Ein Abend im Eimer oder Alberichs GRUND

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von Hauptgefreite Kanndra (FROG), Hauptgefreiter Araghast Breguyar (FROG), Hauptgefreiter Valdimier van Varwald (FROG)
Online seit 06. 08. 2003
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Ein Jahr Wache - Ein Grund zum Feiern. Drei FROGs riskieren einen kleinen Rückblick

Dafür vergebene Note: 12

[Araghast Breguyar]

In jeder größeren Stadt im Multiversum gibt es eine Kneipe wie diese.
Meist befindet sie sich in einer schmierigen Gasse und ihre Existenz wird von den durchschnittlichen Bürgern der Stadt geflissentlich ignoriert. Ein Schild, von dem bereits die Farbe abblättert, schwingt an einer rostigen Kette über dem Eingang. Schummriges Licht dringt durch schmierige Fenster, deren letzter Kontakt mit einem Putzlappen und Seifenwasser bereits einige Jahre zurückliegt.
Doch diese Kneipe braucht weder Schild noch sonstige Kennzeichen ihrer Existenz um von ihrer Kundschaft gefunden zu werden. Jeden Abend kommen sie, allein oder in Gruppen, um sich mach Feierabend das eine oder andere Glas zu genehmigen und die Sorgen ihrer Arbeit zu vergessen.
In einer solchen Kneipe trinken Wächter.

Lassen wir die imaginäre Kamera die Tür durchdringen und sich langsam durch den Raum bewegen. Einige Gestalten in verschiedenen Uniformen stehen oder sitzen an Tischen, vor sich große Humpen mit Getränken.
Schließlich wendet sich die Kamera einer Nische zu, die beinahe völlig von einem massiven Holztisch ausgefüllt ist, auf dem eine einzelne Kerze trübes Licht spendet. Drei Wächter in dunkelgrünen Uniformhemden sitzen dort und unterhalten sich. Links sitzt ein bleicher Mann mit straff zurückgekämmtem schwarzem Haar und hält in einer Hand ein Glas Mineralwasser. Ein genauer Beobachter wird in der Lage sein, die kleine Narbe auf seiner Kehle zu erkennen. Ihm gegenüber sitzt ein weiterer Mann, der um einiges dürrer und jünger wirkt. Sein ebenfalls schwarzes Haar ist zu einem langen Zopf geflochten, welcher derzeit über seiner Schulter liegt. Anstelle des linken Auges trägt er eine Augenklappe. Neben ihm auf der Sitzbank liegt ein Schwert, dessen Knauf offenbar mit einem Taschentuch umwickelt worden ist. Die dritte Person entpuppt sich als junge Frau mit schokoladenfarbigem Teint. Ein goldfarbenes Amulett, welches sie an einem Band um den Hals trägt, blitzt kurz im flackernden Licht der Kerze auf.
Plötzlich hebt sie die Stimme.
"Sagt mal, wißt ihr eigentlich, welches Datum wir heute haben?" fragt sie in die Runde.

"Den ersten August." antwortete Valdimier. "Warum? Was ist denn heute?"
"Erinnert ihr euch nicht?" beschwörend sah Kanndra in die Runde. "Was war vor gut einem Jahr?"
"Der Erste August des letzten Jahres." bemerkte Araghast und leerte sein Bier.
"Du bist witzig." kommentierte Kanndra und verdrehte die Augen. "Denkt doch mal nach. Wo waren wir vor einem Jahr?"
"In der Kröselstraße." Valdimier fixierte die Kerzenflamme. "Bei den schwarzen Wänden und der Sense."
"Na bitte." triumphierte Kanndra. "Da kommen wir der Sache ja schon näher. Und wie lange waren wir vor einem Jahr schon dort?"
"Ziemlich frisch." Bregs lehnte sich zurück. "Noch richtig grün hinter den Ohren."
Plötzlich erhellte sich Valdimiers Gesicht.
"Du meinst- wir haben heute quasi unser einjähriges?" fragte er aufgeregt.
Kanndra nickte.
"Meine Güte." staunte Valdimier. "Ist es wirklich ein Jahr? Ich meine, irgendwie kommt mir GRUND schon so weit weg vor..."
"Stimmt." Araghast bedeutete dem Wirt, ihm einen Untervektor-Rum zu bringen. "Wenn man bedenkt was wir alles so erlebt haben in der kurzen Zeit. Man kanns wirklich kaum glauben. Jetzt sind wir nicht mehr grün hinter den Ohren sondern grün an ganzen Körper." Er klopfte auf den Frosch der die Brusttasche seines Hemdes zierte.
"Eben." grinste Kanndra und nahm einen tiefen Schluck aus dem mit einer Kirsche verzierten Becher, der vor ihr stand.
"Sagt mal." fragte sie plötzlich, "Wie seid ihr eigentlich zur Wache gekommen?"
"Zufall." Mit einem Lächeln nahm Bregs sein Getränk in Empfang und stellte es vor sich ab. "Ich kam als armer Wanderer aus Überwald zurück nach Ankh-Morpork und brauchte irgendwas zum Überleben. das wars eigentlich."
"Du stammst auch aus Überwald?" fragte Val erstaunt. "Das wußte ich gar nicht."
"Nicht wirklich." winkte Araghast ab. "Ich wurde dort gezeugt aber geboren wurde ich hier in Ankh-Morpork. Meine gesamte Existenz ist eh nur ein Unfall." Er grinste schief. "Jedenfalls hatte ich nicht wirklich Ahnung worauf ich mich eingelassen habe als ich der Wache beigetreten bin."
"Ich wäre beinahe in der Näherinnengilde gelandet." erklärte Kanndra. "Mein ehemaliger Freund hat mir mein Amulett gestohlen gehabt und ich habe ihn bis hierher verfolgt um es mir zurückzuholen." Sie tastete nach ihrem Hals. "Er hat mir eins über den Kopf gegeben und das erste was ich nach dem Aufwachen gesehen habe war Bregs. [1]
"Bestimmt ein Schock fürs Leben." kicherte Valdimier. "Ach ja, GRUND." seufzte er. "Ich glaube jetzt bahnt sich wieder so eine 'Weißt du noch'-Phase an."
"Zum Beispiel die Fuhsball-Scheibenmeisterschaft?" Bregs klopfte wissend gegen seine Augenklappe.
"Wir wissen, daß du das Programmheft immer noch in deinem Schreibtisch hortest." lachte Kanndra und sog an ihrem Strohhalm. "Aber ich sage euch eins- nochmal möchte ich nicht mit so vielen kampfbereiten Zwergen und Trollen in einem Stadihon eingesperrt sein."
"Mit wem denn lieber? Danisahne Sardine?" stichelte Val.
"Ach sei ruhig." Kanndra verzog das Gesicht. "Der war nur eine kurzweilige Geschmacksverirrung. [2]
"Soso." Der Vampir lächelte.
"Sagt mal." unterbrach ihn Araghast. "Kann es sein, daß wir noch mit zu den letzten Rekruten gehören die mit GRUND fertiggeworden sind bevor sie die Ausbildung verschärft haben?"
Kanndra nickte. "Sie sollen jetzt sogar richtige Ausbildung betreiben." erklärte sie. "Wenn man bedenkt was wir noch alles selbst ermitteln durften- Heute würde das gar nicht mehr erlaubt sein."
"Eben." stimmte Val ihr zu. "Wenn ich mich nur an die letzten Tage erinnere..."
"Stimmt." Bregs stützte den Kopf auf die Handgelenke und zwinkerte verschwörerisch. "Wenn das heute passiert wäre säßen wir schneller bei IA als man 'Infiltrationsmanöverdemonstration' sagen kann. Und angeblich soll es der Grund gewesen sein, weshalb Alberich wieder aus der Wache ausgetreten ist."
"Wie hat das Ganze eigentlich noch mal angefangen?" erkundigte sich Kanndra. "Ist es noch während der Meisterschaft passiert oder später?"
"Kurz danach." erklärte Valdimier. "Ich glaube es war an dem Morgen als es so wahnsinnig gegossen hat..."

* * *


"Verdammtes Mistwetter!" Der Wächter Valdimier van Varwald schüttelte seinen Umhang aus und diverse Wassertropfen bildeten eine mehr oder weniger zusammenhängende Pfütze auf dem Boden. Draußen vor den Fenstern erschien es, als würde ein verrücktgewordener Gott eine überdimensionale Gießkanne über Ankh-Morpork entleeren.
Der Vampir seufzte. Nur noch wenige Tage GRUND, dann war es geschafft. Die Broschüre der FROGs lag bereits auf seinem Schreibtisch. Nie wieder Streife gehen müssen...
Langsam bewegte er sich in Richtung des Büros, welches er sich mit dem Zwerg Alberich teilte. Nur keine Eile... Aus Erfahrung wußte er, daß auch seine Ausbilderin Fähnrich Lanfear es mit der Pünktlichkeit nicht allzu genau nahm. Dazu die allgemeine gedrückte Stimmung in der Stadt. Doch ein Gutes hatte das Regenwetter - wenigstens konnte er auf das ansonsten alltägliche klebrige Ritual mit der Sonnencreme verzichten.
Eine besonders starke Bö fuhr durch die Kröselstraße, just als Valdimier im Begriff war, sein Büro zu betreten, und die dadurch entstandene Zugluft drückte drückte die Tür kräftig gegen ihren Rahmen. Der Vampir stmmte sich dagegen und schob sich in den Raum.
Das erst was ihm ins Auge fiel war, daß das Fenster weit offen stand und der halbe Fußboden bereits überschwemmt war.
"Was soll denn..." murmelte Val verdrießlich und betrachtete die Bescherung. dann stapfte er um die Schreibtische herum um das Fenster zuzudrücken, doch plötzlich hielt er inne. Ein kleiner, bläulicher Schemen huschte an ihm vorbei, zog sich in Windeseile an der Gardine hoch und verschwand im Unwetter. Ein letztes leises Klappern und das Wesen war verschwunden.
Mit einem Satz war Valdimier am Fenster und bekam als erstes eine weitere Sturmbö mit voller Wucht ins Gesicht. Fluchend wischte er sich das Wasser aus den Augen und versuchte, durch den strömenden Regen etwas zu erkennen. Schwach zeichneten sich die Umrisse des Nachbarhauses durch den nassen Vorhang ab. Doch von dem heimlichen Besucher war nichts zu sehen. Valdimier blinzelte. Hatte er wirklich etwas gesehen oder hatte ihm seine Phantasie lediglich einen Streich gespielt?
Schließlich schüttelte er den Kopf und drückte das Fenster zu. Es war da gewesen. Doch was bei allen Göttern hatte es in einem Rekrutenbüro gesucht?
Auf Zehenspitzen tappte Valdimier über den nassen Fußboden um die Schreibtische herum. Irgendwo mußte doch...
Und dann gewahrte er die offene Schublade von Alberichs Schreibtisch. Es gab keinen Zweifel, daß sich ein sehr kleines Wesen daran zu schaffen gemacht haben musste - Ein Bindfaden, an dem ein kleiner Wurfhaken befestigt worden war, baumelte vom Griff herab auf den Boden. Valdimier zögerte einen Augenblick - doch schließlich siegte seine Neugierde. Nachdem er ein letztes Mal in Richtung Flur gelauscht hatte, zog er die Schublade mit einem Ruck auf.
Eine Wolke üblen Geruchs wie von verschimmeltem Käse schlug ihm entgegen und wieder einmal war er froh, nicht mehr auf Atemluft angewiesen zu sein. Vorsichtig, um das vergammelte belegte Brötchen nicht zu berühren, grub sich der Wächter durch den verstaubten Inhalt, der bereits von Alberichs Vor-Vorgänger zu stammen schien. Was gab es schon darin, was ein kleines, blaues Wesen hätte interessant finden können? Schließlich stießen Valdimiers Finger auf etwas Hartes. Neugierig griff er zu und förderte schließlich einen kleinen Lederbeutel zutage, der dem ersten Eindruck nach einige Steine zu enthalten schien. Behutsam zog er an der Schnur und kippte den Inhalt auf die Schreibtischplatte. Einige polierte Halbedelsteine purzelten hinaus und verstreuten sich auf der Schreibunterlage. Neugierig hob Valdimier einen von ihnen auf und betrachtete ihn genauer. In dem trüben Dämmerlicht, welches durch das Fenster hereinsickerte, schimmerte seine Oberfläche dunkelrot. Eine komplizierte Rune war in das Gestein eingraviert und mit weißer Farbe hervorgehoben worden. Vorsichtig legte Valdimier den Stein beiseite und nahm einen anderen. Er ähnelte dem ersten in Form und Farbe, doch trug er ein anderes Muster.
"Hmmm." überlegte der Vampir laut und wog den Stein in seiner Hand. Fragen über Fragen türmten sich hinter seiner Stirn auf. Wem gehörte das Säckchen? Hatte das Wesen welches vorhin in das Büro eingedrungen war den Beutel stehlen wollen oder hatte es ihn gebracht? Und welchen Sinn hatte das Ganze? nachdenklich sammelte er die Steine wieder ein und legte sie in das Säckchen zurück, welches er sorgfältig zurück an seinen angestammten Platz legte. Dann schloß er die Schublade und nahm das winzige Kletterseil ab.
Was sollte er nun tun? Warten bis Alberich kam und ihn darauf ansprechen? Keine gute Idee - Niemand hörte gern, daß jemand anderes in seinem Schreibtisch herumgewühlt hatte. Zu Rina gehen? Sie würde ihn vermutlich auslachen und behaupten, das kleine blaue Wesen wäre eine Ausgeburt des chronischen Schlafmangels aufgrund ausgedehnter Eimerbesuche. Doch mit irgendjemandem mußte er reden. Und dann fiel es ihm ein.
Araghast Breguyar. Der hagere, blasse junge Mann mit der Augenklappe und dem verdrehten Verstand. Zitierte andauernd aus irgendwelchen Horrorromanen mit unaussprechlichen Namen. Der würde ihm bestimmt glauben was er soeben gesehen hatte.

