallte zurück, nur um gleich darauf von hinten auf die gleiche Weise gestoßen und dann mit einem gezielten drittem Schlag in seinen eigenen Kopf zurückbefördert zu werden. Verdattert fand er sich in seinem Stuhl wieder, während sich die Welt um ihn herum drehte. Was hatte die Frau da in ihrem Kopf? Das war keine normale gedankliche Wand - das war, als würden sich Schilde blitzartig vor jedem Eindringling aufbauen, bewegliche Schutzmechanismen, eine Warnung, es erst gar nicht auf einen zweiten Versuch ankommen zu lassen. Aber... wie konnte so etwas überhaupt möglich sein? Sie war doch nur ein Mensch! Und dann in diesem Zustand! Ein... ein kleines Tier in der Falle, umgeben von Jägern. Welche es offenbar gründlich unterschätzt hatten. Er fühlte sich, als würden Geist und Körper zusammen gegen eine Wand gepresst, als könne er nicht einmal mehr den kleinen Finger rühren.
Von fern hörte er Mack wettern:
"Das ist Missachtung dieses Gremiums!"
Wie durch einen Nebel sah er, wie Ophelia Ziegenbergers körperliche Kräfte schlussendlich versagten. Die Frau fiel, gleich einer Marionette, deren Fäden man durchtrennt hatte. Allerdings gelang es Mina von Nachtschatten sie aufzufangen, bevor sie auf dem Boden aufschlug. Vorsichtig ließ sie die Andere in eine halb sitzende, halb kauernde Position hinab und kniete sich davor. Sie nahm die Hände der Menschenfrau fest in die eigenen.
"Ophelia. Ophelia, es ist alles in Ordnung, hörst du. Es ist alles gut."
Die Rothaarige zitterte, schluchzte, wie in Krämpfen.
"Es tut mir leid", brachte sie heiser hervor, "Es tut mir so leid. Ich will ja... ich will es ja schaffen, aber... ich, ich kann das einfach nicht." Hektisch huschte ihr Blick von einem Vampir im Raum zum nächsten, die Pupillen riesig vor Panik. "Ich... er hat... ich kann das noch nicht."
"Doch, ich weiß, dass du das kannst. Und danach musst du es nie wieder, verstehst du? Danach ist es vorbei."
"Ich versuche es. Aber ich habe so lang... und jetzt..." Sie rang mühsam nach Luft. "Es tut mir leid."
"Ophelia, sieh mich an. Sieh mich an." Die Vampirin legte der Rothaarigen behutsam die Hand auf die Schulter, wie in dem Versuch, sie im Hier und Jetzt zu verankern. Nur schwerlich gelang es der Frau, sich auf sie zu fokussieren, aus dem inneren Raum in welchem sie sich verschanzt hatte, aufzutauchen. Beinahe ängstlich hielt sie den Blickkontakt - aber sie hielt ihn. Mina von Nachtschatten nickte langsam.
"Du musst das nicht alleine machen. Ich bin hier, in Ordnung? Ich bin hier und ich werde nicht zulassen, dass dir irgendjemand etwas antut. Wir bringen das jetzt zu Ende. Gemeinsam."
Die Menschenfrau schluckte schwer.
"Ich habe Angst davor", flüsterte sie. "Ich kann einfach niemanden in meinen Kopf lassen. Er war zu lange..." Ihre Stimme versagte.
"Richtig. Und deswegen ist das jetzt der Moment, in dem wir ihn uns endgültig vom Halse schaffen. Vertrau mir. Und wenn du mir nur noch dieses eine Mal vertraust und dann nie wieder. Ophelia. Lass es los."
Man sagt gern, dass die Welt in solch einem Moment den Atem anhält. Richtiger wäre es vielleicht zu erwähnen, dass neben allen Geräuschen auch die Zeit und jedes Gespür für Realität abhanden kommen. Die steigende Anspannung im Raum hielt genau an der Spitze der erreichbaren Skala an - um dann in abertausende Scherben zu zerbrechen. Und die Welt war wieder da.
Hieronymus hatte wieder das Gefühl, seinen Körper und seine Gedanken kontrollieren zu können. Fahrig tastete er nach der Kante seines Pultes, um sich der Wirklichkeit zu versichern. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was da eben genau geschehen war. Doch auf Details konnte er sehr gut verzichten.
Ophelia Ziegenberger weinte. Erschöpft, haltlos. Die Vampirin hatte sie tröstend in den Arm genommen; derweil wartete sie, den Blick stumm geradeaus gerichtet, auf ein Urteil.
Die erlösenden Worte ließen nicht mehr lange auf sich warten.
"Erledigt", knurrte der alte Mack. "Die Damen können dann gehen."
Die Erleichterung, welche sich auf Mina von Nachtschattens Gesicht legte, war so allumfassend, dass sich Hieronymus irgendwie in der Annahme bestätigt fühlte, ihre vormalige Ungerührtheit sei zumindest zu Teilen nur Schein gewesen. Vorsichtig kam sie auf die Füße und zog die junge Frau mit nach oben. Da diese ganz offensichtlich nicht in der Lage war, aus eigener Kraft zu laufen, lud sie sie sich kurzerhand auf die Arme. Dann nickte sie den Anwesenden noch einmal zu und ging zur Tür.
Später erinnerte sich Hieronymus nur noch, dass er im Anschluss auf irgendeinem Schrieb seine Anwesenheit bei diesem Termin bestätigt, sowie sich damit zum Stillschweigen bezüglich aller Vorgänge während der Übereignung verpflichtet hatte. Das übliche Prozedere. Aber selten war er dankbarer dafür gewesen. Er wollte gar nicht darüber reden, was hier vorgefallen war, wollte nicht einmal darüber nachdenken. Wenn Menschen jetzt schon zu so Etwas fähig waren... Dann war er irgendwie zur Hintertür gelangt und fand sich kurz darauf in der Lieblingsecke seiner Stammkneipe wieder. Der Igor am Tresen erkundigte sich besorgt nach seinem Befinden, aber der Vampir ignorierte das. Er hatte Kopfschmerzen. Eine lange Mittagspause. Etwas Zeit unter normalen Leuten. Dann darüber schlafen. Und vergessen, was vorgefallen war. Ja, das klang gut.