* * *


"Soso, das hast du also von mir gehalten." Araghast grinste breit. "Und übrigens heißt es Cthulhupalhulhu und nicht irgendwas unaussprechliches."
"Also daß du dir diesen Namen merken kannst finde ich ziemlich erstaunlich." bemerkte Kanndra. "Aber Val hat recht- irgendwie warst du damals schon etwas püscho."
"Soso, war ich das?" Bregs ging in Verteidigungsstellung.
Valdimier lachte. "Schlagfertig warst du jedenfalls." erklärte er. "Das erst was du mich gefragt hast als ich in dein Büro gekommen bin war ob ich heute mit Uniform geduscht hätte."
"Na ja, genauso sahst du aber auch aus. Wie ein begossener Pudel."

* * *


Val sah an sich hinunter.
"Oh." sagte er schließlich als er bemerkte, daß seine Uniform völlig durchnäßt war.
Araghast lachte und zog das zerlesene Romanheft unter der Schreibtischplatte hervor.
"Also, wo brennts denn?" fragte er. "Will der Fähnrich uns auf Streife schicken bei dem Mistwetter? Oder sollen wir Tresendienst schieben? Oder etwa Akten sortieren?"
"Keins von allem." winkte Valdimier ab. "Es ist nur... Sag mal, würdest du mir glauben wenn ich dir erzählen würde, daß ich als ich in Alberichs und mein Büro gekommen bin gesehen habe wie ein kleines blaues Wesen mit wahnsinniger Geschwindigkeit aus dem Fenster geflohen ist?"
"Warum nicht?" Araghast zuckte mit den Schultern. "Wer weiß, vielleicht nimmt die Diebesgilde mittlerweile auch Gnome auf. Wurde irgendwas geklaut?"
Valdimier schüttelte den Kopf. "Im Gegenteil." erklärte er. "Ich habe eher das Gefühl, daß etwas gebracht wurde."
"Komisch..." Araghast spielte nachdenklich mit dem Ende seines langen, geflochtenen Zopfes. "Was soll er denn gebracht haben?"
Und Valdimier erzählte seinem Kollegen wie er die Schublade durchsucht und das Säckchen mit den Runensteinen gefunden hatte. "Ich weiß nicht was sie bedeuten, aber irgendwie scheinen sie schon wichtig zu sein, zumindest für Alberich." schloß er.
"Klingt interessant." kommentierte Araghast und Valdimier sah, wie es im verbliebenen Auge seines Kollegen aufleuchtete. "Also wenn ich du wäre würde ich Alberich zumindest mal darauf ansprechen. Wer weiß, vielleicht hat es ja nichts zu bedeuten, aber sicher ist sicher. Schließlich bekommt man nicht alle Tage von einem Gnom die Schubladen geknackt."

* * *


"Tja, und dann hab ich Alberich im Laufe des Vormittags mal vorsichtig auf die Sache angesprochen." erzählte Valdimier. "Und er war ziemlich erschrocken als ich nur angedeutet habe, daß jemand an seinem Schreibtisch gewesen sein könnte."
"Na das ist ja auch kein Wunder." Kanndra spielte mit der Kirsche in ihrem Getränk herum. "Nach alldem was dann hinterher los war."
"Ganz zu schweigen von unserem unvergesslichen Kanalisationsausflug." warf Bregs ein. "Jedes Mal wenn ich irgendwo einen Eingang zu den Tunneln sehe muß ich an Alberich und seine Runensteinchen denken."
"Das war aber auch widerlich." Kanndra schüttelte sich. "Der destillierte Ankh hätte nicht schlimmer riechen können."
"Na ja, jedenfalls war Alberich nicht gerade sehr großzügig mit Auskünften selbst als ich ihm von dem kleinen Einbrecher erzählt habe." fuhr Valdimier fort. "Natürlich hab ich ihm nicht auf die Nase gebunden, daß ich das Säckchen und seinen Inhalt gesehen hatte, aber meinen Vorschlag zu Rina zu gehen hat er ziemlich strikt abgelehnt. Im Gegenteil, er hat so getan als wäre nichts gewesen. Tja, bis er dann plötzlich zirka eine Woche später kreidebleich und zitternd hinter seinem Schreibtisch saß. Ich weiß, es ist schwer, sich sowas bei Zwergen vorzustellen, aber es war so."
"Wär er bloß zu Rina gegangen." erklärte Araghast und leerte sein Glas. "Damit hätte er uns eine Menge Chaos erspart."
"Und die Kanalisation..." murmelte Kanndra.

[Valdimier van Varwald]

"Wer hätte auch gedacht, dass diese Steine so begehrt waren?", murmelte Valdimier und blickte auf sein leeres Glas.
Auch seine Kollegen hatten ihre Gläser schon geleert. Mit einem leisen Seufzen stand er auf und nahm die Gefäße an sich.
"Ich besorg uns noch etwas zum Trinken.", erklärte er. "Das gleiche noch einmal?"
Die anderen nickten langsam und so machte sich der Vampir auf den Weg zur Theke. Hinter ihr stand wie immer Herr Käse, der gerade dabei war ein Glas mit einem Lappen zu bearbeiten. In Valdimiers Augen schien sich der Zustand des Glases dadurch allerdings nicht großartig zu verändern oder gar zu verbessern.
Vorsichtig stellte er die lehren Gläser auf den Tresen und bestellte ein paar neue Drinks.
"Das gleiche noch mal bitte."
"Kommt sofort Herr Wächter", antwortete der Wirt und begann damit, ein paar neue Gläser zu befüllen.
Valdimier lies seinen Blick durch die Kneipe wandern und schaute zu dem Tisch, wo er mit den anderen saß. Erneut stachen ihn die Abzeichen der anderen in die Augen und ein Lächeln bildete sich auf seinem Gesicht. Mit einer Hand tastetet er auf seine Schulter und stellte erleichtert fest, dass seine Schulterklappen noch immer an der richtigen Stelle saßen. Wie sich die Dinge doch alle entwickelt hatten. Eigentlich war er damals nur der Wache beigetreten, weil er dringend Geld brauchte und sonst nirgends Arbeit gefunden hatte. Niemand wollte damals einen Vampir als Angestellten haben. Zu groß war die Angst davor, eines Morgens mit zwei kleinen Löchern im Hals aufzuwachen.
Ehrlich gesagt hatte er nicht damit gerechnet, dass es sich in diesem Jahr so entwickeln würde. In Kanndra und Bregs hatte er ein paar gute Freunde gefunden und zusammen hatten sie schon die abenteuerlichsten Sachen erlebt.
"So, hier sind die Drinks", erklang die Stimme von Herrn Käse hinter ihm und riss ihn aus seinen Gedanken. "Ein Cocktail mit Kirsche, ein Untervektor-Rum und ein Selterswasser."
Ein Grinsen bildete sich aus seinem Gesicht, als er das letzte Getränk aufzählte.
Dankend gab ihm Valdimier ein paar Münzen und nahm die vollen Gläser an sich. Vorsichtig machte er sich auf den Rückweg und versuchte zu vermeiden, etwas von den Drinks an den Boden zu verschwenden.
"So, hier kommt der Nachschub", verkündete er und stellte die Gläser auf den Tisch.
Mit einem lauten "Prost", stießen die drei Wächter an und nahmen einen tiefen Schluck aus ihren Gläsern.
"Wie ich sehe, hast du immer noch Angst, dass du wieder degradiert werden könntest", sagte Bregs plötzlich, als er sein Glas abgestellt hatte.
Valdimier sah erschrocken auf.
"Wie kommst du denn darauf?"
Bregs deutete auf seine eigenen Abzeichen. Auf seinem Gesicht zeigte sich ein Grinsen, auf das die Beschreibung fies locker zutrief.
"Dann erkläre mir doch mal bitte, diesen prüfenden Griff vorne am Tresen."
"Ich äh.. wollte nur prüfen, ob sie richtig saßen. Ich dachte, sie wären verrutscht."
Einen Vorteil, den man als Vampir hatte, war die Tatsache, dass man nicht rot werden konnte.
"Das wäre dann schon das vierte Mal heute", erwiderte Kanndra.
Valdimeir suchte einen kurzen Moment nach einer passenden Ausrede.
Doch dann gab er klein bei.
"Ach, ihr habt ja Recht. Aber ihr müsst zugeben, dass es die letzte Zeit recht schnell ging."
"Das kann mal wohl sagen", bestätigte ihn Araghast. "Vom Gefreiten zum Hauptgefreiten in nur einem Monat? Nicht übel."
Valdimier nickte.
"Das stimmt."
"Stimmt es eigentlich, dass dich Humph bei GRUND haben will?", fragte Kanndra neugierig.
"Das habe ich auch schon gehört", erwiderte der Vampir. "Vielleicht schaut er mich deswegen immer so komisch an, wenn wir uns über den Weg laufen."
Ein kurzes Lachen erklang aber es wurde schnell wieder von dem Ansetzen der Gläser erstickt.
"Wo du gerade von komisch sprichst. Was hat dir eigentlich Alberich damals genau erzählt?", fragte Kanndra, als sie ihr Glas wieder abgesetzt hatte.

***


Verwundert sah Valdimier Alberich an.
"Was ist denn mit dir passiert? Du siehst aus, als wäre dir Frau Willichnicht über den Weg gelaufen."
Eine Reaktion des Zwerges blieb aus. Mit starrem Blick, schaute er vor sich auf den Schreibtisch.
Erst jetzt bemerkte Valdimier die kleinen Steinchen, die vor dem Zwerg auf der Tischplatte lagen. Nur war jetzt ein leises Wimmern von ihm zu hören.
"Es kann nicht sein. Es kann einfach nicht sein."
"Alberich?"
"Es darf einfach nicht wahr sein."
"Alberich, rede mit mir!"
"Es darf einfach nicht..."
"ALBERICH!!"
Von einem lauten Krachen untermalt schlug Valdimier mit der Faust auf die Tischplatte. Ein paar von den kleinen Runensteinen gerieten durch die Erschütterung in Bewegung und kullerten auf dem Tisch umher. Erschrocken riss Alberich den Kopf nach oben und starrte Valdimier mit großen Augen an.
"Wa-wa-was ist los?"
"Das sollte ich lieber dich fragen", erwiderte der Vampir. "Du machst nicht gerade einen sehr gesunden Eindruck."
Alberich wollte gerade antworten, als er die Runensteine vor sich bemerkte. In der verzweifelten Hoffnung, dass Valdimier sie noch nicht bemerkt hatte, raffte er die Steine zusammen und versuchte sie schnell in einer Schublade zu verstecken. Doch einer der Steine glitt ihm durch die Finger und viel mit einem leisen Klacken auf den Boden.
Ein leises "Nein" zwang sich über seine Lippen, als er sah wie der Stein direkt vor die Füße des Vampirs rollte. Valdimier nahm den Stein auf und betrachtete ihn neugierig. Es war ein glänzend weißer Stein und auch auf ihm war eine kleine Runde zu sehen. Er schaute zurück auf Alberich, der noch immer auf seinem kleinen Stuhl saß und mit zittrigem Blick auf den Stein starrte.
"Waren die kleinen blauen Männchen wieder da?"
Alberich blickte stumm zu Boden und nickte langsam mit dem Kopf.
Valdimier warf den Stein zurück auf den Tisch, wo er nach ein paar Drehungen liegen blieb.
"Und sie waren deswegen hier?", fragte der Vampir weiter.
Erneut nickte der Zwerg mit dem Kopf. Sein Blick war weiter dem Boden zugerichtet.
"Willst du mir nicht erzählen, was es damit auf sich hat?"
Alberich hob den Kopf und starrte ihn an. Valdimier konnte die Verzweiflung in seinen Augen sehen. Um etwas aus ihm heraus zu bekommen, musste er wohl eine andere Taktik anwenden.
"Wenn du nicht willst, werde ich eben mit Rina reden", erwiderte Valdimier auf die ausbleibende Erklärung und ging Richtung Tür. "Mal sehn, was sie dazu sagt."
Er hatte die Tür gerade geöffnet, als hinter ihm Alberich ein kurzes "Warte!", keuchte.
Leise schloss der Vampir wieder die Tür wieder und wandte sich dem Zwerg zu.
"Ich erzähle es dir", sagte Alberich mit leiser Stimme. "Aber du musst mir versprechen, dass du nichts davon Rina oder den anderen Ausbildern erzählst."
Valdimier kratze sich nachdenklich am Kinn. "Was ist denn los? Hast du Angst, aus der Wache zu fliegen?"
"Versprich es!", verlangte Alberich forsch.
Valdimier winkte ab.
"Schon gut, schon gut. Ich verspreche es"
Alberich kniff ein Auge zusammen. Allen Anschein glaubte er ihm nicht ganz.
"Jetzt mach aber mal halblang", erwiderte Valdimier bestürzt. "Wir sind immerhin Kollegen. Und da sollten wir uns schon gegenseitig vertrauen können."
Sein Gegenüber schüttelte den Kopf. "Ach, du hast ja Recht. Aber zurzeit fällt es mir schwer, irgendjemanden zu vertrauen."
"Dann wäre jetzt der Ideale Zeitpunkt, damit anzufangen", erwiderte Valdimier und lächelte etwas.
Auch auf Alberichs zeichnete sich eine Gestik ab, die man mit viel Phantasie als ein Lächeln bezeichnen hätte können. Doch sie wurde schnell von der Ernsthaftigkeit verdrängt, die sich erneut über sein Gesicht legte.
"Also gut. Diese Steine..."
Er holte noch einmal tief Luft.
"Diese Steine können dazu verwendet werden, um an unbeschreibbare Macht zu gelangen."
Valdimier setzte sich nachdenklich und überlegte für einen kurzen Moment.
"Unbeschreibbare Macht?", fragte er schließlich. "Macht worüber?"
"Das weiß niemand so genau. Was diesen Teil der Legende angeht, gehen die Meinungen auseinander."
"Welche Legende?", fragte Valdimier neugierig. "Wer weis denn alles von diesen Steinen?"
"Die Legende kennt fast jeder Zwerg. Darin wird von 10 Steinen erzählt, die vor vielen Jahren als brennende Sterne auf die Scheibenwelt stürzten. Diese 10 Steine sollen denjenigen, der sie vereint, zu unbeschreibbarer Macht verhelfen."
Valdimier kratzte sich nachdenklich am Kinn.
"Aber bis jetzt konnte noch niemand diese 10 Steine vereinen, oder?", fragte er schließlich. "Ich meine, es sollte dann doch in irgendwelchen Geschichtsbüchern stehen, dass es mal eine Person gab, die mit der Hilfe von irgendwelchen Runensteinen über die gesamte Scheibenwelt herrschte."
Wieder schüttelte Alberich den Kopf.
"Das stimmt. Aber ich kann dir etwas versichern. Die Legende stimmt nicht ganz. In Wirklichkeit waren es nur 3 Runensteine, die damals vom Himmel gefallen waren. Und sie sahen auch nicht wie brennende Sterne aus."
"Wie kommst du denn darauf?"
"Was halt so mit Legenden passiert, wenn sie weiter erzählt werden", antwortete Alberich und zuckte mit den Schultern. "Da wird hier mal ein bisschen dicker aufgetragen und dort etwas dazuerzählt, dass die Geschichte etwas mehr an Pep gewinnt."
"Und woher weist du, dass es nur 3 Steine sind und nicht 10?"
Alberich zögerte etwas mit seiner Antwort. Allen Anschein, überlegte er erneut, ob er Valdimier Vertrauen konnte.
"Ich weis es, weil ich... einen dieser 3 Steine besaß."
"Besaß scheint hier das Schlüsselwort zu sein", murmelte Valdimier leise.

***


Kanndra kicherte leise. "Zum Glück hat er das nicht gehört. Sonst hätte das Gespräch ein sehr schnelles Ende gefunden."
"Und dann erzählte er dir, wir er den Stein von seinem Vater bekommen hatte?", fragte Araghast.
Valdimier nickte. "So war es. Wie ihm sein Vater die Wahrheit über die Legende und die 3 Steine erzählt. Das der Stein schon seit Generationen vom Vater an den eigenen Sohn weitergegeben wurde und er nun auf darauf aufpassen sollte."
"Es hat ihn sicher sehr getroffen, dass ausgerechnet ihm der Stein gestohlen wurde."
"Nun ja, das gleiche hatte ich ihn auch gefragt."

***


"Wenn es nur das wäre", antwortet Alberich. "Mich bedrückt noch mehr, dass man allen Anschein genau über den Stein Bescheid weiß."
"Wie kommst du darauf?", fragte Valdimier.
Alberich griff in die Schublade und holte einige Steine heraus. "Das hier, sind ganz normale Steine. Die habe ich nur, um etwaige Diebe zu verunsichern."
"Der Dieb wusste also genau, welchen Stein er mitnehmen musste", schlussfolgerte Valdimier.
"Das ist noch nicht alles", fuhr der Zwerg fort und legte einen weiteren Stein auf den Tisch. "Das hier ist der Stein. Eher gesagt eine sehr gute Fälschung."
"Bist du dir sicher?"
"Ohne Zweifel. Man erkennt sie aber nur anhand einer kleinen Abweichung bei der Rune. Sonst stimmt einfach alles. Größe, Gewicht, sogar beim Glanz ist kein Unterschied festzustellen. So etwas kann man nicht anhand von irgendwelchen Erzählungen oder Zeichnungen machen."
Für einen kurzen Moment füllte sich der Raum mit einem bedrückenden Schweigen.
"Wer weiß denn alles über diesen Stein Bescheid?", fragte Valdimier schließlich.
"Also mein Vater, ich und..."
Er zögerte.
"Und?", hackte Valdimier nach. "Wer noch?"
"... und sonst niemand", antwortete er und stand plötzlich auf.
"Wo willst du hin?", fragte der Vampir und beobachtete, wie der Zwerg entschlossen zur Tür ging.
"Über die ganze Situation nachdenken. Und vergiss nicht. Kein Wort zu Rina oder sonst einem Ausbilder."
Mit diesen Worten schloss sich die Bürotür.

***


"Mir war sofort klar, dass er mir damals etwas verschwiegen hatte. Was ein Glück, dass ich ihm nur Versprochen hatte, zu keinem Vorgesetzten zu gehen.", erklärte Valdimier augenzwinkernd.
"Ich glaube, dass es ihm trotzdem ziemlich sauer aufgestoßen war, dass du überhaupt mit jemanden darüber gesprochen hast", erwiderte Bregs lachend.
"Na ja, er ließ uns ja keine andere Wahl. Jedenfalls bin ich sofort zu dir ins Büro gekommen, um dir die neusten Neuigkeiten zu erzählen."
Ein Grinsen bildete sich auf seinem Gesicht.
"Und wenn ich ehrlich bin, hat es mich nicht sehr überrascht, dass sich Kanndra bei dir im Büro aufhielt."
"Was soll das denn jetzt heißen?", fragte Kanndra empört.
"Ich bitte dich. Es wusste doch jeder, dass Danisahne bei dir nur auf Platz Nummer Zwei stand", antwortet er und brachte sich sofort vor dem Zahnstocher in Sicherheit, der mit hoher Geschwindigkeit auf ihn zuflog.