04.11.2017 12: 48

Ophelia Ziegenberger

Mina stand in der Tür des Raumes, warm angeleuchtet vom Feuerschein des nahen Kamins. Ihre Hand lag auf der Klinke.
"Benötigst du noch irgendetwas für die Nacht, Ophelia?"
Ophelias Blick wanderte mit einem bedeutungsvollen Lächeln kurz zu dem Mann an ihrer Seite, ehe sie der Freundin mit einem Kopfschütteln antwortete.
"Nein. Ich habe alles, was wichtig ist. Danke, Mina!"
"Gut. Dann beginne ich jetzt mit dem Rundgang für die Nacht. Nur falls..."
Ophelias Blick intensivierte sich, um auch ohne ein Nachlassen ihrer mentalen Schilde die Ernsthaftigkeit ihrer Worte zu betonen, als sie die Freundin einen Augenblick noch aufhielt. "Wirklich, Mina. Danke! Für alles!"
Die schlanke Vampirin verharrte kurz, ehe sie mit einem merkwürdig schiefen Lächeln nickte und die Tür von außen schloss.
Ohne diese zu verriegeln.
Es folgte nicht das Geräusch unzähliger Vorhängeschlösser, die rituell vorgelegt wurden. Und doch... Ophelia konnte nicht verhindern, dass sie sie in ihrem Sinn nachhallen hörte. Das dritte, das vierte, das mit dem leichten Widerstand beim Drehen des Schlüssels, wenn er einen unleidlichen Tag...
Rachs Hand um die ihre drückte sanft zu und sein trauriger Blick kündete davon, dass sie sich soeben in irgendeiner Weise auf körperlicher Ebene durchschaubar gemacht hatte. Vielleicht durch einen zu emotionalen Gesichtsausdruck? Oder durch ein leichtes Zucken der Finger? Sie hatte nicht aufgepasst!
Ihre Instinkte sprangen an und ließen die Gefühle fahren. Ihre Gedanken klärten sich fast augenblicklich zu gestaltlosem weiß, ihre Gesichtszüge wurden ausdruckslos und scheinbar entspannt und...
Rachs Mimik war so unsagbar leicht zu lesen: Schmerz, Unsicherheit, Enttäuschung... Schuldgefühl aufgrund der Enttäuschung. Der Versuch, mit Geduld und Verständnis auf etwas zu reagieren, das er nicht verstehen konnte, nicht gänzlich, da sie selber sich darüber zu sprechen weigerte.
Nein. Nicht ihm gegenüber. Nicht Rach gegenüber. Ich muss ihm den Zugang zu meinen Gefühlen gewähren. Auf menschliche Art. Er hat ein Anrecht darauf. Es ist wichtig. Auch den Zugang zu meinen Gedanken. So lange sie nicht... das Vorher betreffen. Dazu muss er nichts Genaues wissen. Es würde ihm nur wehtun und ändern lässt es sich eh nicht mehr. Vorbei. Es ist überstanden. Nach vorne sehen!
Sie ließ zaghaft ein schüchternes Lächeln zu.
"Tut mir leid. Bitte verzeih! Es war ein langer Tag und... manchmal falle ich in alte Verhaltensmuster zurück. Bitte nimm' das nicht persönlich, es hat nichts mit dir zu tun."
Ophelia erwiderte seine Geste voller Zuneigung und ihre Hände lagen eng umschlungen auf der Decke, die er über ihre Beine gebreitet hatte.
Sie wurde überrollt von einer Welle aus Zuneigung und unendlicher Dankbarkeit bei dem Anblick ihrer beider Hände eng ineinander verschlungen, etwas, das ihr immer wieder zwischendurch passierte und womit sie nicht wirklich gut umgehen konnte. Sie musste schnell zu ihrer Rechten aus dem Fenster sehen, hinaus in die mondhelle Nacht und auf den bleich schimmernden Garten dort.
Sie spürte sein Seufzen, sein leichtes Vorbeugen, dann strich er ihr sanft übers Haar.
"Ich weiß."
Auch das hatte ihr zu Anfang viel Überwindung abverlangt: Berührungen. Wenn sie diese kommen sah, dann ging es. Aber wenn er einem spontanen Drang nachgekommen war, wie man es ihm nach all der langen Zeit nicht verübeln konnte – immerhin hatte er sie ebenso vermisst – dann war sie einige Male deutlich zusammengezuckt. Zu präsent waren Sebastians Annäherungen in der Dunkelheit der Käfigkammer gewesen, sein höhnisches Haschen nach ihrer Haut, um den Kontakt ihrer Gedanken bewusst herbeizuführen und der dortigen sadistischen Jagd auf sie zu fröhnen. Rach hatte es natürlich sofort bemerkt. Und sicherlich dachte er sich seinen Teil. Aber sie würde nicht darüber reden, auch nicht mit ihm, nein. Sie war jedoch froh darüber, dass er ab einem gewissen Zeitpunkt von sich aus damit begonnen hatte, sie nur so zu berühren, dass es für sie absehbar war und sie sich darauf einstellen konnte. Dann war es etwas Schönes. Dann konnte sie sich ihm auch innerlich mit all ihrer Liebe zuwenden und es genießen. Ihre Wange in seine warme Hand schmiegen, seine Hand umfassen, sich ihrerseits an ihn lehnen.
Der Mond lenkte sie immer wieder ab. Auch wenn die anderen leicht über ihren Enthusiasmus gelacht und betont hatten, dass man ihn inzwischen kaum noch sah. Für sie leuchtete er herrlich prachtvoll, breitete seinen weißen Schimmer in jeden Winkel des Zimmers aus, selbst in jene, in die er eigentlich nicht hineinreichte. Sie hatte darauf bestanden, die Vorhänge nachts vollständig zu öffnen. So unsagbar viel Licht! Was für ein natürlicher Reichtum!
Ihr Blick kam zu Rach zurück und studierte detailverliebt sein freundliches Gesicht, dessen Konturen sowohl vom silbernen Mondlicht, als auch von dem goldenen Schein des Kaminfeuers auf der anderen Seite, geformt wurden. Ihre Blicke begegneten sich.
Oh, wie sehr sie ihn liebte! Dass sie wieder bei ihm sein durfte... dass ihr das vergönnt war, nachdem sie jegliche Hoffnung darauf aufgegeben hatte! Mehrmals!
Sie löste ihre gesunde Hand vorsichtig aus der seinen und führte sie, wie eine zaghafte Frage, an seine Wange. Sie stemmte sich aufrechter, beugte sich vor. Mit einem breiter werdenden Grinsen kam er ihrem Wunsch entgegen. Ihre Lippen berührten sich sanft. Dann war sie auch schon wieder außer Atem. Sie lösten sich voneinander und sie lachte leise.
"Tut mir leid, das muss an dir liegen. Du bist einfach zu stürmisch."
Auch er lachte leise, während er ihren Kopf leicht stützte, als sie sich wieder an die Lehne des Liegesofas zurücksinken ließ.
"Nicht mehr lange und du bist wieder bei Kräften."
Sie blickte ihn mit gespielter Empörung an.
"Ich weiß gar nicht, was du hast? Ich bin in hervorragender Verfassung! Sogar den Ausflug zur Überwäldischen Registraturbehörde habe ich eben mit Bravour absolviert."
Sein Blick wich kurz dem ihren aus, als er sich scheinbar darauf konzentrierte, die Decke glatt zu streichen.
"Hm, falls du mir den Einwand gestattest? Mit Bravour ist vielleicht nicht ganz der richtige Ausdruck dafür. Mutig und mit beeindruckender Selbstbeherrschung? Das ja, unbesehen. Aber wenn ich nur an den Anblick denke, wie Mina dich für den Rückweg tragen musste, als ihr aus dem Gebäude kamt... es bestätigte mich in meiner Ansicht, dass du eigentlich noch nicht soweit gewesen bist." Er umfasste ihre Hand noch fester und blickte sie nun doch an. "Ophelia... wegen übermorgen... bitte überlege dir das noch mal."
Sie gestattete sich ein beruhigendes Lächeln.
"Du und Mina, ihr seid euch in manchen Dingen wirklich sehr einig, nicht wahr? Ich kann mir richtig gut vorstellen, wie viel Zeit ihr während der Suche miteinander verbracht haben müsst. Stets um einen Konsens bemüht, immer möglichst pragmatisch... Wie gut, dass ihr so wenigstens nicht gänzlich allein wart mit euren Sorgen."
Er beugte sich leicht näher, einen Ellenbogen auf seinem Bein aufgestützt.
"Es fühlte sich jedenfalls einsam an, glaube mir."
"Das tue ich. Und... das weiß ich."
Er suchte ihren Blick und so sanft seine Augen sie auch dabei ansahen, in seiner Stimme lag ein Hauch von Aufbegehren.
"Madame, Sie versuchen mich vom Thema hinfort zu verführen, oder irre ich mich?" Das mitschwingende Augenzwinkern ließ ihr keine Wahl, als ihm das Beharren auf einen unangenehmen Gesprächsverlauf zu verzeihen. Sie lächelte ergeben und seufzte leise. Dann also wieder mit Geduld und Verständnis die bereits durchgesprochenen Argumente vortragen. Er wollte sie nur schützen, sie am liebsten in Watte packen, das musste sie dankbar anerkennen. Er konnte nichts dafür, dass er schon nach so kurzer Zeit des Wiedersehens bei ihr auf Granit beißen musste. Im Zusammenhang mit dem bürokratischen Bollwerk der Übereignung. Ebenso wie mit dem noch anstehenden Termin, der ihm nun so sehr auf dem Herzen lag. Sie wollte ihm wirklich gerne in Allem nachgeben, was er sich wünschte. Aber die Sache heute am Morgen war unverrückbar und absolut notwendig gewesen. In mehr, als einer Hinsicht. Und sie war im Nachhinein so froh, so erleichtert, darin unnachgiebig geblieben zu sein, auch was die Eile ihres Handelns anbetraf.
Und die Sache, auf die er nun anspielte, war aus ihrer persönlichen Sicht nicht minder wichtig.
Senrays Briefe hatten ihr sehr deutlich gemacht, wie es emotional um die Jüngere stand. Sie erkannte so viele Anzeichen wieder, so viele Alarmsignale, die sie auch in sich selber trug oder getragen hatte! Selbst, wenn die Freundin viel davon unbeabsichtigt nur zwischen den Zeilen mitgeteilt hatte – sie musste sie sehen! Auch Senray war ein Jahr lang verzweifelt auf der Suche nach ihr gewesen und selbst, wenn die Bemühungen der anderen Rettungstruppteilnehmer sie letztlich in ihren zwiespältig gefährlichen Ergebnissen überflügelt hatten... erst recht dann, brauchte diese jetzt unbedingten und rückhaltlosen Zuspruch! Wie es schien, hatte sie im Zuge der Suche an Ressourcen gerührt, die sie besser unbehelligt gelassen hätte. Sie hatte also auch um ihretwillen das Unkalkulierbare heraufbeschworen. Und wenn Ophelia sich eine erlernte Lebensweisheit nach der Zeit ihrer Gefangenschaft zu Gute hielt, dann war es der Wert der Freundschaft! Ein Treffen mit Senray barg gewisse Risiken? Sei es drum! Diese hatten sie auch vor... all dem bereits gekannt, selbst, wenn ihnen damals noch die Ursachen schleierhaft gewesen waren. Man konnte Vorsorge treffen. Und das würden sie. Was sie jedoch nicht tun würde, war, Senray auch nur das leiseste Schuldgefühl zu vermitteln, eine wachsende Distanz zwischen ihnen zu gestatten oder sie auch nur ansatzweise aus ihrer Zuneigung auszugrenzen. Das kam nicht in Frage.
"Rach... bitte!" Sie drückte seine Hand zärtlich. Er presste leicht die Lippen zusammen. "Glaube mir, es ist wichtig. Für sie ebenso, wie für mich. Wir müssen miteinander reden, richtig, nicht nur über Papier. Sie leidet und das darf nicht sein. Ich weiß, dass du ein großes Herz hast und sehr gut verstehst, was es für mich bedeutet hat, ihm so ausgeliefert...", sie musste kurz innehalten und sich räuspern. Zu nahe! Die Erklärung musste auf gewisse persönliche Aspekte verzichten. "Jedenfalls... ihr geht es ähnlich. Ich weiß, es ist viel verlangt, zugunsten einer Person, die dir nicht so viel bedeutet, wie mir, ein Stück weit von deiner Sorge um mich abzulassen. Aber schau, ich werde auf mich aufpassen. Ich werde mich warm kleiden und ich werde eine Kutsche nehmen. Magane holt mich ab und ist die ganze Zeit an meiner Seite. Und es gäbe kaum jemanden, der dafür besser geeignet wäre, nicht wahr, immerhin hat sie sich zuvor schon um Senray gekümmert, ihr bei der Kontrolle des Problems Hilfestellungen gegeben? Und auf ihren Beistand kannst du dich verlassen. Sie hat... so viele Erfahrungen mit mir geteilt. Sie weiß Bescheid."
Ihr Verlobter neigte leicht den Kopf.
"Ich zweifle nicht an Maganes guten Absichten. Oder an den deinen. Und selbst der Obergefreiten Rattenfänger unterstelle ich keine bösen Pläne. Aber was diese in sich trägt... das ist kein harmloser, unsichtbarer, magischer Gefährte. Das ist ein bösartiger, mächtiger Dämon! Und sie hat nicht wirklich Kontrolle über ihn. Bis zu einem gewissen Grad hat die Kreatur es geschafft, sogar in die physische Ebene hinauszugreifen! Der Rekrut Schneider... du hast nicht die Wunden an seinen Händen gesehen, nicht beobachten müssen, wie umsichtig die zwei miteinander agieren mussten, nur um nicht mal einander zu verletzen! Geschweige denn, nicht den Einsatz für dich zu gefährden!" Seine Bitte war vorhersehbar. "Lass mich wenigstens dabei sein, Ophelia."
Sie atmete tief durch und seine Schultern sanken einen Millimeter herab.
"Rach... ich bin nicht aus Zucker. Das Treffen nach so langer Zeit wird nicht unsere erste Begegnung sein. Und ich möchte jenes so angenehm wie möglich für sie gestalten. Ich habe dir erklärt, dass wir uns aus Vorsicht bereits für einen Ort entschieden haben, an dem es nichts mehr gibt, das in Flammen aufgehen könnte. Keine Kerzen, keine Holzmöbel, keine Gardinen oder Sonstiges, was potentiell in Gefahr geraten könnte, falls diese Reaktion zwischen uns auftritt. Wir sind also vorbereitet. Aber darüber hinaus... ich möchte ihr deutlich machen, dass ich ihr vertraue. Sie hat schon mehr als genug Zweifel an sich, das muss nicht noch gesteigert werden, indem ich mit einem Trupp wohlmeinender Beschützer auftauche. Ein Treffen unter Freundinnen. Unter ungewöhnlichen Umständen, gewiss. Aber doch in kleiner Runde. Bitte..."
Seine Stirn war gefurcht, wie der Boden der Sto Ebenen im Herbst.
"Gestattest du mir wenigstens, in der Nähe zu..."
Sie strich mit nachsichtigem Lächeln über seinen Handrücken.
"Ich bin mir fast sicher, dass du die eine oder andere Aufgabe in letzter Zeit, mir zuliebe, vernachlässigt hat. Kann das sein? Vielleicht wäre dann ein guter Zeitpunkt, eine gewisse Ablenkung darin zu finden..."
Er setzte sich mit einem frustrierten Ruck auf und lehnte sich auf dem Stuhl zurück.
"Rach... vertraue mir! Ich werde nicht allein sein und wir passen alle auf. Es ist nur ein Mädelsnachmittag."
Er atmete tief durch und zwang sich zu einem – widerwilligen – Nicken.
"Wie du möchtest."
"Danke!"
Sie schloss erschöpft die Augen. Diese Diskussionen mit ihm waren nicht leicht. Aber sie waren wichtig. Es reichte nicht, sich zu wünschen, dass er sie verstehen würde. Sie wusste, dass sie sich erklären musste. Erst recht, wo sie so viele Bereiche dabei ausließ. Sie musste ihm entgegen kommen darin, sie... neu kennen zu lernen. War es das? Hatten sie sich in der Zeit ihrer Trennung auseinander gelebt? Der Gedanke war beunruhigend. Aber, nein. Nicht wirklich, sie hatten nur viele Erfahrungen gemacht, die sie nicht selbstverständlich miteinander teilen konnten. Und wenn man es genau bedachte, war das auch vorher schon so gewesen. Sie hatten, arbeitsbedingt, nie alle Geheimnisse miteinander teilen können. Und sich dennoch verstanden. Sie würden also auch diese Hürde nehmen.
"Du bist müde. Soll ich dich zum Bett bringen?"
Sie lächelte bei dem Gedanken, wie luxuriös das Sofa im Vergleich zu der Strohmatratze des Käfigs war. Sie sah ihn wieder an und schüttelte den Kopf.
"Nein, das brauchst du nicht. Ich würde gerne hier am Fenster bleiben, wenn das in Ordnung wäre."
"Natürlich. Aber... dann lasse ich dich jetzt schlafen, ja? Ich bleibe heute Nacht noch neben dir sitzen... einfach... zur Sicherheit, in Ordnung? Aber ich störe dich jetzt nicht mehr. Schlaf ruhig."
Sie nickte.
"Danke!"
Er lehnte sich in den Sessel zurück, um sich offenbar für viele Stunden darauf einzurichten. Nicht zum ersten Mal, seit sie hier, auf Minas Anwesen, eingezogen war. Als Gast. Nur, dass sie seit wenigen Stunden mehr war als das...
Ophelia wandte ihren Kopf ab und betrachtete müde den Mond. Er war wunderschön.
Die Ereignisse des Abends entfalteten sich in ihrem Sinn. Beängstigend - und besänftigend zugleich. Routiniert hielt sie die eigenen Gedanken zurück, ehe diese abzuwandern beginnen konnten. Sie zog das imaginäre Netz um ihr Inneres wieder straffer, damit kein einziger Vampir, ob fern, ob nah, in ihr lesen könnte.
Und sie musste überraschend gut darin geworden sein! Sie erinnerte sich an ihre formale Eintragung als Eigentum Minas, vor dem Gremium. Sie spürte den Anflug ihrer Panik, inmitten dieser missgünstigen, fremden Vampire. Die alles überspülende und unterwanderne Sturmflut aus Angst, die sie nahezu blind reagieren lassen hatte.
Während ihrer Gefangenschaft hatte sie sich immer unbedeutend und schwach gefühlt und sowohl Racul, als auch Sebastian, waren es nicht müde geworden, sie in diesem zerstörerischen Selbstbild zu unterstützen. Jetzt jedoch... sie war sich zwar dessen bewusst, dass ihr Körper einen jämmerlichen Anblick bot. Der einzige, der das nicht wahrhaben wollte, war Rach. Und selbst abgesehen vom Äußeren, Sichtbaren... sie konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Wollte sie längere Strecken selbständig laufen, also beispielsweise von einem Ende des Ganges vor ihrem Zimmer zum anderen, so musste sie immer noch den Gehstock zu Hilfe nehmen. Lediglich bei dem heutigen Behördenbesuch hatte sie bewusst darauf verzichtet, zumal sie dort auch Mina an ihrer Seite gewusst hatte. Aber... auf geistigem Gebiet... sie war zutiefst erschöpft... aber sie war dort auch gestählt. Es hatte nicht einen wachen Moment während ihrer Gefangenschaft gegeben, den sie ohne Teemischung durchgestanden hätte, bei dem sie darin nachgelassen hatte, ihre mentale Barriere aufrecht zu erhalten! Gezwungenermaßen! Tag und Nacht, was auch immer diese Unterscheidung in einer ewigwährenden Finsternis bedeuten mochte, waren gleichförmig an ihr vorübergezogen und hatten Stunde um Stunde von Neuem unnachgiebige Selbstverteidigung eingefordert. Raculs Drill war unbarmherzig gewesen. Seine Präsenz schon an guten Tagen schmerzhaft. War seine Geduld hingegen völlig aufgebraucht gewesen ihr gegenüber, so hatten sich seine Lehrstunden in sie geätzt, wie Säurebäder. Und Sebastian... dessen Sadismus hatte sie auf andere Weise den Nutzen von Selbstschutz gelehrt. Und immer war sie sich ungenügend und lächerlich in ihren Versuchen vorgekommen, den Angriffen der beiden Kerkermeister irgendetwas entgegen zu setzen. Ihre geistigen Schleier - so dünn wie Papiertücher und ebenso leicht zu zerfetzen, wenn Racul sich nur dazu entschieden hatte, sie zu testen. Ihre mobilen Schilde - nicht viel mehr als winzige, lästige Mücken gegen Sebastian, der sich höchstens einige Sekunden von ihnen ablenken ließ, ehe er sie lachend umging. Was konnte sie als Mensch schon für eine Verteidigung zustande bringen? Einzig Raculs irgendwann getroffene Entscheidung, eine rudimentäre Abschirmung müsse halt genügen, hatte sie ab da vor seiner unmittelbaren Nähe verschont gehabt. Und dessen Verbot seinem Assisstenten gegenüber, diese Minimalverteidigung zu sabotieren, hatte sie vor Sebastians direkten Angriffen geschützt. Sie war so stolz gewesen auf diesen winzigen Erfolg. Nein, Stolz war eigentlich sogar das falsche Wort dafür, ebenso wie Erfolg. Erleichtert, sie war erleichtert darüber gewesen, dass sie sich an diesen Faden klammern durfte und weitere Angriffe ausblieben, die alles wieder zerstört hätten.
Und dann stand sie plötzlich inmitten dieser Unbekannten, deren Wesenssphären gegen ihre überempfindliche Haut vibrierten, deren Verachtung, Mitleid und Neugier sie geradezu schmecken konnte. Und die damit begannen, ihre Gedanken betreten zu wollen! Die in sie eindringen wollten!
Etwas in ihr hatte reagiert und war nicht mehr aufzuhalten gewesen. Die Angst ließ sich nicht mehr stoppen oder lenken. Gefühle von Hilflosigkeit und Scham hatten sie eingehüllt, wie Lage um Lage durchscheinender Tücher über ihrer nur zu offensichtlichen, bloßliegenden Nacktheit auf der geistigen Ebene. Und der Gedanke war allesbestimmend: Du darfst niemanden hinein lassen! Die Strafe des Meisters, wenn du versagst, wäre unerträglich. Dazu die immer wieder im Hinterkopf aufflackernden Bilder des Käfigs.
Und sie hatte sich verteidigt! Schnell, mit dem eiskalten Drill Raculs im Genick. Er hatte sie Effektivität gelehrt, das Arbeiten mit dem Mangel. Denn im Hinblick auf ihre mickrigen geistigen Reserven sah er es als gegeben an, dass der Versuch eines dauerhaft umlaufenden Bollwerks in peinlichster Weise scheitern musste. Was inakzeptabel gewesen wäre. Stattdessen... die wenige eigene Energiereserve aufsplitten, sie auf die Aufschlagpunkte der fremden Zugriffe zentrieren, mit aller Härte abschmettern, einen Schritt zurück und sofort einen Überblick verschaffen, zur nächsten Stelle eilen, zuschlagen, weiter... keine Rücksicht, kein Zögern, kein unnötiges Denken oder Taktieren, kein Zurückblicken. Nur hundertprozentige Konzentration auf die Aufgabe.
Minas Stimme hatte sie aus ihrer verzweifelten Verteidigung herausgerissen, wie aus einer Trance. Und deren Bitte hatte an jeder einzelnen Wunde gerührt. Vertrauen? Zulassen gar? Loslassen!?
Doch Mina hatte Recht gehabt! Es ging um nicht weniger, als darum, endlich wahrhaftig Raculs Zugriff zu entkommen! Hatten ihre Kollegen und Freunde auch mit selbstlosem Einsatz ihren Körper aus dem Kerker des Meisters heraus geholt, so war ihr Geist noch immer seinem Einfluss verhaftet. Sie hatte Angst gehabt. Davor, einen ernsthaften Versuch zu wagen, seine Präsenz zu blockieren - und an diesem Versuch zu scheitern. Angst vor seinem Zorn, inmitten ihrer Gedanken. Angst davor, mit einer falschen Geste oder dem kleinsten Anzeichen von Fehlverhalten dafür verantwortlich zu sein, seinen Ehrgeiz neuerlich anzustacheln. Ihn zur Jagd auf sich zu reizen und damit alle bis dahin erreichten Erfolge zunichte zu machen. Ihre Retter damit in Gefahr zu bringen - wieder. Ihm in der absoluten Einsamkeit die Stirn zu bieten, als sie nichts mehr zu verlieren hatte als ihr Selbstwertgefühl, das hatte sich dagegen regelrecht ungefährlich angefühlt. Jetzt jedoch, wo Freiheit und Freunde zum Greifen nahe schienen... Unbewusst war sie dem Irrglauben verfallen, dass sie mit ihrem mickrigen Aufbegehren der vergangenen Monate ihre 'zugestandenen' Grenzen völlig ausgereizt hätte und dass jeder Schritt weiter in diese Richtung, in Anbetracht der neuen Situation, fatale Konsequenzen haben müsste. Sie hatte sich in den geistigen Status Quo gefügt gehabt, in eine Form geistiger Knechtung, die schwieriger zu benennen und zu brechen gewesen wäre, als die Ketten und Schlösser des Käfigs. Und sie war drauf und dran gewesen, diesen Status für den Rest ihres Lebens zu akzeptieren.
Wenn nicht Mina gewesen wäre! Deren Eingreifen war ein Schlüsselmoment gewesen. Wie sonst hätte sie ihre Abwehr zurückhalten sollen? Ja, es waren Unbekannte, die sie angriffen. Aber deren 'Angreifen' war zuvor abgesprochen gewesen, zu einem guten Zweck! Was bedeutete schon diese kurze Angst, gegen eine lebenslängliche unterschwellige Akzeptanz des größeren Grauens? Und sie hatte alles das verstanden! Aber die Kämpfe gegen ihn und gegen Sebastian waren zu viele gewesen, hatten zu lange angedauert, um nicht tiefe Spuren zu hinterlassen. Sie hatte es nicht allein aus ihrer Panik heraus geschafft. Es waren Minas Arme gewesen, die sich rücksichtsvoll und beruhigend um sie geschlossen hatten. Minas Worte, die sich wie kühlende Tücher auf die Verletzungen in ihrem Inneren legten. Minas starker Rücken, der die Dolchblicke der Vampire abfing. Es war deren felsenfeste Zusicherung, dass dieses Zulassen, dieses Loslassen, ein letztes wäre. Und dass sie es nicht alleine durchstehen müsse.
Der Moment des Zulassens war schrecklich gewesen. So viel Angst! Aber er war zugleich auch eine Erlösung gewesen. Ein Abschied von Raculs Gewalt über sie und ein bewusstes Begrüßen einer Zukunft ohne ihn. Was er ihr angetan hatte mit diesem Jahr fernab ihres Lebens, mit dem, was er Sebastian an Grausamkeiten ihr gegenüber zugestand... das war falsch gewesen. Egal, mit welchem Selbstverständnis er sein Verhalten vor sich rechtfertigte. Sie hatte ein Anrecht auf einen abweichenden Standtpunkt. Er hatte sich schlecht und rücksichtslos benommen. Und sie würde sein Verhalten weder weiter tolerieren, noch es untschuldigen. Es war in Ordnung, diesen Schritt mit Hilfe zu meistern, mit Mina an ihrer Seite. Selbst, wenn es in irgendeiner Weise möglich gewesen wäre, sich alleine freizukämpfen - was es nicht war - es wäre trotzdem nicht unbedingt erstrebenswert gewesen. Sie wollte in Mina vor allem die Freundin sehen, die ihr in der Not beistand. Freunde durften einander helfen. Und wenn man dies in besonders spezieller Weise zu tun vermochte... umso besser!
Nicht mehr alleine!
Ophelias Blick wanderte zu dem Ohrensessel neben ihrer Chaisselonge, schräg gegenüber. Rach spürte ihre Aufmerksamkeit sofort und blinzelte aus müden Augen zu ihr hinüber. Er lächelte glücklich.
Sie erwiderte diese Geste und sofort schien er überaus zufrieden wegzudösen.
Er hat zu wenig Schlaf bekommen in den letzten Monaten. Er wirkt ebenfalls blass und dünn. Seine Hemden sitzen regelrecht lose...