[Kanndra]

Kanndra hatte schon die Kirsche in der Hand, um sie direkt hinterher zu werfen, als sie Bregs verwunderten Blick auffing. Augenscheinlich hatte er immer noch nicht ganz begriffen, wie sehr sie in ihn verschossen gewesen war und ihretwegen konnte das auch so bleiben. Also schob sie sich die Kirsche stattdessen in den Mund und murmelte hastig: "Ihr hattet doch Glück, dass ich Wind von der Sache bekommen habe."
"Ja, wir konnten wirklich Verstärkung gebrauchen", stieg er auf das Ablenkungsmanöver ein, wie Kanndra erleichtert feststellte.
"Außerdem hatte ich mit Alberich auch schon einiges erlebt. Einmal wurden wir sogar zusammen hypnotisiert [3]. So etwas verbindet", ergänzte die Hauptgefreite leicht schnippisch. "Deshalb war ich auch sofort dabei, als ihr beschlossen habt, etwas zu unternehmen."
"Bloß das wir zunächst keinen blassen Schimmer hatten, was eigentlich." Araghast starrte in seinen Rum, als würde er seine Erinnerungen dort ablesen.
"Alberich war danach verschlossener als eine krullianische Auster. Wahrscheinlich tat es ihm leid, dass er überhaupt mit mir geredet hatte", warf Val ein.
"Einen Tag später kam er gar nicht mehr zum Dienst. Rina war auf hundertachtzig", nickte Bregs.
Einen Moment verloren die drei sich in Erinnerungen. Valdimier zog einen frischen Wasserrand, den sein Glas auf dem fleckigen Tisch hinterlassen hatte, mit dem Finger nach. Im trüben Licht der Kerze waren die Generationen der Wasserränder, Wachsreste und Spuren verschütteter Getränke, die niemand sich je die Mühe gemacht hatte, zu entfernen, kaum auszumachen.
"Wir haben sogar die Legende in einem Buch nachgelesen. Woher hattest du das eigentlich?" fragte Kanndra schließlich den Vampir neugierig.
"Aus der Unsichtbaren Universität. Rina hat mich auf die Idee gebracht. Genauer gesagt, hat sie uns geraten, besser von der Bibliothek fernzubleiben", grinste Val zurück. "Aber eigentlich hatte ich keine große Hoffnung, dass es uns hilft..."

***


"Zwergen-Legenden und legendäre Zwerge" las Bregs den Titel des Buches vor, das Valdimier gerade auf seinen Schreibtisch gewuchtet hatte.
"Hallo, was macht ihr denn da?", fragte eine neugierige Kanndra , die den Kopf durch die Tür steckte.
"Lesen", antwortete der Halbvampir mit einem Lächeln, dass seine spitzen Zähne blitzen ließ und von dem er wusste, dass es seine Kollegin aus irgendeinem Grund aufregte. "Komm rein und... mach besser die Tür zu."
Valdimier hatte schon begonnen, in dem Wälzer zu blättern.
"Grimsons Goldzahn... La Dorade ... Preogahns Lied", murmelte er dabei vor sich hin. "Runensteine der Macht! Hier ist es!", rief er dann plötzlich aus.
Die anderen beiden blickten dem Vampir über die Schulter, als er vorlas:

"Runensteine der Macht. Aufgezeichnet von Rogan Roth.
Da aber das Volk der Zwerge entstanden war, herrschte der mächtige Thornagor über ihr Reich. Er war ein weiser und starker König mit vielen Kenntnissen, doch ohne einen, der seiner Nachfolge würdig war. So kam es, dass zu der Zeit, da Thornagor im Sterben lag, er niemanden sein Volk anvertrauen wollte. "Ich will ihnen eine Aufgabe stellen, die nur ein wahrer Herrscher wird bewältigen", sprach er und ließ zehn Sterne des Himmels auf die Scheibenwelt herniederfallen. Sie wandelten sich aber beim Fallen in Runensteine und verteilten sich auf der Scheibe. "Derjenige, der alle Runen wieder vereinigen kann, soll herrschen über die ganze Scheibenwelt", beschied Thornagor seinem Volk, ehe er den letzten Atemzug tat. Die Zwerge jedoch waren des einigenden Königs beraubt und auf der Suche nach den Steinen in alle Winde verstreut."


***


"Das hat uns ja auch nicht besonders weitergebracht", bemerkte Bregs und nahm noch einen großen Schluck seines Untervektor-Rums zu sich.
"Zumal der Autor der Meinung war, die Legende enthalte keinerlei Wahrheit und sei nur ein altes Märchen, das die Spaltung des Zwergenvolkes in viele einzelne Gemeinschaften erklären soll. Wir waren ganz schön ratlos, erinnert ihr euch?", fragte Kanndra.
"Den entscheidenden Fehler haben wir ja auch erst später bemerkt. Wie man etwas übersehen kann, das man schwarz auf weiß vor sich hat", wunderte sich Val.
Araghast zuckte die Schultern. "Zum Glück kam dann Alberichs Onkel ins Spiel, richtig?"
Kanndra nickte. "Er saß an dem Abend bei Jovanni und ich erinnerte mich, dass die beiden befreundet sind."

***


Die Tür flog auf und brachte nicht nur eine Windböe, sondern auch eine zerzaust wirkende Wächterin herein.
"Tut mir leid, Jovanni. Aber draußen weht es wie blöd." Kanndra schälte sich aus ihrem Mantel und ließ sich erschöpft auf ihren Stammplatz fallen. "Hast du noch ein wenig Pizza Gennuese für deine Lieblings-Wächterin?"
"Klar 'abe isch dasse. Un momento."
Der Zwerg hetzte mit einer Portion Lasagne an einen Tisch, an dem zwei Menschen sich tief in die Augen blickten. Sofort musste sie an Araghast denken, und wie gerne sie auch mit ihm Händchen halten würde, und nicht nur das...
Einen Augenblick lang gestattete sie sich ein wenig Tagträumerei, dann seufzte sie und ließ ihren Blick durch das Lokal schweifen, während ihre Hände und Füße sich langsam wieder aufwärmten.
Am Nachbartisch grummelte ein Zwerg in sein Bier, der Kanndra bekannt vorkam. Natürlich! Das war Alberichs Onkel, Dartor. Alberich hatte ihn ihr einmal vorgestellt, als sie beide in ihrer Mittagspause hier waren. Die Gelegenheit musste sie nutzen. Betont lässig wechselte sie an Dartors Tisch hinüber und begrüßte den alten Zwerg.
"Wass wisst du, Wächterin? Kenn' wir uns?"
Kein guter Anfang.
"Ähm.. ich arbeite mit ihrem Neffen zusammen, Alberich. Er ist auch bei der Stadtwache", entgegnete sie lahm.
"Alberich. Pah, der kann mir mal... gestohlen kann er mir bleiben", rief Dartor mit schwerer Zunge, um anschließend kichernd zu wiederholen: "gestohlen, hihhihi."
Offensichtlich war er nicht mehr ganz nüchtern. Kanndras Gedanken rasten. Wie sollte sie herausfinden, ob er von dem Runenstein wusste, ohne ihm zuviel zu verraten?
Sie zog sich den Stuhl heran und setzte sich, während sie überlegte.
"Warum kann er Ihnen gestohlen bleiben? Was hat er denn getan?"
"Iss genau wie sein Vater, Alberich. Genau wie sein Vater...", polterte der Zwerg.
"Wie ähh... ist denn sein Vater so?" Die Wächterin versuchte, möglichst unschuldig zu klingen.
Der Alte schwankte leicht auf seinem Stuhl und murmelte etwas unverständliches in sein Glas.
"Ähem, wie bitte?"
Ein Wachstropfen an der Kerze machte sich auf den Weg zur Tischdecke. Um sie herum bildete die Konversation der anderen Gäste eine gleichmäßige Geräuschkulisse.
"Gierig, alle beide. Und dann auch noch dämlich", nickte er wie in Bestätigung seiner Worte.
"Gierig? Also mir kam er nie besonders..."
Dartor fixierte die junge Frau vor ihm mit starrem Blick, als wollte er sie damit auf ihrem Platz festnageln.
"Isch bin der Ältere, er hätte mir zugeschtanden, verdammt!", brüllte er dann plötzlich los, so dass Kanndra zusammenzuckte.

***


"Nachdem er so laut geworden ist, hat ihn Jovanni höflich rausgeschmissen. Aber ich war mir sicher, dass er von dem Runenstein gesprochen hatte."
"Deshalb bist du zurück zur Kröselstraße gelaufen, wo Bregs und ich Nachtdienst hatten", erinnerte sich Val.
Araghast lachte laut auf. "Diesen Nachtdienst werde ich bestimmt nicht so schnell vergessen."
"Ich auch nicht", stöhnte Kanndra. "Ich weiß nicht, ob diese Geschichte schlimmer war oder der Tag, als uns der Junge zu der toten Werwölfin geführt hat [4]."
"Du meinst die fast-tote Werwölfin. Im einen Augenblick noch blutüberströmt, im nächsten spaziert sie uns einfach davon", korrigierte der FROG-Püschologe sie.
Der Vampir leckte sich geistesabwesend über die Lippen. "Ja, das war leck... schrecklich", bestätigte er.
"Ganz schön gruselig", schüttelte sich Kanndra. "Und Vico ist die halbe Zeit um dich herumscharwenzelt", sagte sie mit einem Seitenblick auf Araghast, "und die andere Hälfte kurz vor der Ohnmacht gewesen."
"Warum hast du dich eigentlich so aufgeregt über ihn damals?"
Rhetorisches Glatteis. "Diese Runde geht auf mich", bot die Voodoo-Priesterin ihren Kollegen mit Blick auf die leeren Gläser auf ihrem Tisch schnell an.
"Für mich diesmal ein Bier. Zuviel von dem Rum und ihr könnt mich nach Hause tragen."
"Wäre auch nicht das erste Mal", lachte Valdimier und die anderen stimmten mit ein.
Kanndra sammelte die Gläser ein und machte sich durch die sich jetzt langsam füllende Kneipe auf den Weg zur Theke. Viele der Gesichter waren ihr nach einem Jahr bekannt, auch die von den Kollegen aus der Boucherie Rouge. Die unbekannten gehörten meistens Rekruten. Seit sie zu den FROGs gewechselt war, hatte sie den Kontakt zu GRUND ein wenig verloren und lernte die neuen Wächter meist erst als Gefreite kennen.
"Zwei Wasser und ein Bier."
Herr Käse hob diesmal bei der Bestellung missbilligend die Augenbrauen, aber das war ihr egal. Sie erinnerte sich noch an ihr erstes Besäufnis im Eimer. Vielmehr erinnerte sie sich eben nicht mehr sehr deutlich. Aber sie hatte die Kontrolle über ihre Illusionen verloren, das wusste sie noch. Und Carisa hatte sie tatsächlich nach Hause tragen müssen...
Auf dem Weg zurück grüßte sie die Wächter, denen sie begegnete. Als sie die Getränke zu ihrer Nische gerettet hatte, stießen die drei FROGs wieder an und verfielen dann in Schweigen, um ihre Gedanken zu sammeln.
"Also wie war das in der Nacht noch mal genau", lenkte die Hauptgefreite das Thema wieder auf Alberichs Fall. "Ich kam rein und..."