Sebastian hatte sich eine Zeit lang einen Spaß daraus gemacht gehabt, ihr regelmäßig von Rach zu berichten. Wie deutlich ihr Verschwinden diesem zugesetzt hatte. Dass ihr Verlobter sich einen mehr und mehr unleidlichen Ruf erwarb, dass sein einst vorbildliches Aussehen erste Schatten aufwies, dass es Gerüchte um ihn gab, die von Grobheiten kündeten. Davon, dass der Patrizier die Geduld mit seinem Sekretär verlieren mochte! Von Sebastian hatte sie auch erfahren, dass Rach in den Wachedienst degradiert worden war. Denn nichts anderes als eine Strafe musste es für diesen sein, sich als Rekrut zu verdingen. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie seine feinsinnige Art inmitten der oftmals rauhen Umgangsformen der schlichteren Kollegen aufstieß. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass Rach mit jedweder ihm zugeteilten Aufgabe im Wachhaus zurechtkäme. Aber dass er mit einem Dienst in der Stadtwache glücklich wäre... das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Er war für Höheres bestimmt. Ob er in der Zeit ihrer Abwesenheit wenigstens Freundschaften geschlossen hatte mit Kollegen? Von dem, was sie bisher mitbekommen hatte, war sie sich nicht sicher. Es schien Vorbehalte gegen ihn zu geben. Unausgesprochenes, was in den Blicken wortlos mitschwang. Aber die Umstände machten es auch nicht leichter, das zu beurteilen. Beispielsweise konnte sie schließlich nicht von ihm erwarten, der Sache mit ihrer Übereignung an Mina vorbehaltlos gegenüber zu stehen. Natürlich klangen gewisse Gefühle seither unterschwellig mit, wenn Mina und er sich unterhielten. Auch wenn beide sich ernsthaft darum bemühten, die Details des Arrangements ebenso aus dem Alltag heraus zu halten, wie ihre Vorbehalte aus den Gesprächen. Wenigstens fanden sie immer wieder zu einem gemeinsamen Nenner zurück - ihrer Sorge um sie. Der bitteren Erkenntnis, dass es einfach keinen anderen Weg gegeben hatte.
Ja... die Ãœbereignung...
Ophelia schloss die Augen und zog routiniert das feinmaschige Netz um ihre eigenen Gedanken wieder straffer, während sie vorsichtig vor der alles dominierenden Frage in ihrem Inneren stand und diese reglos betrachtete. Wie stand sie wirklich zu der Übereignung? Was fühlte sie, wenn sie darüber nachdachte, nun Mina zu "gehören"?
Der Gedanke schwebte reglos in ihr, lautlos und passiv - aber auch drohend. Wenn sie ihn betrachtete, dann erfüllte sie grundlegende Sprachlosigkeit. Sie hatte ihn bisher erfolgreich von den umliegenden Gedanken ferngehalten.
Besitz sein. Einer anderen Person gehören. Einer Kollegin und Freundin zwar. Aber auch einer Vampirin. Gehören...
Sie hatte Minas Aussage schon in der Käfigkammer vollumfänglich verstanden gehabt. Sofort. Ohne den leisesten Zweifel daran, worauf sie sich letztendlich einlassen würde. Raculs Gedanken, die Art seines Denkens, waren ihr da schon so vertraut gewesen wie die eigenen Überlegungen. Und wie er, wusste sie, was es für einen Vampir wirklich bedeutete, zu 'haben'. Zu besitzen! Es gab nichts, was diesem Wissen hätte hinzugefügt werden müssen. Und nichts, was es hätte schönreden können. Wenn sie zum Eigentum eines Vampirs wurde, so gab sie damit sämtliche Persönlichkeitsrechte an diesen ab. Und wenn sie sich dazu entschlösse, dieses Vorhaben zu verabscheuen, so würde der Rest ihres Lebens schwer zu ertragen werden. Denn weder gab es ein Zurück von diesem Schritt der Übereignung, noch eine in der Sache mildere Form. Es gab nur ein Ganz oder Garnicht. Und da Ersteres im übertragenen Sinne ein Verstummen ihres Stimmrechts einschloss, wäre ein Veto unmöglich. Besitz wurde gehalten, nicht befragt. Sie konnte in der Kammer also wählen zwischen dem vertrauten, eiskalten und schäbigen Käfig - und dem unbekannten, freundlicher wirkenden Käfig. Oder dem Tod für alle Beteiligten, welcher dann ihr zuzuschreiben gewesen wäre. Das Leben war nicht fair, richtig. Aber das war keine neue Erkenntnis. Damit hatte sie sich längst abgefunden. Weswegen ihr die eigentliche Entscheidung, ihren letzten Rest nomineller Freiheit im Austausch für das Leben ihrer Freunde aufzugeben, leicht fiel. Sie hatte laut vernehmlich zugestimmt. Und die Bedeutsamkeit ihrer Zustimmung war noch in der selben Sekunde auf sie herab gefallen. Hätte sie nicht damals im Käfig längst gekniet gehabt, wäre sie unter dem Gefühl der Schwere zusammengebrochen. Raculs Schock hatte ihre Ängste und Hoffnungen zugleich besiegelt: Er akzeptierte nur die alten Regeln und diese gehörte dazu. Damit hatte er sich in einem stählernen Gespinst verfangen, das seinen Untergang einleiten musste. Ihr selber jedoch auferlegte er damit ein neues Schicksal. Und dann nahm alles Weitere seinen Lauf. Es war ihr aus den Händen genommen worden. Und sie würde keinen wirklichen Zugriff mehr darauf erhalten - es auch nicht dürfen! Racul würde niemals, eine nur zum Schein vereinbarte Übereignung respektieren. Sie hatte also wirklich zum Eigentum werden müssen. Mit allem, was dazu gehörte.
Ophelia tastete in ihrem Sinn nach dem "Siegel", wie die Vampire es nannten. Sie war sich nicht sicher, inwieweit andere Menschen an ihrer Stelle dessen Vorhandensein spüren würden. Mina hatte behauptet, dass Menschen das Siegel normalerweise nicht bemerkten. So hatte man es ihr erklärt. Aber Minas Nachforschungen hatten sich - erst recht in Anbetracht der knapp bemessenen Zeit, die ihnen verblieben war - anscheinend schwierig gestaltet. Und... was war schon normal an ihr, nicht wahr? Denn sie konnte es sehr wohl erahnen! Sie konnte es regelrecht innerlich ertasten! Sie fühlte es hinter ihrer Stirn, Etwas, das sich wie ein Rosenblütenblatt von innen an ihre Haut schmiegte, warm, als wenn es von den Energieströmen ihres eigenen Blutes genährt würde. Und davon ausgehend hauchdünne, samtige Bahnen, die sich gegen ihre Schädeldecke und an ihren Schläfen entlang wanden, nur um an einem zentralen Knotenpunkt in ihrem Genick zusammenzulaufen. Und all das seltsam durchlässig, wie die Liebkosungen eines Geistes. Als wenn jemand Unsichtbares sanft seine Hände an die Seiten ihres Kopfes legte oder eine Hand in ihren Nacken, um ein Fieber zu kühlen. Es war ein seltsames Gefühl, wenn auch nicht in dem Sinne unangenehm. Sie würde sich daran gewöhnen.
Sie hatte Mina gefragt, wie das Siegel für einen Vampir aussah. Doch jene konnte es nicht erkennen. Sie konnte ihr nur bestätigen, dass sie etwas spürte, was die gemeinsame Verbindung untermalte. Eine Verbindung zudem, die sich nach dem Behördentermin deutlich anders als zuvor anfühlte.
Sie spürte der Schwingung nach, die ähnlich dem Hall einer Glocke in ihr vibrierte, der minimalen Seismik, wenn der eigentliche Ton bereits verstummt ist. Gleichzeitig nicht 'da' und doch allgegenwärtig, stark aber unsichtbar. Und völlig unabhängig von den inzwischen unterbundenen Gefühlen, wie sie früher zwischen ihnen gewechselt waren! Das Empfinden ähnelte in keinster Weise dem scheuernden Tau, das sie zu Raculs Gedankenkosmos leitete oder der gefrierenden Kälte seiner Präsenz, welche sie regelmäßig geflutet hatte wie die schnell ansteigenden Gezeiten einer Eis-See, sobald er sich ihr bewusst zuwandte. Minas neue Präsenz in ihrem Sinn fühlte sich wie Frühlingsböen an; erfrischend und angenehm, wenn auch ab und an überraschend fröstelig. Und jede dieser kleinen Regungen in ihrem Sinn, die mit Minas unterschwelliger Gegenwart zusammenhingen, löste einen Impuls im Siegel aus. Eine Mischung aus wohligem Einhüllen ihrer Gedanken und einem Frösteln im Genick.
Theoretisch war sie durch die Art des Siegels nur für diejenigen auf geistiger Ebene deutlich sichtbar gebrandmarkt, die ihr ohnehin nicht wohlgesonnen wären, die ihr ungefragt und ungewollt zu nahe traten. Alle anderen, die ihr mit dem nötigen Respekt begegneten, sollten nicht auf das Siegel stoßen. Oder anders gesagt: Wäre sie ein Buch, so fände der Leser nun bereits beim Aufschlagen des Buchdeckels, auf dem Vorsatzpapier, eine deutliche Warnung davor, auch nur eine Seite weiter zu blättern - eben fremdes Eigentum zu nutzen. Ihre Kennzeichnung als lebender Besitz sollte ihr auch Schutz vor Übergriffen garantieren. Eine beinahe schon noble Geste. Wenn sie denn mit einer Beziehung auf Augenhöhe verbunden gewesen wäre.
Ophelia zögerte ein letztes Mal, bevor sie sich innerlich einen Ruck gab und den einen Gedankengang zuließ, der besondere Nervosität in ihr auslöste und den sie sich daher bisher strikt verboten hatte. Natürlich bedeutete, lebendes Eigentum eines Vampirs zu sein, während man zugleich keine unabhängige eigene Meinung vertreten dürfte, auch, dass jenem der... Zugriff zustand. Vergleichbar mit der Oberhoheit des Hausherrn über den Schlüssel zum Weinkeller. Ob Mina sich dessen bewusst war oder nicht, gleichgültig ob jene den Traditionen folgte oder dies aus persönlichen Abneigungen heraus ablehnte... sollte die Freundin sich jemals dazu entschließen, dieses Recht in Anspruch nehmen zu wollen... oder es zu müssen...
Sie bemerkte, wie ihre Rechte auf der Decke zu zittern begann. Mit einem schnellen Blick vergewisserte sie sich, dass Rach noch immer döste und nichts davon ahnte. Sie verbarg die Hand lautlos unter der Decke und drückte sie an ihre Seite, um sie ruhig zu stellen. Ihren Blick richtete sie aus dem Fenster und sie konzentrierte sich auf eine absolut gelassene Atmung. Dann erst knüpfte sie neuerlich an den Gedanken an. Es half nichts, ihm auszuweichen. Im Gegenteil! Sie musste sich jetzt mit ihren Ängsten auseinander setzen, sich ihnen stellen, ehe es so weit war. Denn sie war fest entschlossen, dieses neue Leben nicht kampflos aufzugeben. Sie wollte an Rachs Seite glücklich werden. Was aber eben auch bedeuten mochte, noch sehr lange mit dieser Unwägbarkeit zu leben und womöglich mit dem Unvorhergesehenen konfrontiert zu werden. Es würde leichter sein, im Notfall federführend voran zu gehen und das Beste aus einer Katastrophe zu machen, als sich der Angst zu ergeben und nur noch unzureichend reagieren zu können. Also?
Ja! Ihr Status war seit wenigen Stunden offiziell und nicht revidierbar. Sie war nun Minas Mensch!
Richtig, das bedeutete, dass sie nicht um ihre Meinung gefragt gehörte.
Sie schätzte Mina zwar anders ein und würde froh darum sein, wenn diese sich um ihren Standpunkt sorgte. Aber faktisch wäre das nicht nötig und sie hätte sich dennoch zu fügen. Tat sie das nicht, so wandelte sie eine ohnehin schwierige Situation in etwas Unerträgliches. Ohne zu einer Verbesserung beizutragen. Obgleich ihr damit objektiv betrachtet kein Schaden zugefügt würde, erst recht kein körperlicher oder dauerhafter, wie sie sehr wohl aus ihrer Ander Kaffer-Zeit im Hause Ascher und dem Umgang mit den dortigen menschlichen Spendern wusste. Jenen hatte ihr Dienst am Hausherrn teilweise sogar Freude und Zufriedenheit eingebracht. Insofern wäre ein widerspenstiges und prüdes Verhalten ihrerseits unnötig und unlogisch. Sollte Mina also jemals mit diesem speziellen Anliegen an sie herantreten...
Ophelia musste schwer schlucken, doch sie gestattete es sich nicht, jetzt zurückzuzucken.
...dann würde sie jener keinesfalls rebellisch entgegentreten. Nein. Dann wäre es an der Zeit, auch in dieser Hinsicht Dankbarkeit für die Rettung all ihrer Freunde zu zeigen. Mit freundlichem Lächeln, ohne Zögern und ohne Vorwurf.
Die junge Frau auf dem Sofa brauchte einen Moment, um diesen bewussten Entschluss zu akzeptieren. Sie atmete langsam und möglichst gleichmäßig, während das verborgene Zittern ihrer Hand unter der Decke allmählich nachließ.
Schon besser! Es war gut, vorbereitet zu sein. Alles wurde leichter, wenn man sich bewusst dazu entschloss. Sie würde das schaffen. Sie hatte schon Schlimmeres hinter sich. Auch ausgerechnet was diese Thematik betraf!
Ihre bisherigen Erfahrungen in dem Bereich waren leider von Gewalt geprägt. Das hieß aber nicht, dass ein gewaltsames Vorgehen generell unter Vampiren zum Standard zu zählen wäre. Sebastian hatte eine Phase gehabt, in der er nicht müde darin geworden war, ihr die geraubten Erinnerungen anderer Frauen zu präsentieren, denen er mit seinem Verlangen nach ihrem Blut Vergnügen bereitete. Sie hatte das nicht wissen wollen. Wie so vieles Andere auch nicht. Selbst Raculs unwissende Opfer, die nur zu diesem einen Zwecke zu ihm gebracht worden waren, hatten den Rausch der Sinne, den er ihnen gab, bis zu dem Moment wenige Sekunden vor ihrem Tode genossen, als sie verstanden! Das hatte zwar Racul nichts bedeutet, ihr selber aber schon, wo sie doch gezwungen gewesen war, über die stehende gedankliche Verbindung zwischen ihnen jedes leuchtende Gefühl mitzuempfinden. Sie wusste also, was es bedeuten konnte, einen von ihnen von sich trinken zu lassen. Und Sebastian hatte das gewusst. Er war geschickt darin gewesen, bestimmte Mechanismen zu bedienen, um ihr Phantasien einzuflüstern, Wünsche, Begehrlichkeiten... Sehnsüchte.
Ophelia blockierte diesen Gedankenpfad, riss die mentalen Fangnetze wieder straff und holte sich selber zurück, aus den Erinnerungen, aus den verborgenen Aushöhlungen, den Kammern in ihrem Selbst, die Sebastian mit Wissen und Bildern gefüllt hatte.
Und doch!
Ihr Blick wanderte zu dem gefühllosen linken Arm, der gelähmt auf ihrer Decke lag.
Vielleicht würde es nicht so schlimm werden, wie ihre bisherigen Erfahrungen es sie gelehrt hatten? Tschentowitsch war damals im schlimmstmöglichen Blutrausch gefangen gewesen, als er sie angriff, selber Opfer der Folter unter seinesgleichen. Er hatte nicht verstanden, was er ihr antat. Und er hatte dafür bezahlt. Tat es immer noch. Dass sie zweimal hintereinander in eine so ungewöhnlich brutale Situation geriete, war nicht gerade wahrscheinlich. Oder? Mina war quasi ein Schwarzbandler, wenn sie das richtig verstanden hatte.
Andererseits... Tschentowitsch war ebenfalls einer gewesen. Und letztenendes war es eben genau das gewesen, was ihm zum Verhängnis geworden war.
Die Wächterin auf dem Liegesofa schloss für einen Moment resigniert die Augen, ehe sie wieder zum Mond aufsah, der inzwischen merklich gewandert war.
Magane schien das ganze Thema deutlich entspannter zu sehen - trotz Sebastians Zudringlichkeiten!
Vor ihrem inneren Auge entstand das Bild der Hexe und Freundin, die um ihretwillen so viel durchgemacht hatte. Selbst die vergleichsweise kurze Zeit in Sebastians Gewalt hatte jener sichtlich zugesetzt. Sie wirkte blass und ausgemergelt und etwas in ihrem Blick kündete deutlich davon, dass es ihr in mehr als nur einer Hinsicht nicht gut ging. Da war ein Schatten auf ihrer Seele, den Ophelia nur zu gut nachvollziehen konnte. Ein unverschuldeter Makel, der in irgendeiner Form jedwedem Geschöpf anhaftete, das dem jüngeren Vampir zu nahe gekommen war. Die Spuren auf Maganes Haut, das Muster der Bissmale, die Sebastian dieser verpasst hatte, vom Hals bis in den Ausschnitt der tief geschnittenen Kleider hinab, die er Magane zu tragen gezwungen hatte... diese Spuren waren nur die Spitze eines Eisberges. Ein beinahe unbedeutendes Detail im Vergleich zu dem, wofür sie stehen mussten. Die Gefährtin in der Not hatte einem Vertrag mit dem Vampir zugestimmt gehabt, einer Vereinbarung, die jene auf ewig an ihn band. Zwar galt das auch umgekehrt. Und obendrein befand sich ihrer beider Peiniger inzwischen in einem sehr viel zurückhaltenderen Zustand. Aber solch eine blutgebundene Klausel verschwand deswegen ja nicht. Vampirverträge überdauerten Einiges. Ob Magane diesen Schritt bereute?
Ophelia seufzte leise.
Magane hatte... Dingen zugestimmt. Um Sebastians Aufmerksamkeit an sich zu binden und ihn von ihr abzulenken. Und das war ihr gelungen! Häufig genug hatte sie ihn damit in ihren Raum und fort von Ophelia gelockt gehabt. Und diese Dinge... Es gab einige Aspekte an ihnen, über die Magane nicht sprechen wollte. Eine absolut nachvollziehbare Einstellung, Ophelias Meinung nach. Auch wenn sie jene Zugeständnisse dem Vampir gegenüber deswegen nicht aus ihrem eigenen Wissen ausblenden können würde. Ihre Schuld der Hexe gegenüber wog schwer. Aber... zumindest was das Bluttrinken anbetraf, war die Freundin deutlich pragmatischer, als sie selbst sich anstellte. Magane schien es nichts auszumachen, dass sie Sebastian im Rahmen ihrer Vereinbarung das Recht zugestanden hatte, von sich zu trinken. Lediglich, dass jener sich dabei nicht an die Regeln gehalten hatte, das nahm sie ihm auch nachträglich übel. Aber da betonte sie, dass sie Massnahmen ergriffen und ihm das auch zu verstehen gegeben habe. Ansonsten... die unvoreingenommene Grundeinstellung der Hexe zu ihren kaltblütigen Mitbürgern, war gleichzeitig verstörend und unsagbar beruhigend. Magane glaubte unverrückbar an das Gute in ihnen. Sie weigerte sich offenbar, ihre eventuellen Ängste und Vorurteile unreflektiert zu übertragen. Sie hatte sich sogar während der Rettung einen Teil der Strecke über von dem vampirischen Rekruten tragen lassen!
Ophelia versuchte sich an dessen Gesicht zu erinnern, doch es gelang ihr nicht. Er war ihr fremd gewesen und wirkte unscheinbar. Sie konnte sich eigentlich nur deswegen überhaupt an ihn erinnern, weil er Racul angegriffen hatte. Und weil er später die erschöpfte Freundin begleitet hatte.
Ein weiterer Vampir in ihrem näheren Umfeld. Und sie schuldete auch ihm Dank!
Rach hatte deutlich durchblicken lassen, dass er den Rekruten nicht ausstehen konnte. Und er hatte ihr auch den Grund dafür benannt. Wilhelm Schneider hatte sich ihr gegenüber Freiheiten herausgenommen, die ihm nicht zugestanden hatten. Lange, bevor sie einander persönlich begegnet waren. Freiheiten zudem, die ausgerechnet den Bereich ihres Lebens betrafen, in welchem sie der Willkür anderer ausgeliefert gewesen war, ehe Racul sie eines Besseren belehrt hatte. Und ganz gleich, wie viel sie dem Rekruten für dessen Einsatz während ihrer Rettung schuldete, prinzipiell fiel es nicht nur Rach schwer, dessen anfängliches Verhalten ihr gegenüber zu entschuldigen. Auch sie selber tat sich schwer damit. Sie konnte nicht auf Maganes Art damit umgehen und an das Gute in einem Vampir glauben. Zu viele Erfahrungen sprachen dagegen. Sie konnte höchstens mit vorsichtiger Freundlichkeit auf Wilhelm Schneider reagieren. Das war das höchste der Gefühle, zu dem sie sich derzeit imstande sah. Auch, wenn Rachs weitere Erklärungen zu den Entwicklungen und Konstellationen innerhalb des "Rettungszirkels" dazu geführt hatten, dass sie die Situation des Wächters bedauerte. Erst Recht, wo dessen dämonenbedingte Probleme ausgerechnet mit Senrays Schwierigkeiten zusammenhingen! Aber auch hier... der Vampir hatte sich eine geistige Übergriffigkeit auf ihre Freundin gestattet gehabt! So schlimm seine Lage also sein mochte, er hatte sie zu einem großen Teil selbst verschuldet! Sie würde niemandem Schmerz und mentale Knechtung wünschen - bewahre! Ein winzig kleiner, rebellischer Gedanke aber, in der finstersten Ecke ihres Wesens, bescheinigte ihm damit eine Strafe, die lediglich auf dem Fuße gefolgt war; eine Konsequenz seines eigenen Handelns.
Es war seltsam, sich Senray in freundschaftlichem Miteinander mit einem Vampirkollegen vorzustellen. Oder sogar... mehr? Deren fast schon sprichwörtliche Angst vor jenen war zwischen ihnen kein Geheimnis gewesen. Sie hatten zwar nicht viel miteinander über das Thema geredet gehabt, ehe Ophelia... geholt worden war. Aber allein schon die verschiedenen Vorfälle, die bis zu ihrem Wachhausarrest geführt hatten, waren Anlass genug gewesen, Senrays Ängste zu streifen. Und Ophelia war stets eine gute Zuhörerin gewesen. Ein Anflug von Neugier ließ sie bei diesem Gedanken verharren. Wie hatte Senray es schaffen können, ihre enorme Angst zu überwinden und sich ausgerechnet mit einen Angehörigen dieser Spezies anzufreunden? Rach meinte, die beiden verbrächten schon nach den relativ wenigen Wochen, die ihr Kennenlernen nun andauerte, fast ihre gesamte Freizeit miteinander. Und dass sie dabei deutliche Anzeichen echter Zuneigung offenbarten. Trotz des eher erzwungenen Starts ihrer Bekanntschaft, über den Willen des Dämons! Das war ganz sicher nicht in dessen Sinne gewesen, als er dem Vampir die Verpflichtung auferlegte, Senray unter Einsatz der eigenen Existenz zu beschützen. Wenn sie mit ihren Vermutungen richtig lag, war da etwas aus dem Ruder gelaufen. Etwas, das zwar einerseits Potential zu einer seltsam anrührenden Romantik barg, das aber ohne Frage ganz plötzlich gefährliche Formen annehmen konnte. Eine Dreiecksbeziehung mit einem rachsüchtigen Dämon? Und dass dieser rachsüchtig war, schien schon aus der Erzählung dieses willkürlich anmutenden Übertragungseffekts für jeden ersichtlich zu sein! Ophelia mochte gar nicht näher darüber nachdenken, auf was Senray sich da einließ. Auch deren Briefe hatten das Thema "Wilhelm" mehr als nur einmal gestreift und dabei tiefere Gefühle durchscheinen lassen, gleichzeitig zu einer unsicheren Zurückhaltung. Konnten Mensch und Vampir auf romantische Weise zusammenkommen? Ohne dass lauernde Instinkte die gemeinsame Zukunft gefährdeten?
Sie bezweifelte das. Jedem Vampir, dem sie im Laufe der vergangenen Jahre begegnet war, haftete Gefahr an, ob er es wollte oder nicht. Gleichgültig, wie gut er oder sie sich zurückhielt. Racul, Sebastian, Ayami, Parsival und dessen Clan mit Teleri und der Herzogin von Lomond, der Gräfin von Pine, den ungleichen Brüdern Christopher und Herribert, Audrey und der Prinzessin von Kohlfurten, dazu Tschentowitsch... Breda... Minas Großmutter, die sie sogar unprovoziert inmitten des Hausarrestes im Wachhaus angegriffen hatte! All die unbekannten Vampire, die ihren Sinn auf der Durchreise gequert hatten, als sie jenen noch nicht verschließen konnte - und die auf die ungewollte Nähe mit Aggressivität reagiert hatten! Selbst Valdimier, der sich als reinblütiger Vampirkollege nie etwas zuschulden kommen lassen hatte, war sich dessen bewusst gewesen, einen täglichen Drahtseilakt gegen seine Bedürfnisse zu bestreiten und hatte Angst davor gehabt, dass das unter den Kollegen publik würde. Und sogar Mina barg ein nicht ungefährliches Aggressionspotential in sich. Wenn sie da beispielsweise an den lange zurückliegenden Abend ihres Streites miteinander dachte... die angriffslustige Frustration, die ihr damals auf geistiger Ebene entgegenschlug, ehe Mina jenes Gefühl wieder in den Griff bekommen hatte, war Anlass genug für Ophelia gewesen, sogar körperlich vor ihr zurückzuweichen, bis zu dem Punkt, wo sie das Fensterbrett im Rücken gespürt hatte.
Nein, sie musste auch ohne ein persönliches Kennenlernen davon ausgehen, dass ihre Freundin sich in der Nähe des Kollegens gleich in doppelter Gefahr befand und das setzte ihr zu. Sie würde sie auf jeden Fall darauf ansprechen müssen, wenn sie sich wiedersahen. Übermorgen.
Sie war froh, dass Magane sich so bereitwillig als Begleitung zu dem Treffen angeboten hatte. Sie wusste, dass sie in ihrer aktuellen körperlichen Verfassung noch nicht soweit war, längere Ausflüge alleine zu bestreiten. Aber so blieben sie wenigstens dennoch unter sich. Denn würde stattdessen Rach sie unterhaken, dann wäre ganz sicher nicht damit zu rechnen, dass Senray offen mit ihr reden könnte. So war die kleine Kollegin einfach nicht. Magane hingegen war eine Vertraute. Die regelmäßigen Treffen der beiden Frauen zu ihren Trainingseinheiten bezüglich der Feuerreaktionen, hatten eine gute Grundlage gelegt. Und wenn man die Umstände bedachte, so konnte es nur von Vorteil sein, den beruhigenden Einfluss der Hexe auf Senray, an ihrer Seite zu wissen.
Beruhigender Einfluss...
Ophelia blickte voller Liebe zum schlafenden Verlobten. Endlich schien Rach den sonst so leichten Schlummer hinter sich und wirklich los zu lassen. Sein Gesicht wirkte entspannter und sein Atem ging langsam und tief. Sie musste lächeln bei seinem Anblick, auch wenn er selber vermutlich etwas frustriert wäre, wenn ihm im Nachgang bewusst werden würde, dass er seinen Vorsatz vertan hatte, sie auch in dieser Nacht zu beschützen - ausgerechnet in dieser! Aber sie war froh darüber, dass er schlief.
Nicht mehr lange und sie wäre imstande, sich angemessen um ihn zu kümmern, ihn zu umsorgen und ihn reichlich mit liebevollen Gesten zu beschenken. Zwar konnte er ausgezeichnet selber kochen aber sie konnte es kaum abwarten, ihn nach einem harten Arbeitstag mit einer selbstgemachten Mahlzeit zu überraschen, so schlicht diese im Gegensatz zu seinen eigenen Künsten auch ausfallen mochte. Oder, wenn sie wieder gut zu Fuß wäre, in der Stadt nach einem Geschenk für ihn zu suchen. Immerhin könnte sie nun wieder im Freien in den Geschäften bummeln gehen. Und da ihre eigene Wohnung vor einigen Monaten aufgelöst worden war, als ihre Schwester sie für verschollen erklärte, hatte sich in der Zwischenzeit einiges von den Pflichtzahlungen Tschentowitschs an sie angesammelt, was ursprünglich zur Begleichung des Wohnraumpreises angedacht gewesen wäre. Sie verfügte also wenigstens über einen Anteil eigener Mittel.
Im Gegensatz zu Racul - inzwischen - wie sie vermutete.
Sie blickte zum Mond und versuchte, die verstrichene Zeit einzuschätzen. Wenige Minuten noch, ehe die Urteilsverkündung vermutlich vorüber und Racul auf freiem Fuße wäre - im Sinne von "der Stadt verwiesen". Und arm wie eine Kirchenmaus. Wenn alles so abliefe, wie geplant.
Ihr Herz begann schneller zu schlagen und eine merkliche Nervosität breitete sich in ihr aus, die sie jedoch unterdrückte.
Vor einigen Tagen hatte sie einen ausführlichen Brief an den Kommandeur geschrieben, in dem sie um ihre offizielle Entlassung aus dem Dienst in der Wache bat. Araghasts Antwortbrief hatte ihr zu verstehen gegeben, dass er ihre Kündigung erst dann annähme, wenn ihre Wachezugehörigkeit nicht mehr als offizielles Argument in der Anklage gegen Racul benötigt würde. Jenes Anklageverfahrens, das jetzt gerade, in diesem Moment, mit dem persönlichen Verlesen des Urteils des Patriziers, durch den Kommandeur, zum Abschluss fand.
Sie war hin und her gerissen zwischen der inneren Unruhe, die dieses Wissen auslöste, und einer fast meditativen Gleichmütigkeit. Havelock Vetinari hatte sich in seiner gerechten Weitsicht ihres Falles angenommen. Racul wurde beurteilt und für seine Verbrechen verurteilt. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass Vetinaris Beschluss dem üblen Treiben Raculs ein Ende setzen und sie von dessen ständiger Bedrohung erlösen würde, nachdem ihre Freunde bereits so selbstlos für einen gewissen Schutzraum um sie gesorgt hatten. Zusammen mit der Übereignung an Mina kamen dadurch so viele Faktoren zu ihren Gunsten zusammen, dass sie es endlich hinter sich hätte. Und gleichzeitig ahnte sie, dass ihr ein letztes Treffen mit dem Alten bevorstehen mochte. Denn so wie sie ihn kannte, würde es kaum etwas geben, was ihn zu absolutem Gehorsam veranlassen konnte. Araghast schien ernsthaft daran zu glauben, dass Racul sich einer möglichen Anweisung, die Stadt ohne Umwege zu verlassen, beugen würde - was auch immer ihm und dem Patrizier als geheimnisvolles Druckmittel einer Vergeltungsdrohung vorschweben mochte. Aber sie kannte ihn besser. Und sie wusste, dass sein zu Boden getretener Stolz ihn zu ihr führen würde. Nicht zurück zu seiner Gruft, um etwaige Besitztümer jener Schatzkammer unter seinem Sarkophag zu retten, welche sie in ihren Befragungen an Romulus preisgegeben hatte. Nein. Wenn er gegen seine Auflagen in dieser Nacht verstieße, dann deswegen, weil er dem stählernen Seil der Verbindung zwischen ihrer beider Geister folgen und sie ein letztes Mal zur Rede stellen, ihr Vorwürfe machen wollen würde. Das wäre so unausweichlich wie der darauf folgende Sonnenaufgang, der ihn zur endgültigen Flucht zwingen musste. Und es gab nichts, was ihn davon abhalten könnte. Es wäre dann an ihr selber, ihn endgültig in seine Schranken zu verweisen.
Ophelia musste schwer schlucken, ließ aber gleichmütig den Blick in die Nacht vor dem Fenster schweifen.
Sie war bereit dafür. So bereit, wie sie es eben sein konnte. Es hätte keinen Zweck gehabt, Araghasts Anweisung zu folgen, die jener noch am Morgen zustellen lassen hatte. Nicht, dass sie sich einem Ratschlag ihres Noch-Vorgesetzten entegenstellen wollte! Aber diesem Rat zu folgen, hätte nur weitere Personen unnötig in Gefahr gebracht. Ganz gleich, wohin sie in dem Bemühen geflohen wäre, sich vor dem Meister zu verstecken, die geistige Verbindung zwischen ihnen hätte sie verraten und ihm dennoch den Weg zu ihr gewiesen. Also hatte sie beschlossen, auf vertrautem Grund auf ihn zu warten. Sollte sie sich irren, umso besser.
Lediglich der Umstand, dass Mina und Rach darauf bestanden, an ihrer Seite zu bleiben, ängstigte sie etwas. Um sich selber macht sie sich kaum ernstzunehmende Sorgen. Was wollte er ihr schon noch antun, nach all der Zeit? Zumal es immer Sebastian gewesen war, der den aktiveren Part übernommen hatte, wenn es um Vergeltung und Strafe gegangen war. Und sie wusste, wie tief dessen Verlust ihn getroffen haben musste. Da war so viel mehr zwischen den beiden Vampiren gewesen, als nur simpler Gedankenkontakt und das Weiterleiten oder Erfüllen der Wünsche des Älteren. Sebastians Wesen war an ihn gekettet gewesen. Die gewaltsame Trennung der beiden Gedankensphären durch Magane musste Racul in einen Zustand geworfen haben, der mit dem Entreißen eines Organs aus dem Inneren eines lebenden Organismus vergleichbar wäre. Racul war zutiefst verwundet, er war geschwächt und nun vermutlich auch seiner Habe und seines Unterschlupfes beraubt. Ebenso wie seines loyalen Assistenten und geistigen Konterparts. Er wäre noch einsamer als zuvor, jetzt, wo ihm nicht einmal die als selbstverständlich angenommenen Dienste Igors und Igorinas mehr zur Verfügung standen. Und sie wusste nur zu gut, wie sich Einsamkeit anfühlte! Wie verletzlich und verwundbar sie machte. Ebenso, wie sie wusste, dass er seine Lage, seine Verluste, zum großen Teil ihr zur Last legte. Immerhin hatte er stets den Standtpunkt vertreten, dass diese unselige Verbindung zwischen ihnen ihre Schuld sei. Dass sie ihn da unverschuldet mit hinein gezogen und sich selber nicht ausreichend im Griff gehabt habe.
Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie er die verbotene Linie überschreiten und in Kurzem dort, vor dem Kamin, auftauchen würde. Denn wo auch immer man ihr Zutritt gewährte und über die Schwelle des Hauses einlud, tat man das automatisch auch seinem vampirischen Anteil gegenüber, der in ihr verwurzelt schlummerte. Er würde die alten Regeln respektieren, selbstverständlich! Das lag ihm im Blute verankert. Aber er würde auch mit allergrößter Genugtuung die Gelegenheit einer Einladung ergreifen, selbst wenn diese nur indirekt ihm gälte.
Sie hatte ihn so deutlich vor Augen, wie er nur wenige Meter vor ihr stehen würde, den starrenden Blick seiner kleinen dunklen Augen unter den tiefen, drahtigen Brauen vorwurfsvoll auf sie gerichtet, die kantigen Schultern hochgezogen in seinen tiefschwarzen, langen Gewändern, seine Lippen zu blutleeren Strichen zusammengepresst. Und sie konnte nur hoffen, dass Rach diesen Auftritt aus purer Erschöpfung verschlafen und Mina zu spät von ihrem Rundgang herbei eilen würde, um ihr beizustehen. Denn so wenig sie bei der Vorstellung auch um sich selber fürchtete... ein Eingreifen ihrer beiden Beschützer würde diese in ernste Gefahr bringen. Für Racul gab es Grund genug, sie selber zu verschonen. Nicht jedoch gab es auch nur ein einziges, für ihn zählendes Argument, mit ihren Begleitern ähnlich zu verfahren.
Sie würde den Alten ablenken müssen, indem sie seine Aufmerksamkeit bewusst auf sich lenkte. Aber das sollte kein Problem darstellen, wenn sie nur Rach und Mina mit einer rigorosen Geste zur Zurückhaltung veranlassen und beide davon überzeugen könnte, die Situation ihr anzuvertrauen. Schließlich hatte sie lange genug mit Raculs Launen zu tun gehabt, um ihn einschätzen zu können. Sie würde ihm gelassen entgegen treten. Mit dem Respekt, den er stets eingefordert hatte und nach dem es ihn gerade in dieser Nacht, nach all den Verletzungen seiner sonst so unantastbaren Würde, dürsten musste. Aber eben auch mit einer Nachdrücklichkeit, die keinen Zweifel daran ließ, dass sie seit diesem Abend auf legalem Wege für ihn unerreichbar war. Hier galt altes Gesetz!
Sie blinzelte und sein vorwurfsvolles Abbild war verschwunden.
Es war nicht gut, sich zu sehr in ihre Vorahnungen hineinzusteigern. Sie musste ihre Gedanken unter Kontrolle behalten, sie in andere Bahnen lenken. Wie war sie darauf gekommen? Ach ja... ihr Kündigungsgesuch.
Die meiste Zeit ihres Lebens über war sie gerne Wächterin gewesen. Und sie war noch immer der Ansicht, dass sie den dort gestellten Aufgaben und Anforderungen an sich enorm viel zu verdanken hatte. Es war ein seltsames Gefühl, sich von diesem alles umfassenden Teil ihres Lebens zu trennen. Auch wenn das vergangene Jahr in der Isolation diesen Vorgang bereits unaufhaltsam eingeleitet hatte. Es war eben noch etwas Anderes, von sich aus den Schritt zu wagen, ein Kapitel zu schließen. Sie hatte in der Zeit ihrer Wachezugehörigkeit viel bewegt, war Romulus zu einer unschätzbaren Stütze geworden, hatte die Zusammenarbeit der Abteilungen und der einzelnen Kollegen untereinander gefördert. Aber letzten Endes war sie, wie sie sich trauernd eingestehen musste, den Umständen geschuldet, zu einer Belastung, sowohl für ihre Kollegen, als auch für die Institution an sich, geworden. Und auch ihre persönlichen Umstände hatten sich stark verändert. Früher war ihr höchstes Ideal die Selbständigkeit gewesen. Heute war es die Zugehörigkeit zu geliebten Mitmenschen. Sie hatte es bis zur Stellvertretenden Abteilungsleiterin geschafft gehabt. Eine vorzeigbare Karriere, erst recht für eine junge Frau aus dem Mittelstand. Aber, so bedeutungsvoll jenes Amt auch war, welches ihr erlaubte, Dinge sehr direkt zu beeinflussen und Menschen zu helfen... es war nicht mehr das, was sie sich für ihre Zukunft wünschte. Sie fühlte sich nun dazu bereit, alles das hinter sich zu lassen. Sie wünschte sich vielmehr, das Glück im Kreise der Familie zu finden. Ihrer ganz eigenen Familie! Sie sehnte sich nach Rachs Nähe und nach der Möglichkeit, Kinder in die Arme zu schließen. Sie wollte für die Ihren sorgen, sie mit Liebe und Zuneigung überschütten.
Die Nervosität ließ ihre Hand schwitzig werden und sie streifte diese vorsichtig an der Decke auf ihren Beinen ab.
Sie würde sicherheitshalber noch etwas damit warten müssen. Mit konkreteren Zukunftsplänen, über ihre Hochzeit hinaus. Dass sie heiraten würden, gewiss, das stand längst fest. Und wie unsagbar glücklich es sie gemacht hatte, als Rach auf ihre angedeutete Frage hin, ob er noch immer zu seinem Ja-Wort stehen wolle, mit einer fast empörten Selbstverständlichkeit zugestimmt hatte! Sie würden sich auf ihre Art mit den Dingen auseinandersetzen, die unausgesprochen zwischen ihnen standen, mit den Erlebnissen, die sie sprachlos gemacht hatten und die jetzt ein umsichtiges Annähern aneinander erforderten. Das würden sie hinbekommen. Da war sie sich sicher. Ohnehin würde die Hochzeit noch etwas in die Zukunft geschoben werden müssen. Wer wollte schon eine Braut anschauen, die noch immer deutlich von den Folgen einer Gefangenschaft gezeichnet wäre? Nein, das wollte sie niemandem antun, auch nicht sich selbst. Die Hochzeit sollte ein Grund zur Freude werden. Für alle. Ungetrübt durch mitleidige Blicke. Bald schon! Sobald Racul fort wäre, würde sie sich in die Aufgabe ihrer Genesung stürzen. Gesundes Essen, frische Luft, leichte Bewegung... Sonnenschein. Und Freunde um sich herum!
Ein Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus.
Freunde, ja! So viele kamen sie besuchen, obwohl Mina es ihnen allen nicht leicht machte, sich Zugang zu ihr zu verschaffen. Die Freundin war sich fatalerweise, oder vielleicht doch eher glücklicherweise, mit Rach einig darin, dass sie Ruhe brauchte, um sich zu erholen. Die bei weitem meisten Besucher, die inzwischen von ihrer Rettung erfahren hatten und am Anwesen aufgetaucht waren, um sie mit neugierigen Fragen zu löchern und sie mit Blumensträussen zu überhäufen, waren daher mit der Möglichkeit abgewimmelt worden, sich mit einigen Zeilen im Besucherbuch in der Eingangshalle zu verewigen. Selbst ihre Familie hatte es bisher nur stellvertretend in Form ihres Vaters zu ihr geschafft - Mina hatte rigoros darauf bestanden, nur eine Person zu ihr zu lassen, die ja dann den anderen berichten könne, bis es Ophelia besser ginge. In dem Zusammenhang hatte sie überraschenderweise davon erfahren, dass ihre Schwester und Mina zu einem eher professionell distanzierten Umgang miteinander gefunden hatten. Sie schienen einander zwar zu vertrauen, gleichzeitig aber auch erleichtert zu sein, über eine gewisse Emotionslosigkeit im Kontakt zueinander. Jedenfalls nahm Dschosie diese Einschränkung erstaunlich gelassen an und trat freiwillig, zugunsten ihrer beider Vater, von dem Anspruch zurück, sie sofort zu besuchen. Stattdessen schrieb sie ihr lange Briefe, in denen sie sie gesellschaftlich wieder auf den neuesten Stand brachte. Und nebenbei erwähnte, dass es ihr leid tat, die Hoffnung auf Ophelias Überleben viel zu früh aufgegeben zu haben.
Überhaupt, Briefe! Sie erhielt so unsagbar viel Post, dass es sie tatsächlich ermüdete, auch nur den dringendsten Bitten um Kontaktaufnahme zeitlich einigermaßen angemessen gerecht zu werden. Und dabei siebten Rach und Mina schon aus, fingen die Bettelschreiben der Presse und Autogrammjäger ab, verbrannten wortlos die fanatischen Schreiben einiger Verblendeter, die ihr anscheinend vorwarfen, den Adel zu diffamieren oder das Machtgefüge der Stadt zu bedrohen, beantworteten die vielen Spendenaufrufe für Opfer der verschiedensten Angriffe mit knappen Zeilen in neutralem Ton und leiteten die Hilfegesuche von Angehörigen, die noch immer verschwundene Töchter vermissten und einen Zusammenhang zu der Mordserie vermuteten, welcher sie - laut Presse - entkommen war, kommentarlos an RUM weiter.
Nur Wenigen konnte sie umgehend antworten, zwischen den Terminen ihrer Befragungen durch Romulus, der sie dazu extra im Haus aufsuchte. Die Erschöpfung wurde schlichtweg oft zu viel für sie, so dass sie sich Ruhe gönnen und immer wieder zwischendurch schlafen musste. Aber gewissen Schreibern oder Besuchern widmete sie besondere Aufmerksamkeit. So wurde, bis auf den Vampirrekruten, jeder Helfer des sogenannten Rettungszirkels, der dies wünschte, sofort zu ihr durchgelassen. Und viele waren sie wirklich schon besuchen gekommen, so dass sie sich persönlich bei ihnen bedanken konnte. Abweichend von der offiziellen Version, bei der keinem von ihnen die Ehre für ihren Einsatz zuteil wurde, die sie verdient gehabt hätten! Und selbst jenem zweifelhaften Rekruten hatte sie eine von Herzen kommende Dankeskarte geschickt. Wenn auch mit dem diplomatisch formulierten Hinweis, dass sie auf sein Verständnis dafür hoffe, sich erst noch etwas fassen zu müssen, ehe sie einander persönlich begegneten.
Kanndra war da gewesen und hatte lange an ihrer Seite gesessen. Die Kollegin war ungewohnt schweigsam gewesen, hatte viele ihrer Gedanken für sich behalten. Es tat Ophelia ein bisschen leid, dass sie es trotzdem nicht über sich gebracht hatte, auf die Fragen der FROG ausführlicher zu antworten, als sie es getan hatte. Aber sie wollte wirklich nicht über das reden, was in den Kellerräumen vorgefallen war. Mit niemandem. Alternativ hatte sie das Gespräch immer wieder auf Erfreuliches zu lenken versucht. Sie hatte Kanndra für ihren Einsatz gedankt, hatte betont, wie sehr sie deren Freundschaft schätzte, dass es ein Segen war, dass niemand sonst dabei nachhaltig zu Schaden gekommen war und wie gut die Aussicht tat, sich wieder frei und geborgen unter Freunden bewegen zu dürfen.
Auch Rogi hatte sie aufgesucht. Zu Beginn wollte sie sich seltsam distanziert nach ihrem Befinden erkundigen und richtete die Grüße der älteren Igorina aus. Eine Nachwehe der Zeit ihrer Gefangenschaft, die sie seltsam traurig und gerührt zugleich stimmte. Sie hatte darauf gedrängt, die Grüße zu erwidern. Der Schutz, den sie Igorina verdankt hatte, ebenso wie die schrumpfende emotionale Distanz zwischen ihnen, wirkten nach. Und sie ertappte sich oft dabei, wie sie gedanklich deren Namen nannte in der kurzen Erwartung, sie selbstverständlich neben sich auftauchen zu sehen. Die alte Frau war ihr Stütze und Gefährtin gewesen, schweigende Gesellschaft und einzige Stimme in der Dunkelheit, die freundlich mit ihr gesprochen hatte. So etwas vergaß man nicht. Und sie musste es sich eingestehen... sie vermisste die ältere Dame. Dann aber kam ihrer beider Gespräch auf unangenehme Weise ins Stocken. Rogi schien ihrem Blick auszuweichen und nach den richtigen Worten zu suchen. Oder überhaupt nach Worten. Ophelia verstand, dass unausgesprochen deren Scheitern im Raume stand, wieder zu ihr zurückzukommen, nachdem sie nicht nur bereits das Haus ausfindig gemacht hatte und es betreten konnte, sondern sie sogar im unteren Geschoss aufsuchen durfte. Aber wie hätte Rogi auch gegen Raculs direktes Eingreifen aufbegehren sollen? Machte sie sich wirklich ernsthafte Selbstvorwürfe deswegen? Rach hatte ihr von der Problemstellung erzählt, wie sie sich den Kollegen dargestellt hatte, nachdem die Suche deutlich an Fahrt aufgenommen hatte und Rogi als Verräterin inmitten der Gruppe stand. Allein seine betont gleichmütige Wortwahl und sein beherrschtes Gesicht, beim Nacherzählen der Situation, hatten ihr mehr gesagt, als ihm lieb gewesen sein konnte. Und die Vorstellung, Rogi unschuldig in diese Drangsal geraten zu wissen, tat ihr weh. Diese traf doch keine Schuld! Sie hatte so, so viel für Ophelia getan gehabt, ihr hätten Verständnis und Trost zugestanden gehabt. Keine kühle Distanz und Misstrauen. Sie hatte etwas hilflos versucht, Rogi darauf anzusprechen, hatte zaghaft davon zu sprechen begonnen, dass sie sehr dankbar über deren unerwartetes Auftauchen gewesen war. Und sofort hatte sich Rogis Gesicht verfinstert.
"Wirklich, glaube mir! Und ich weiß davon, wie schwer er es dir daraufhin gemacht hat. Ich habe davon erfahren. Es tut mir unsagbar leid, dass er dich dieserart angegriffen hat. Hätte ich es mitbekommen, so hätte ich wenigstens versucht, irgendwas gegen ihn ins Felde zu führen. Aber ich war kaum bei Bewusstsein damals. Ich meine... das weißt du ja... Und selbst wenn ich es gewesen wäre... vermutlich hätten meine Kräfte ihn nicht aufhalten können. Dennoch! Versucht hätte ich es."
Rogi hatte mit einem kaum hörbaren Brummeln abgewunken.
"Du warft in weit flimmerem Fustand alf ich. Ef wäre nicht deine Aufgabe gewesen, mich fu schützen. Umgekehrt fon."
"Also ist es wirklich so, wie ich es befürchtet habe. Du machst dir selber Vorwürfe, nicht wahr?"
Die Igorina war einem inneren Impuls gefolgt und aufgesprungen, um durch den Raum zu tigern und nur dann in ihre Richtung zu sehen, wenn das Gespräch es gefahrlos gestattete, ohne, dass sie dabei zu tiefe Gefühle offenbaren mochte.
"Ich hätte furück kommen sollen."
"Rogi! Er hat deine Gedanken so tief manipuliert, dass es des Vampirkollegens bedurft hat, diesen Eingriff rückgängig zu machen! Welche übernatürlichen Kräfte forderst du von dir selbst?" Und als die Igorina darafhin schwieg, ergänzte sie in eindringlichem Tonfall: "Du hättest nicht zurück kommen können! Das war sein Ziel dabei! Selbst, als ich den Grund dafür noch nicht mit Sicherheit wusste, war mir klar, dass dein Ausbleiben nicht deinem eigenen Wunsch entsprechen konnte. Es ist in Ordnung. Ich mache dir keine Vorwürfe, könnte es nie. Und du solltest dir auch keine machen."
Rogi knurrte fast ungehalten, als sie wirsch auf dem Absatz kehrt machte und den kurzen Weg zurück stürmte.
"Ef ift nicht in Ordnung!"
Ophelia hatte wiedersprechen wollen, doch Rogi hatte sich nur mit strengem Blick und einer wirschen Geste zu ihr umgewandt, um sie aufzuhalten. Und sie war dieser harten Bitte gerecht geworden, hatte mit einem letzten Kontra gebenden Blick ihren Standtpunkt unterstrichen - ehe sie das Thema ebenso fallen ließ. Rogi hatte die Augen kurz geschlossen und tief durchgeatmet, ehe sie sich dazu überwand, sich wieder zu ihr zu setzen. Nach einem verhaltenen Räuspern blickte sie sie überraschend neugierig an.
"Ich habe erfahren, daf du den Dfob an den Nagel hängen willst. Ftimmt daf?"
Ophelia hatte langsam genickt. Sie hatten einander offen angesehen und es war ihr bewusst geworden, dass sie in diesem Moment derjenigen Person gegenüber saß, die ihren kompletten Werdegang in der Wache mitverfolgt hatte, näher als jeder andere zudem. Rogi war nicht nur faktisch ihre Ausbilderin gewesen, hatte sie nicht nur schon als Rekrutin ermuntert und später auf gleicher Augenhöhe als Kollegin im Einsatz begleitet. Sie hatte sie auch nach all den Misserfolgen und Angriffen, denen sie in dieser langen Zeit ausgesetzt gewesen war, behandelt, hatte ihren Körper zusammengeflickt und ihre Seele verbunden. Es gab vermutlich wenige Personen, sowohl innerhalb, als auch außerhalb der Wache, die sie so gut kannten, wie jene. Für wenige Tage hatten sie sogar die Wohnung miteinander geteilt gehabt!
"Ja, das stimmt. Ich werde die Wache verlassen. Endgültig."
Rogis Blick kündete von echtem Interesse, als sie weiter nachfragte:
"Warum? Alfo... warum genau? All die Jahre zu Beginn deiner Wachezugehörigkeit... dein felsenfest erkämpfter Ftandpunkt in der Gesellschaft, entgegen den Wünschen deiner Verwandschaft... du machst damit jetzt genau daf, waf sie erreichen wollten! Wogegen du fo lange angerannt bift. Gibft du auf und fügst du dich ihnen?"
Sie hatte gelächelt, von Herzen. Denn dass Rogi diese Erkenntnis mit solcher Selbstsicherheit vorbringen konnte zeigte ihr, wie sehr Rogi sie wirklich als einen "ihrer" Rekruten ansah. Selbst, wenn Rogis Persönlichkeit ihr nicht gestattete, sie in schlichter Form als "Freundin" zu betrachten - ein Unvermögen der Igorina, welches einzusehen, für Ophelia einen langen Erkenntnisprozess bedeutet hatte - sie hatte sie trotzdem immer im Auge behalten und sich mit einer Vehemenz um ihr Wohlergehen gesorgt, die mehr als tausend Worte sprach. Egal, wie Rogi selber es nennen würde... Ophelia bedeutete es unsagbar viel. Weswegen sie sich gerne darum bemühte, die Weggefährtin zu beruhigen.
"Es ist an der Zeit. Ich habe zu viel Unheil über die Wache gebracht, das zum Einen. Aber zum Anderen," womit sie ihr nahezu glücklich in die Augen sah, "Ich habe davor auch viel von mir gegeben. Vielleicht zu viel. Ich muss die verlorene Kraft neu auffüllen. Und... mit Rach an meiner Seite... Ich habe den Mann meines Lebens gefunden und werde ihn niemals wieder freiwillig ziehen lassen. Eine Einstellung, die glücklicherweise auf Gegenseitigkeit beruht. Kurz gesagt: Ich möchte eine eigene Familie mit ihm gründen. Und ich möchte dieses hoffnungsvolle Idyll gänzlich auskosten. Die Gefahren minimieren. Ich denke, das dürfte nachvollziehbar sein, oder?"
Und Rogi hatte wissend genickt.
Nur mit dem Brief des Zauberers wusste sie nicht so recht umzugehen. Raistan hatte ihr geschrieben, um sich für seine Fehleinschätzung ihres Charakters zu entschuldigen, ebenso wie für seine mangelnde Rücksichtnahme ihr gegenüber an dem Tag, als er sie auf Bregs Wunsch hin in der UU untersuchte. Seine Worte weckten unschöne Erinnerungen in ihr. Zu gut hatte sie vor Augen, wie distanziert er sie behandelt hatte. Sie hatte nie das Empfinden hinunterschlucken können, mit dem er sie damals, an den Stuhl gefesselt, zurückgelassen hatte, um sich auf die technischen Vorgänge zu konzentrieren: degradiert auf ein Untersuchungsobjekt. Wertlos für seine Zwecke, insofern sie nicht stillhielt und Resultate einbrachte. Sie hatte sich den Forderungen halb freiwillig gefügt gehabt - nur um diesen Schritt später zu bedauern. Die Mischung aus Erniedrigung und Missachtung, die sie mit diesen Erinnerungen verband, der Schmerz, der nach den magischen Tests ihren Körper durchtobte, die vielen Brandwunden auf ihrer Haut, die ihr von den Metallplättchen zugefügt worden waren... alles das hatte sich mit dem Anblick seines Gesichts verbunden und dem Klang seiner gereizten Stimme, als er ihr Wankelmut vorwarf und sie erzwungen wehrlos vor vollendete Tatsachen stellte. Sie hatte damals nur zu gut verstanden, dass er keine allzu hohe Meinung von ihr hatte. Eine Erkenntnis, die natürlich wehtat. Zumal das umgekehrt zuvor sehr wohl der Fall gewesen war. Sie war ihm früher mit Neugier und Hochachtung begegnet, damals, als sie flüchtig einander vorgestellt worden waren, im Büro des Kommandeurs. Und nun dieser Brief? Er habe sich in ihr getäuscht und es täte ihm leid? Rach hatte ihr davon erzählt, dass der Zauberer sich wirklich Mühe damit gegeben hatte, die Suche nach ihr zu unterstützen. Und dass er derjenige gewesen war, der Raculs geistige Abwehr durchbrochen hatte. Im Anschluss daran fehlten ihr viele bewusste Erinnerungen. Igorina hatte ihr von einem Rückfall aufgrund der Gewalt berichtet, mit der Racul ihr gegenüber reagiert hatte. Ihr Körper war damals zu schwach dafür gewesen, dem plötzlichen inneren Druck standzuhalten - und hatte sich mit einem neuerlichen Aufflammen der Lungenentzündung an ihr gerächt. Und daran war ursächlich der junge Magier mitschuldig gewesen? Er war es gewesen, der mittels der magischen Maschine in ihre, mit Mühe und Not aufrechterhaltenen, Gedankenwälle eingebrochen war? Raistan war inmitten ihrer Gedanken gewesen? Seine Zeilen kündeten davon, dass das für ihn kein angenehmes Erlebnis gewesen war. Ebenso, wie der nachträgliche Anblick des Käfigs, aus dem sie sie gerettet hatten, ihm schwer zuzusetzen schien. Sie war sich jedenfalls nicht sicher, wie sie darauf reagieren sollte. Weswegen sie diesen Brief vorerst beiseite legte, um später darauf zu antworten. Sicher, auch Raistan gebührte ihr Dank. Aber wie weit sie bereit wäre, diesem rein formalen Dank Gefühle beizusteuern, das würde sich erst noch zeigen müssen.
Ophelias Blick richtete sich auf den Schattenwurf, der dem Licht des Mondes entgegengesetzt den Raum querte.
Und ein heißer Wut-Impuls auf den sonst eisigen Bahnen ihrer Gedanken bestätigte ihr, was verstreichende Zeit und Wahrscheinlichkeiten längst vermuten lassen hatten.
Sie straffte ihre Schultern und schickte ein Stoßgebet an Anoia, in welchem sie die Göttin um verklemmte Türen und gerostete Scharniere zu den Zufluchten ihrer Freunde für diese Nacht bat.
Hoffentlich sind sie alle gut verborgen. Und hoffentlich liege ich richtig mit meiner Vermutung, so dass er Magane verschont, die ihm Sebastian genommen hat...
Mit einem schweren Seufzer streckte sie ihre Hand nach derjenigen des schlafenden Verlobten aus. Er würde es nicht gut aufnehmen, wenn sie ihn in dieser Sache aussen vor zu halten versuchen würde. Besser sie warnte ihn und beschwor ihn bereits jetzt zu einer besonnenen Reaktion.
"Rach? Es tut mir leid, dass ich dich wecken muss. Aber ich denke, es wäre gut, wenn du jetzt Ruhe bewahrst..."