***


"Hallo. Was machst du denn hier? Hast du nicht Feierabend?" Araghast schaute überrascht von seinem Eddie-Wollas-Roman auf, als seine abgehetzt wirkende Kollegin vor dem Wachetresen in der Kröselstraße erschien.
"Er weiß es!", platzte diese heraus und strahlte den Halbvampir an.
"Wer weiß was?", mischte sich Valdimier ein, der mit zwei dampfenden Bechern Kaffee dazukam.
"Alberichs Onkel weiß von dem Runenstein", triumphierend blickte Kanndra die beiden erstaunten Mitrekruten an. Dann berichtete sie ihnen von dem Gespräch in der Pizzeria.
Val verzog skeptisch das Gesicht, als sie geendet hatte. "Vielleicht hat er von etwas Anderem geredet."
"Und selbst wenn er Bescheid weiß, heißt das lange noch nicht, dass er auch etwas mit dem Diebstahl zu tun hat", wirkte auch Bregs nicht sehr überzeugt.
Kanndra verdrehte die Augen. "Das behaupte ich ja auch gar nicht. Natürlich weiß ich auch, dass das kein Beweis ist. Aber ich hatte einfach das deutliche Gefühl, dass Dartor nicht nur von dem Runenstein, sondern auch von dem Diebstahl Kenntnis hat. Weibliche Intuition", fügte sie an, als die beiden Männer immer noch ungläubig schauten.
"Na gut, nehmen wir einmal an, das stimmt. Vielleicht hat sich Alberich ihm nach dem Diebstahl anvertraut", spekulierte Val.
"Möglich", gab Kanndra zu und nahm einen Schluck aus Bregs Kaffeebecher.
"Bedien dich", grinste Araghast.
"Aber wenn Dartor schon vorher von dem Stein wusste, hat er vielleicht, auch wenn er nichts mit der Sache zu tun hat, einem Dritten davon erzählt", fuhr die Wächterin, Araghasts Einwurf ignorierend, fort.
"Und ertränkt jetzt sein schlechtes Gewissen in Alkohol und Vorwürfen gegen Alberich. Hmm, na ja, vielleicht..."

***


"Vermutlich hätten wir die ganze Nacht weiterdiskutiert, ohne zu einem Ergebnis zu kommen, wenn du nicht so ein gutes Gehör hättest." Spielerisch zog Kanndra Valdimier am Ohr.
Lachend befreite sich der Hauptgefreite aus dem Griff seiner Kollegin. "Das muss man auch haben, wenn man ständig auf wütende Dorfbewohner mit Mistgabeln gefasst sein muss."

***


Val machte plötzlich einen Satz zur Treppe, die ins Obergeschoss führte und hielt dabei einen blassen Zeigefinger an die Lippen.
"Was ist denn los?", flüsterte Kanndra, doch der Vampir antwortete nicht, sondern verwandelte sich mit einem leisen -Plopp- in eine Fledermaus und flatterte nach oben.
"Besser wir gehen mit", wisperte Bregs, obwohl er nicht wusste, warum er flüsterte.
Kanndra zuckte die Schultern und begann, die Treppe hinauf zu schleichen. Ihr dicht auf den Fersen blieb der Halbvampir, der halb mit dem Unterdrücken seines Neidgefühls auf den flugfähigen Vampir, halb mit dem Gedanken beschäftigt war, was sie am Ende der Treppe wohl erwarten würde.
Oben angekommen, empfing sie zunächst nur Dunkelheit. Als sich ihre Augen etwas angepasst hatten, bemerkten sie eine halboffene Tür, durch die ein wenig Licht in den Korridor fiel. Valdimier stand an den Türrahmen gedrückt und spähte in den Raum. Er bedeutete ihnen, leise näher zu kommen und schlängelte sich dann durch den Türspalt in den Raum hinein.
"Das ist das Büro von Val und Alberich", bemerkte Bregs, immer noch flüsternd.

[Araghast Breguyar]

Im trüben Licht einer Laterne stand ein ältlicher Zwerg neben der geöffneten obersten Schublade des Schreibtisches von Alberich und starrte Valdimier mit weit aufgerissenen Augen an. Nach einer Schrecksekunde wendete er und stürmte auf das weit geöffnete Fenster zu, den Vampir dicht auf den Fersen.
"Hierher!" rief Val, als er den Zwerg am Saum seines Kettenhemdes zu fassen bekam und ihn mit seinem Gewicht zu Boden warf.
Als Kanndra und Araghast ins Zimmer gelaufen waren, fanden sie auf dem Fußboden ein heftig kämpfendes Bündel vor, welches größtenteils aus Kettenpanzer und einem schwarzen Umhang zu bestehen schien. Noch bevor sie eingreifen konnten, hob sich der Kopf ihres Kollegen aus dem Durcheinander.
"Meine Güte." stöhnte Valdimier. "Der ist vielleicht betrunken... En Wunder, daß er überhaupt noch aufs Dach gekommen ist ohne sich das Genick zu brechen."
Araghast griff sich die Laterne und leuchtete dem Zwerg, der mittlerweile jeglichen Widerstand aufgegeben hatte und leise vor sich hinwimmernd am Boden lag, ins Gesicht.
"Verdammt." Kanndra bückte sich. "Dartor? Geht es dir gut?"
"Was? Du kennst ihn?" fragte Araghast verwundert.
Kanndra nickte. "Das ist Alberichs Onkel." erklärte sie kurz. "Er hat ihn mir mal vorgestellt. Und heute Abend ist er hochkant aus Jovannis Pizzeria rausgeflogennachdem er mich angebrüllt hat von wegen der Stein würde rechtmäßig ihm zustehen."
"Vielleicht weiß er ja, wohin Alberich verschwunden ist." vermutete Valdimier und rückte seinen Umhang zurecht, der bei der Rangelei mit dem betrunkenen Zwerg in ziemliche Unordnung geraten war.
"Bloß was ich komisch finde..." erklärte Araghast, "Warum ist er dann hier? Um nach dem Stein zu suchen? Das heißt, er weiß nicht, daß er gestohlen worden ist."
In diesem Moment stöhnte Dartor laut auf.
"Al-berich." brachte er hervor "Ka-Kanalisa-lition."
Sekunden später war er eingeschlafen und sein lautes Schnarchen erfüllte das Büro.

* * *


"Was hast du Sidney eigentlich noch mal erzählt nachdem er Dartor am nächsten Morgen in der Ausnüchterungszelle gefunden hat?" In Erinnerungen versunken starrte Araghast in sein halbleeres Bierglas.
"Das übliche." Valdimier zuckte mit den Schultern. "Betrunken ins Wachhaus getorkelt und umgekippt." Gedankenverloren fuhr er mit dem Finger über den Rand seines Glases, welches ein quietschendes Geräusch hervorrief. "Und in gewisser Weise stimmte es ja auch."
Langsam füllten sich auch die übrigen Tische und der Lautstärkepegel im 'Eimer' nahm stetig zu. Einige Wächter winkten zu den dreien in der Nische herüber, doch niemand setzte sich zu ihnen.
"Aber die Aktion mit dem Schild war schon ziemlich gewagt." erinnerte sich Bregs, als ihre Kollegen wieder außer Hörweite waren. "Wir hatten echt Glück, daß in der Nacht wirklich niemand vorbeigekommen ist."
"Na klar, was würdest du tun, wenn du zur Wache kommst und am Tresen nen Zettel finden würdest auf dem steht 'Bei Bedarf bitte den Schlafsaal wecken'?" kicherte Kanndra. "Zumal Araghast es wirklich sehr präzise ausgedrückt hat: Wie weckt man bitte einen Schlafsaal?"
"Meine Güte, wir waren in Eile." verteidigte sich der Püschologe. "Da hatte ich keine Zeit für literarische Höhenflüge!"
"In deinem Falle wohl eher literarische Tiefflüge." stichelte Valdimier. "Eddie Wollas ist ja nicht gerade bekannt für seinen..."
"John Boo etwa?" schnappte Bregs. "Der mit seinen ewigen Prügelorgien..."
"Ruhe ihr beiden!" ging Kanndra dazwischen. "Die anderen gucken schon zu uns rüber. Wenn ihr euch drum prügeln wollt dann meinetwegen morgen irgendwo im Hide Park aber nicht hier und jetzt! Immerhin haben wir eine Geschichte wieder zusammenzusetzen!"
"Also gut." Araghast senkte den den Pegel seines Bierglases um ein gutes Stück und räusperte sich. "Jedenfalls hing der verdammte Zettel da und wir drei marschierten völlig planlos in Richtung Kanalisation ohne zu wissen woher Alberichs Onkel nun eigentlich wußte, daß sein Neffe irgendwo in der Kanalisation zu stecken schien und wer diesen Stein nun eigenlich hatte- insgesamt hatten wir eigentlich bis auf diese komische Legende so ziemlich keinen Plan von gar nichts."

* * *


"Wenn er sich schon vor irgendwas zu verstecken scheint, hätte er sich nicht wenigstens ein etwas, nun ja, besser riechendes Versteck aussuchen können?" Angewidert blickte Kanndra die glitschigen Treppen hinab die ins stinkende Innere der Kanalisation führten.
Valdimier zuckte mit den Schultern.
"Vermutlich glaubte er, daß ihn hierher ganz bestimmt niemand verfolgt."
"Du hast gut reden." Kanndra zerrte ein Taschentuch aus der Tasche ihrer Uniform und hielt es sich vor Mund und Nase. "Du brauchst ja nicht zu atmen!"
Araghast hatte derweil Magnarox aus der Scheide gezogen.
"Man weiß ja nie was da unten lauert." verkündete er. "Durch die magische Strahlung der UU mutierte Zwergkrokodile, Schnappschildkröten, monströse Spinnen, weiße, schleimige Riesenwürmer, vielleicht sogar URALTE RIESEN- da ist man besser vorsichtig."
"Weißt du was," Valdimier sah seinen Kollegen von der Seite an.
"Was soll ich wissen?"
"Du liest zuviele von diesen Heftchen."
Doch bevor es zu einer längeren Diskussion über literarisch wertvolle illegale Dienstlektüre kommen konnte, wurden sie von Kanndra unterbrochen.
"Sagt mal," fragte sie unsicher, "Hat irgendwer von euch einen blassen Schimmer wo wir anfangen sollen zu suchen? Ich meine nur, die Kanalisation ist groß, dunkel und wir haben nicht mal dran gedacht, eine Lampe mitzubringen..."
Betretenes Schweigen antwortete ihr.
Ob Licht oder nicht, wir gehen trotzdem rein." Entschlossen hob Araghast schließlich Magnarox und machte sich daran, vorsichtig die schlüpfrigen Stufen hinabzusteigen.