04.11.2017 20: 58

Araghast Breguyar

Egal ob es um einen kleinen unlizenzierten Diebstahl oder um nichts geringeres als die Rettung der Scheibenwelt ging, am Ende lief es immer auf das Gleiche hinaus: Das Schließen der Fallakte mit all dem dazugehörigen Papierkram.
Auf Araghast Breguyars Schreibtisch stapelte sich derzeit ein nicht unbeträchtlicher Teil des Materials, das in den vergangenen Wochen in einem der leeren Büros im dritten Stock zusammengetragen wurde. Der Kommandeur arbeitete hart daran, die Akte 'Racul von Ankh' endgültig zu schließen. An seiner Bürotür hing ein Schild mit der Aufschrift Nicht stören! und in seiner untersten Schreibtischschublade befand sich eine frische Rumflasche. Er war für alle Eventualitäten gerüstet.
Nach Sonnenaufgang hatte Araghast nach und nach Meldung von allen Mitgliedern des Rettungszirkels erhalten. Sie waren alle am Leben. Racul hatte sich entgegen seiner Befürchtungen bei seinem Weg aus der Stadt nicht zu Dummheiten hinreißen lassen. Es tat so unendlich gut, nun endlich einen Schlussstrich unter die ganze Geschichte ziehen zu können, die Araghasts Nerven in den vergangenen beiden Monaten oftmals an die Grenze ihrer Belastung gebracht hatte. Sein inoffizielles Fazit hatte der Kommandeur sowieso schon längst gezogen. Wieder einmal hatte die Wache bewiesen, dass er sich auf diesen verrückten Haufen unterschiedlicher seltsamer Gestalten im Zweifelsfall doch irgendwie verlassen konnte. Wächter von denen er es nicht unbedingt erwartet hätte, hatten auch vor kreativen und teilweise illegalen Lösungen nicht zurückgeschreckt, als es um die sprichwörtliche Wurst ging. Oben auf dem Balken lag eine Liste mit Beförderungen und Ehrungen, die er unverdächtig genug durchbekommen würde. Der Rettungszirkel hatte es sich mehr als verdient.
Allen voran Mina von Nachtschatten. Immer wenn er sich ins Bewusstsein rief, dass die stellvertretende Abteilungsleiterin von RUM den Fall Ophelia Ziegenberger nie aufgegeben hatte, traf ihn sein eigenes schlechtes Gewissen wieder mit voller Wucht. Er hatte sich nur zu bereitwillig von seinen Vorurteilen gegenüber Ophelia leiten lassen, während der Chief-Korporal trotz der scheinbaren Hoffnungslosigkeit, eine Spur zu finden, auch nach dem offiziellen Schließen der Akte ihre Freizeit geopfert hatte um weiter zu suchen. Und als sich schließlich alles zusammenfügte, hatte ihre große Stunde geschlagen und sie hatte sich als erstaunlich talentierte Anführerin mit kräftigem Rückgrat erwiesen. Der Abend, an dem sie ihn wegen seiner Methoden in seinem Büro konfrontiert hatte, hatte sich als sehr aufschlussreich herausgestellt, was ihren Charakter betraf. Sie hatte keine Scheu, Vorgesetzten gegenüber ihre Meinung zu vertreten, und auch wenn Araghast ihre Meinung nicht in allem geteilt hatte, schätzte er solche Eigenschaften durchaus.
Weniger erfreut war er darüber gewesen, dass Ophelia Ziegenberger nun offiziell zu Mina von Nachtschattens Besitz zählen sollte. Allein die Vorstellung widersprach allem, woran Araghast glaubte, und mit einer gehörigen Portion Abscheu erinnerte er sich an den Tag, an dem Ayami Vetinari ihm Rogi Feinstich überschreiben wollte. Auch wenn es so gut wie niemand wusste, Araghast hatte die prägenden Jahre seines Lebens an Bord eines Piratenschiffs verbracht. Die Freiheit des Einzelnen war das grundlegende Konzept des Piratenlebens.
Araghast machte sich nicht einmal die Mühe, die Rumflasche in die Schreibtischschublade zurückzustellen, nachdem er sich großzügig daran bedient hatte.
Zähneknirschend hatte er akzeptiert, dass Chief-Korporal von Nachtschattens Forderung von Ophelia Ziegenbergers Leib und Leben das Zünglein an der Waage gewesen war, das am Ende den Sieg über Racul von Ankh ermöglicht hatte. Ein weiterer Schluck Rum rann die Kehle des Kommandeurs hinunter. Manchmal blieb leider nichts anderes übrig, als das geringere Übel zu akzeptieren. Zumindest konnte er sich halbwegs sicher sein, dass Mina von Nachtschatten ihren neuen Status nicht ausnutzen würde um Ophelias so hart erkämpfte Freiheit einzuschränken.
Araghast seufzte leise. Irgendwie war es schade, dass Mina von Nachtschatten ein Vampir war. Sie hatte im Verlauf der Ermittlungen alle Qualitäten gezeigt die ein zukünftiger Offizier gebrauchen konnte. Aber diese Entscheidung war noch lange hin. Mina von Nachtschatten war gerade erst Chief-Korporal geworden. Es blieb noch viel Zeit um zu beobachten, wie sie sich in Zukunft in der Wache und als offizielle Besitzerin eines Menschen entwickeln würde...
Die Beförderung eines anderen Vampirs stand allerdings unmittelbar bevor. Laut diverser Kollegen hatte der Rekrut Wilhelm Schneider mit einem geradezu suizidalen Frontalangriff Tapferkeit vor dem Feind gezeigt und sich insgesamt auch sonst bewährt, wenn man von der unsäglichen Frechheit, sich ungefragt im Kopf der Obergefreiten Rattenfänger zu schaffen zu machen, einmal absah.
Aber andererseits hatte Wilhelm Schneiders dämliche Aktion überhaupt erst dafür gesorgt, dass die Wache von dem Feuerdämon im Inneren der Obergefreiten erfahren hatte. Und seine Nachtwachen hatte er trotz Raculs widerlicher Präsenz auch tapfer wie ein echter FROG abgeleistet. Allein dafür hätte er die Beförderung schon verdient. Trotzdem. Er würde den frisch gebackenen Gefreiten im Auge behalten. Nur zur Sicherheit.
Die Rumflasche half dabei, die nahtlose Überleitung zum nächsten Thema zu finden. Die Obergefreite Senray Rattenfänger. Husky bei DOG und, wie sich im Zuge der Rettungsmission herausgestellt hatte, Wirtin eines garstigen Feuerdämons. Immerhin, eines hielt Araghast ihr zugute. Bei ihrem Verhör zum Thema war sie nicht wie das Mal davor panisch aus seinem Büro geflohen. Und auch wenn sie sich nicht zuletzt aufgrund des Dämonenproblems für die finale Rettungsmission als untauglich erwiesen hatte - eben jenem Dämon war es letztendlich zu verdanken, dass sie einen Beitrag dazu geleistet hatte, den Ort von Ophelia Ziegenbergers Gefangenschaft einzugrenzen. Außerdem hatte sie sich beim Besorgen der Mob-Ausrüstung nützlich gemacht.
Araghast erinnerte sich nur zu gut an seinen eigenen Frust, bei der Erstürmung des Labyrinths nicht dabei sein zu dürfen und er konnte sich gut vorstellen, dass es der Obergefreiten ähnlich ergangen war. Aber auch wenn der Dämon und die Koppelung mit dem Rekruten Schneider nicht gewesen wären - Senray Rattenfänger hätte auf diesem Einsatz auf Leben und Tod nichts zu suchen gehabt. Erst recht nicht, wenn der Kommandeur schon vorher Raistan vom Einsatz abgezogen hatte. Und der hätte im Gegensatz zu der Obergefreiten in einer brenzligen Situation garantiert nicht die Nerven verloren.
Ganz im Gegenteil. Wenn Gefahr drohte, tat Raistan ohne zu zögern das, was getan werden musste. Aber er war mit nichtmagischen Mitteln ein miserabler Kämpfer und dazu kamen auch noch seine gesundheitlichen Probleme. Es hatte Araghast in der Seele weh getan, ihn vom Einsatz auszuschließen, aber als Raistan am Einsatztag nur von seinem eisernen Willen auf den Beinen gehalten das Kommandeursbüro betreten hatte, wusste Araghast, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Raistan war verdammt gut in dem was er tat, aber sein Stolz trieb ihn immer wieder über seine körperlichen Grenzen hinaus und das vorhersehbare Ergebnis war einfach nicht gut für den Kleinen. Es dauerte immer mehrere Tage bis er sich von einer solchen völligen Überanstrengung erholte.
Um Ophelia zu retten hatte er zwei Mal keinerlei Gnade für sich selbst gezeigt, auch wenn er jedes Mal geahnt hatte, dass es böse für ihn ausgehen könnte. Zuerst hatte er den endgültigen Beweis erbracht, dass Ophelia noch lebte und die Gefangene eines Vampirs war. Und dann hatte er, immer noch leicht geschwächt von der für ihn sehr schmerzhaften Spähaktion kurz vor dem Einsatz, Racul in seiner Gruft festgenagelt, während der Mistkerl sich alle Mühe gegeben hatte, ihn mental zu demontieren - ganz zu schweigen von seinem unermüdlichen Einsatz dafür, dass der Alte während der Ermittlungen auch blieb wo er war.
Araghast lächelte hinterhältig. Eben weil dieser kleine, schwache Zauberer als Frontkämpfer absolut nichts taugte, neigten die meisten Gegner dazu, ihn gnadenlos zu unterschätzen, wenn er aus der zweiten Reihe auf den Plan trat. Und das war am Ende ihr Verderben. Raistan war eine Geheimwaffe. Ein Oktagramm-As, das er aus dem Ärmel schütteln konnte wenn der Gegner nicht damit rechnete. Derjenige, der Racul schon gehörig in den Hintern getreten hatte bevor er selbst überhaupt eine Ahnung hatte, was eigentlich los war.
Obwohl daran nun wiederum Nyria schuld war. Araghast war sich immer noch nicht sicher, ob er seine umtriebige Kusine wegen dieser spontanen Wette verfluchen oder doch lieber gleich befördern sollte. Eigentlich hätte sie eine Beförderung nach all der Zeit als Gefreite endlich mal verdient. Für den Rettungszirkel war sie das unverzichtbare Ohr an der Straße gewesen, das sich um die profanen Aspekte der Ermittlungsarbeit gekümmert hatte, während die anderen sich mit den abgehobeneren Aspekten der Rettung beschäftigt hatten. Ja, das sonst gern mal so faule kleine Wölfchen hatte sich wirklich selbst übertroffen. Ermittlungsgruppen und das Zuteilen von echter Verantwortung schienen einen positiven Effekt auf ihre Produktivität zu haben. Vielleicht sollte man ihr einfach öfter mal etwas anvertrauen, was wirklich wichtig war. Unwillkürlich musste Araghast schmunzeln. Kanndra hatte ihn erzählt, dass sie versucht hatte, Nyria für FROG abzuwerben, und seine Kusine es sich zumindest einen Tag lang überlegt hatte, bis sie schließlich zum Bedauern der Späherin abgelehnt hatte. Arghast fand, dass es letztendlich die richtige Entscheidung gewesen war. Wenn nicht gerade ein Einsatz anstand, konnte das Leben bei FROG manchmal recht monoton sein, und Nyria war jemand, der regelmäßig Abwechslung und neue Eindrücke brauchte. Zu viel Routine war einer der weiteren natürlichen Feinde ihrer Produktivität.
Auch wenn Kanndra nun keine neue FROG bekam - Seine alte Freundin hatte wieder einmal gezeigt, dass Araghast sich voll und ganz auf sie verlassen konnte, selbst wenn das Ding, das sie gerade drehten, ziemlich illegal war. Dass sie trotz ihrer Verletzungen aus dem Rettungseinsatz am gleichen Abend noch ganz normal mit einem FROG-Trupp ausgerückt war um das Kellerlabyrinth zu untersuchen, und die gefälschte Quittung für Sebastians Inhumierung äußerst geschickt 'gefunden' hatte, war ein wahres Meisterstück gewesen. Wenn es hart auf hart kam - Kanndra und er vertrauten einander.
Ebenso war es immer mit Rogi Feinstich gewesen. Deshalb war Araghast um so erschrockener gewesen als er erfahren hatte, dass Racul sie einer gründlichen Gehirnwäsche unterzogen hatte. Dieser verdammte Drecksack. Aber nachdem sie davon befreit worden war, hatte auch sie vollen Einsatz bei der Rettung der Entführten gezeigt und sich dabei sogar gegen ihre eigene Familie gewendet. Zwischen Rogi und Ophelia bestand eine tiefe Verbindung, die sich Araghast immer noch nicht ganz erschloss. Nur in einer Sache war er sich mittlerweile sicher. Rogi Feinstichs zeitweiliger Tod war nicht unschuldig an der Entstehung des verdammten Gedankenlecks gewesen. Ophelias plötzlicher Aufschrei in seinem Kopf, drei Stockwerke über dem Keller, und das bei ihm, der eigentlich keine telepathischen Fähigkeiten hatte...
Ophelia Ziegenberger, Obergefreite der Stadtwache, seit langem schon vom aktiven Dienst beurlaubt und die Person, die ihnen mit ihrem Gedankenleck die ganze Geschichte überhaupt erst eingebrockt hatte. Irgendwie hatte sie es immer wieder geschafft, sich mit Vampiren anzulegen und dabei am Ende den Kürzeren zu ziehen. Sie hatte es, wie er mittlerweile wusste dank Raculs Einfluss, fertig gebracht, ihn, Araghast Breguyar, dermaßen an der Nase herumzuführen, dass er ihr am Ende, als es darauf ankam, fatalerweise nur noch das Schlimmste zugetraut hatte. Und damit hatte er diesem verdammten B-Wort-Sauger sogar in die Hände gespielt indem er die Ermittlungen hatte einstellen lassen.
Araghast knirschte mit den Zähnen und der Inhalt der untersten Schreibtischschublade schrumpfte um mehrere Schlucke. Über Raculs Drohungen Ophelia gegenüber, alle zu töten denen sie sich anvertraute, hatten sie alle unwissentlich nach der Pfeife des Alten getanzt. Natürlich war ihr Instinkt gewesen, sie alle zu beschützen, und nur deshalb hatte sie, was ihren Zustand betraf, gelogen. Aber dann war Raistan auf die offene mentale Verbindung gestoßen und nichtsahnend, dass sie alle Parsival Ascher in Verdacht hatten, hatte Racul daraufhin beschlossen, Ophelia endgültig aus dem Verkehr zu ziehen... Und Ophelias Lügen im Fall HIRN hatten Racul unwissentlich noch weiter in die Hände gespielt.
Araghast zog die Dienstakte des Oberfeldwebels Ophelia Ziegenberger zu sich heran und entnahm ihr das Schreiben, das ihn vor einigen Tagen erreicht hatte. Deutlich und gefasst bat Ophelia um ihre Entlassung aus dem Dienst bei der Stadtwache. In einer kurzen Antwort hatte Araghast ihr zu verstehen gegeben, dass er den Antrag berücksichtigen würde, aber er das Ende der Ermittlungen noch abwarten wollte. Ophelias Status als Wächterin konnte sich noch als nützlich erweisen.
Aber nun war alles gelaufen. Araghast nahm sich ein frisches Blatt Papier, tunkte seinen Federhalter in das Tintenfass und setzte einen letzten Eintrag in die Personalakte Ophelia Ziegenberger. Auf eigenen Wunsch zum heutigen Datum in vollen Ehren aus der Stadtwache von Ankh-Morpork entlassen. Unterzeichnet Araghast Breguyar, Kommandeur.
Unwillkürlich dachte er daran, dass er mit dieser Unterschrift Ophelia Ziegenberger komplett in ihr Schicksal als persönlicher Besitz Mina von Nachtschattens übergab. Auch wenn er Mina insofern vertraute, dass sie diesen Status dazu nutzen wollte, Ophelias Interessen zu vertreten - Das bloße Konzept, dass Personen mit Leib und Leben anderen Personen gehören sollten widerte ihn zutiefst an. Vampire mochten es anders nennen, aber letztendlich war es nur eine in rückständigen Regionen Überwalds praktizierte, in Ankh-Morpork eigentlich obsolete Form der Sklaverei.
Daran hatte sicherlich auch Rach Flanellfuß zu knabbern - Seine Verlobte war nun offiziell eine Art Sklavin. Wieder glitt die unterste Schreibtischschublade auf und ein weiterer Schluck Rum rann die Kehle des Kommandeurs herunter. Nach der ganzen Rettungsgeschichte war er sich nicht mehr so sicher, was er von Rach Flanellfuß halten sollte. Einerseits war der Inspektor nach wie vor dafür verantwortlich, welches Bild über die Effizienz der Wache letztendlich bei Lord Vetinari landete. Andererseits - wenn etwas ihn davon überzeugen konnte, dass die Wache im Zweifelsfall tun konnte, was getan werden musste, dann war es Ophelias Rettung. Wenn es etwas an Rach Flanellfuß gab, was von Grund auf ehrlich war, dann war es seine Liebe zu Ophelia Ziegenberger. Etwas, über das Nyria durch Zufall gestolpert war, weil sie bei einer zum Spaß abgeschlossenen Wette nicht locker lassen konnte. Sie hatte erkannt, dass der Inspektor es ernst meinte und entgegen all ihrer Vorurteile ihm gegenüber spontan beschlossen, ihm zu helfen.
Araghast wünschte dem Paar alles Gute für die gemeinsame Zukunft. Wenn eine Ehe mit dem Inspektor Ophelia glücklich machte, war es ihnen von Herzen gegönnt. Araghasts Blick wanderte zu der Ikonographie von Leonata, die auf seinem Schreibtisch stand. Auch der Weg zu seiner eigenen Eheschließung war nicht gerade glatt gelaufen. Ganz im Gegenteil. Jeden Schritt hatten sie sich erkämpfen müssen, ganz zu schweigen vom Hochzeitstag selbst, als der Hochzeitszeremonie noch eine ungeplante Schlacht in den Fluren des Patrizierpalasts vorausgegangen war...
Nein, nach all dem, was sie durchgemacht hatten, hatten Inspektor Flanellfuß und Ophelia Ziegenberger eine ungestörte Hochzeit verdient. Irgendein glückliches Ende musste diese ganze verdammte Geschichte ja haben.
Aber der Inspektor musste im Auge behalten werden. Sein Beitrag zum Rettungszirkel hatte gezeigt, dass er weitaus mehr als nur der einfache Palastbeamte war, für den er sich ausgab. Rach Flanellfuß kannte sich sehr gut mit Assassinentechniken aus und hatte über seine Schwester und seinen Freund Jules ausgezeichnete Kontakte zur Gilde. Auch wenn Araghast eigentlich nicht viel von der Idee von lizenzierten Meuchlern hielt - Die beiden Assassinen hatten sich bei der Rettung der beiden Entführten als außerordentlich nützlich erwiesen. Das Gift, das Jules Ledoux aufwändig aus Klatsch beschafft hatte, hatte am Ende den entscheidenden Unterschied gemacht.
Zumindest den entscheidenden Unterschied, was Racul von Ankh betraf. Den anderen entscheidenden Unterschied, den was das Erledigen von Sebastian von und zu Perez betraf, hatten sie der zweiten entführten Wächterin zu verdanken. Feldwebel Magane Schneyderin, nun offiziell wieder verheiratete Magane Schnitzer. Nach ihrer Entführung hatte sie unter erheblichem persönlichem Einsatz, dessen Tragweite bisher nur zu erahnen war, das Machtgefüge in Raculs Umfeld unterwandert und sich mit einem Püschopathen auseinandergesetzt, nur um im richtigen Moment zugunsten des Einsatztrupps zuzuschlagen.
Während ihrer Gefangenschaft war der Feldwebel wirklich über sich selbst herausgewachsen und hatte diejenige Magane, die vor vielen Jahren ohne Nachnamen und mit einem Haufen Schwierigkeiten im Gepäck zur Wache gekommen war, endgültig in die ferne Vergangenheit befördert.

Es war der zweite Tag nach dem Rettungseinsatz gewesen. Der Tag an dem die Ermittlungsroutine nach der offiziellen Untersuchungshaft des mutmaßlichen Täters namens Racul der Dritte von Ankh endgültig ihren Lauf nahm. Der Tag, an dem sich der Püschologe dank seines unschlagbaren Rangs dazu bereit erklärt hatte, die Aussage der wohl wichtigsten Zeugin aufzunehmen, da sein immer noch offizieller Schüler mit der Leitung der allgemeinen Ermittlungen mehr als genug zu tun hatte.
Und so hatte sich Araghast am frühen Nachmittag zum Haus der Familie Wechter aufgemacht. Nach Vorzeigen seiner Dienstmarke war er vom Besitzer des Schusswaffengeschäfts im Erdgeschoss in eine abgeteilte Wohnung geleitet worden.
Magane empfing ihn in einem Meer aus Kräutern und Araghast musste sich beherrschen, mit seiner Miene nicht zu verraten, wie sehr ihn ihr Aussehen erschreckte. Der Feldwebel war totenbleich und ausgemergelt und eine Spur deutlicher Bissmale lief ihren Hals hinab um schließlich im Ausschnitt ihres schlichten, dunkelblauen Kleides zu verschwinden.
Die Begrüßung war förmlich, doch als Araghast schließlich mit einer Tasse äußerst gut schmeckenden Tees auf einem Stuhl saß, kam das Gespräch ins Fließen. Trotz ihrer offensichtlichen Mitgenommenheit hielt sich der Feldwebel aufrecht und der Blick aus ihren Augen war wach und aufmerksam. Araghast berichtete ihr, was während ihrer Abwesenheit passiert war, und dass er eine Aussage von ihr brauchte, die zwar inhaltlich korrekt war, aber die Kollegen aus dem Spiel ließ.
Und sie gab ihm genau das. Von der Beschreibung des Straßenjungen, den Sebastian nach ihrer Entführung so brutal einfach entsorgt hatte, bis hin zu ihrer Befreiung. Da der Vampir kurz vorher ausgiebig von ihr getrunken hatte, war sie zum Zeitpunkt ihrer Rettung zu weggetreten gewesen um sich an Details erinnern zu können. Es kam zu einem chaotischen Kampf. Sebastian schleifte sie mit sich. Ein Pflock traf ihn, er zerfiel zu Staub und sie stürzte zu Boden. Sie wurde aufgehoben. Jemand trug sie durch dunkle Gänge und zwischenzeitlich hatte sie das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Und als sie ihre Sinne wieder beisammen hatte, befand sie sich plötzlich im Fräuleininstitut, gemeinsam mit Ophelia.
Über alles, was nicht relevant für den Fall war, verlor Magane jedoch kein Wort und Araghast ahnte, dass sie derzeit auch nicht bereit war, darüber zu sprechen.
"Hast du die Asche?" erkundigte er sich stattdessen, nachdem die Aufnahme der offiziellen Aussage beendet war.
"Sie ist sicher verstaut." Ihr Blick war geradezu grimmig.
Araghast nickte zustimmend.
"Trotzdem, beizeiten sollte die Asche noch endgültig unschädlich gemacht werden." merkte er an. "Sicher ist sicher."
"Ja..." Sie sah ihn an. "Ich habe eh nur noch die Hälfte. Die andere Hälfte hat der Inspektor mitgenommen."
"Keine schlechte Idee, die Asche zu trennen." Araghast war sich nicht sicher, welche Mindestmenge seiner Asche benötigt wurde um einen Vampir wiederzuerwecken, aber solange die Hälfte fehlte, war es bestimmt längst nicht so einfach.
"Eine Sache wäre da noch, Sör."
"Ja?" Araghast gab es auf, über Vampirasche zu sinnieren und wendete sich wieder der Gegenwart zu.
"Ich führe seit einiger Zeit einen neuen Nachnamen und würde ihn gern auch in meine Personalakte eintragen lassen."
Araghast war überrascht. Er hätte mit etwas ganz anderem gerechnet.
"Das sollte kein Problem sein." erklärte er. "Wenn du mir durch ein amtliches Dokument nachweisen kannst, dass du nun offiziell diesen Namen führst, kann ich das heute noch ändern."
Der Feldwebel stand auf, nahm eine Dokumentenmappe aus einem Regal und reichte dem Kommandeur ein Blatt aus edlem Büttenpapier.
Araghast überflog die Urkunde. Sie bestätigte Maganes Eheschließung mit einem gewissen David Schnitzer und war in der morporkanischen Botschaft in Omnien ausgestellt worden. Wie Magane dazu kam, in Omnien zu heiraten und bisher niemandem davon etwas zu erzählen, war bestimmt eine interessante Geschichte, aber sie ging Araghast nichts an. Das Dokument sah jedenfalls echt aus und allein darauf kam es an.
"Also von nun an Feldwebel Schnitzer." sagte er und reichte ihr die Urkunde zurück.


Magane hatte sich mit metaphorischen Händen und Füßen dagegen gewehrt, Erholungsurlaub zu nehmen und nur mit Mühe hatte er ihr zumindest ein paar Tage aufgedrängt mit dem Kompromiss, dass sie in nächster Zeit arbeiteten durfte, wann sie wollte.
Seitdem schien sie hauptsächlich nachts zu arbeiten. Dafür sprach, dass die Arbeit zwar erledigt wurde, der Feldwebel selbst aber während der normalen Dienstzeiten so gut wie nie anzutreffen war. Wenn sie die Tage dazu nutzte um damit fertig zu werden, was Sebastian ihr angetan hatte, um so besser.
Sebastian von Perez. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte Araghast nur zu gern einige der kreativeren Foltergeräte aus dem Keller des Patrizierpalastes an ihm ausprobiert. Ein paar Tage nach Ermittlungsbeginn hatte Kolumbini ein unschuldig wirkendes Notizbuch im Kommandeursbüro vorbeigebracht, das die gesamte abrundtiefe Monstrosität des verdammten Blutsaugers ans Tageslicht gebracht hatte. Minutiös wie Raistan, wenn dieser seine magischen Experimente protokollierte, hatte Sebastian notiert, welchen mentalen Grausamkeiten er Ophelia ausgesetzt hatte und wie ihre Reaktionen darauf ausgefallen waren. Araghast hatte eine ganze Flasche Rum gebraucht um die Lektüre durchzustehen und er war sich nicht sicher, ob ihn die Erinnerungen an diese so kaltblütig aufgelisteten seelischen Qualen jemals wieder loslassen würden. Magane wurde mit keinem Wort erwähnt, aber Araghast vermutete, dass Sebastian zumindest einige seiner geistigen Foltermethoden auch an ihr ausprobiert hatte. Aber sie hatte ihm zu verstehen gegeben, dass sie vorerst allein mit ihren Erinnerungen an ihre Gefangenschaft fertig werden wollte und mehr als sie in ihren Wünschen nach ungewöhnlichen Arbeitszeiten gewähren zu lassen konnte er in diesem Fall nicht tun.
Was Magane wohl mit Sebastians Vermögen anstellen würde, das in Araghast Augen eine mehr als gerechte Entschädigung für all das, was sie ertragen musste, darstellte? Der Vertrag zwischen den beiden ließ sich eindeutig so auslegen, dass sie seine Alleinerbin war und Araghast hatte sich diese Auslegung bei der Anwaltsgilde schriftlich bestätigen lassen. Überhaupt hatte er in letzter Zeit für seinen Geschmack viel zu viel Kontakt mit den Rechtsverdrehern gehabt, aber dass sie ihn in ihrem Archiv nach Präzedenzfällen für die Begnadigung von Massenmördern hatten suchen lassen, rechnete er ihnen hoch an.
Araghast seufzte tief und gönnte sich einen weiteren Schluck Rum. Racul so richtig dran zu kriegen war nicht der einzige Grund gewesen, weshalb er in den letzten Wochen keine ruhige Minute gehabt hatte. Die Situation war geradezu paradox gewesen. Je mehr Verbrechen sie Racul anhängen konnten, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass der Patrizier ihn zum Tode verurteilte. Und wenn der Alte hingerichtet wurde, starb auch Ophelia Ziegenberger und alle ihre Bemühungen, sie zu retten, wären letztendlich vergeblich gewesen. Das Problem hatte Araghast schier zerrissen. Racul bei den Anschuldigungen zu schonen, kam auf gar keinen Fall in Frage. Und so hatte der Kommandeur nächtelang Gerichtsakten gewälzt, sich durch staubige Archive gewühlt, sich mit Jargon Schneidgut beraten und eine sehr unangenehme halbe Stunde in Herr Schrägs Büro verbracht.
Am Ende hatte es nur eine Lösung gegeben und der Umstand, dass Racul von Ankh sowohl für jeden Umstehenden eine Gefahr war, als auch jeglichen Rechtsbeistand verweigerte, war ihm dabei zu Hilfe gekommen. In speziellen Fällen konnte ein Urteil auch ohne Gerichtsverfahren durch den Patrizier gefällt werden.
Was im Klartext bedeutete, dass es nun allein an Lord Vetinari gelegen hatte, ob Ophelia leben durfte oder nicht, und er, Araghast Breguyar, derjenige gewesen war, der vor dem Patrizier die Rolle des Anklägers übernommen hatte.