* * *


"Ich weiß auch nicht was ich mir dabei gedacht habe, einfach so dort reinzumarschieren." erklärte Bregs achselzuckend. "Vermutlich wollte ich auch einmal während meiner Existenz so heldenhaft sein wie der Hexer von Ankh."
"Ich sagte ja damals schon, du liest zuviel." grinste Valdimier und winkte Mindorah Giandorrrh zu, welche sich gerade durch die Tische in Richtung Theke vorarbeitete. "Noch eine Runde? Die geht auch mich, dank meiner Beförderung."
"Oh." freute sich Kanndra. "Dann für mich noch einen mit Kirsche." Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
"Und für mich das übliche." Mit einem langen Zug leerte Araghast sein Bierglas.
Mit den Bestellungen bewaffnet schlängelte sich Val zur Theke vor, wo Mindorah gerade ein Glas Winkels Besonders Altes Bier entgegennahm.
"Einen Cocktail mit Kische, einen Untervektor-Rum und ein stark verdünntes Bier." gab der Vampir seine Bestellung an Herrn Käse weiter, als Mindorah ihn auch schon breit anlächelte.
"Gibt’s was zu feiern oder was ist los?" erkundigte sie sich neugierig.
"Eine kleine Erinnerungsstunde an früher." antwortete Val. "Oder auch einjähriges Wacheläum genannt."
"Was, so lange habt ihr es schon bei dem verrückten Haufen ausgehalten?" staunte die Gefreite.
"Nun, wenn man selbst verrückt ist ist es gar nicht so schwer glaube ich." Mit einem Augenzwinkern nahm Val die Getränke in Empfang, ignorierte den seltsamen Blick Herrn Käses als dieser ihm das stark verdünnte Bier über die Theke schob und machte sich auf den Weg zurück zu seinen Freunden.
Nachdem sie alle wieder versorgt waren, hob Araghast feierlich sein Glas.
"Eigentlich müßte an diese Stelle jetzt eine lange feierliche Rede." erklärte er. "Aber da mir im Moment nicht Gescheites einfällt sage ich einfach nur: Auf ein Jahr Wache!"
"Auf ein Jahr bei dem verrückten Haufen, wie Mindorah es eben ausgedrückt hat." Valdimier klopfte auf sein Rangabzeichen. "Erstaunlich, daß wie es bisher immer geschafft haben, mehr oder weniger den gleichen Rang beizubehalten."
"Tja, auch die Götter wissen, daß wir drei mehr oder weniger ein Thiem sind." Kanndra griff nach ihrem Glas. "Na dann: Prost!"
Klirrend stießen ihre Gläser zusammen.
"Sagt mal," fragte Val, nachdem sie getrunken hatten, "Wollen wir jetzt wirklich an die Kanalisation denken?"
"Klar." Araghast leckte sich mit Behagen über die schmalen Lippen. "Das war immerhin die Nacht bevor wir zu Gefreiten wurden."
"Beziehungsweise die Nacht die diejenige gewesen wäre nach der wir zu Gefreiten befördert worden wären im Fall daß uns jemand erwischt hätte." kommentierte Kanndra.
"Aber es hat uns niemand erwischt." stellte Valdimier klar. "Obwohl die Kanalisation und das was danach kam wirklich alles andere als schön war..."

* * *


Faulig riechendes Wasser tropfte im schwachen, grünlichen Lichtschein des allegenwärtigen Mooses von der Decke und ein beißender Gestank, welcher dafür sorgte, daß die Geruchsnerven sofort jegliche Verbindung zum Gehirn vorübergehend einstellten, umwaberte die drei Rekruten, als sie sich Schritt für Schritt durch einen der wohl widerwärtigsten Orte der Stadt tasteten.
"Und hier soll nun irgendwas mit Alberich los sein?" fragte Kanndra skeptisch hinter ihrem Taschentuch. "So langsam habe ich das Gefühl, daß Dartor einfach nur irgendwelchen Mist erzählt hat. Betrunken genug war er ja."
"Und wer sagt, daß wir hier überhaupt in der richtigen Richtung unterwegs sind?" Valdimier blieb stehen und sah sich um. "Alle Gänge sehen gleich aus. Mittlerweile könnten wir sonstwo sein."
"Wir könnten rufen." schlug Araghast vor. "Alberich, wir wollen dir nur helfen oder sowas."
"Lieber nicht." Kanndra folgte Valdimiers Beispiel und hielt an. "Wer weiß wen wir sonst noch auf uns aufmerksam machen."
"Vielleicht den Gnom den ich in unserem Büro erwischt habe." vermutete der Vampir.
Skeptisch sah Araghast nach unten. "Würde der nicht im Schlamm steckenbleiben?"
"Wer weiß." Kanndra zuckte mit den Schultern. "Gnome sollen ziemlich kräftig sein."
Bregs hingegen fühlte sich komplett in seinem Element. Ein Eddie Wollas-Roman zum Miterleben- so etwas gab es nicht alle Tage. Mit gezücktem Schwert bewegte er sich weiter den schlüpfrigen Gang hinunter.
"Wo bleibt ihr denn?" rief er über die Schulter zurück.
"Wir fragen uns nur gerade wo wir gerade überhaupt stecken." entgegnete Kanndra und wies auf den Gang im allgemeinen und das in einem kränklichen Grün leuchtende Moos im ganz besonderen. "Und vor allem ob wir bis heute Morgen noch wieder rausfinden."
"Warum?" fragte Araghast. "Sind wir bisher nicht immer einfach nur geradeaus gegangen?"
Val schüttelte den Kopf. "Vorhin sind wir links abgebogen."
"Links?" Kanndra zog die Stirn kraus. "War das nicht rechts gewesen?"
"Au Backe." sprach Araghast aus was insgeheim alle dachten. "Ich fürchte wir haben ein wirkliches Problem."
Betreten sahen sich die drei Rekruten an, als ihnen dämmerte, daß sie sich hoffnungslos verlaufen hatten.
"Und was machen wir jetzt?" brach Kanndra schließlich das Schweigen.
Allgemeines Achselzucken.
"Nach Hilfe schreien?" schlug Araghast halbherzig vor.
Plötzlich spürte Valdimier ein keichtes Kribbeln im Nacken und seine Haare sträubten sich. Im Stillen dankte er seinen Vampirsinnen.
"Ruhe!" zischte er. "Hier ist irgendwas."
"Mutierte Tentakelwesen?" Abwehrbereit hob Araghast sein Schwert.
Ein vernichtender Blick aus zwei Augenpaaren brachte ihn zum Schweigen.
"Es kommt von links." wisperte Valdimier. "Jetzt höre ich es. Klingt wie Schritte."
"Flucht nach rechts." sagte Kanndra nur.
Schlamm spritzte, als die drei Rekruten den Gang entlangstürmten, fort von dem was dort hinter ihnen kam. Sie liefen und liefen, bis sie schließlich an eine Kreuzung kamen. Dort blieben Kanndra und Araghast keuchend stehen.
"Und... das bei... der Luft..." japste der Halbvampir und hielt sich die Seiten.
Neben ihm lehnte sich Kanndra gegen die Wand. "Wem... sagst du... das." keuchte sie. "Aber immerhin... haben wir den Verfolger wohl... erstmal abgehängt."
"Sicher?" fragte Valdimier. "Immerhin führt der Gang ihn geradewegs zu uns und eine Abzweigung gab es unterwegs nicht..."
"Verdammt." Bregs' Blick wanderte unruhig über die insgesamt fünf Abzweigungen. "Wir könnten uns in einer verstecken und hoffen daß er nicht gerade den Weg geht." schlug er vor.
"Das wäre ein Chance von..." schnell zählte Kanndra die Gänge. " eins zu fünf, daß er uns nicht findet."

* * *


Valdimier seufzte leise.
"Und obwohl ich mir eigentlich vorgenommen habe, dort nie wieder reinzugehen, hats uns letzten Monat erst wieder dort rein verschlagen[5]." Er fuhr mit dem Finger über die kleine Narbe an der Kehle.
"Die Sache mit der Igor-Ersatzteilmafia?" fragte Araghast neugierig. "Schade daß ich nicht dabei war. Wäre sicher interessant geworden."
"Du hast gut reden." Kanndra spielte mit ihrer Kirsche und verzog das Gesicht. "Du hast ja auch nicht zugucken müsen wie die Niere aus dem Kissen geplatscht ist."
"Klingt lecker..." Araghast sah nachdenklich aus dem Fenster. Draußen war es bereits stockfinster.
"Jedenfalls hab ich da wieder an unser Abenteuer denken müssen." In Erinnerungen versunken blickte Valdimier auf die bereits ziemlich heruntergebrannte Kerze. "Abgesehen davon, daß wir damals den anderen hinter uns hatten..."

[Valdimier van Varwald]

"Wo sollen wir lang?", fragte Valdimier.
"Keine Ahnung." Araghast starte auf den Boden und suchte nach Spuren, die auf einen möglichen Weg aufschluss geben konnten. Erst jetzt bemerkte er das trübe Wasser, welches ihnen bis zu den Knöcheln ging. "Verdammt. Ich habe die Stiefel erst gestern geputzt."
"Wenn das dein einzigstes Problem ist", erwiderte Kanndra. "Wir sollten lieber schnell machen und von hier verschwinden."
"Mir nach", ergriff Valdimier das Wort und lief in den 2. Gang von rechts.
Die anderen folgten ihm und so liefen sie zusammen den Gang dunklen entlang. Plötzlich verlangsamte Bregs sein Tempo und blieb schließlich stehen.
"Hey wartet mal!", rief er seinen Kollegen möglichst leise hinterher.
Kanndra und Valdimier blieben stehen und schauten verdutzt nach ihrem Kollegen. In dem schwachen Leuchten des Mooses konnten sie nur noch die Silhouette des Halbvampirs ausmachen.
"Was ist los?" Langsam gingen sie zu ihn zu. "Willst du etwa auf unseren Verfolger warten?"
"Warum sind wir denn sonst hier runter gegangen?", fragte Bregs zurück.
"Das frage ich mich langsam auch", antwortete Kanndra und rümpfte die Nase. "Hier stinkt es noch schlimmer als am Anfang."
Araghast ignorierte Kanndra und schlich leise wieder zurück in Richtung Kreuzung.
"Hey Bregs!" Valdimier ging seinem Kollegen hinterher und versuchte ihn festzuhalten. "Was hast du vor? Willst du etwa auf unseren Verfolger warten und dann höflich nach dem Weg fragen?"
"Klar. Warum nicht. Wieso habe ich nicht gleich daran gedacht?" Er räusperte sich kurz und sprach mit verstellter Stimme weiter. "Entschuldigen sie bitte. Wir haben uns verlaufen und wissen nicht wo wir lang müssen. Können sie uns vielleicht sagen, wie wir zu den Runensteinen der Macht kommen?"

***


"Ich hatte ja schon vorher von deinem Sarkasmus gehört aber dass es so schlimm war..."
Valdimier fixierte mit einem gespielt finsteren Blick den Püschologen, der als Antwort ein typisches Unschuldsgesicht aufsetzte.
"Ich weis gar nicht, was ihr andauernd habt. So schlimm ist es nun auch wieder nicht."
"Wenn du das sagst."
"Können wir vielleicht wieder auf die Kanalisation zurückkommen?", versuchte Kanndra die Diskussion in eine andere Richtung zu lenken. "In welchen Gang war er eigentlich gegangen?"

***


"Hat einer von euch gesehen, wer das war?", flüsterte Valdimier und löste sich von der Wand. "Der Größe zu urteilen, könnte es ein Zwerg gewesen sein. Vielleicht war es sogar Alberich."
Sie hatten sich so flach wie möglich gemacht und gegen die Wand gepresst um nicht aufzufallen. So konnten sie beobachten, wie die unbekannte Gestalt auf der Abzweigung auftauchte und sofort in einem der anderen Gänge verschwand.
Kanndra und Araghast schüttelten den Kopf.
"Nein, keine Chance. Aber erst ist in den Gang gegenüber gegangen oder habe ich mich verschaut?"
Kanndra schaute fragend zu Valdimier, der mit dem Kopf nickte.
"Nein, stimmt schon."
Bregs stiefelte los und bahnte sich seinen Weg in Richtung Abzweigung.
"Na dann hinterher."
Kanndra und Valdimier warfen sich einen skeptischen Blick zu und folgten ihm Kopfschüttelnd. Sie wateten durch das trübe Wasser, bis sie wieder an der Kreuzung angekommen waren.
"Da lang." Araghast deutete in den Gang, in dem der Unbekannte verschwunden war. Mit einer Hand hielt er sein geknebeltes Schwert fest umklammert.
Schweigend, um nicht auf sich aufmerksam zu machen, gingen sie den Kanal entlang. Das grüne Moos, welches sonst überall zu finden war, wurde immer weniger und so kam es, dass sie sich bald wieder in totaler Dunkelheit befanden.
"Wisst ihr, was mir gerade klar wird?", fragte Valdimier plötzlich und tastete im Dunklen herum, um sich zu vergewissern, dass sich Bregs noch immer vor ihm befand.
"Was denn?", erwiderte Kanndra hinter ihm.
"Wenn uns hier unten etwas passieren sollte, werden sie unsere Leichen niemals finden."
"Du verstehst es wirklich jemanden Mut zu machen", antwortet Bregs trotzig. "Uns wird schon nichts passieren."
"Woher willst du das wissen?"
"Ist doch immer so. Der Held stirbt nur in Ausnahmefällen."
Hätten sie sich sehen können, wäre wieder einer dieser fragenden Blickkontakte zwischen Kanndra und Valdimier entstanden.
"Und was ist, wenn das hier so ein Ausnahmefall ist?", fragte Kanndra. "Ich meine..." Sie zögerte kurz. "Was ist, wenn die Legende wirklich stimmen sollte? Was ist, wenn es wirklich jemanden gelingen sollte, die Steine zu vereinen? Vielleicht ist ein neuer Herrscher gar nicht so verkehrt."
"Solange es nicht Vetinari ist.", antwortete Araghast abwesend. Seine Blicke versuchten die vor ihm liegende Finsternis zu durchdringen. Doch war er nicht sehr erfolgreich.
"Wieso er gerade nicht?" Valdimiers Gesicht wurde fragend. "Ich bin zwar noch nicht so lange in Ankh-Morpork aber was ich bis jetzt über ihn gehört habe, klang nicht gerade sehr schrecklich."
"Hat man dir auch von den Leuten erzählt, die er in die Skorpiongrube werfen ließ?", tönte Kanndra hinter ihm. Ihre Stimme hatte einen forschen Unterton angenommen. "Das stelle ich mir ziemlich schrecklich vor."
"Es wird sicher einen guten Grund dafür gegeben haben."
"Pantomime sein ist ein guter Grund für dich, einen in die Skorpiongrube zu werfen?"
"Pantomime? Mehr nicht? Dafür wirft er dich in die Grube?" Der Vampir schüttelte sich. "Das wusste ich nicht."
"Siehst du?", erwiderte Bregs. "Und das ist nur einer der vielen Gründe, warum ich ihn mir nicht als Herrscher vorstellen möchte."
Schweigend schritten sie weiter. Um sie herum herrschte beängstigende Stille. Nicht einmal das Quieken von irgendwelchen Ratten war zu hören. Und das, obwohl Kanäle dafür bekannt waren, dass sie der Lebensraum für viele Nagetieren sind.
"Weis man, was er gegen Pantomimen hat?"
"Wie bitte?"
"Ich meine Vetinari. Warum ließ er die Pantomimen in die Grube werfen?"
"Keine Ahnung", murrte Araghast. "Du kannst ihn ja mal fragen, wenn du ihn treffen solltest."
Valdimier verzog das Gesicht.
"Wieso sollte ich den Patrizier treffen?"
"Kann schneller passieren als du denkst. Er hat angeblich die Eigenschaft, dort aufzutauchen, wo man es am geringsten erwartet."
"Vielleicht hat er ja etwas mit den Steinen zu tun", warf Kanndra ein. "Herrscher über die Scheibenwelt zu sein, würde ihm sicher gefallen."
"Wem würde das nicht gefallen?"
Valdimier gab ein verächtliches Lachen von sich.
"Haha. Eher werde ich Stabsspieß, als dass ich den Patrizier treffen werde. Ich denke der mächtigste Mann Ankh-Morporks kann gut auf sich alleine aufpassen."

***


Valdimier musste laut lachen.
"Immerhin hab ich es bis zum Gefreiten geschafft. Ich hätte auch nicht gedacht, ihn in diesem AEKI Laden zu treffen. [6]"
Seine Sitzkumpanen mussten ebenfalls lachen.
"Tja, er taucht immer da auf, wo man es am wenigstens erwartet."
"Es hätte aber gut möglich sein können, das er wirklich was mit den Steinen zu tun hatte."
Bregs zuckte mit den Schultern.
"Naja, ihr wisst ja. Es kommt immer anders als man denkt."

***


"Wie lange ist denn dieser Kanal noch?", murrte Kanndra. "Mir kommt es so vor als würden wir hier unten schon seit Stunden rumlaufen."
Bregs drehte den Kopf und versuchte Kanndra in der Dunkelheit auszumachen.
"Nur die Ruhe. Jeder Gang ist einmal zu Ende und außerdem..."
Plötzlich spürte er Vals Hand auf seiner Schulter und der Vampir zischte ihm ins Ohr.
"Pssst!!" Mit seiner blassen Hand deutete er auf ein schwaches Licht, welches am Ende des Kanals zu sehen war.
Araghast versuchte etwas zu erkennen. Doch außer dem schwachen Flackern konnte er nichts Weiteres ausmachen.
"Was machen wir jetzt?" Er versuchte so leise wie möglich zu flüstern.
Ein leises metallisches Kratzen erklang, als Valdimier und Kanndra ihre Schwerter aus der Scheide zogen.
"Wir schauen uns das mal aus der Nähe an.", erwiderte der Vampir. "Ich geh voran."
Leise und kampfbereit schlichen die drei Rekruten den Gang entlang, als sie plötzlich auf halben Wege Stimmen vom Licht aus kommen hörten. Valdimier zuckte zusammen. Eine von ihnen kannte er nur zu gut.
"Das ist Alberichs Stimme." Er lauschte einen kurzen Moment. "Und er scheint nicht alleine zu sein."

[Kanndra]

Die drei verstummten und schoben sich langsam vorwärts. Nur ein gelegentliches Platschen, wenn einer ihrer Füße das verdreckte, stinkende Rinnsal in der Mitte des Ganges traf, und das Rascheln von Kleidung hätte ihre Anwesenheit verraten können. Mit angehaltenem Atem [7] lauschten sie dabei dem Gespräch aus der Richtung des Lichts. Es war bald klar zu hören, denn die beiden Stimmen waren in einen heftigen Streit verwickelt.
"Du bist wohl kaum in der Position, mir zu drohen, Wächterlein", höhnte der Unbekannte.
"Hör auf, dich so aufzuspielen, soviel habe ich nicht", brüllte Alberich. Die Wächter im Gang konnten die verzweifelte Wut in seiner Stimme hören.
"Ich fürchte, dann bleibt der Stein wo er ist. Thornagor hat..."
"Und nenn ihn nicht so, diesen ... Rasenschmuck ." Das letzte Wort hatte ihr Kollege regelrecht ausgespieen. Doch sein Gesprächspartner ließ bei dem altbekannten Schimpfwort nur ein kurzes, verächtliches Lachen hören.
"Er hat kein Anrecht auf diesen Namen."
"Da er sehr bald der Herrscher über diesen schönen Planeten sein wird, kann er sich nennen, wie er möchte, würde ich sagen."
Inzwischen waren Valdimier, Bregs und Kanndra am Ende des Ganges angekommen und pressten sich gegen die schleimigen Wände. Sie sahen eine Art Kammer, die seltsamerweise recht trocken zu sein schien und von der Fackel in Alberichs Händen beleuchtet wurde. Er stand mit dem Rücken zu ihnen und führte anscheinend Selbstgespräche. In einer Ecke war ein Bündel auszumachen, etwa in der Größe eines Strohsacks.
"Wo..." fing Bregs an zu flüstern , doch Kanndra deutete in den Raum, wo der Zwerg einen Schritt zur Seite gemacht hatte. Sie konnten jetzt eine kleine, blaue Gestalt zu Füßen Alberichs ausmachen. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und blitzte den Zwerg herausfordernd an.

***


"Ich weiß noch, ich dachte damals: 'Wie kann man sich nur von einem Gnom so herumschubsen lassen'", grinste Araghast und alle brachen in Gelächter aus.
"Ja, wir waren ganz schön naiv", japste Kanndra
"Und kannten Venezia Knurblich noch nicht."

***


"Also entweder du besorgst es dir oder du kannst deinen Stein vergessen. Ich warte nicht lange", rief der Gnom.
In diesem Moment fühlte Kanndra etwas ihren Nacken hinunterkrabbeln, in ihren Kragen hinein. Sie fasste instinktiv zu und konnte ein Kreischen nicht unterdrücken, als sie eine Spinne in ihren Fingern entdeckte.

***


Sich so aufzuregen wegen eines kleinen Krabbeltiers. Typisch Frau!" Der Vampir ließ ein Grinsen sehen.
"Ich finde diese Viecher eben eklig. Außerdem haben nicht nur Frauen eine Spinnenphobie", fügte die Hauptgefreite mit einem bedeutungsvollen Blick auf Humph MeckDwarf an, der gerade mit dem Wirt sprach.
"Wer weiß, was passiert wäre, wenn du nicht geschrieen hättest", brachte Bregs das Gespräch zurück auf das Thema, "aber so..."

***


Die beiden Gestalten in der Kammer erstarrten, genau wie die Rekruten im Gang. Dann zuckte Araghast die Schultern und marschierte einfach los. Kanndra und Valdimier sahen sich kurz an, dann folgten sie ihm.
Alberichs Augen wurden groß, als er seine Kollegen erkannte, doch der Gnom begann bereits zu keifen. "Du hast die Wache infomiert? Das ist eine verdammte Falle! Das wirst du büßen, Zwerg!"
Schneller als irgendjemand reagieren konnte, kletterte er an Alberichs Bein empor und biss ihn in eine empfindliche Stelle. Die Fackel flog aus seiner Hand in den Strohsack, der sofort Feuer fing. Alberich begann im Kreis zu hüpfen, während er mit beiden Händen versuchte, sich von den Zähnen des Gnoms zu befreien. Valdimier, Bregs und Kanndra standen ziemlich hilflos daneben und versuchten noch zu entscheiden, was sie jetzt tun sollten, als der Zwerg schließlich den blauen Körper von sich riss und direkt in den lichterloh brennenden Strohsack warf. Entsetzt beobachteten die vier, wie der von dem Aufschlag bewusstlose Gnom Feuer fing. Araghast riss sich zuerst von dem Anblick los und rannte zurück in den Gang, während er das Hemd auszog. Valdimier erkannte seine Absicht und zog sich mit leisem Bedauern den Umhang von den Schultern. Er versuchte, das Feuer damit zu ersticken, allerdings mit mäßigem Erfolg. Erst als Bregs sein nasses Hemd einsetzte, gelang es ihnen, den Brand zu löschen.
Sie würden niemandem hiervon erzählen. Um sich darüber einig zu werden, brauchten sie nicht einmal Worte.