Im Laufe der Jahre hatte Araghast Breguyar sowohl das Vorzimmer mit seiner entnervend unregelmäßig tickenden Uhr als auch das Rechteckige Büro selbst zu hassen gelernt. Lord Vetinari verstand es wie kein anderer, seine Besucher mürbe zu machen und Araghast hegte den Verdacht, dass der Patrizier sich bei ihm mittlerweile besondere Mühe gab. Nur zu gern hätte er in diesem Fall Romulus vorgeschickt, immerhin war dieser offizieller Ermittlungsleiter im Fall 'Grüngansweg', aber Lord Vetinari hatte im Fall des Abschlusses der Ermittlungen explizit nach dem Kommandeur persönlich verlangt. Araghast hatte schon eine böse Ahnung, worauf es letztendlich hinauslief. Selbstverständlich wusste der Patrizier über die illegalen Aktivitäten des Rettungszirkels Bescheid und wollte nun prüfen, wie wasserdicht die offizielle, konstruierte Beweisführung war. Und zu dieser Prüfung gehörte, herauszufinden, wie gut Araghast angesichts eines offensichtlichen Lügengeflechts darin war, nicht die Nerven zu verlieren. Während die Uhr im Vorzimmer scheinbar willkürlich über ihre Sekunden stolperte, ging Araghast zum letzten Mal im Kopf die Beweisführung durch. Was das betraf, konnte er sich fast vollständig an die Wahrheit halten, denn die Beweislast gegen Racul von Ankh und Sebastian von und zu Perez war geradezu erdrückend. Aufgrund ihrer mentalen Verbindung zu Racul war Ophelia Ziegenberger unmittelbare Zeugin geworden, wie Racul von Ankh etwa dreißig junge Frauen vorsätzlich tötete, indem er von ihrem Blut trank bis ihr Kreislauf unwiderruflich versagte. Die meisten dieser Fälle ließen sich erfolgreich mit ungelösten Vermisstenmeldungen aus dem Wachearchiv abgleichen. Ein von Kolumbini durchgeführter Abrieb eines in der Eingangshalle des Anwesens gefundenen Schreibblocks hatte die Wache auf die Spur eines Mannes geführt, der zugab, die Leichen gegen Geld und Drohungen gegen seine Familie in den Opfergruben hinter dem Tempel der Geringen Götter entsorgt zu haben. Letztendlich war der Modus Operandi wahrscheinlich schon seit unzähligen Jahren immer der gleiche gewesen. Sebastian schaffte die durchweg jungen, weiblichen und jungfräulichen Opfer heran, Racul tötete sie durch seinen Biss, und Sebastian kümmerte sich um das anschließende Verschwinden der Leiche. Araghast wollte gar nicht anfangen zu spekulieren, wie viele Vermisstenfälle vor Ophelia Ziegenbergers Erinnerungen noch auf das Konto der beiden Drecksäcke gingen. Die zusätzlichen Anklagepunkte namens Entführung und Folter klangen auf dem Papier dagegen schon beinahe banal.
"Der Patrizier erwartet dich."
Unbemerkt von Araghast war Drumknott an ihn herangetreten. Wie schaffte der Persönliche Sekretär es bloß, sich so lautlos an ihn heranzuschleichen?
Der Kommandeur brummte etwas Unverständliches und wappnete sich innerlich für das Unvermeidbare, als er das Rechteckige Büro betrat.
"Ah, Kommandeur Breguyar." begrüßte ihn der Patrizier, der wie fast immer hinter seinem mit wichtig aussehenden Papieren bedeckten Schreibtisch saß. "Wie schön, dass du meiner Einladung so schnell Folge geleistet hast."
"Herr." Araghast salutierte und dachte sehnsüchtig an den gut gefüllten Flachmann, der in der Innentasche seiner Uniformjacke steckte. Nur zu gern hätte er sich vor der Audienz ausgiebig daraus gestärkt.
Lord Vetinari lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und lehnte die Fingerspitzen aneinander. "Nun, ich bin gespannt, welche Ergebnisse die Ermittlungen im Fall Racul Alexeij Sargolan Pada Ivanowitsch der Dritte von Ankh gebracht haben. Du magst mit deinem Bericht beginnen."
Und Araghast begann zu erzählen, während die eisblauen Augen des Patriziers ihn erbarmungslos fixierten und er selbst sich große Mühe gab, woanders hinzusehen. Was ihn zusehends irritierte war die Tatsache, dass Lord Vetinari keinerlei Fragen zu seinen Ausführungen zu haben schien. Er schien die Worte des Kommandeurs wie ein unerbittlicher Meeresstrudel in sich aufzusaugen und zu verschlucken. Araghast lieferte immer weitere Details der einzelnen Morde. Der Patrizier schwieg. Araghast erzählte von dem Buch, in dem Sebastian seine mentalen Foltermethoden systematisch festgehalten hatte. Lord Vetinari schwieg. Selbst nachdem der Kommandeur jeden noch so kleinen Fitzel Beweismaterial erwähnt hatte, der ihm einfiel, schwieg der Patrizier immer noch. Wenn sein bohrender, eisiger Blick nicht gewesen wäre, er hätte auch genauso gut schlafen können.
"Das wäre dann alles, Herr." beendete Araghast ziemlich lahm und mit seinen Nerven am Ende den Bericht. Ein Königreich für einen Schluck aus dem Flachmann...
"Sehr interessant, Kommandeur." antwortete Lord Vetinari mit einem jovialen Lächeln, das Araghast noch mehr gruselte als das steinerne Schweigen von eben. "Aber noch viel interessanter wäre eigentlich das, was du mir nicht erzählt hast. Zum Beispiel, wie es überhaupt dazu kam, dass die Wache so gründliche Ermittlungen im Fall einer simplen, offiziell erscheinenden Inhumierung angestellt hat. Und wie ganz zufällig die seit langem verschollene Wächterin Ophelia Ziegenberger von den Eindringlingen gerettet wurde."
Araghast gab sich größte Mühe, eine ausdruckslose Miene zu bewahren. Er hatte mit einem solchen Haken gerechnet.
"Das war in der Tat ein äußerst glücklicher Zufall, Herr." erklärte er und beließ es dabei.
Lord Vetinari beugte sich vor und Araghast fühlte sich an ein lauerndes Raubtier erinnert. "Wenn ich richtig informiert bin, ist die Fahndung nach den Schuldigen für diese letztendlich doch unlizenzierte Inhumierung im Sand verlaufen?" erkundigte er sich.
"Das stimmt leider, Herr." Araghast stand so stramm wie er nur konnte. Er verstand, was von ihm verlangt wurde. "So leid es mir tut, Herr - die Quittung war eine derart meisterhafte Fälschung, dass zum Zeitpunkt ihrer Enttarnung die Spur der unlizenzierten Assassinen schon kalt war." Insgeheim dankte Araghast Frieder Meißelschnell, dem verschwiegenen Fälscher, bei dem die DOGs ihr Arbeitsmaterial bezogen. Es hatte zwei Tage gedauert bis die nach bestem Gewissen arbeitenden SuSis die Quittung als Fälschung erkannt hatten.
"Das ist natürlich bedauerlich." Der Patrizier hob eine Augenbraue. "Aber angesichts der ansonsten lückenlosen Beweisführung bin ich bereit, darüber hinwegzusehen. Dieses Mal. Ich hoffe natürlich, dass derartige Schlamperei bei einem so wichtigen Fall in Zukunft nicht mehr vorkommen wird."
"Das wird es nicht, Herr." beeilte sich Araghast zu versichern.
"Nun dann." Lord Vetinari betrachtete ausführlich seine Fingernägel. "Gibt es sonst noch etwas, was du deinen Ausführungen hinzufügen willst oder war es das, Kommandeur?"
Araghast räusperte sich um Zeit zu gewinnen, seine Gedanken zu sammeln. Nun begann der Teil des Gesprächs gegen den die Beweisführung ein wahres Kinderspiel gewesen war. Der Teil vor dem er sich am meisten fürchtete. Der Teil bei dem es um Leben und Tod ging.
"Eine Sache gibt es da noch, Herr."
"Ja, Kommandeur?" Die Augenbraue des Patriziers wanderte noch ein Stück höher.
"Es geht um Ophelia Ziegenberger, Herr." Araghast wusste, dass Lord Vetinari es verabscheute, wenn jemand lange um den heißen Brei herumredete. "Ihr Leben und das von Racul von Ankh sind aneinander gekoppelt." Er atmete tief durch. "Ich bin der letzte, der diesen Serienmörder vor seiner verdienten Strafe retten wollen würde, aber Ophelia Ziegenberger ist unschuldig. Was auch immer du als Bestrafung planst, Herr, sie sollte verschont werden."
"Soso, sollte sie das." Die Augenbraue verharrte in ihrer Position. "Und warum ergreift du plötzlich so entschieden Partei für eine Person bei der du, wenn ich mich recht erinnere, der Meinung warst, dass sie, ich zitiere wörtlich, nun endlich nicht mehr dein Problem ist?"
Araghast knirschte mit den Zähnen. Wie immer hatte Lord Vetinari zielsicher seinen wundesten Punkt getroffen. Innerlich sandte der Kommandeur ein Stoßgebet an den Gott der Wächter, dass seine Strategie aufgehen würde.
"Bei allem Respekt, Herr, Oberfeldwebel Ophelia Ziegenberger ist immer noch Mitglied der Stadtwache von Ankh-Morpork und ihr Wohlergehen fällt somit, da sie wieder verfügbar ist, unter meine Verantwortung." erklärte er etwas schärfer als beabsichtigt. "Und wenn jemand einen meiner Wächter unschuldig ermordet, dann kann sich die betreffende Person verdammt noch mal auf Ärger gefasst machen." Er sah Lord Vetinari ins Gesicht. "Herr. Wenn es so weit kommt, dass ich die Ermordung einem meiner Wächter einfach so hinnehmen soll - dann kann ich es nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren, weiterhin diese Schulterklappen zu tragen."
Araghast atmete tief durch. Er hatte alles auf eine Karte gesetzt. Hoffentlich hatte er Lord Vetinari richtig eingeschätzt...
"Ich hoffe doch sehr, dass es dazu nicht kommen wird." bemerkte der Patrizier nach einer enervierenden Pause trocken. "Aber wie es aussieht, bleibt mir kaum eine andere Wahl, als auf eine Hinrichtung zu bestehen. Es gibt kein Gefängnis, das Racul von Ankh auf Dauer halten kann. Und seine... Art zu speisen ist, wie du vorhin während der Beweisführung schon äußerst gründlich ausführtest, für den Frieden in der Stadt untragbar." Wieder dieses raubtierhafte Lächeln. "Es sei denn... Du hast eine andere Idee, Kommandeur?"
"Ewige Verbannung aus Ankh-Morpork, Herr." antwortete Araghast sofort. Er hatte viele Stunden und viele Schlucke Rum damit verbracht, sich seine Argumente, mit denen er um Ophelia Ziegenbergers Leben bitten wollte, zurechtzulegen. Er war es ihr schuldig, diese so gut wie er nur konnte zu liefern. Ihr und dem Rettungtrupp, der Leben und Karriere dafür riskiert hatte, sie aus ihrer Gefangenschaft zu befreien.
"Da sein Vermögen sowieso konfisziert wird, egal ob er nun hingerichtet wird oder nicht - Racul von Ankh hat keine Ahnung von den modernen Zeiten und wird von ihnen überrollt werden. Er muss mittellos nach Überwald zurückkriechen und versuchen in einer Welt Fuß zu fassen, die er nicht versteht. Dazu weiß er genau, dass seine Uhr tickt. Egal was er tut, irgendwann wird Ophelia Ziegenberger eines natürlichen Todes sterben und das war es dann auch unwiderruflich für ihn. Er wird es nicht kommen sehen und nichts dagegen unternehmen können. Für jemanden, der sich so lange Zeit seiner Unsterblichkeit sicher war, ist das eine ganz besonders perfide Art der Strafe."
"Deine Gedankengänge sind interessant, Kommandeur." bemerkte Lord Vetinari. "So sehr es dich Raculs Taten anwidern, du scheinst selbst eine gewisse Neigung zur Grausamkeit zu haben."
"Racul von Ankh hat es verdient, nach allem was er angerichtet hat." antwortete ihm Araghast knapp und sprach damit insgeheim für jeden Wächter, der gelegentlich das dringende Bedürfnis verspürte, sich den Abschaum, den er in die Zellen steckte, noch mal gründlich mit den Fäusten vorzuknöpfen. Tief in seinem Inneren wünschten sie sich doch alle, dass so mancher Verbrecher lange und qualvoll für das bezahlte, was er getan hatte...
"Wusstest du eigentlich, dass du nicht der erste bist, der mich darum bittet, von einer Hinrichtung des Angeklagten abzusehen und eine alternative Strafe in Betracht zu ziehen?" riss Lord Vetinari ihn aus seinen Gedanken.
"Nein, Herr." Araghast konnte sich jedoch schon denken, um wen es sich gehandelt hatte. Immerhin hatte Inspektor Flanellfuß freien Zugang zum Palast.
Der Patrizier lächelte gönnerhaft.
"Wenn das dann alles war, möchte ich dich auch nicht länger aufhalten, Kommandeur. Du hast sicherlich viel zu tun damit, die Fallakte zusammenzustellen. Es gibt nur noch eine Kleinigkeit zu erledigen."
Würdevoll erhob sich Lord Vetinari aus seinem Schreibtischstuhl.
"Da der Angeklagte sich weigert, selbst eine Aussage zu machen oder sein Recht auf einen Anwalt wahrzunehmen, erkläre ich Racul Alexeij Sargolan Pada Ivanowitsch den Dritten von Ankh hiermit in Abwesenheit Kraft meines Amtes als Patrizier der Stadt Ankh-Morpork aufgrund erdrückender Indizienbeweise und belastender Zeugenaussagen für schuldig in den Anklagepunkten vielfacher Mord, Beihilfe zu Entführung, Freiheitsberaubung und Folter. Sämtliches Vermögen in Besitz des Schuldigen wird beschlagnahmt und in die Stadtkasse überführt. Der Schuldige selbst wird für den Rest seiner gesamten Existenz aus der Stadt Ankh-Morpork verbannt. Zuwiderhandlung gegen diesen Bann wird mit dem Tod bestraft."
Araghast war froh, dass niemand die Gesteinslawine hören konnte, die ihm vom Herzen fiel.
"Danke, Herr." sagte er und salutierte.


Das war es gewesen. Ophelia Ziegenberger war gerettet. Zumindest, solange sich Racul benahm.
Nachdenklich trank Araghast einen Schluck Rum. Es war so typisch Lord Vetinari, sich eine Hintertür offen zu halten und dadurch klar zu stellen, dass seine Gnade nicht unendlich war. Ophelias Leben hing nun langfristig davon ab, ob Racul seine Strafe endgültig akzeptierte und Ankh-Morpork fern blieb. Araghast konnte sich nur zu gut vorstellen, welches Arrangement der Patrizier getroffen hatte. Ein ruhender Kontrakt mit der Assassinengilde, ausgestellt auf Ophelia Ziegenberger, zu aktivieren falls es eindeutige Beweise dafür gab, dass Racul von Ankh wieder in der Stadt aktiv wurde.
Pünktlich um neun Uhr am darauf folgenden Morgen war das vom Patrizier unterschriebene und gesiegelte Urteil im Wachhaus am Pseudopolisplatz eingetroffen und Araghast war sogleich zur Tat geschritten. Unter dem Kommando von Kanndra und Rogi Feinstich wurde eine Transport-Taskforce zusammengestellt, die Racul unter Ausnutzung sämtlicher nichttödlicher Hilfsmittel zum Wachhaus schaffen sollte. Gleichzeitig hatte Araghast eine Warnung an sämtliche nicht am Transport beteiligten Mitglieder des Rettungszirkels herausgegeben, mit ihren Familien für die Nacht untertauchen. Falls Racul trotz aller deutlichen Drohungen, was weiteres Fehlverhalten für Konsequenzen hätte, auf dumme Gedanken kam, sollte er zumindest nicht das Glück haben, jemanden daheim anzutreffen.
Nachdem sämtliche nur möglichen Sicherheitsmaßnahmen getroffen worden waren, war nur noch eines geblieben: Zum Gott der Wächter beten, dass alles gut gehen würde.

Sowohl draußen auf dem Pseudopolisplatz als auch in Araghasts Büro herrschte Dunkelheit. Das Wachhaus war bis auf eine absolute Notbesetzung geräumt und diese wenigen hatten den Befehl bekommen, sich vom Treppenhaus und den Fluren fern zu halten. Leonata hatte Antonia genommen und war mit ihr untergetaucht. Araghast hatte sie darum gebeten, ihm nicht zu erzählen, wohin sie ging. Raistan hatte sich mit dem Schutzkreis, der sich unter einem Teppich um Araghasts Schreibtischstuhl herum befand, größte Mühe gegeben. und Araghast war sich sicher, dass die Magie zumindest für die Zeit des Gesprächs ihren Zweck erfüllen würde.
Trotzdem konnte keine Sicherheitmaßnahme der Scheibenwelt verhindern, dass der Kommandeur nervös war. In wenigen Minuten befand er sich Angesicht zu Angesicht mit einem der grausamsten und skrupellosesten Verbrecher den Jahrhunderts. Und dank seiner Spezies und seines Alters war Racul der Dritte von Ankh, was seine Gefährlichkeit betraf, vom gleichen Kaliber wie ein DING aus den Kerkerdimensionen.
"Zeig dem alten moderigen Mistkerl, wo sein Platz ist, Bregs." waren Raistans letzte Worte gewesen, bevor er das Zimmer verlassen hatte. Das war über eine halbe Stunde her gewesen. Seitdem er gewissermaßen sein eigener Gefangener im Schutzkreis war, kam Araghast nicht einmal mehr an die unterste Schreibtischschublade heran. Dabei hätte er seinen Seelentröster gerade wirklich dringend nötig. Der Kommandeur biss die Zähne zusammen und ging zum wohl hundertsten Mal den Plan für den Abend durch. Wenn alles so lief wie geplant, räumte das Sonderkommando 'Konfiszierung' unter Braggaschs und Kolumbinis Leitung gerade die unter dem Sarkophag verborgene Schatzkammer leer, deren Existenz ihnen Ophelia Ziegenberger enthüllt hatte. Die Stadtkasse und ein gewisser Feldwebel würden sich freuen.
Unten schlug eine Tür zu. Araghast atmete tief durch, lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und schlug die Beine übereinander. Was dort gleich durch seine Bürotür spaziert kam, verkörperte alles, was er aus tiefster Seele verachtete. An diesem Gedanken musste er sich festhalten. Seinen Hass auf diese eine Spezies kanalisieren. Vampire waren Abschaum. Dreck. Widerliche Parasiten, die alles mit den Füßen traten woran er glaubte. Er war mit einem DING aus den Kerkerdimensionen fertig geworden. Also würde er auch mit einem verdammten B-Wort-Sauger fertig werden.
Es gab keine Vorwarnung. Keine Schritte draußen auf dem Gang, kein Anklopfen. Mit einem Knarren, das Rogi Feinstich auch nach tagelanger Türangelstimmung nicht besser hätte hinbekommen, schwang die Tür des Kommandeursbüros auf und eine schattige Gestalt trat ein, mit jedem Zentimeter seines Körpers eine beleidigte Würde ausstrahlend die ihresgleichen suchte. Selbst durch die Magie des Schutzkreises konnte Araghast die Ausläufer der geballten Wut erahnen, die der Uralte Vampir mit sich trug.
"Racul Alexeij Sargolan Pada Ivanowitsch de Dritte von Ankh." grüßte er förmlich.
Ein vernichtender Blick aus glühenden Augen traf ihn.
"Araghast Breguyar von Canis Maior Alpha. Kommandeur der Stadtwache von Ankh-Morpork." Die Worte klangen, als würde der Alte ein besonders widerwärtiges Insekt ansprechen. "Ein nichtswürdiges Halbblut, das es nötig hat, sich hinter dem Rockzipfel von Zauberei zu verstecken."
"Nur eine logische Sicherheitsmaßnahme, Herr von Ankh." antwortete ihm Araghast knapp. "Niemand, der auch nur halbwegs bei Verstand ist, würde sich mit einem gemeingefährlichen Schwerverbrecher im gleichen Raum aufhalten, ohne gewisse Maßnahmen zum Selbstschutz zu ergreifen."
Der Vampir schnaubte verächtlich durch die Nase. Jetzt, wo er direkt auf der anderen Seite des Schreibtischs stand, konnte Araghast Einzelheiten erkennen. Raistan und Nyria hatten recht gehabt. Der Alte war nicht nur von seiner Einstellung, sondern auch optisch ein Relikt längst vergangener Zeiten. Sein verwüstetes Gesicht hätte sich hervorragend für das Titelbild eines Eddie Wollas-Romans geeignet. Seinen Hass und seine Verachtung für alles und jeden trug er wie einen schattigen Umhang um sich gehüllt.
Das, was dort dem Kommandeur stand, war kein denkendes, fühlendes Wesen. Racul der Dritte von Ankh war ein Monster durch und durch.
"Seine Exzellenz der Patrizier hat alle Beweise gesichtet und sein Urteil gefällt." kam Araghast zum Punkt. Je schneller er dieses widerliche Wesen wieder aus seinem Büro und damit endlich aus der Stadt bekam, desto besser. Die bloße Präsenz des Alten erinnerte ihn an Fingernägel, die genüsslich über eine Schultafel gezogen wurden.
Ein weiteres verächtliches Schnauben und glühende Wut in den Augen des Vampirs.
"Reingelegt habt ihr mich alle!" zischte er und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. "Aber ihr werdet alle dafür bezahlen! Bei dem kleinen Möchtegernvampir habe ich schon angefangen. Nach all den Nachtwachen, zu denen du ihn gezwungen hast, ist er so kaputt, dass er nur noch zum Wegschmeißen taugt."
Mistkerl! Dreimal verdammter Mistkerl! Am liebsten hätte Araghast einen Knüppel mit voller Wucht in diese selbst angesichts einer schweren Niederlage noch so selbstgefällige Visage geschmettert. Aber er beherrschte sich. Er wusste, dass die Nachtwachen nicht einfach gewesen waren. Aber genau dort lag Raculs großer Denkfehler. Wilhelm hatte Freunde, die sich um ihn sorgten. Freunde wie Senray Rattenfänger. Freundschaft und Leute die in schlimmen Zeiten füreinander einstanden waren ein Konzept von dem Racul von Ankh so viel verstand wie Raistan von der Kunst der Verführung. Für den Alten gab es nur eine einzige Weise der Interaktion. Zwang und Unterwerfung. Seine Belohnung war ein Assistent gewesen, der ihm immer wieder Ärger gemacht und heimlich seinen Untergang geplant hatte. Echte Loyalität ließ sich nun einmal nicht erzwingen. Letztendlich hatten Sebastian und Racul sich gegenseitig absolut verdient gehabt.
Araghast stützte langsam und genüsslich die Ellenbogen auf die Armlehnen seines Schreibtischstuhls und legte, ganz wie der Patrizier es immer tat, die Fingerspitzen aneinander. Er würde auf die gezielten Provokationen dieses widerlichen Stücks Gruftmoder nicht eingehen. Eine eisige innere Ruhe breitete sich in ihm aus. Racul der Dritte von Ankh hatte genug Leben zerstört und Unheil angerichtet. Die Sache endete hier und jetzt.
"Das Urteil lautet schuldig des Mordes in mehr als dreißig nachweisbaren Fällen sowie Beteiligung an Freiheitsberaubung und Folter." erklärte der Kommandeur kalt.
"Damit habe ich nichts zu tun!" ereiferte sich der Alte. "Sebastian hat..."
"Eigentlich ist für eine solche Verbrechensbilanz die Todesstrafe vorgesehen." unterbrach ihn Araghast ungerührt. "Aber angesichts der besonderen Umstände betreffend das Leben der Obergefreiten Ophelia Ziegenberger wird die Strafe in eine lebenslange Verbannung aus der Stadt Ankh-Morpork und die Konfiszierung sämtlicher Vermögenswerte umgewandelt."
Das Aufleuchten in den Augen des Vampirs und seine triumphierende Miene verrieten seine Gedankengänge nur zu deutlich.
"Allerdings ist die Gnade seiner Exzellenz auch nicht unendlich." fügte Araghast geradezu genüsslich hinzu. "Solltest du gegen die Auflagen der Verbannung verstoßen oder auf die Idee kommen, dich zu Racheakten hinreißen zu lassen - Dann wird Ophelia Ziegenberger sterben. Und damit auch du."
Das wütende Zischen, das zwischen den Zähnen des Vampirs hervordrang, hatte absolut nichts menschliches und erinnerte den Kommandeur an ein wildes Tier, das unwiderruflich in die Enge getrieben worden war. Araghast konnte sich denken, wie gern der Alte ihn und den gesamten Rettungszirkel in diesem Moment sowohl mental aus auch körperlich in Stücke gerissen hätte.
"Als ob ihr Weichlinge es zulassen würdet, dass Ophelia etwas geschieht." höhnte er.
Araghast biss die Zähne zusammen. Wenn Racul nur wüsste, welches Szenario er einmal in einer der dunkleren Stunden der Rettungsmission in Gedanken durchgespielt hatte. Beinahe über sich selbst erschrocken hatte er festgestellt, dass er, falls Racul seiner Familie etwas antat, mehr als bereit war, Ophelia Ziegenberger zu töten um dem Alten Vampir endgültig ein Ende zu setzen. Und Nyria würde mit großer Wahrscheinlichkeit das Gleiche tun, falls der Alte sich an Raistan vergriff. Irgendwann war der Punkt erreicht an dem der Preis für Ophelia Ziegenbergers Leben zu hoch war, um ihn anstandslos zu bezahlen.
Mit völlig ausdrucksloser Miene stützte Araghast sein Kinn auf die immer noch zusammengelegten Fingerspitzen. Sein Auge verengte sich zu einem Schlitz, als er Racul ins Visier nahm, und er legte seinen ganzen Hass auf die Vampirspezies im Allgemeinen und das Monster vor ihm im ganz Besonderen in seine Worte. Das Bild in seinem Kopf von Leonata und Antonia, bis auf den letzten Tropfen ausgetrunken auf dem Boden, ihre Leichen achtlos in die Zimmerecke geworfen wie uninteressant gewordene Puppen. Seine Hand, die sich um den so vertrauten Griff des Entermessers schloss. Ophelia Ziegenbergers schockierter Blick, als die Klinge gnadenlos auf ihren Hals herabsauste und ihren Kopf vom Körper trennte.
"Es wäre keine gute Idee, das zu riskieren, Herr von Ankh."
Kurze Unsicherheit zeichnete sich im Gesicht des Vampirs ab, gefolgt von mittlerweile verzweifelter Wut. Araghast nickte knapp. Racul hatte auch ohne die Möglichkeit, direkt in seine Seele zu blicken, verstanden, dass er nicht bluffte. Schönes Haar hatte er. Aber das hieß verdammt noch mal noch lange nicht, dass er einen guten Charakter hatte.
"Du solltest Ophelia Ziegenberger dankbar sein." bemerkte er. "Die Kopplung zwischen euch gibt dir eine Chance die du eigentlich nicht verdient hättest. Aber eben nur exakt eine."
Araghast löste seine Fingerspitzen voneinander und wies auf das Dokument, das auf der Schreibtischplatte lag.
"Dort liegt eine Abschrift des Urteils, gesiegelt und unterschrieben von Lord Vetinari höchstpersönlich."
Immer noch wütend griff Racul nach dem Blatt Papier und begann, es zu lesen. Araghast konnte sich nur zu gut vorstellen, wie der Alte nach einem Schlupfloch suchte, doch Lord Vetinari war, was seine Formulierungen betraf, auch nach Jargon Schneidguts Meinung absolut wasserdicht gewesen.
Der Kommandeur verkniff sich nur mühsam ein hämisches Lächeln.
"Wie das Dokument besagt, tritt die dort festgehaltene Strafe bei Erhalt desselbigen in Kraft. Das heißt, du hast nun auf direktem Weg die Stadt zu verlassen und dabei keinerlei weitere Verbrechen gegen die Gesetze der Städte Ankh und Morpork zu verüben. Die Konsequenzen bei Zuwiderhandlung sind die gleichen wie bei dem Verstoß gegen die übrigen Auflagen."
Der Blick der Araghast aus den glühenden Augen traf, war nur als vernichtend zu bezeichnen.
Der Kommandeur unterdrückte das Bedürfnis nach einer wegwerfende Handbewegung.
"Das war dann alles, Herr von Ankh." sagte er stattdessen. "Mögest du aus deiner zweiten Chance etwas Sinnvolles machen - auch wenn ich bezweifle, dass du sie zum Wohl der Scheibenwelt nutzen wirst." Er räusperte sich. "Du bist in diesem Haus nicht mehr erwünscht und ich widerrufe hiermit meine Einladung. Geh."
Die kommentarlose Drehung auf dem Absatz als Racul der Dritte von Ankh beim Verlassen des Kommandeursbüros die allerletzten Reste seiner Würde zusammenkratzte, war immer noch beeindruckend, das musste Araghast zähneknirschend zugeben. Nur zu gern hätte er gesehen, wie der Alte wie ein geprügelter Hund aus seinem Büro davonschlich. Aber letztendlich war es der eigentliche Sieg, der zählte. Racul hatte das offizielle Dokument, das sein Schicksal besiegelte, an sich genommen und damit das Urteil akzeptiert.
Angestrengt lauschte Araghast in die Dunkelheit. Nichtswürdiges Halbblut. Pah. Das war die völlig falsche Beleidigung gewesen. Als ob er irgendeinen Dreck auf sein vampirisches Erbe geben würde, das ihm sowieso nichts als Probleme eingebracht hatte. Was hatte Racul erwartet, wo er nicht in der Lage war, direkt auf sein Bewusstsein zugreifen zu können? Dass er sich insgeheim innerlich danach verzehrte, ein richtiger Vampir zu sein, Raculs Weltbild zu entsprechen, und weil er nur ein Halbvampir war, daran tragisch zu scheitern?
So ein Blödsinn. Wenn er jemals an etwas tragisch scheitern sollte, dann garantiert nicht daran, die Erwartungen irgendwelcher verfluchter B-Wort-Sauger nicht erfüllen zu können. Ganz im Gegenteil. Er hatte gerade erheblich dazu beigetragen, dass einem eben jener verfluchten B-Wort-Sauger soweit es nur ging die Reißzähne gezogen worden waren. Und das war etwas, worauf er und alle, die zum Erfolg des Falls 'Grüngansweg' beigetragen hatten, verdammt stolz sein konnten.
Unten im Erdgeschoss schlug die Wachhaustür ins Schloss. Araghast zählte langsam bis Hundert. Dann streckte er seinen Arm aus und steckte mit zusammengebissenen Zähnen den Schlag ein, der seinen Körper durchzuckte als er Raistans Schutzkreis durchbrach. Verdammtes vampirisches Erbe. Schwungvoll zog er die unterste Schreibtischschublade auf und holte die Flasche hervor. Feierabend.


Es war eine lange Nacht geworden, die Araghast in seinem Büro verbracht hatte. Zwar hätte er gern einen langen Spaziergang unternommen, aber angesichts der Umstände war es nicht ratsam. Hier im Wachhaus, in seinem Büro, war er sicher. Es war sein verdammtes Wachhaus und mit seinen letzten Worten an Racul hatte er dafür gesorgt, dass es dem traditionsgebundene Alten nicht so leicht fallen würde, das Wachhaus am Peudopolisplatz erneut zu betreten.
Schließlich, nachdem der größte Teil der Nacht verstrichen war, hatte der Kommandeur ein paar Stunden auf der Püscho-Kautsch geschlafen und anschließend damit begonnen, die Fallakte zusammenzustellen und unzählige Querverweise zu anderen Akten zu setzen. Nach und nach waren die Rückmeldungen der anderen Rettungstruppmitglieder eingetrudelt. Racul hatte niemandem von ihnen etwas angetan. Sie waren alle endlich frei von dem Monster, dessen Schatten sich nicht nur über Ophelia Ziegenberger gelegt hatte.
Araghast nahm ein frisches Blatt Papier und begann, den Abschlussbericht zu verfassen.

Letztendlich ließ sich der Tathergang aus diversen Indizien und Zeugenaussagen folgendermaßen rekonstruieren:
Zur Mittagsstunde hatten zwei immer noch unbekannte klatschianische Assassinen, ein Mann und eine Frau, in Begleitung einer Igorina und einer Vampirin, beide ebenfalls nicht identifizierbar, sowie einer unbekannten Anzahl weiterer Personen, in Form eines nach überwaldianischen Gesetzen korrekten Wütenden Mobs ein Anwesen im Grüngansweg gestürmt. Dieses Handeln hatte das dort angestellte Igor-Ehepaar dazu gebracht, ihren Arbeitsvertrag als beendet anzusehen und auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Unter dem Anwesen betraten die Assassinen und ihre Begleiter ein mit Fallen und Sackgassen gespicktes Tunnelsystem, setzten die Fallen außer Kraft und inhumierten erfolgreich ihre Zielperson, einen Vampir namens Sebastian von und zu Perez. Hierbei nahmen sie die Asche ihres Opfers mit und hinterließen eine Quittung der Assassinengilde von Ankh-Morpork, die sich im Nachhinein als äußerst raffinierte Fälschung herausgestellt hatte. Von Anwohnern alarmiert, nahm sich die Wache des Falls an und eine Durchsuchung des Anwesens förderte diverse Ungereimtheiten sowohl über das Inhumierungsopfer als auch den Hausherrn selbst zu Tage, sodass weitere Ermittlungen eingeleitet wurden.
Am folgenden Morgen erschien die Leiterin eines Internats für höhere Töchter am Wachetresen und gab zu Protokoll, dass am gestrigen Tag eine Personengruppe, deren Beschreibung sich mit den klatschianischen Assassinen und ihren Begleitern deckte, plötzlich aus einem der Salons aufgetaucht war und zwei äußerst erschöpfte junge Damen bei ihnen abgegeben hätte, mit der dringenden Bitte, sich um sie zu kümmern. Anschließend seien sie glücklicherweise ohne weiteren Schaden anzurichten davongezogen. Bei diesen Damen handelte es sich um den vor ein paar Wochen mutmaßlich von einem Vampir entführten Feldwebel Magane Schneyderin Schnitzer, auf die bereits Unterlagen, die im Grüngansweg gefunden worden waren, hingewiesen hatten, sowie Oberfeldwebel Ophelia Ziegenberger, die vor über einem Jahr unter bisher ungeklärten Ursachen verschwand. Ebenso fand sich im Internat ein weiterer Zugang zu dem Gängesystem unter dem Grüngansweg. Der Hausherr des Anwesens, Racul Alexeij Sargolan Pada Ivanowitsch der Dritte von Ankh, wurde unter strenger Bewachung in seiner eigenen Gruft in Untersuchungshaft genommen, während die Ermittlungen und die Aussagen Ophelia Ziegenbergers nach und nach das ganze Ausmaß der geschehenen Verbrechen ans Tageslicht brachten. Durch die Aussagen des Oberfeldwebels konnten Racul von Ankh etwa 30 Morde an jungen Frauen unmittelbar nachgewiesen werden, ebenso wie Beteiligung an Freiheitsberaubung und Folter. Sebastian von und zu Perez hatte sich ebenfalls der Freiheitsberaubung und Folter schuldig gemacht, ebenso der vielfachen Beihilfe zum Mord und zumindest zwei eigenen nachgewiesenen Morden - Ein Straßenjunge und ein Violinist, der einige Tage vor der Inhumierung von Perez' als verschwunden gemeldet worden war.
Sowohl von den Assassinen und ihren Helfern, als auch von der Asche des Inhumierungsopfers fehlen trotz aller Fahndungsbemühungen jedoch nach wie vor jede Spur. Die Wache geht mittlerweile davon aus, dass sich die Meuchler noch am Nachmittag oder Abend des Tattags auf einem Schiff in Richtung Klatsch abgesetzt hatten und dort untergetaucht waren. Die meisterhaft gefälschte Quittung hatte die Ermittler zuerst auf die falsche Spur geführt, da die Tat vorläufig als lizenziert eingestuft worden war. Weil unter dem Mob-Gefolge der Assassinen auch eine Vampirin gesichtet worden war, besteht der Verdacht, dass einer der zahlreichen überwaldianischen Vampirclans entweder noch eine Rechnung mit Sebastian von Perez offen hatte, oder, was wahrscheinlicher erscheint, Racul von Ankh eins auswischen wollte. Durch die Anheuerung der unlizenzierten Meuchler aus Klatsch wollten die Strippenzieher der Inhumierung um jedem Preis vermeiden, dass die Tat auf sie zurückfiel. Solche Hintenrum-Spielchen über mehrere Ecken sind geradezu typisch für Vampire und ihre Clanintrigen. Alteingesessene, einflussreiche Vampirclans gehören zudem zu den wenigen, die das nötige Geld und die Kontakte besitzen um ein solches, über mehrere Kontinente reichendes Profi-Unternehmen zu finanzieren. Racul von Ankh ist über tausend Jahre alt und ein püschopathischer Schwerkrimineller mit Reißzähnen. Dass er sich im Laufe seines langen Lebens auch unter seiner eigenen Spezies einige erbitterte Feinde gemacht hat, ist sehr wahrscheinlich. Vampire haben aufgrund ihrer Lebensspanne einen sehr langen Atem für Vergeltungsmaßnahmen und können sehr nachtragend sein. Wer kann schon sagen, welcher Schlossherr aus dem hintersten Überwald hier eine Jahrhunderte zurückliegende Kränkung endlich gerächt haben mochte?
Da Racul der Dritte von Ankh jegliche Aussage verweigerte und auf Verhörversuche seitens der Wache ausschließlich mit wüsten Beschimpfungen und geistigen Attacken reagierte, wurde das Urteil schließlich vom Patrizier persönlich aufgrund von Indizien und Zeugenaussagen gefällt: Racul Alexeij Sargolan Pada Ivanowitsch der Dritte von Ankh wurde in sämtlichen Anklagepunkten für schuldig befunden und mit lebenslanger Verbannung aus der Stadt bestraft, die bei Zuwiderhandlung in eine Todesstrafe umgewandelt wird. Ebenso wurden sein Anwesen und sämtliches Vermögen konfisziert und teils als Entschädigung an die Familien der Mordopfer ausgezahlt, teils der Stadt Ankh-Morpork überschrieben.
Da weder Sebastian von und zu Perez, noch seine Asche gefunden werden konnten, und es mit Feldwebel Schnitzer eine vertrauenswürdige Zeugin für seine Einäscherung gibt, wurde er offiziell für tot erklärt. Der Vertrag, der im Arbeitszimmer des Anwesens gefunden worden war, erklärt den Feldwebel rechtskräftig zur Alleinerbin seines Vermögens.


Noch ein letzter Schluck Rum. Dann versenkte Araghast den 'Akte geschlossen'-Stempel kräftiger als nötig im Stempelkissen und knallte ihn mit voller Wucht auf den Deckel der ziegelsteindicken Fallakte 'Grüngansweg'. Feine Tintenspritzer verteilten sich um den Schriftzug. Araghast nahm den Federhalter zur Hand und setzte seinen Namen, seinen Dienstrang und das Datum darunter.
"Das war's, Racul von Ankh." sagte er grimmig, als er aufstand und die Last der vergangenen Monate auf seinem Schreibtisch zurückließ. Beschwingt schritt er tiefer in sein Büro, stieß sich vom Boden ab und schwang sich mit einem akrobatischen Manöver auf den Balken. Oben angekommen griff er nach der dort aufbewahrten Flasche des sechzehnjährigen McMäck und sprang wieder nach unten. Weich abfedernd landete er neben dem Tisch der Püscho-Kautsch.
Er hatte seine Pflicht gegenüber der Stadt, Ophelia Ziegenberger und dem Rest der Wache getan. Nun war es an der Zeit, sich um sich selbst und die drei Personen zu kümmern, die ihm trotz seiner ganzen Geheimniskrämerei vorbehaltlos vertraut hatten. Nyria hatte für heute Abend eine Siegesfeier angesetzt, aber Araghast hatte nicht vor, zu erscheinen. Erstens erschien es ihm unangemessen und er wollte den Feiernden durch die Anwesenheit ihres obersten Vorgesetzten nicht den Spaß verderben. Zweitens hatte er wichtigeres zu tun.
Leonata nicht anvertrauen zu können, was gerade passierte, war mit das Schwerste an der ganzen Sache gewesen. Normalerweise verließ sich Araghast in wichtigen Dingen immer auf den Rat seiner Frau. Leonata war die einzige Person auf der ganzen Scheibenwelt vor der er keine Geheimnisse hatte. Aber dieses Mal war es anders gewesen. Allein das Wissen um Racul von Ankhs Existenz hätte tödlich sein können.
Natürlich hatte Leonata Lunte gerochen, dass etwas Großes im Anmarsch war. Intelligenzmäßig spielte sie mit Raistan in einer Liga, etwas, was Araghast nie auch nur hoffen konnte zu erreichen. Es war ein äußerst ernstes Gespräch gewesen, was an jenem Abend in der Küche stattgefunden hatte und er hatte es gehasst, es führen zu müssen, allein schon weil er es hasste, seiner Frau, dem Anker seines Lebens, gegenüber nicht ehrlich sein zu können. Aber sie hatte das getan, was auch nach langen Jahren immer noch der Grundpfeiler ihrer Liebe war. Sie hatte ihm vertraut, ohne weitere Fragen zu stellen. Genauso wie er ihr jederzeit vorbehaltlos vertrauen würde.
Heute Abend, wo die Fallakte offiziell geschlossen worden war und Racul von Ankh sich schon weit jenseits der Stadtmauern Ankh-Morporks befand, war es soweit. In der heimischen Küche und in Gesellschaft einer Flasche McMäck würden Leonata, Romulus und Fred wie versprochen endlich alle Antworten auf ihre Fragen bekommen und er konnte sich endlich die ganze Geschichte von der Seele reden. Echte Freundschaft. Das war die wahre Unterstützung, die ein Püschologe brauchte, und nicht nur er. Aufkeimende Freundschaften und Zusammenhalt waren es am Ende gewesen, was der so bunt zusammengewürfelten Wächter- und Zivilistentruppe trotz aller zwischenzeitlichen internen Querelen zum Sieg verholfen hatte. Die Rettungsaktion hatte letztendlich einen Haufen Wächter diverser Abteilungen, die vorher kaum etwas miteinander zu tun gehabt hatten, zu einem funktionierenden Trupp zusammengeschweißt.
Araghast prostete stumm mit der noch verschlossenen Whiskyflasche in den leeren Raum hinein. Er war wirklich verdammt stolz auf seine Leute.

E N D E


07.11.2017 18: 01

[1] Seiner Ansicht nach stellte es eine ungeheuerliche Vergeudung seines Talents dar, in diesem Büro vorrangig zum Erhitzen von Teewasser verwendet zu werden.

[2] Großtante väterlicherseits und rechnerisch in etwa 17ten Grades, kurz Großtante. Igors waren auf irgendeine Art immer verwandt und ob Cousine dritten Grades oder siebten Grades war dabei nicht wichtig. Erst im engsten Familienkreis um einen herum war es wirklich von Bedeutung.

[3] Das Alter eines Igors war schwer am Äußeren zu erkennen. Zumindest für jemanden, der nichts über das Lesen von Narben und Nähten verstand.

[4] Auch nach all der Zeit noch, spürte Igorina, wie ihr bei solchen Gelegenheiten die Knie weich wurden. Es gab niemanden, der ihm darin gleichkam! Und er wusste das! Die Art, wie er sich in Positur brachte, wie er ihr dabei sein Profil zeigte, sein ‚verschlagenesÂ’ Bösewichtgrinsen, das sie nie ernst nehmen konnte, sondern einfach nur anhimmeln musste! Das elegante Schwungholen, die punktgenaue Platzierung... kein einziges Mal hatte er sich bisher verschätzt!

[5] Natürlich nur im übertragenen Sinne, alles andere wäre gerade leichtsinnig gewesen

[6]  Die Falle kombinierte ihrer beider Talente und diente dazu, ungeladene Gäste schlafen zu schicken. Die Diebesgilde hatte schon offiziell Beschwerde über dieses Vorgehen eingereicht, so dass ihre Wohngemeinschaft letztlich gezwungen war, eine Plakette zu kaufen.

[7] Was im Grunde genommen mehr Zeit als das Essen beanspruchte. Schließlich mussten am Ende Hosenträger, Krawatte und Weste wieder perfekt sitzen.

[7a] Glücklichweise nicht im wörtlichen Sinne.

[9] Magane vertrat die Ãœberzeugung, dass große Frauen mit spitzen Hüten viel zu viel Zeit damit verbrachten sich zu bücken, deswegen war ihr Hexenhut quasi unbenutzt und sicher auf dem Hutständer, während ihr Kopf sich unbedeckt in der Welt herumtrieb. Es war ja auch nicht wichtig, dass man den Hut trug, es reichte völlig das richtige Auftreten zu haben.

[10] letzterer war wenigstens schon im Bett und würde sie nicht vermissen

[11] Natürlich musste die Sonne scheinen, als wenn es kein Morgen gäbe. Immerhin hatte er schon länger nicht mehr die Gelegenheit dazu bekommen, seinen Sonnenschutz zu erneuern. Ohne die elendige Creme prickelte seine Haut und spannte. Aber es ließ sich halt nicht ändern. Die Schicht noch durchstehen und danach zur Besprechung. Dann endlich nach Hause, wenigstens für einige Stunden. Das sollte ohne weitere Zwischenfälle zu schaffen sein...

[12] Ob die Wirkung in diesem Fall auch den Tatsachen entsprach, das war eine ganz andere Frage. Bei Hexen konnte man nie so genau wissen und gerade hinsichtlich des tatsächlichen Alters nur allzu leicht einer Täuschung unterliegen.

[13] Geschlossene Läden waren für Igors nie ein sonderliches Hindernis, man musste nur genügend Geld hinterlassen, um Ware und Schaden abzudecken.

[14] Was bei einem Vampir, dem diese zumindest theoretisch unbegrenzt zur Verfügung steht, schon etwas heißen will.

[15] was ihr allerdings auch so vorkam

[16] die sie nach Kräften versuchte zu ignorieren

[17] "Wie Purpur sind deine Haare, ein König liegt in den Ringeln gefangen." - "Ich gehöre meinem Geliebten und sein Herz sehnt sich nach mir." (Hab mich überzeugen lassen, die Ãœbersetzungen wenigstens in einer Fußnote mitzuliefern, das habt ihr jetzt davon.)

[18] Natürlich nicht, ohne vorher noch zwei Brotstücke an Wilhelm für jeweils ein "Aber" zu verlieren.

[19] Es gab sogar Leute, die sie aufhalten und ihre kleinen Kameradämonen eine Aufnahme malen lassen wollten, wie sie mit einem dümmlichen Grinsen und mit einem in die Luft gereckten Daumen neben den Fackelträgern standen. Dieser neue Trend im professionellen Schaulustigenwesen nannte sich "Selbstie".

[20] Nun, für Schwarzbandler eigentlich schon. Allerdings wusste sie zumindest, dass Wilhelm keiner war. Und da Senray selbst nicht immer und dauerhaft auf Fleisch verzichten wollen würde, nur weil es Vegetarier gab – warum sollte ein Vampir das anders sehen?

[21] Wobei an dieser Stelle anzumerken wäre, dass diese Behörde mit Ãœberwald in etwa ebenso viel zu tun hatte, wie ein klatschianischer Kalif mit der Morriskentänzervereinigung von Lancre. Ãœberwald war froh, wenn das "Stadtvolk" es nicht mit seinen Belangen belästigte und Ankh-Morpork war durchaus zufrieden damit, sein eigenes Süppchen weitab einer Meldungs- oder gar Rechenschaftspflicht gegenüber entfernter Speziesangehöriger zu kochen, die ja ohnehin keine Ahnung hatten, wie es in der modernen Welt zuging. Entsprechend handelten die einzelnen Institutionen weitestgehend autark und was in Ankh-Morpork geschah blieb in den allermeisten Fällen in Anhk-Morpork. Welchen Sinn hätte es auch gehabt, wenn die selbe Angelegenheit in gleich zwei Akten verstaubte?


Wörter:

Sebulon, Sohn des Samax   192
Kanndra   11906
Rogi Feinstich   13546
Rach Flanellfuß   16541
Araghast Breguyar   32511
Wilhelm Schneider   56668
Magane   59277
Senray Rattenfaenger   62504
Nyria Maior   67261
Mina von Nachtschatten   70088
Ophelia Ziegenberger   72770
 



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