***


"Warum das so brennen konnte in der feuchten Kanalisation, das verstehe ich bis heute nicht", bemerkte die Voodoo-Priesterin.
"Ich glaube, das lag an diesem merkwürdigen Moos, was dort überall wächst und mit dem Alberich sein Lager ausgestopft hatte. Es scheint eine Art Brandbeschleuniger zu sein", erklärte Araghast, unterbrach sich jedoch, als einige SEALS-Kollegen sich beim Dartspiel lautstark gegenseitig anfeuerten.
"Wir hatten Glück, dass der kleine Kerl nicht tot war", flüsterte Val nach einem prüfenden Blick in die Runde, ob niemand zuhörte. Die Köpfe der drei neigten sich immer stärker zueinander, als sie an diese Stelle ihrer Erinnerungen kamen.
"Und dass du einen Arzt kanntest, der keine Fragen stellen würde."
"Die Adresse hatte ich von meinem Vampirzahnarzt. Keine Ahnung, warum der meinte, das ich mal so einen Quacksalber brauchen würde", entgegnete der frischgebackene Hauptgefreite.
"Aber erst mal mussten wir aus der verdammten Kanalisation wieder heraus." Bregs schüttelte sich.
"Ja, dabei war Alberich keine große Hilfe. Der Arme", seufzte Kanndra.

***


"Rechts. Wir müssen rechts", beharrte Araghast. "Glaube ich jedenfalls."
"Das wollte ich nicht. Das ha... habe ich wirklich nicht gewollt", wimmerte Alberich.
"Schon gut. Wir müssen hier raus und zwar schnell. Du kennst dich doch anscheinend besser aus. Wo müssen wir lang?", fragte Val und verlagerte das Gewicht des Zwerges, der sich auf ihn stützte, ein wenig.
"Er... Ich wollte ihn doch nur los werden."
"Alberich!" Bregs fasste ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. "Wenn der Gnom nicht bald zu einem Arzt kommt, wird er sterben. Also: Wo-geht-es-lang?"
"Die Alligatorzehensalbe wird ihm nicht lange helfen", stimmte Kanndra zu, die den in die Reste von Valdimiers Mantel gehüllten Gnom wie einen Säugling trug. "Ich hatte eh nicht mehr viel davon..."
"Da", mit zitterndem Finger deutete der Zwerg nach links.
"Na also. Sag ich doch", behauptete der Halbvampir und stapfte los.
Es kam ihnen wie eine Ewigkeit vor, die sie durch die halbdunklen, verschmutzten Gänge wandern mussten, bis sie endlich am Ausgang angekommen waren. Bei jeder Kreuzung befragten sie den Zwerg nach der Richtung und zwischendurch versuchten sie, die Geschehnisse zusammenzusetzen.
"Wer ist das eigentlich? Hat er dir den Stein gestohlen?" Araghast zeigte auf den immer noch bewusstlosen Gnom.
"Ja. Er ist ein talentierter illegaler Dieb. Ich habe ein wenig im Archiv geforscht und da es nicht viele mit seiner Beschreibung gab..."
"Hast du ihn aufgespürt", vervollständigte Valdimier den Satz. "Aber was wolltest du von ihm?"
"Oh, Val. Hast du nicht zugehört eben? Er wollte, das er ihm den Stein zurückstiehlt, richtig?", warf Kanndra ein.
Alberich nickte. "Aber seine Forderungen waren zu hoch. Er wollte fünftausend AM Dollar! Dieser kleine Mistkerl!" Die Wut war zurückgekehrt und der Zwerg straffte sich, was bei Valdimier ein erleichtertes Seufzen auslöste.
"Und hinter dem Ganzen steckte dieser Thornagor?", drang Araghast weiter in ihn ein.
"So nennt er sich jedenfalls. Dabei hat dieser Verbrecher kein Recht den Namen eines legendären Zwergenkönigs zu tragen. Thornagor war nämlich..."
Kanndra blieb plötzlich stehen und schlug sich mit der Hand gegen den Kopf. "Die Legende!", rief sie aus. "Der Autor! Wie konnten wir nur so blind sein?"
"Was für ein Autor?", fragte der Zwerg verständnislos.
"Wir haben die Legende in einem Buch nachgelesen", erklärte der Vampir. "Aber..."
"Genau. Und der Typ, der den Artikel darüber verfasst hat hieß Rogan Roth. Oder nannte sich so."
"Und?"
"Lies den Namen mal rückwärts. Außerdem hat er vehement abgestritten, dass die Runensteine existieren, wie um mögliche Konkurrenten davon abzuhalten, danach zu suchen."
"Ihr habt es nachgelesen? Und überhaupt, was tut ihr eigentlich hier?"
"Naja, daran ist dein Onkel schuld", gab Valdimier verlegen an. "Er ist in die Wache eingebrochen. Und dann hat er rumgestottert, dass du in der Kanalisation seiest."
"Und ihr seid losgelaufen, um mich zu suchen?", staunte Alberich. "Wie dem auch sei, wir wissen immer noch nicht, wer dieser Thornagor ist oder wie ich meinen Stein zurückbekomme."
Das ließ sie verstummen und schweigend setzten sie ihren Weg fort.

***


"Und als wir endlich wieder an die frische Luft kamen, dämmerte es bereits."
"Der Arzt war auch nicht gerade erfreut, dass wir ihn so früh aus dem Bett geholt haben", grinste Val. "Wisst ihr noch..."

***


"Klopf noch mal. Er hat uns nicht gehört", drängelte Alberich, als sie vor dem Haus des Arztes standen.
"Vielleicht ist er nicht da", spekulierte Valdimier.
"Lass mich mal." Der Zwerg hob die Fäuste und hämmerte mit seiner ganzen Kraft gegen die Tür, so dass das dünne Holz in den Angeln erzitterte. Einige Sekunden später hörten sie schlurfende Schritte und ein unwilliges Grummeln, das sich anhörte wie: "Immer mitten in der Nacht. Könnt ihr nicht mal tagsüber krank werden?"
Dann öffnete sich die Tür mit einem Quietschen und ein Mann mit einem Spitzmausgesicht schielte misstrauisch auf die Rekrutengruppe.
"Was es auch ist, ich war es nicht."
Araghast drängte den Alten einfach beiseite und betrat das Haus. "Wir brauchen einen verschwiegenen Arzt", flüsterte er.
Der Blick des Arztes wanderte zu Kanndra. "Also für eine Abtreibung seid ihr zu spät dran, das kann ich euch gleich sagen", meinte er, während er auf das Bündel in ihren Armen zeigte.
Die Rekrutin holte empört Luft, doch Val schob sie mit einer Hand vor. "Es gab einen mhm... Arbeitsunfall. Der Kleine hier hat sich ein wenig verbrannt."
"Ein wenig ist gut", antwortete der Arzt nach einem Blick auf den Gnom. "Und was ist das für ein merkwürdiges Zeug auf seiner Haut?"

***


Kanndra schüttelte den Kopf. "Kannte noch nicht mal Alligatorzehensalbe. Ich frage mich, ob das wirklich so ein guter Arzt war. Und Alberich hat sein ganzes Gespartes für die Behandlung geopfert."
"Die Hauptsache war doch, dass er nichts erzählen würde. Und der Dieb würde wohl kaum zur Wache gelaufen kommen, um sich über uns zu beschweren." Der Vampir zuckte die Schultern.
"Aber nach dem Palaver mit dem Arzt wurde uns wirklich die Zeit knapp." Bregs tippte sich gegen seine Augenklappe. "Beinahe hätten wir einen wichtigen Termin versäumt."

***


"Schon ziemlich hell. Wie spät ist es eigentlich?" Valdimier kramte nervös nach seiner Sonnenbrille.
"Ich habe keine Uhr. So etwas kann ich mir von unserem mageren Rekrutensold nicht leisten", schnappte Araghast. "Aber wir sollten uns besser beeilen. Kommst du mit zur Wache, Kanndra?"
"Ja, mein Dienst beginnt sowieso bald. Da lohnt es sich nicht, nach Hause zu gehen."
Sie hatte kaum ausgesprochen, als die erste Glocke der Stadt sieben Uhr schlug. Die vier warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu und fingen an zu laufen. Währenddessen rückte der Zeiger der Uhr im Wachhaus gnadenlos weiter.
7:01:44 Alberich stolperte und rappelte sich mühsam wieder auf. Sie liefen weiter.
7:02:56 Schnapper tauchte auf und wollte ihnen ein Würstchen andrehen. Sie lehnten höflich, aber bestimmt ab.
7:04:23 Sie erreichten den Beginn der Kröselstrasse.
7:04:47 Geschafft! Val, Kanndra und Araghast liessen sich hinter den Tresen auf Stühle fallen. Alberich verschwand die Treppe hinauf.
7:05:00 Die Tür ging auf und Frau Willichnicht betrat die Wache.
"Ich will mich beschweren! Jemand hat meinem Gartenzwerg die Schaufel gestohlen!" Mit energischen Schritten steuerte sie den Wachetresen an, hinter dem drei Rekruten nach Atem rangen [7a]. Dann erregte etwas auf dem Tresen ihre Aufmerksamkeit und sie begann nach ihrer Lesebrille zu kramen. Schnell schnappte der Vampir sich das Schild mit der Aufschrift "Bei Bedarf bitte den Schlafsaal wecken" und ließ es in seiner Uniform verschwinden. Anschließend blickte der Frau Willichnicht unschuldig an. "Haben Sie schon jemanden in Verdacht?"

***


"Hat eigentlich einer von euch noch mal was von Alberich gehört?", fragte Kanndra ihre beiden Kollegen, während sie Carisa zuwinkte.
"Nein, er hat seine Sachen gepackt und ist nie wieder aufgetaucht."
"Und nach der Beförderung waren wir so mit der Stellensuche und Bewerbung beschäftigt, dass ich gar nicht mehr an Thornagor und die Runensteine gedacht habe." Araghast inspzierte sein leeres Glas.
"Entweder hat Alberich seinen Stein zurückbekommen oder Thornagor hat nicht alle finden können. Einen neuen Herrscher haben wir jedenfalls nicht. Das wäre mir glaube ich aufgefallen", zwinkerte Valdimier und lächelte Carisa entgegen, die sich eine Schwefellimo beim Wirt geholt hatte und jetzt auf ihren Tisch zusteuerte.
"Vielleicht waren die Runensteine aber auch gar nicht so mächtig", nahm Bregs an.
"Runensteine? Redest du schon wieder über einen von diesen merkwürdigen Horrorromanen?", fragte die Wasserspeierin von hinten.
"Nein, nur ein paar alte Erinnerungen", erwiderte Kanndra. "Wir feiern unser Wacheläum."
"Oh, Glückwunsch. Das ist schon ein guter Grund zum Feiern", nickte die Verdeckte Ermittlerin, die erst vor kurzem ihr Einjähriges hatte.
"Genau", stimmte ihr Bregs zu. "Und deshalb hole ich jetzt noch eine Runde."

ENDE

[1] s. Single-Mission: Das Amulett oder Kanndras Rache

[2]  s. Multi-Mission: Nach dem Mord ist vor dem Spiel

[3] s. Single-Mission: Schau mir in die Augen!

[4] s. Live-Mission: Im Angesicht des Untodes

[5] s. Live-Mission: Kissenschlachten

[6] s. Single-Mission: Geschichten aus dem Grab

[7] zumindest zwei von ihnen mussten den Atem anhalten

[7a] nagut, zwei




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